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Titelthema: Flucht Mit doppelter Heimat- losigkeit gestraft: Palästinenser im Libanon Südafrika: Billige Kohle auf Kosten der Menschenrechte? Puzzleteile der Welt- ernährung: Landwirte in Deutschland

"frings." MISEREOR-Magazin 1-2016

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Auch in diesem Heft beschäftigen wir uns ausführlich mit dem Thema, das Menschen in Deutschland zurzeit sehr bewegt: Flucht, Vertreibung und Migration. Wir haben Flüchtlinge palästinensischer Herkunft im Libanon besucht, für viele eine Zwischenstation auf ihrer Suche nach einer neuen Heimat. Und wir haben mit ihnen über ihre Erlebnisse, ihre Pläne und Hoffnungen gesprochen. Wie schmeckt eigentlich fairer Orangensaft? Ist technische Innovation ohne gesellschaftliches Umdenken möglich, um Problemen wie Klimawandel und Ressourcenverschwendung zu begegnen? Was haben deutsche Firmen mit Menschenrechtsverletzungen in Südafrika zu tun? Wie entsteht ein Plakat in Burkina Faso, wenn ein Militärputsch droht? Antworten finden Sie in unserem Magazin. Herausgeber: MISEREOR Erschienen: 2016 / 56 Seiten kostenlos bestellbar auf https://www.misereor.de/informieren/publikationen/magazin/

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Titelthema: Flucht

Mit doppelter Heimat-losigkeit gestraft:Palästinenser im Libanon

Südafrika: BilligeKohle auf Kostender Menschenrechte?

Puzzleteile der Welt-ernährung: Landwirtein Deutschland

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2 Gesichter dieser AusgabeEinige unserer Autorinnen und Fotografenstellen sich vor.

4 Als ob es gerade erst passiert wäreBesuch in Nepal: Ein Jahr nach dem Erdbebendauert der Wiederaufbau noch an.

10 KostprobeGetestet mit feiner Zunge:Kann sich der faire Orangensaft behaupten?

13 Willkommen in der HölleSüdafrika und Deutschland: TransnationaleKonzerne verletzen Menschenrechte.

18 Friedenspoker am AtratoMenschen oder Gold: Zentrale Frageauch nach dem Friedensschluss in Kolumbien.

33 Vom Fischkutter unddem richtigen GeschmackSuche nach Lösungen: Technische Innovationoder neues Denken und Handeln?

36 Guck mal, wer da ackertHof-Besuche: Welche Rolle geben sichdeutsche Ernährer und Erzeuger selbst?

44 Im Zeichen der RingeRio 2016 kommt bestimmt –aber auch die besten Spiele aller Zeiten?

47 Aminatas großer TagVom Militärputsch und von gute Ideen –oder wie in Burkina Faso ein Plakat entsteht.

52 360 Gradgenießen – schmecken – verstehen – handeln:Informations- und Mitmachseiten.

55 Aber-doch Keine Toleranz für die Prediger der Intoleranz:Wilfried Schmicklers Glosse.

Punam und RohitSherestha habendas Erdbeben am25. April 2015 über-lebt. Jetzt müssensie die nächsteRegenzeit in derBlechhütte über-stehen und mitdem Bau des neuenHauses beginnen.

Verbindliche Vorga-ben für Produktions-und Beschaffungs-ketten: Das fordertMISEREOR mit ande-ren NGOs in einemAktionsplan fürdeutsche Firmen.Unternehmensver-bände sträubensich dagegen.

Die deutsche Land-wirtschaft zwischenFleischfabriken undhalbautomatischenMastanlagen: Immerweniger Bauern be-stellen immer mehrLand. Wie aber siehtdie tägliche Versor-gung vor Ort aus?

Blick hinter dieKulissen einesPlakatshootings:MISEREOR erzähltmit seiner neuenKampagne Geschich-ten von tatkräftigenMenschen wie derKleinbäuerin Amina-ta Compaoré ausBurkina Faso.

Fotos: Klaus

Mellenthin, Oup

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Titelthema: Flucht22 Zwischen allen StühlenMenschliche Geschichten: Im Libanonwarten Flüchtlinge auf ihre Zukunft.

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as sagt Ihnen der Name „frings“? Er ist der neueTitel des MISEREOR-Magazins, das Sie, liebe Lese-

rin und Leser, in den Händen halten und das bis-her den Slogan „Mut zu Taten“ trug. Für MISEREOR ist klar:Kardinal Joseph Frings ist der Namensgeber für unser aufge-frischtes Magazin, mit dem wir Sie zweimal im Jahr infor-mieren werden: über Themen und Trends, Thesen und Tat-sachen rund um MISEREOR. An Mut wollen wir es dabeiauch weiterhin nicht fehlen lassen.

Weit über die Grenzen seines Erzbistums hinaus bekanntwurde der Wahlkölner und Gründungsvater von MISEREORaber erst einmal nicht durch das Geben, sondern durch dasNehmen. In der Silvesterpredigt 1946 erlaubte Joseph Fringsden Kohlenklau als letztes Mittel für die hungernden undfrierenden Kölner, etwas Wärme in ihre zerbombten Woh-nungen zu bringen. Mit einem Augenzwinkern wurde dasBeschaffen von Lebensmitteln und Heizstoffen für den aku-ten Eigenbedarf als „fringsen“ sprichwörtlich.

Als der Wohlstand in Deutschland in den späten 1950ernsichtbar wurde, stellte sich Joseph Frings auf das Geben einmit einer zentralen Frage, die letztendlich zur Gründungdes Hilfswerks MISEREOR führte: Was können wir gegen Un-gerechtigkeit und ungleiche Lebenschancen in der Welttun? Die Antwort hat Signalcharakter bis heute. Verzichtauf einen Teil des Eigenen und damit die Armen unterstüt-zen im Kampf gegen Hunger und Krankheit, lautete die Ein-ladung vor 60 Jahren. „Gebt ihr ihnen zu essen“ – so hießdann auch das Leitwort der Fastenaktion in den Gründungs-jahren. Heute haben wir einen noch umfassenderen Blickauf die Dinge, sprechen von Entwicklungszusammenarbeit,niemanden zurückzulassen, hinterfragen Rohstoffprodukti-on in Südafrika, kritisieren eine nicht nachhaltige Land-wirtschaft und Konsumgewohnheiten in unserer Gesell-schaft, leben mit den Herausforderungen von Klimawandelund globalisierten Märkten. Also alles anders als in denGründungsjahren von MISEREOR?

Ich denke, nein. Bereits in der Gründungs-predigt rief Joseph Frings zu „Werken derBarmherzigkeit“ auf. Werken – nicht nurGedanken! Die Botschaft ist dieselbe ge-blieben, die Herausforderungen sind ande-re geworden. Wie weit Frings seiner Zeitvoraus war zeigt, was Papst Franziskus inseinem aktuell ausgerufenen „Jahr derBarmherzigkeit“ fordert: „konkrete Zei-chen der Barmherzigkeit“. Um den ausder Mode gekommenen Begriff der Barmherzigkeit zu fas-sen: Wir müssen den Schrei der Armen und den Schrei derErde hören. Die Antwort darauf ist eine Haltung der Barm-herzigkeit, der die Anteilnahme am Leiden anderer nichtgleichgültig ist. Es geht darum, die Augen nicht zu ver-schließen, sondern sich berühren zu lassen und dann fürzuständig zu erklären. Das hat Kardinal Frings im Namender katholischen Kirche und für MISEREOR auf unnachahm-liche Weise getan.

Und weiter forderte Frings, „den Mächtigen vom Evange-lium her ins Gewissen zu reden“. Welch ein weitblickenderGedanke, der den politischen Auftrag von MISEREOR nichtbesser auf den Punkt bringen könnte! Gerade heute in einerZeit, die geprägt ist von Unsicherheit, Krieg, Terror, Verlet-zung von Menschenrechten und Vertreibung, gilt es, diesenAuftrag umzusetzen. Es geht darum, gesellschaftliche Struk-turen im eigenen Land auf eine größere Gerechtigkeit hinzu ändern und Menschen in unseren Projektländern dabeizu unterstützen, ihre Gesellschaft mitzugestalten und dieUrsachen der Notlagen anzugehen.

Joseph Frings war ein visionärer Menschenfreund – mehrdenn je brauchen wir heute solche Vorbilder.

Herzlich IhrPirmin Spiegel Hauptgeschäftsführer von MISEREOR

EINSZWEITAUSENDSECHZEHN 1

W

Illus

tration: Kat M

enschik, Foto: Roh

l/MISER

EOR

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2 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

JOACHIM FRANKAutor, Chefkorrespondent

Joachim Frank ist Chefkorrespondentder Mediengruppe DuMont. Kirchen-politische und theologische Themensind ein Schwerpunkt seiner Arbeit.Nach dem Studium der Theologie, Phi-losophie und Kunstgeschichte in Mün-ster, München und Rom absolvierte erseine journalistische Ausbildung beiNRZ, WDR und dem Kölner Stadt-An-zeiger.

Interviews auf Seite 33:Vom Fischkutter unddem richtigen Geschmack

THERESA BREUERFreie Korrespondentin, lebt in Beirut

„Während meiner Recherche mit paläs-tinensischen Flüchtlingen war ich tiefbeeindruckt von dem Willen der Schü-

ler, ihr Leben neu zu ordnenund ihre Situation durch Bil-dung zu verbessern. Trotzdemhatte ihr Optimismus einenbitteren Beigeschmack: Der Li-banon ist ein zutiefst rassisti-sches Land, sowohl strukturellals auch auf zwischenmensch-licher Ebene. Das war auch vie-len Schülern schon bewusstgeworden. Daher kann ich esgut nachvollziehen, dass fürviele junge Flüchtlinge Europader wahre Sehnsuchtsort ist.“

ERIC GREVENStudent, Fotograf, Autodidakt, Kreativer

„Man kommt am Flughafen an und be-kommt die wohl größte Konstante imLibanon direkt um die Ohren geschla-gen: Chaos. Wenn man die choreogra-fisch und einstudiert wirkenden Be-triebsabläufe westlicher Flughäfen ge-wohnt ist, wird man sich am „Rafiq-Hariri“ wohl nicht heimisch fühlen.Bepackt wie ein Esel legt man einenkurzen Slalom durch die Menge zuden am Haupteingang aufgereihtenTaxen hin. Willkommen im Libanon.“Auszüge aus „Entkommen“, Bild-band mit Eindrücken einer zwei-wöchigen Reise durch den Libanon.

Beide: Titelthema auf Seite 22.Zwischen allen Stühlen

Fotos: Hug

hlen

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e, Ilon

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lexa

nder Klebe

, Klaus

Mellenthin, Peter Rak

oczy, Jac

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sell; Illustration

: Kat M

enschik

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DANIELA SINGHALFreie Autorin, Yogalehrerin

Daniela Singhal musiziert und kompo-niert, bringt Kindern Yoga bei, ist eineFreundin von Integration und Will-kommenskultur (www.wir-fuer-fluecht-linge.de), wohnt am Waldrand, ist Mut-ter, freie Journalistin und Fotografinin und um Berlin. „Trennung von Ar-beit und Leben gibt es bei mir nicht.Deshalb bin ich dankbar, dass ichmeine Interessen – Fotografie, Yogaund Musik – mit meiner Arbeit verbin-den kann.“

KLAUS MELLENTHINFotograf, Reisender

„Bei all meinen Reisen im Rahmen vonFotoproduktionen hat mich der afrika-nische Kontinent am tiefsten berührt.Nun also Burkina Faso, das Land, dasmich dort am meisten reizte. Wir hat-ten nur ein schmales Zeitfenster, aus-reichend vor den Parlamentswahlen.Es gab zwar keine akuten Warnungenvor Unruhen, aber wir wussten, dass eszu politischen Verwerfungen kommenkönnte.“

Beide: Reportage auf Seite 47.Aminatas großer Tag

WILFRIED SCHMICKLERScharfrichter unterden deutschen Kabarettisten

„Das letzte Gefecht war nur der Vor-kampf, das letzte Wort nur der Auftaktfür die nächste Jahrhundert-Rede unddie letzte Sau nur die Vorhut derHerde, die gleich danach durchs globa-le Dorf getrieben wird. Und deshalb:das Letzte, was die Zukunft braucht,sind Frust und Verdruss.“

KAT MENSCHIKIllustratorin

„Zeichnen, zeichnen, zeich-nen. Es ist ein großesGlück für mich, Berufund Leidenschaft miteinander verbin-den zu können. Neben Arbeiten fürZeitungen und Magazine illustriereich auch regelmäßig Bücher. Ab Herbstdiesen Jahres erscheint sogar meine ei-gene Buchreihe bei Galiani Berlin:Klassiker der Weltliteratur.“ Kat Men-schik arbeitet als freiberufliche Illus-tratorin unter anderem für die Frank-furter Allgemeine Sonntagszeitung.

Beide: Glosse auf Seite 55.Aber-doch

EINSZWEITAUSENDSECHZEHN 3

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4 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

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ndlich ist der Frühling da. An denBüschen sprießt zartes Grün undam Rande des kleinen Feldes

blühen bunte Blumen. In wenigen Wo-chen wird es in Taukhel Machegoan,einem kleinen Dorf im Großraum dernepalesischen Hauptstadt Kathmandu,tropisch heiß sein. Doch Punam She-restha strickt ohne Unterlass an einemdicken Winterpullover. Vorsichtshalber.„Der letzte Winter war entsetzlich“, sagtsie und schaudert unwillkürlich kurzzusammen, als sie daran denkt, wie siedie drei kalten Monate verbracht ha-ben. „Das Thermometer fiel auf nullGrad. Wir haben alles an Kleidung über-einandergezogen, was wir haben, aberdas meiste ging ja beim Erdbeben verlo-ren. Wir haben furchtbar gefroren.“Man will sich gar nicht vorstellen, wiees sein muss, einen Winter in diesemzehn Quadratmeter großen Raum zwi-schen den dünnen Blechwänden zu ver-bringen. Das Dach, ebenfalls aus Well-blech, ist mit Steinen beschwert undrappelt bei jedem Windstoß bedenk-lich. Gerade erst stand in der Zeitung,dass andernorts Hunderte solcher Not-unterkünfte von einem Sturm wegge-tragen wurden. Die einzige Wärmequel-le ist ein Lehm-Ofen ohne Abzug, auf

dem die 27-jährige Mutter über einem Holzfeuer Tee kocht.Die dicken Rauchschwaden wabern langsam durch den brei-ten Spalt zwischen Wand und Dach nach draußen. „Wir hat-ten die Wahl, die Kinder entweder frieren oder husten zulassen. Die Kleine war gerade zwei Monate alt.“

Punam Sherestha lebt mit ihrem Mann Rohit, 35, denbeiden kleinen Töchtern und der Schwiegermutter in Tauk-hel Machegoan. Die Bilanz des schweren Erdbebens fiel al-lein in dem 800-Seelendorf verheerend aus: Fünf Tote, 25

Am Samstag, den 25.

April 2015, erschütterte

ein Erdbeben mit der Stär-

ke von 7,8 auf der Richter-

skala Nepal. Rund 9.000

Menschen kamen ums

Leben, mehr als 22.000

Menschen wurden schwer

verletzt. Wegen der wenig

erdbebensicheren Bau-

weise fielen zahlreiche

Häuser einfach in sich

zusammen, vor allem

die einfachen Hütten der

Armen. Seither leben

mehr als drei Millionen

Menschen in provisori-

schen Verschlägen. Lu-

manti, Partnerorganisati-

on von MISEREOR in

Nepal, hilft beim Wieder-

aufbau in drei zerstörten

Gemeinden.

Text von Katharina NickoleitFotos von Christian Nusch

E

EINSZWEITAUSENDSECHZEHN 5

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So gut wie nichts istgeblieben. Wie durchein Wunder hat dieganze Familie das

schwere Erdbeben imApril 2015 überlebt.Aber ihr Haus wurdewie die meisten ande-ren Häuser im Dorfkomplett zerstört.

Stricken für den Win-ter: Letzten Monatfiel das Thermometerauf null Grad. Punam Sherestha hofft wohlvergeblich, dass ihrund ihrer Familie einweiterer Winter ohneDach über dem Kopferspart bleibt.

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Schwerverletzte und 120 zerstörte Häuser. Mehr als zweiDrittel von Taukhel Machegoan brachen einfach in sich zu-sammen.

SCHRECKLICHE ERINNERUNG

Den Tag des ersten Erdbebens hat Punam Sherestha noch inschrecklicher Erinnerung, als ob es gerade erst passiert sei.„Ich wusch Wäsche am Brunnen, als sich die Erde plötzlichaufbäumte. Ich ließ alles fallen und rannte zum Haus. Eswar einfach in sich zusammengestürzt. Dann habe ich pa-nisch nach meiner Tochter gerufen. Gott sei Dank hatte siedraußen gespielt.“ Immer noch dankbar drückt Punam She-restha die sechsjährige Ria für einen Moment eng an sich.

Keiner in Taukhel Machegoan wird den 25. April je ver-gessen. Da ist Raj Kumar, 23, der von seinem Vater aus denTrümmern befreit wurde. Chirimaya Maharjan, 47, die ihrBein nur noch zersplittert aus den Ruinen ziehen konnteund seither an Krücken geht. Oder Tulsjimaya und Ratna-maya Moharsan, deren Vater und Mann ums Leben kamen.Von der Witwenrente können sie kaum überleben. Sie undrund 600 weitere Menschen im Dorf haben ihr Zuhause ver-loren und nur ein paar Habseligkeiten aus den Trümmernbergen können.

Wie fast immer bei solchen Katastrophen sind es auchbei dem Erdbeben in Nepal die Ärmsten, die besondersunter den Folgen zu leiden haben. „Die meisten Häuser, dieeinstürzten, waren alt und in schlechtem Zustand oder auseinfachen Materialien errichtet. Sie gehörten Menschen, diees sich nicht leisten können, erdbebensicher zu bauen. Einaus Lehm und Feldsteinen errichtetes Haus hält einfach we-niger aus“, erklärt Ananta Raj Bajracharya von der MISERE-OR- Partnerorganisation Lumanti. Punam Sherestha und ihrMann Rohit haben so gerade überlebt. Sie besitzen ein klei-nes Feld, auf dem sie Weizen und Senf für den Eigenbedarfanbauen und Rohit arbeitet in einer Fabrik, die Schulunifor-men herstellt – allerdings immer nur in den sechs Monatenvor Beginn des neuen Schuljahres, die Fabrik hat die Hälftedes Jahres geschlossen. „Wir waren immer arm, aber wenigs-tens hatten wir ein festes Dach über dem Kopf. Eine Küche,ein Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer. Wir waren zufrieden.Aber dann kam das Erdbeben.“ Rohits Stimme bricht und erringt nur noch die Hände. Nicht nur das Haus, auch all ihrübriger Besitz, der Gasherd, Decken, Küchenutensilien, ein-fach alles ist verloren.

„Gleich nach dem Erdbeben haben wir erst einmal Nothil-fe geleistet und dafür gesorgt, dass die Menschen Materialienbekamen, aus denen sie sich zunächst provisorische Unter-künfte bauen konnten und ihnen Geld für die notwendigstenAnschaffungen gegeben“, erinnert sich Ananta, der nie ge-glaubt hätte, dass diese Verschläge ein Jahr nach der Naturka-tastrophe immer noch genutzt werden würden. Denn nachwie vor sieht es in Taukhel Machegoan so aus, als läge das

Erdbeben höchstens zwei Monate zurück. Wie ihre Nachbarnhaben Punam und Rohit Sherestha mühevoll die Ruinen vonHand abgetragen und die Trümmer sortiert – ähnlich wie inDeutschland nach dem Krieg die Trümmerfrauen. Was anZiegelsteinen, Türen und Fensterrahmen noch zu gebrau-chen ist, liegt sorgfältig aufgeschichtet in großen Stapelndort, wo einst die Häuser standen und wartet auf seinen Ein-satz. Doch nirgendwo wird gebaut.

POLITISCHE QUERELENVERZÖGERN DEN WIEDERAUFBAU

Der Wiederaufbau kommt nur sehr schleppend in Gang.Das liegt nicht etwa daran, dass kein Geld zur Verfügungstünde – im Gegenteil, internationale Organisationen ha-ben mehr als vier Milliarden US-Dollar bereitgestellt. Dochdavon wurde bislang kaum etwas abgerufen. Nepal befindetsich in der Umbruchphase von einer Monarchie zur Demo-kratie. Nach dem Bürgerkrieg, der 2006 endete, folgte eininnen- und außenpolitischer Streit um die Verfassung. Eineder Konsequenzen der schlechten Regierungsführung: Esdauerte ein dreiviertel Jahr, bis ein Gesetz, das den Wieder-aufbau regelt, ausgearbeitet und eine dafür zuständigeBehörde geschaffen werden konnte. Ein geschlagenes Jahrnach der größten Naturkatastrophe, die Nepal je getroffenhat, bereisen erst jetzt Inspektoren das Land und erheben,wer Anspruch auf Hilfe hat. Nur wer noch nicht mit dem

DEMOKRATISCHE BUNDESREPUBLIK NEPAL

In Nepal leben 31,5 Millionen Menschen. Der Himalaya-Staat mit der Hauptstadt Kathmandu umfasst 147.181 Qua-dratkilometer; Deutschland ist etwa 2,5-mal so groß. ImOsten, Süden und Westen grenzt das südasiatische Landmit 1.770 Kilometern an Indien, im Norden an China unddessen autonome Region Tibet.

Das bitterarme Land leidet noch immer unter den Folgen derverheerenden Erdbeben vom April und Mai 2015. Mehr als9.000 Nepalesen verloren ihr Leben. Große Teile der Infra-struktur wurden zerstört: Straßen, Krankenhäuser, Schulen.Der Aufbau kommt nur schleppend voran. Einige Gebietewirken, als habe die Erde gerade erst gebebt. Noch immersind Millionen Familien obdachlos und viele Straßen unpas-sierbar. Immer wieder behindern massive politische Kon-flikte, zuletzt Proteste gegen die neue Verfassung vom Sep-tember 2015, den Wiederaufbau und die wirtschaftlicheEntwicklung. Weil Grenzblockaden keine Lkws aus Indienins Land ließen, mangelt es allerorts an Diesel, Baumateria-lien und Flaschengas.

Derzeit fördert MISEREOR 37 Projekte mit gut acht Millio-nen Euro.

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8 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

Wiederaufbau begonnen hat, hat Aussicht auf die festge-legte staatliche Hilfe in Höhe von 2.000 US-Dollar pro Fami-lie. Verschärfend kommen innen- und außenpolitische Que-relen um die neue Verfassung dazu. Aufstände entlang derGrenze haben über Monate die wichtigsten Versorgungsrou-ten aus Indien abgeschnitten, so dass weder Baumaterialiennoch ausreichend Treibstoff ins Land kamen. Ob Punamund Rohit Sherestha wütend sind? „Wir können nichtsdaran ändern. Wir müssen einfach nach vorne blicken unddas Beste für die Zukunft hoffen.“ Die beiden freuen sichvor allem darüber, dass die ganze Familie trotz der har-schen Bedingungen den Winter gut überstanden hat, selbstdie Großmutter.

Es scheint fast, als wäre der Stillstand für dieHelfer noch schwerer zu ertragen als für dieErdbebenopfer selber. Lumanti hat gemeinsam

mit den Dorfbewohnern eine Zukunftsversion entwickelt,die endlich Wirklichkeit werden soll. „Nach der Ersthilfewar der nächste Schritt, mit den Dorfbewohnern gemein-sam ein neues Taukhel Machegoan zu planen.“ Stolz breitetder Mitarbeiter von Lumanti die Pläne aus: „Wir werdennicht einfach die Häuser wieder aufbauen, sondern mit denBewohnern das Erdbeben als Chance nutzen, ein besseresDorf zu errichten.“ In zahllosen Sitzungen haben Dorfbe-wohner mit Unterstützung von Lumanti überlegt, wie ihrneues Taukhel Machegoan aussehen soll. „Mir war wichtig,dass wir im neuen Haus einen Wasseranschluss haben undich keine Krüge mehr schleppen muss“, meint Punam She-resta, und ihr Mann Rohit wünschte sich einen zentralenTreffpunkt im Dorf. Diese und viele andere Wünsche sindin den Plänen berücksichtigt worden. „Das neue TaukhelMachegoan wird so angelegt, dass ein großer, zentraler

Platz entsteht, um den herum die Häuser angeordnet wer-den“, erläutert Ananta Raj Bajracharya den Plan. Daraufsind auch fünf Bäume zu erkennen – einer für jedes der Erd-bebenopfer des Dorfes. Jede Familie wird Sonnenlicht undfrische Luft bekommen – anders, als im früheren TaukhelMachegoan, wo die Häuser so dicht gedrängt standen, dassdie unteren Räume immer dunkel und stickig waren.„Außerdem wird jedes Haus an die Wasserversorgung undan das Abwassersystem angeschlossen werden“, erklärtAnanta Raj Bajracharya weiter. „Und natürlich werden dieneuen Häuser erdbebensicher sein.“ MISEREOR finanzierteinen Teil der Reparatur und den Neubau von Häusern.Zudem wird die Anlage von Fluchtwegen und ein Abwasser-system unterstützt. Tempel, Verschönerungen und Erweite-rungen der Häuser müssen in Eigenleistung durch die Dorf-bewohner erbracht werden. Kredite kommen von Spargrup-pen und Banken.

„WIR SIND BEREIT, SCHON LANGE!“

Wenn Punam und Rohit Sherestha die Pläne betrachten,dann legen sich Hoffnung und Zuversicht auf ihre sonst soernsten Gesichter. Noch weiß niemand, wann die Bauarbei-ten beginnen, auch Ananta nicht. „Wir hoffen einfach, dassdie Regierung bald die Planungen zum Wiederaufbau ab-schließt und die Genehmigung zum Baubeginn erteilt.“Und fügt hinzu: „Sowie das der Fall ist, legen wir los. Wirsind bereit. Schon lange.“ Zwei Jahre wird es dauern, einneues, besseres Taukhel Machegoan zu errichten.

Doch den Monsun werden Punam und Rohit Sheresthain jedem Fall noch in ihrem Verschlag ertragen müssen.Wenn Ende Mai die Regenzeit anfängt und der Himmel seineSchleusen öffnet, dann wird sich der Lehmboden in ihrerBlechhütte wieder in Morast verwandeln und nirgendwowird es einen einzigen trockenen Ort geben. „Und die Kleinefängt gerade an zu krabbeln“, denkt die junge Mutter lautund seufzt. Dann beugt sich Punam Sherestha wieder überihr Strickzeug. Nur für den Fall, dass es mit dem Wiederauf-bau von Taukhel Machegoan doch noch länger dauert.

Der Fotograf Christian Nusch und die Autorin Kathari-na Nickoleit bereisen seit 2005 gemeinsam Latein-amerika, Asien, Süd- und Ostafrika und berichten von

dort für die ARD, den WDR, dasDeutschlandradio und verschiede-ne Hilfsorganisationen. „Bei unse-rem Besuch in Nepal hat uns be-sonders beeindruckt, mit welcherZuversicht und Hoffnung die Men-schen trotz der Katastrophe in dieZukunft blicken.“

Punam und ihr MannRohit begutachten mitMitarbeitern von derOrganisation Lumantidie Pläne für den Neu-bau des Dorfes. BeimBau hilft MISEREOR.Auch die Wünsche derBewohner sollen Be-rücksichtigung finden.

www.misereor.de/nepal

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Zwei Jahre wird eswohl noch dauern, bisdas neue Dorf aufge-baut ist. Wenn EndeMai die Regenzeit an-fängt, wird sich der

Lehmboden in Morastverwandeln: Schlechtfür Hausaufgaben oder

Herumkrabbeln.

Taukhel Machegoanwird einen zentralenPlatz haben. Ein Tem-pel soll entstehen.Jedes Haus wird an dieWasserversorgung unddas Abwassersystemangeschlossen. FünfBäume stehen für dieErdbebenopfer.

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10 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

Beim Orangensaft-Wettstreit kann sich der neue brasilianische Fair Trade-

Saft Merida Orange gut behaupten. Er wird von der GEPA vertrieben und

von MISEREOR unterstützt. Von Bernd Müllender Fotos von Frank Dicks

homas Antkowiak wagt sich nach der Verkostungweit vor. Noch bevor klar ist, welche Saftprobe zu wel-cher Marke gehört, steht sein Votum fest: „Die Num-

mer sechs würde ich nicht kaufen wollen.“ Und wenn sichgleich herausstellen sollte, dass ausgerechnet diese Kostpro-be der neue Fairtrade-Saft von GEPA und MISEREOR ist?„Tja“, zögert der MISEREOR-Geschäftsführer und ahnt, aufwelch’ tückisches Glatteis er sich mit seinem harschen Ur-teil begeben hat, „dann habe ich wohl Pech gehabt. Das willich aber wirklich nicht hoffen.“

NOCH KENNT NIEMAND DIE AUFLÖSUNG

Sechs Orangensäfte stehen an diesem Frühjahrsmorgen zurBlindverkostung auf dem Tisch des Mehrzweckraumes 106in der MISEREOR-Zentrale in Aachen. Alle anonym in neu-

tralen Glasflaschen mit Aufklebern von 1 bis 6 abgefüllt. ImWettbewerb sind: zwei Biosäfte, der Klassiker Hohes C, ein Dis-counterprodukt, ein feingefilterter Frischgepresster und derneue Fairtrade-Saft von GEPA und MISEREOR (siehe Kasten,Seite 12). Die Preise reichen von 0,89 bis 4,55 Euro pro Liter.

„Leben für alle“ steht auf einem Holzkreuz neben demPodium. „Trinken für drei“ ist das Motto heute. Drei Testerhaben Platz genommen, vor sich jeweils eine Batterie vonGläsern mit den entsprechenden Nummern von 1 bis 6.Dann wird eingeschenkt. Neben Antkowiak sitzen die Wirt-schaftsstudentin Nele Borgmann und der Aachener Sterne-koch Christof Lang. Bereit stehen auch Wasser und ein KorbLaugenbrötchen (um Säure zu neutralisieren), Kaffeepulver(um die aromabetörte Nase wieder auszubalancieren) undeine formschöne Blumenvase – als Spucknapf, wenn je-mand nur schmecken will und nicht schlucken.

Dann wird gekaut und geschluckt, der Mund gestenreichdurchspült, immer wieder gerochen, geschnüffelt, ge-schmatzt, geschmeckt und dabei stirnrunzelnd emsig nach-gedacht. Und noch mal einen anderen Saft zum Schnellver-gleich in den Mund: Mhhh. Aha. Hm. Alle drei Tester lassenreichlich Fachbegriffe fallen: „Ja, angenehme Säure… nichtaggressiv… könnte eine Spur mehr Süße vertragen… nichtmein Favorit… der wirkt etwas chemisch…“

Deutschland ist mit 33 Litern pro Kopf und Jahr Weltmeis-ter im Konsum von Fruchtsäften. Kriterien für den Kaufeines Orangensafts sind Bio oder nicht, Herstellungsbedin-gungen, Geschmack und Preis. Laut Informationen auf derVerpackung waren die Testsäfte mal „100 Prozent Direktsaft

in Demeter-Qualität“, mal „aus biologisch-dy-namischen Anbau“, ohne Gentechnik odervegan. Geworben wird mit Slogans wie: „imUrsprungsland erntefrisch gepresst“, „wert-

T

FEINE ZUNGEN SCHNÜFFELNDE NASEN

Jede Probe wird vonden drei Testern mehr-fach gekostet undnach Farbe, Geruch,Geschmack und derSäuerlichkeit im Ab-gang bewertet.

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erhaltend abgefüllt, vollmundig, vollreif“. Oder schlicht:„südlicher Genuss“ und „reich an natürlichem Vitamin C“.Die Handelsbedingungen sind nur beim GEPA-Saft undbeim Bioprodukt von Voelkel ein Thema.

Christof Lang schwenkt sein Glas jedes Mal, bevor er kos-tet. Luft setzt flüchtige Aromen frei. „Ich glaube, beim Weinheißt das avinieren“, sagt er. Das bedeutet: Glas zuerst miteinem Schluck Wein ausspülen, um Geruchsreste zu elimi-nieren. Beim Orangensaft hätten wir es also mit asaftierenzu tun. Dann schmecken alle, kauen den Saft, riechen hier,riechen da. Lang steckt seine Nase deutlich am tiefsten indie Gläser: „Ich habe schon viel in meinem Leben verkostet.Aber Orangensaft noch nie.“

Die Testprodukte sind entweder aus Direktsaft oder ausmeist tiefgefrorenem Konzentrat, das sich preiswerter ver-schiffen lässt und beim Abfüllen wieder mit Wasser verflüs-sigt wird. Eine Tonne Konzentrat entspricht etwa 5.500 LiterSaft. Ein Nektar war beim Test nicht dabei. Beim Nektar, sonaturbelassen der Name klingt, sind 50 Prozent teilweisestark gezuckertes Wasser als Zusatz erlaubt.

Jährlich werden auf der Welt etwa 70 Millionen TonnenOrangen geerntet, das entspricht etwa 400 Milliarden Stück.Jede vierte Apfelsine stammt aus Brasilien, dem Weltmarkt-führer beim Export von Konzentraten; Hauptabnehmer istEuropa. Brasilianische Orangen werden mehrheitlich rundum São Paulo angebaut. Drei große Unternehmen kontrol-lieren dort die Saftindustrie.

Die Tester probieren munter weiter: „… tolle Farbe… säu-erliche Nuancen… naja, die Farbe sagt nichts über den Ge-schmack…“. Studentin Nele Borgmann wagt sichals erste vor: „Mein Favorit ist die Nummer 4, ge-folgt von der 3. Ich vermute, 3 ist der frischge-presste Saft.“ Und die 1, sagt sie, habe ihr „nicht

so gefallen“. ChristofLang wählt auch die 4 alsFavorit: „Obwohl eine be-sonders appetitliche Far-be ein trügerisches Argu-ment ist. Die Nummer 5ist etwas blässlicher,schmeckt mir aber fastgenauso gut.“ ThomasAntkowiak votiert eben-falls für 3 und 4: „Bei derFarbe tendiere ich zu 4,die 3 schmeckt noch fri-scher, etwas säuerlicher.Bei mir gewinnt die 3.“

Nele Borgmann und Thomas Antkowiak hatten mit ihrerVermutung recht: Frischgepresst war Nummer 3. Der teuers-te Testsaft, der Demeter-Direktsaft von Beutelsbacher, wardie Nummer 4. GEPAs neuer Brasilianer, die Nummer 5, er-wies sich als geschmacklich bester Konzentrat-Saft. Num-mer 1 war das Hohe C, und die Nummer 6 der billige Dis-countersaft. Zu dessen Ehrenrettung sei gesagt, dass Studen-tin Nele Borgmann ihn sogar auf Platz 3 gesetzt hat, zusam-

men mit Voelkels Biosaft, der Nummer 2.Die schriftlichen Notizen der Tester zeigen

am Ende des Saft-Wettstreits ein wenig überra-schendes Ergebnis: Die Unterschiede sind ge-

ring, kein Saft ragte heraus, keiner ging unter.Feinzunge Christof Lang hatte dem Saft von MISERE-OR mit zwei anderen sogar die beste Geschmacksno-

te gegeben, angenehm mild, fruchtiges Aroma,ohne störende Säure („die will ich nur in Soßen“);

aber er hatte auch notiert „leicht bitter“. Seine

DIE DREI

Thomas Antkowiak, Jahr-gang 1955, ist einer derdrei MISEREOR-Geschäfts-führer, zuständig für Per-sonal und den Bereich Fai-

rer Handel. „Ich trinke gern mal frischgepressten Saft. Orangen essen ist nichtso meine Leidenschaft: Ich mag das Pel-len nicht.“

Christof Lang, Jahrgang 1954, Inhaberdes Sterne-Restaurants „La Becasse“ inAachen. „Als Kind stand ich auf Maroc-Orangen. Die waren besonders aroma-tisch. Bei Säften ist immer wichtig, dassdie Marge sauber ist: Eine faule Orangeversaut 100 Liter.“

Nele Borgmann, Jahrgang 1992, Studen-tin aus Büttgen bei Neuss. Nach ihremBachelor in Georessourcen-Managementstudiert sie an der Technischen Hoch-schule in Aachen Wirtschaftswissen-schaften für den Master-Abschluss. „ZuHause esse ich Orangen lieber, statt sieauszupressen.“

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Vermutung: Wenn die Maschinen beim Pressen nur etwas zukräftig eingestellt sind, geraten Fasern der weißen Haut mitihren Bitterstoffen in den Saft. „In unserem Restaurantschälen wir die Filets einzeln sehr sorgfältig. Alles Weißemuss gewissenhaft abgeschnitten werden.“

Thomas Antkowiak war am Ende froh, dass der neueGEPA-Saft nicht seine bemängelte Nummer 6 war und gutmithalten konnte: „Ein Ergebnis, das mir schmeckt. Die Ar-beitsbedingungen der Pflücker und Kleinbauern sind mirwichtig. Bei unserem Modell mit Kooperativen gibt es keineZwischenhändler. Und wir wollen fairen Handel, damit alleeine Chance auf dem Weltmarkt haben.“

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DER SAFTMARKT, DIE PFLÜCKER UND ICH

Stark schwankende Preise für Saftkonzentrate sind Ergeb-nis emsigen Zockens an den Warenterminbörsen in NewYork. „Die Weltmarktpreise“, schreibt Fairtrade Deutsch-land, „wirken sich direkt auf die Einkommen und Arbeitsbe-dingungen der Pflückerinnen, Pflücker und Kleinbauernfami-lien aus“ − selten zu deren Vorteil. Jeder zweite Orangen-pflücker in Brasilien ist Tagelöhner ohne Sozialversiche-rung. Kinderarbeit ist zwar offiziell verboten, aber immernoch verbreitet. MISEREOR-Geschäftsführer Thomas Antko-wiak sagt: „Uns ist wichtig, dass die Pflücker garantierteLöhne bekommen. Das ermöglicht es ihnen, ihre Kinder zurSchule zu schicken, statt sie mitarbeiten zu lassen. Ichkann mir schwer vorstellen, dass Billigsäfte, auch wenn sieschmecken, dies gewährleisten können.“

MISEREOR und die GEPA in Wuppertal, der größte europäi-sche Importeur fair gehandelter Lebensmittel aus südlichenLändern, arbeiten beim Orangensaft mit der brasilianischenKooperative Coopealnor zusammen; 20 ihrer 100 Mitglie-der produzieren ökologisch, die anderen minimieren denKunstdünger- und Herbizideinsatz so weit wie möglich. Einezusätzliche Fairtrade-Prämie soll zur Umstellung auf dieBioproduktion beitragen.

Der GEPA Merida Orangensaft ist laut Etikett „100 ProzentFrucht, 100 Prozent fair, hergestellt aus rund 20 Orangen“.Zusätzlich gibt es auf dem Tetrapack Infos über fairen Han-del und das sozial instabile Olympialand Brasilien. Ein Literkostet 1,99 Euro. Erhältlich beim GEPA-Versand, in denWeltläden und zum Teil auch in Supermärkten.

Bernd Müllender lebt in Aachen und arbeitet seit 30Jahren als freiberuflicher Journalist für Zeitungen undMagazine. Orangen mag er am liebsten bittersüß zuMarmelade verarbeitet. Sein nächstes Projekt ist einBuch über die Nachbarn im Dreiländereck – abernicht über die „Oranjes“ aus den Niederlanden, son-dern die Belgier aus dem „Königreich Frittanien“.

Frank Dicks lebt als freier Fotograf in Köln. Zu seinenSchwerpunkten zählt die fotografische Begleitungvon Film- und Fernsehproduktionen. Zudem gehörenPortraits, Titelshootings sowie die Eventfotografie zuseinen Arbeitsgebieten. Für MISEREOR war Frank Dicksbereits mehrfach auf Reportagereisen, so in Indienund Südafrika.

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Ob beim Kohleabbau in Südafrika oder bei

der Produktion von Bekleidung in Bangla-

desch: Immer wieder verletzen transnatio-

nal tätige Konzerne Menschenrechte. Jetzt

sollen die Firmen mehr Verantwortung für

ihre Produktions- und Beschaffungsketten

übernehmen, das sehen Leitprinzipien der

UNO vor. In Deutschland werden diese ge-

rade konkretisiert: mit einem nationalen

Aktionsplan. Beteiligte NGOs plädieren für

Verbindlichkeit, dagegen sträuben sich

Unternehmensverbände.

Text von Caspar Dohmen Fotos von Oupa Nkosi

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illkommen in der Hölle“, so be-grüßten lokale NGO-Vertreter

MISEREOR-Mitarbeiter ArminPaasch in der Provinz Mpumalanga.Im Zentrum des südafrikanischenKohlebergbaus roch er den Schwefelund sah die schwarzen Rußpartikelund die von Grubenwasser weiß geätz-te Erde, allesamt untrügliche Zeichender gravierenden Folgen des Kohle-bergbaus für Mensch und Natur in derRegion. Ähnlich schmutzig könnte esbald auch in der Region Limpopo aus-sehen, wo ein neues Kohlerevier ent-steht und der südafrikanische Kon-zern Eskom gerade ein neues Kraft-werk baut. Menschen werden auch dortohne angemessene Kompensationenumgesiedelt, Ackerflächen und Was-ser gehen verloren oder werden ver-seucht. Aktivisten kritisieren Verlet-zungen der Menschenrechte auf Ge-sundheit, Nahrung oder Wasser durchden Kohlebergbau in Südafrika schonseit Jahren, echte Verbesserungen gabes bislang nicht, obwohl das Land di-verse Abkommen zum Schutz vonMenschenrechten und Umwelt unter-zeichnet hat.

Südafrika ist da beileibe kein Einzel-fall. Viele Regierungen kommen ihrervölkerrechtlichen Verpflichtung nichtnach, für die Einhaltung von Men-schenrechten in der Wirtschaft Sorgezu tragen. Deswegen stellt sich dieFrage: Welche Verantwortung tragen

14 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

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nehmen in Menschenrechtsverstößegibt es nicht. Einen Hinweis liefert je-doch eine Studie der Universität Maas-tricht aus dem Jahr 2015. Forscher hat-ten 1800 öffentlich zugängliche Be-schwerden über Menschenrechtsver-stöße ausgewertet. Unternehmen ausden USA führen die Liste mit 511 Be-schwerden an, dann folgen Firmen ausGroßbritannien, Kanada und China.Firmen aus Deutschland belegen mit87 Beschwerden Platz fünf in diesemNegativranking. Am meisten Verstößegab es demnach im Bergbau, gefolgtvom Einzelhandel.

Kaum eine Volkswirtschaft ist der-maßen in weltwirtschaftliche Zusam-menhänge verwoben wie die deutsche.Rund 40 Prozent unserer gesamtenWirtschaftsleistung entstehen durchExporte. Fast jeder zweite Job inDeutschland hängt direkt oder indi-rekt von Exporten ab. Angesichts des-sen kommt der Bundesregierung eineganz besondere Verantwortung bei derUmsetzung der sogenannten UN-Leit-prinzipien für Menschenrechte zu. Siewurden 2011 einstimmig vom Men-schenrechtsrat der Vereinten Nationenverabschiedet und damit entstand erst-mals ein globaler Rahmen für die Um-setzung der staatlichen Schutzpflich-

Akteure aus Wirtschaft und Politik an-derer Länder für die Einhaltung vonMenschenrechten, wenn sie in der Fer-ne Geschäfte tätigen oder unterstüt-zen? Zum Beispiel sind am Bau der bei-den Kraftwerke in Kusile (Mpumalan-ga) und Medupi (Limpopo) mindestens19 Firmen aus Deutschland beteiligt,die staatliche KfW IPEX-Bank hat einenTeil der Anlage finanziert und der Bundhat den Bau mit zwei Exportgarantienunterstützt, womit der deutsche Steuer-zahler Risiken trägt. Und die großendeutschen Stromkonzerne E.ON & Coimportieren vom Kap der guten Hoff-nung große Mengen Steinkohle.

Schon heute müssen UnternehmenAktionäre und Öffentlichkeit über di-verse Risiken wirtschaftlicher Art in-formieren. Laut den sogenannten UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Men-schenrechte sollen Firmen künftig auchmenschenrechtliche Auswirkungen ihr-er Tätigkeiten identifizieren, Schädenvorbeugen und eingetretene Schädenbeheben. Das ist eine Konsequenz ausder gestiegenen Macht grenzüberschrei-tend tätiger Unternehmen, den gro-ßen Gewinnern der Globalisierung.

UNTERNEHMEN IN MENSCHEN-RECHTSVERSTÖSSE VERWICKELT

Unternehmen sind immer wieder inmenschenrechtliche Konflikte ver-wickelt. Es ist die logische Konsequenzdes heutigen Geschäftsmodells trans-nationaler Konzerne mit ihren globalverästelten Beschaffungs- und Produk-tionsketten. Genaue Zahlen über dasAusmaß der Verstrickung von Unter-

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ten und der unternehmerischen Ver-antwortung in Bezug auf Wirtschaftund Menschenrechte. Von einem „his-torischen Kompromiss“ sprach damalsdie internationale Handelskammer, ei-ne der wichtigsten Lobbyorganisatio-nen der Wirtschaft. Zivilgesellschaftli-che Organisationen reagierten dagegenskeptisch, weil der Ansatz – anders alsvon ihnen gefordert – viele Lücken auf-wies und völkerrechtlich für die Unter-nehmen unverbindlich ist. Jeder ein-zelne Staat ist aufgerufen, die Leitprin-zipien in einem Nationalen Aktions-plan umzusetzen. Die Bundesregie-rung ließ sich damit Zeit, erst seit No-vember 2014 diskutieren Vertreter von

Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Ge-werkschaft und Zivilgesellschaft überdie richtigen Maßnahmen. Es gab di-verse Expertenanhörungen. Beschlos-sen werden soll der Plan möglichstnoch vor der Sommerpause diesen Mai.

VERBINDLICHE VORGABEN

Noch spielen die menschenrechtli-chen Sorgfaltspflichten für Unterneh-men in der Praxis offensichtlich einegeringe Rolle, zumindest im Fall derbeiden südafrikanischen Kohlekraft-werke in Kusile und Medupi. Keine ein-zige der beteiligten deutschen Firmenhabe gegenüber MISEREOR „eine Mit-verantwortung für mögliche menschen-rechtliche Folgen anerkannt“, heißt esin einer MISEREOR-Studie. 14 von 19Firmen beantworteten entsprechendeFragen nicht einmal, darunter Hitachi

Power Europe, das in Kooperation mitHitachi Power Africa und mehrerenUnterauftragnehmern alle zwölf Kes-sel für die Kraftwerke lieferte und ein-baute, oder der Baukonzern BilfingerBerger. Siemens habe sich überhauptals einziges befragtes Unternehmenkonkreter zu der Frage menschen-rechtlicher Risiken geäußert, bedauertPaasch, Mitautor der Studie und einerderjenigen Vertreter der Zivilgesell-schaft, die an den Beratungen für denNationalen Aktionsplan teilnehmen.Für ihn steht fest: Wirtschaftsverbän-de irrten sich, wenn sie annähmen,deutsche Unternehmen kümmertensich immer freiwillig um ihre men-schenrechtliche Sorgfaltspflichten. DieFälle der beiden Kraftwerke Kusile undMedupi bewiesen das genaue Gegen-teil und damit auch die Notwendigkeitvon verbindlichen Vorgaben durch denGesetzgeber.

Die Studienergebnisse sind Wasserauf die Mühlen der Befürworter gesetz-licher Sorgfaltspflichten für Unterneh-men. Dafür plädieren energisch zivil-gesellschaftliche Organisationen beiden Beratungen für den NationalenAktionsplan. Fünf NGOs, darunterBrot für die Welt, Amnesty Internatio-nal und Germanwatch, haben in dieBeratungen sogar einen detailliertenGesetzentwurf eingereicht, welchergrößeren Unternehmen die Einhaltungder Sorgfaltspflichten und eine Risiko-analyse vorschreiben würde. GrobeVerstöße sollten zudem künftig geahn-det werden.

Den Unternehmensverbänden gehensolche Ideen der Zivilgesellschaft inder Tat viel zu weit. Sie pochen darauf,dass die unternehmerischen Sorgfalts-pflichten laut den Leitprinzipien frei-willig sind und wollen verhindern, dassdurch die Hintertür bei der Umset-zung des Nationalen Aktionsplans ver-bindliche Elemente eingeführt werden.

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Caspar Dohmen lebt inKöln und Berlin. Er arbeitetals Wirtschaftsjournalist,Kommentator und Kritikervor allem an der Schnitt-stelle von sozialer und wirt-schaftlicher Entwicklung un-ter anderem für die Süd-

deutsche Zeitung, Deutschlandradio, SWR undWDR sowie als Buchautor (Let‘s Make Money,Good Bank, Otto Moralverbraucher).

Oupa Nkosi lebt als Foto-graf in Johannesburg. Erarbeitet für verschiedeneTageszeitungen in Südafri-ka. Er studierte Fotografiean der Market Photo Work-shop in Johannesburg undder World Press Photo

Foundation. Er stellte seine Arbeiten bereits imKiyosato Museum of Photographic Arts aus undgewann 2010 den Bonani Africa Award.

16 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

Die Forderung nach verbindlichenmenschenrechtlichen Vorgaben fürgrenzüberschreitend tätige Konzernewird schon seit mehr als einem halbenJahrhundert erhoben. In den 1970erJahren existierte bei den Vereinten Na-tionen sogar ein Zentrum für trans-nationale Unternehmen. Es entwarf ei-nen Verhaltenskodex für Konzerne.Darüber stimmten die Staaten jedochnie ab. Die konzernkritische Einheitwurde im Jahr 1992 sogar aufgelöst.1998 unternahmen die UN einen neu-en Versuch für verbindliche Regeln,der ebenfalls scheiterte. Einen Auswegaus der drohenden Blockade bei demwichtigen Thema Wirtschaft und Men-schenrechte hielten die UN nur nochfür möglich, indem sie das Vorhabenverbindlicher Regeln aufgaben und aufSoft-Law-Regeln setzten. Sie beauftrag-ten den Harvard-Professor John Ruggiemit der Bildung einer Kommission. Sieerstellte die UN-Leitprinzipien für Un-ternehmen und Menschenrechte. Dabeisind die Staaten die Hauptadressaten,aber den Unternehmen werden soge-nannte menschenrechtliche Sorgfalts-pflichten zugewiesen. Sie sollen men-schenrechtliche Risiken ihrer Tätigkei-ten identifizieren, Schäden vorbeugenund eingetretene Schäden beheben.

RISIKEN UNTERSCHÄTZT

Versäumnisse attestiert MISEREOR imZusammenhang mit dem Bau der bei-den Kohlekraftwerke in Südafrikaauch der Bundesregierung, im Zusam-

menhang mit der Außen-wirtschaftsförderung fürderen Bau. So sei die Ex-portkreditgarantie an Hi-tachi Power Europe auf

der Grundlage von Folgeabschätzun-gen für das Projekt erfolgt, welcheeine unabhängige Untersuchungskom-mission der Weltbank inzwischen alsfehlerhaft kritisiert hat. Die Bundesre-gierung habe die „Dimension der öko-logischen und menschenrechtlichenRisiken der Kraftwerke erheblich unter-schätzt oder zumindest nicht ernst ge-nommen“, heißt es in der Studie.Deren Autoren haben ebenfalls Zweifeldaran, dass die KfW IPEX-Bank, einevollständige Tochter der staatseigenenKfw-Bankengruppe, die notwendigenmenschenrechtlichen Sorgfaltspflich-ten bei der Kreditvergabe zugrunde ge-legt hat. Die Staatsbank blieb auf diekonkreten Fragen von MISEREOR zuden Risiken für die Umwelt und die Be-achtung von Menschenrechten Antwor-ten schuldig.

Wie weitreichend die Rechte derKonzerne im Handelsrecht heute ver-ankert sind, ist vielen Bürgern im Zu-sammenhang mit den Diskussionenüber TTIP bewusst geworden, dem ge-planten Handelsabkommen zwischender EU und den USA. Dagegen ist derSchutz der Menschenrechte in derWirtschaft ziemlich unverbindlich.Das liegt vor allem daran, dass Opferentsprechender Menschenrechtsverlet-zungen oft keine Möglichkeit haben,ihre Rechte durchzusetzen. „Das Men-schenrechtsregime hinkt dem globalenHandelsregime hinterher“, sagt Micha-el Windfuhr, den das Thema Wirt-schaft und Menschenrechte schon seinganzes Berufsleben begleitet, heute alsLeiter des Deutschen Instituts für Men-schenrechte, das bei dem Prozess fürdie Erstellung eines Nationalen Akti-onsplans eine beratende Funktion hat.Ziel müsse es sein, ein Skelett von Min-

deststandards zum Schutz vonMenschenrechten zu etablie-ren und dafür biete der Natio-nale Aktionsplan den geeigne-ten Rahmen. „Das ist nichtAnti-Wirtschaft, sondern esgeht um ein vernünftiges Maßeiner Grundsubstanz.“

33 Länder arbeiten derzeitan solchen Nationalen Akti-onsplänen, elf sind bereits ver-abschiedet. Nach Ansicht von

Windfuhr sind sie „schwach“. Umsowichtiger sei es für den ganzen Pro-zess, dass Deutschland einen echtenImpuls setze. Mancher will darauf garnicht warten. Längst gibt es einenneuen Anlauf von einigen Staaten.Wortführer sind Ecuador und ausge-rechnet Südafrika, welches selbst we-nig Initiative zeigt, die Dinge zu Hausebesser zu regeln, was das Beispiel derKohleminen zeigt. An den Verhandlun-gen nehmen viele Industrieländer garnicht erst teil, auch nicht die EU. Der Versuch, verbindliche völkerrechtlicheRegeln für transnationale Unterneh-men zu erreichen, erweist sich einmalmehr als eine Sisyphus-Aufgabe.

www.misereor.de/kohle

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Prostitution

in Blechhütten, ohne Strom- und Wasserversorgung.

Experten fürchten höhere Lebensmittelpreise und eine größere Abhängig-

keit von Importen.

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SOZIALE PROBLEMEDURCH DEN STARKEN ZUZUG NEHMEN SOZIALE PROBLEME WIE PROSTITUTION ZU. DIE OHNEHIN SCHLECHTE GESUNDHEITSVERSORGUNG IST ÜBERLASTET.

Südafrika ist aktuell der siebtgrößte Kohleproduzent der Welt. Seit weit über 100 Jahren wird in der Kohleprovinz Mpumalanga Bergbau betrieben, dort reiht sich Kohlemine an Kohlemine. Zwölf Kohlekraftwerke produzieren Strom. Nun will auch die Provinz Limpopo bis 2025 ihre Kohleproduktion vervielfachen: von 16 Millionen auf mehr als 100 Millionen Tonnen im Jahr. Die Erfahrungen des exzessiven Kohlebergbaus in Mpumalanga zeigen, was den Menschen in Limpopo in Zukunft droht:

WENN NUR DIE KOHLE ZÄHLT

MISERABLE WOHNBEDINGUNGEN IMMER MEHR MENSCHEN SIEDELN SICH UM MINEN UND KRAFTWERKE AN IN DER HOFFNUNG AUF JOBS. SIE WOHNEN IN PREKÄREN VERHÄLTNISSEN:

WASSERMANGELSCHON JETZT IST WASSER IN DER DÜRREN REGION LIMPOPO KNAPP – DIE KRAFTWERKE, DIE VIEL DAVON VERBRAUCHEN, WERDEN DIE WASSERKNAPPHEIT VERSTÄRKEN.

VERSCHMUTZTE LUFTMANCHE GRENZWERTE FÜR GIFT-STOFFE IN DER LUFT WERDEN SCHON JETZT DREI- BIS VIERFACH ÜBERSCHRITTEN.

UMSIEDLUNGEN UND TEURE NAHRUNGSMITTELDURCH DIE AUSWEITUNG DES KOHLE-BERGBAUS MÜSSEN VIELE BAUERN UND LANDARBEITER DIE FARMEN VERLASSEN.

Viele Menschen in den Kohleregionen leiden an

Asthma, Tuberkulose oder an der sogenannten

„Staublunge“.

STILLGELEGTE UND UNGESICHERTE MINEN

Sie sind eine große Gefahr für die Menschen: Schächte stürzen ein, es kommt regelmäßig zu unterirdischen Bränden.

IN SÜDAFRIKA GIBT ES ÜBER 5.900 VERLASSENE MINEN, 1.700 WERDEN ALS „HOCH-GEFÄHRLICH“ EINGESTUFT.

VERSEUCHTES WASSER SÄUREN UND SCHWERMETALLE AUS DEM BERGBAU LANDEN IM TRINK-WASSER UND VERSEUCHEN SEEN UND FLÜSSE, IN DENEN TIERE UND PFLANZEN STERBEN UND KINDER SCHWIMMEN GEHEN.

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18 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

Menschen oder Gold? Das ist die Frage in der kolumbiani-

schen Pazifikregion Chocó, der ärmsten des Landes. Bis-

her hat sich der Staat durch Abwesenheit vor einer Ent-

scheidung gedrückt. Nach dem Friedensschluss geht das

nicht mehr. Die Kirche setzt alle Hebel in Bewegung, dass

die Entscheidung für eine Bevölkerung ausfällt, die unter

dem Krieg besonders zu leiden hatte.

Von Sandra Weiß Fotos von Florian Kopp

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März in Havanna die linke FARC-Guerilla mit der RegierungFrieden schließt, ist eine der größten Herausforderungenim Chocó. Heute wie damals geht es um Land und Boden-schätze. Die Menschen in der Region – hauptsächlich Nach-fahren schwarzer Sklaven – stören die Mächtigen nur. DerChocó ist das Armenhaus Kolumbiens. Vier von zehn Bewoh-nern sind Analphabeten, 110 von tausend Babys sterben beider Geburt, 73 Prozent der Kinder sind unterernährt. „DerChocó ist so arm, dass wir dachten, dass der Bürgerkrieg niehierher kommt“, erinnert sich Ulrich Kollwitz, von MISERE-OR finanzierter Mitarbeiter der Menschenrechtskommissi-on der Diözese.

Doch dann trieben fast täglich Leichen den Fluss hinab.Das war Ende der 90er Jahre, als die paramilitärischen Ver-bände zur Großoffensive bliesen. Offiziell bekämpften siedie linke FARC-Guerilla, die im undurchdringlichen Urwaldihr Rückzugsgebiet hatte. Doch hauptsächlich ging es umdie Kontrolle eines Territoriums, das reich ist an Rohstoffenund fruchtbarem Land und mit dem Atrato eine strategischwichtige Wasserstraße beherbergt. Statt Guerilleros, dieeiner offenen Konfrontation aus dem Weg gingen, metzel-ten die paramilitärischen Selbstverteidigungsgruppen dieBevölkerung nieder und machten den Weg frei für Gold-schürfer, Bananen- und Palmölplantagen. Nirgendwo gab esgemessen an der Bevölkerungszahl mehr Massaker undmehr Vertriebene als im Chocó.

BLICK IN DIE ABGRÜNDE DER MENSCHLICHEN SEELE

„Drei Viertel aller Einwohner wurden Opfer der Gewalt“,sagt Kollwitz. Er muss es wissen, denn die Kirche hat langevor allen anderen die Menschenrechtsverletzungen doku-mentiert und denunziert. Die Kapelle der Diözese ist tape-ziert mit Fotos der Opfer: Frauen, Männer, Greise und Kin-der, ja sogar Babys. Dazu ein paar Stichdaten: Name, Ge-burtsdatum, Sterbedatum und – so weit bekannt – die Ver-antwortlichen der Tat. Manche Fotos sind hinter ihren Pla-stikhüllen verblasst oder von der Luftfeuchtigkeit angefres-sen. Es ist kein Museum, sondern der einzige Ort, an dem

die Angehörigen ihrer Toten gedenken können. Esgibt keine einzige Gewaltszene, kein Pathos, keineweiteren Erklärungen. Und dennoch macht einender Besuch schwummrig – als habe man soebenin die Abgründe der menschlichen Seele geblickt.

Bei manchen Massakern wurden ganze Dörferausgelöscht. In anderen Fällen gelang den Überle-benden die Flucht nach Quibdó. In den 90er Jah-

enn wir all die Energie, die wir in den Krieg ge-steckt haben, auch in den Frieden investieren,wird Kolumbien ein Vorzeigeland“, sagt Ivonne

Caicedo und lässt nachdenklich den Blick schweifen überden Atrato-Fluss, der sich unter der Veranda der DiözeseQuibdó schlammbraun und träge dahinzieht. Die Bürger-rechtlerin weiß, dass es eine Mammutaufgabe wird in die-ser Region, die vom kolumbianischen Staat vergessenwurde. Unten am Hafen herrscht reges Treiben. Händlerladen dicke Bananenstauden von Kanus, Betreiber kleinerPassagierfähren werben um Kundschaft, junge Männerdurchziehen in Stocherkähnen den Fluss, auf der Jagd nachFischen. Die Provinz Chocó an der kolumbianischen Pazifik-küste ist ein tropisches Paradies, großzügig bedacht mitallem, was die Schöpfung hergibt. Der kaum erschlosseneChocó beherbergt einen der arten- und regenreichsten Ur-wälder der Erde. Doch die Idylle trügt.

Es gab Zeiten, da war der Atrato-Fluss keine Lebensader,sondern brachte Angst und Tod. „Und die Täter von damalsund ihre Hintermänner lauern auf eine neue Gelegenheit“,sagt Caicedo. Dass die Kriegsgewinnler von damals nicht zuden Friedensgewinnern von morgen werden, wenn Ende

Pfarrer Sterlin Londo-no zeigt Tafeln mitNamen, Alter undFotos von Bürger-kriegsopfern in derKapelle für Konflikt-opfer des Bischofs-sitzes in Quibdó.

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ren schwoll die Bevölkerungder kleinen Provinzstadt rapi-de an. Auch Ober Machadoverbrachte acht Jahre hier,nachdem die FARC im Jahr2000 sein Dorf Playa Bonitaüberfallen und die Bevölke-rung kollektiv in Geiselhaftgenommen hatten. Machadofloh aus Angst vor einem Ra-chefeldzug der Paramilitärs.Nun ist der 32-Jährige zurück-gekehrt. Er ist jetzt Dorfpoli-zist, hat aber weder ein Bootnoch eine Pistole und mussmit einer Truppe von Mache-ten tragenden Freiwilligen ausdem Dorf für Sicherheit sorgen.

Um von Quibdó nach Pla-ya Bonita zu kommen, mussman zwei Stunden erst denAtrato, dann den wilderen Ne-benfluss Andagueda befah-ren. Wo früher Äste bis tief insWasser hingen, Moose undFarne die Felsen am Ufer zier-ten, klaffen nun gähnendeLöcher zwischen großen Kies-bergen. Gold ist der Stoff, ausdem die Träume sind, und dieGier schlägt tiefe Schneisen inden Regenwald. DröhnendeGeneratoren von Baggerschif-fen verpesten die Luft. Aufdem Kies thronen Laster, Vor-derlader und hölzerne Sand-rutschen – die Utensilien, mitdenen Schürfer dem Flusssandwinzigste Goldpartikel ent-reißen. Für ein paar Grammmüssen dutzende Bäume gefällt und Tonnen Erde umgewälztwerden. Der Chocó produziert die Hälfte des kolumbiani-schen Goldes und ist doch bitterarm geblieben: 65 Prozentder Einwohner leben unter der Armutsgrenze. Reichtum fürwenige, Zerstörung für alle: Klare, fischreiche Gewässer sindnun trübe von Sedimenten und tot vom Quecksilber, das die

Schürfer einsetzen. Unlängst starbenüber 30 Kinder nach dem Konsumvon quecksilberhaltigem Flusswasser,denn sauberes Trinkwasser hat fastkeine Gemeinde.

DAS VERTRAUEN IN DEN STAATIST GERING

„Wir haben immer schon Gold ge-schürft, aber im kleinen Stil, mitSiebe-Pfannen“, erzählt Machado.Was jetzt am Atrato und am Anda-gueda passiert, sieht er mit Sorge.Legal ist es nicht. „Ich frage michnur, wie die ganzen Bagger, Motoren,Benzin und das Quecksilber hierhertransportiert werden, ohne dass dasjemandem auffällt“, sagt Machadoironisch. Die Antwort kennt er eben-so gut wie alle: Polizisten, Politiker,Militärs sind ebenso Nutznießer desschmutzigen Geschäfts wie die Gue-rilla und die Paramilitärs, die sichzwar offiziell 2006 demobilisierten,von denen viele aber weiterhin dieGewalt als Geschäftsmodell pflegen.Sie heißen nun „Rastrojos“ und

„Autodefensas Gaitanis-tas“, doch die Strategi-en sind die gleichen ge-blieben: Die Bevölke-rung mit Geld und Ge-walt gefügig machen,um selbst Gold zuschürfen oder von denUnternehmern Schutz-

gelder zu erpressen, um Drogenrou-ten zu kontrollieren oder über kor-rupte Bürgermeister staatliche Auf-träge zu bekommen. Dass es mit denFARC nach der Demobilisierung an-ders läuft, ist nicht sicher. „Wir müs-sen den Gemeinden helfen, sichgegen solche Übergriffe zu wapp-nen“, umreißt Kollwitz die Heraus-forderung des Friedens im Chocó.

Nach Playa Bonita sind inzwischen 200 der ursprünglich400 Einwohner zurückgekehrt. Schneller als die träge Re-gierungsbürokratie nachkommt, die derzeit noch haupt-sächlich damit befasst ist, ein Friedensbüro in Quibdó ausdem Boden zu stampfen und personell auszustatten. DieMenschen von Playa Bonita müssen praktisch alleine von

Pfarrer Ulrich Kollwitzvom Büro der katho-lischen Menschen-rechtskommission, dasMISEREOR finanziert,hilft den Menschen inden Gemeinden sichzu organisieren.

20 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

Ober Machado ist mitt-lerweile der Dorfpoli-zist von Playa Bonita –ohne Boot und Pistole.Früher hat der 32-Jäh-rige selbst Gold ge-schürft, im kleinen Stilmit Siebpfannen.

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vorne anfangen – nur mit Unterstützung der Diözese. Beieinem Treffen in der noch im Rohbau befindlichen Kirchehört sich Kollwitz die Klagen an: Zu wenig Medikamente imnoch immer halb zerstörten Gesundheitsposten, ständigeStromausfälle, zu teure Transportkosten für Baumaterialund die Ernte. Dann zeigt Dorfvorsteher Stuard Mena erbostauf das gegenüberliegende Flussufer, wo sich Goldschürferniedergelassen haben – obwohl Playa Bonita eigentlich zum73.000 Hektar großen kollektiven Schutzgebiet gehört, dasdie Bauernorganisation COCOMOPOCA in einem elf Jahrelang dauernden Prozess mit Hilfe der Diözese erstrittenhat. Mit einem „kleinen Wermutstropfen“ allerdings: Alsdie Landbehörde endlich entschied, lebte nur noch die Hälf-te der ursprünglich 30.000 Bewohner auf dem Land. Und inder Zwischenzeit hatte das Bergbauministerium dem süd-afrikanischen Konzern Anglo Gold Ashanti Schürfkonzessio-nen auf 55.000 Hektar erteilt. Eigentlich ein Verstoß gegendie Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation(ILO), die eine vorherige Konsultation der angestammten Ge-meinschaften vorschreibt. Aber der Bergbau, so die Vorstel-lung der Regierung, soll einer der Motoren des Post-Kon-flikts werden.

Viele Dörfer haben Angst, sich gegen Goldschürfer zuwehren. Kritische Anführer wurden bedroht, und die Angstvor neuen Massakern und Vertreibungen ist groß. Das Ver-trauen in einen noch immer abwesenden, gleichgültigenund korrupten Staat ist gering. Kollwitz notiert die Klagen,vernetzt die Gemeinde mit dem „Foro Interet-nico“, der Plattform von Caicedo, und ermun-tert COCOMOPOCA zu einer öffentlichen Stel-lungnahme. Gemeinsam sind die Gemeindennicht nur stärker; kollektive Prozesse schüt-zen außerdem den Einzelnen. Der Momentist günstig: Institutionen wie die UNO unddie Europäische Union (EU) wollen sich starkin der Befriedung engagieren, und die Diöze-se Quibdó ist ein wichtiger Partner. Das ausländische Inter-esse am Chocó hat sogar die Regierung in Zugzwang ge-bracht: Ende Januar schickte das Oberste Gericht erstmalseine Kommission in die Region, um den illegalen Goldab-bau in Augenschein zu nehmen.

REPUBLIK KOLUMBIEN

Kolumbien grenzt an Panama, Venezuela, Brasilien, Peruund Ecuador. Die Hauptstadt Bogotá zählt mit fast zehn Mil-lionen Einwohnern zu den am schnellsten wachsenden Me-tropolen in Südamerika.

Gewalt ist in Kolumbien schreckliche Normalität: Seit übersechs Jahrzehnten leidet das südamerikanische Land unterbewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierung,Guerilla und paramilitärischen Verbänden, die in Gebietenmit strategischem Interesse für die Konfliktparteien leben.Die Opfer stammen mehrheitlich aus der Zivilbevölkerung.Besonders gefährdet sind indigene Gemeinschaften, Afro-Kolumbianer und Kleinbauern. Im Oktober 2012 begannenauf Kuba Friedensverhandlungen, die diese Situation end-lich beenden sollen. Die Herausforderungen sind riesig:Alle beteiligten Konfliktparteien begingen schwerste Men-schenrechtsverletzungen, fast alle blieben unaufgeklärt.Zentrale Konfliktursachen wie die massive soziale Ungleich-heit und eine ungeklärte Landfrage sind zu beseitigen. Dro-genhandel, Korruption und organisiertes Verbrechen schuf-en in vielen Gebieten Kolumbiens rechtsfreie Räume. Schät-zungen über die Anzahl der Menschen, die sich im eigenenLand auf der Flucht befinden, reichen bis zu 5,2 MillionenKolumbianern. Betroffen sind vor allem Kleinbauern und an-dere Landbewohner. Diese wurden gewaltsam aus ihrerHeimat vertrieben oder flohen aus Angst vor Massakern.

MISEREOR unterstützt in Kolumbien derzeit 123 Pro-jekte, unter anderem zur Friedensförderung, mit ins-gesamt etwa 21,5 Millionen Euro.

Sandra Weiß ist freie Journalistin und lebt und arbei-tet seit vielen Jahren in Lateinamerika. Bis 1999 warsie Redakteurin der Nachrichtenagentur afp. Als freieKorrespondentin veröffentlichte sie unter anderem inDIE ZEIT und DIE WELT. Am liebsten sucht die studier-te Politologin ihre Geschichten abseits der ausgetre-tenen Pfade.

www.misereor.de/kolumbien

Der 69-jährige StuardMena, Dorfvorstehervon Playa Bonita, weistauf die gegenüber-liegende Seite desFlusses, wo sich Gold-schürfer niedergelas-sen haben.

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22 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

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Die Syrien-Krise ist inzwischen in das fünfte Jahr ihrer gewaltsamen Aus-

tragung gegangen. 7,6 Millionen Menschen sind innerhalb Syriens auf

der Flucht, 4,8 Millionen aus dem Land geflohen. Weit über drei Millionen

von ihnen haben Schutz in den Nachbarstaaten gesucht. Die Hauptlast

der Vertriebenen trägt zurzeit der Liba-

non. Auf 1.000 Einwohner kommen mitt-

lerweile 232 Vertriebene. Angesichts

weiter steigender Flüchtlingszahlen ver-

schärft sich die Lage der Flüchtlinge,

unter ihnen viele palästinensischer Her-

kunft. Dass der Lebenswille ungebro-

chen und die Hoffnung auf einen Neuan-

fang groß sind, zeigen Gesichter und Ge-

schichten hinter den Zahlen.

Von Theresa Breuer Fotos von Eric Greven

it schwungvollen Handbewegungen schreibt Mathe-lehrer Yazar Oudeh Formeln an die Tafel, währendvom offenen Balkon der Straßenlärm ins Klassen-

zimmer dringt. Angestrengt starren seine Schüler nachvorne. Sie sitzen dicht an dicht, gelegentlich wirft einer vonihnen verstohlene Blicke in das Heft seines Sitznachbarn. In-tegralrechnung steht auf dem Stundenplan. Hupende Autosund fahrende Händler, die ihre Ware anpreisen, vermischensich mit dem Tuscheln der Jungen und Mädchen. Wie gehtnoch mal die Berechnung von Flächen?

Badour al-Raai weiß die Antwort. Mal wieder. „Mathe isteines meiner Lieblingsfächer“, sagt Badour und lächeltschüchtern. Sie weiß, dass sie mit dieser Meinung unterihren Mitschülern ziemlich alleine steht. Doch ob Mathe,Physik oder Englisch: Badour ist froh, überhaupt wieder aufeine Schule gehen zu können. Zwei Jahre Unterricht hattesie verpasst. Eigentlich wäre die 19-Jährige längst in der Uni– wäre da nicht der Krieg in ihrem Heimatland Syrien, derBadours Familie zur Flucht in den benachbarten Libanonzwang. Hier konnte sie zunächst keine Schule besuchen.Denn im Gegensatz zu Syrien, wo der Unterricht auf Ara-bisch stattfindet, wird in libanesischen Klassenzimmern Eng-

M

EINSZWEITAUSENDSECHZEHN 23

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24 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

lisch oder Französisch gesprochen. Und wie soviele syrische Flüchtlinge sprach Badour bei ihrerAnkunft im Libanon weder das eine noch das an-dere. Die Schule, auf die Badour jetzt geht, liegtin Saida, einer Küstenstadt im Süden des Libanon.Sie ist vor drei Jahren als Kooperation von MISERE-OR, der Pontifical Mission Beirut und dem JointChristian Committee (JCC) gegründet worden. DasProjekt richtet sich hauptsächlich an palästinensi-sche Jugendliche, die aus Syrien geflohen sind.Aber auch einige syrische Jugendliche nehmen teil, wie Ba-dour. 200 Schüler lernen derzeit in dem Programm: von derneunten bis zur zwölften Klasse. Der Unterricht richtet sichnach dem syrischen Lehrplan und findet auf Arabisch statt.„Ein Glücksfall für mich“, sagt Badour.

BARBOUR AL-RAAI:BILDUNG FÜHRT ZU EINEM GUTEN LEBEN

Badours Familie stammt aus einem Vorort von Damaskus.Eines Nachts vor zwei Jahren bekämpften sich dort mal wie-der Rebellen, bewaffnete Oppositionsgruppen und Regie-rungstruppen. Badour hörte, wie die Bomben immer nähereinschlugen. „Da wusste ich, dass es zu gefährlich seinwürde, in Syrien zu bleiben.“ Sie packten das Nötigste ein,

kamen erst bei Verwandten unter und machten sich vondort aus auf den Weg in den Libanon. Vielleicht wären sienoch weiter geflohen, Richtung Europa, aber Badour undzwei ihrer jüngeren Geschwister leiden an Diabetes. Einelange Reise mit unklarem Ziel wäre zu gefährlich gewesen.Also suchte sich der Vater einen Job in Saida. Als Möbel-lackierer verdient er jetzt 650 US-Dollar im Monat. Die Fami-lie kommt gerade so über die Runden. „Wie ein Zuhausefühlt es sich noch immer nicht an, aber die Wohnung ist

schon viel besser als diedavor“, sagt Badour. „Dieerste Wohnung war vollerKakerlaken. Strom gab esauch so gut wie nie. Ichmusste bei Kerzenscheinlernen.“ Geschichten wiediese sind keine Ausnahme.Viele libanesische Vermie-ter missbrauchen die Notla-ge der syrischen Flüchtlin-ge. Sie verlangen Wucher-preise für schäbige Unter-künfte, wissend, dass Fami-lien froh sind, überhauptein Dach über dem Kopf zuhaben. Tausende syrischeMänner, Frauen und Kin-der leben im Libanon aufder Straße oder in erbärm-lichen Zelten, die sie auf

Äckern errichtet haben. Anders als in anderen Ländern imNahen Osten gibt es im Libanon keine offiziellen Flücht-lingslager. Die Regierung weigert sich, welche zu errichten.Sie fürchtet, dass sich die Lager zu Ghettos entwickeln, dasssie Orte für Extremisten und Aufstände werden.

Es frustriert Badour, wie ihre Landsleute im Libanon be-handelt werden. „Ich will doch nichts mehr als eine Chan-ce“, sagt sie. Als sie nicht zur Schule gehen konnte, hat siejedes Angebot wahrgenommen, das NGOs in der Region fürsyrische Flüchtlinge zur Verfügung stellen. Aus ihrem Zim-mer holt sie einen Aktenordner. Darin bewahrt sie Zertifika-te auf, die ihre erfolgreiche Teilnahme an diversen Semina-ren belegen. Jede Bescheinigung ist fein säuberlich in eineKlarsichtfolie gehüllt: Englischkurs, Erste-Hilfe-Kurs, Alten-

Richtig zu Hause fühltBarbour al-Raai sichnoch nicht in der neu-en Wohnung. Aber esgibt keine Kakerlakenund täglich Strom.Vermieter nutzen dieSituation von Flücht-lingen oft aus.

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echs Personen, die in einem Raum leben, so groß, dassman sich nicht mal vorstellen kann, wie dort sechs Men-

schen nebeneinander passen sollen. Ein Beatmungsgerätund ein Fernseher, die dauerhaft laufen und einen stetigenKonkurrenzkampf mit der noch stressigeren Geräuschkulis-se ausfechten. Man betritt das Zimmer und die zwei Mäd-chen, drei und vier Jahre alt, flüchten panisch durch dieKüche in den Innenhof. Nicht einmal die Süßigkeiten helfen,um Vertrauen aufzubauen, das ausreichen würde, sie zu be-ruhigen. Nachdem ein Bombenangriff in Aleppo die Häuser-reihe gegenüber zerstört und auch die eigene Wohnungschwer beschädigt hat, sprechen sie nicht mehr mit Frem-den. Eine Woche hat die Familie benötigt, um ihre Kinderwieder zu beruhigen. Doch auch jetzt, einige Wochen da-

nach, weinen sie noch im Schlaf und schrecken mitten inder Nacht schreiend auf. Auch dann braucht Noyri, die Mut-ter, einige Zeit, bis die Mädchen wieder zur Ruhe kommenund weiterschlafen. Zu real sind die Träume, die auf den ge-sehenen Bildern basieren. Doch nicht etwa die Zerstörungbewegte die Familie zur Flucht. Eine der Töchter hat auf-grund des kontaminierten Wassers in Aleppo eine schwereBlutvergiftung bekommen. Direkt nach der Entlassung ausdem Krankenhaus bestiegen sie den nächsten Schleuser-bus und machten sich auf den Weg nach Beirut. Alles, wasnicht in eine Tasche passte, wurde in Syrien zurückgelas-sen, mit Ausnahme des Beatmungsgeräts des Großvaters.Für diesen lebensnotwendigen Gegenstand ließen sich dieSchleuser entsprechend entlohnen. Dafür musste die Fami-lie, genau wie für jeden Menschen, 100 US-Dollar zahlen.Eine erneute Anschaffung wäre allerdings noch kostspieli-ger geworden. Doch auch so lässt sich der Alltag der Fami-lie nur schwer bewältigen. Sarkis, der Sohn, verdient mo-natlich 480 US-Dollar, wovon allein 300 US-Dollar für dieMiete verwandt werden. Die Schulgebühren der zwei Kinderwürden eigentlich 150 US-Dollar im Monat kosten, dochglücklicherweise werden sie von einer Organisation getra-gen. Eine weitere Organisation unterstützt Familie Nazarbei den Medikamenten und Lebensmitteln.

Familie Nazar

„Niemand in Syrien hätte gedacht,dass eine solche Radikalisierungmöglich ist. Ich ging früher jedenSonntag in die Kirche, habe dasKomitee für Wohltätigkeiten ge-leitet. Habe Spenden gesammeltund Armen geholfen. Nun bin ichderjenige, der auf die Spendenanderer angewiesen ist.“

S

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pflege, Koranschule und ein Seminar mit dem Titel „Wieman im Leben Erfolg hat“.

Nach ihrem Schulabschluss möchte Badour Pharmaziestudieren und Apothekerin werden. Und sie will ihrenFlüchtlingsstatus abschütteln, als voller Mensch anerkanntwerden. Ihre Mutter hat keine Zweifel daran, dass Badour esschaffen wird. „Wir hatten schon Dutzende Heiratsangebo-te von libanesischen Männern. Aber ich will, dass sie zuersteinen Universitätsabschluss macht“, sagt sie. Badour nickt:„Bildung ist der Weg, der zu einem guten Leben führt.“

MOHAMMAD BANNA:NOCH LANGE KEIN HAPPY END

Der Weg zu einem Schulabschluss aber führt die Schüleraus dem Projekt erst einmal zurück in ihre alte Heimat.Denn um einen anerkannten syrischen Abschluss zu erhal-ten, müssen die Jugendlichen zum Schuljahresende Ex-amen machen – in Syrien. Die Schule organisiert jedes Früh-jahr eine Reise, in großen Bussen und vollbepackt miteinem Stapel Sondergenehmigungen. Die Prüfungen findenim Zentrum von Damaskus statt, in den vom Assad-Regimekontrollierten Gebieten.

Wie es sich anfühlt, in die Heimat zurückzukehren, dieman hinter sich lassen musste, weiß Mohammad Banna.

Der 19-Jährige hat im Sommer 2015seinen Abschluss gemacht. „Die syri-schen Beamten konnten es kaumglauben, als wir an der Grenze stan-den“, sagt er. Sie haben das Gepäckder Schüler durchsucht, immer wie-der die Genehmigungen des Direktorsüberprüft. Mohammad hat den Mo-ment noch gut in Erinnerung: „Eswar überwältigend. Ich bin aus demBus ausgestiegen und habe den Bodengeküsst. Als wir nach Damaskus gefah-ren sind, habe ich geweint.“

Drei Wochen waren die Schüler fürdie Examenszeit in der syrischenHauptstadt. Sie wurden in einemUNRWA-Gebäude untergebracht, dem UN-Hilfswerk fürpalästinensische Flüchtlinge. „Ich war so aufgewühlt, dassich in der Zeit fast gar nicht geschlafen habe“, erzählt Mo-hammad. Stattdessen hat er die Nächte mit Kartenspielenverbracht. „Meine Freunde und ich haben darüber gespro-chen wie seltsam es ist, dass uns dieses Land genommenwurde, und dass wir nun wieder da sind, obwohl wir dochnicht mehr hierher gehören.“

Obwohl MohammadBanna einen Studien-platz im Libanon hat,treiben ihn Sorgen: umseinen Vater in Hama,um den Lebensunter-halt seiner Mutter undSchwester, um die eige-ne Zukunft.

Die Schule in Saidaist eine Kooperationvon MISEREOR mit liba-nesischen Partnerorga-nisationen. Der Unter-richt für überwiegendpalästinensische Flücht-linge findet auf Ara-bisch statt.

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Übernächtigt ging er zu den Prüfungen. An den Nachmitta-gen wanderte er durch die Straßen von Damaskus, kaufteKleider für seine Schwester und Süßigkeiten für seine Mut-ter. Er traf seine Tante, die er seit vier Jahren nicht gesehenhatte und seinen Vater, der 2011 nicht mit der Familie flie-hen wollte und inzwischen als Obdachloser in Hama lebt.Es war zu viel für Mohammad. Er bestand seine Examennicht. Erst bei den Wiederholungsprüfungen im Juli erreich-te er seinen Abschluss. Inzwischen studiert Mohammad In-formatik an der „Lebanese International University“ inSaida. Seine freien Stunden verbringt er hin und wieder inseiner alten Schule, so wie jetzt. In Jeans, roten Chucks undT-Shirt sitzt er auf dem Balkon und blinzelt in die Sonne. Erlacht oft, sodass man die Zahnlücke zwischen seinen Schnei-dezähnen sieht. Doch immer wieder verdüstert sich seineMiene. „Klar bin ich froh, dass ich einen Studienplatz im Li-banon habe“, sagt Mohammad, „doch das ist noch lange

kein Happy End.“ Er sorgt sich um seinen Vater in Hama. Ersorgt sich darum, wie er den Lebensunterhalt für seine Mut-ter und seine Schwester bestreiten kann. Nach seinen Vorle-sungen arbeitet Mohammad in einem Blumenladen, vondrei Uhr nachmittags bis Mitternacht, rund 200 US-Dollarverdient er dort im Monat. Morgens um sieben steht er auf,um für die Uni zu lernen. Und schließlich macht sich Mo-hammad Sorgen um seine eigene Zukunft. Denn als palästi-

as für Kevork Godjikian wertvollste Mitbringsel sindseine Erinnerungsfotos. Einen ganzen Stapel und meh-

rere Alben hatte er mitgenommen, um sich immer an dieguten Zeiten erinnern zu können. Die Zeiten, in denen dieFamilie noch vereint war, die Zeiten, wo er mit seinen Elternin dem eigenen Haus spielen konnte. Er war Metallschlos-ser und in der ganzen Stadt bekannt für seine kunstvollenArbeiten. Sein liebster Ort war der Balkon, für den er dieGeländer und Möbel selbst hergestellt hatte.

Eigentlich sollte Beirut nur ein kurzer Halt werden, dochdie Möglichkeiten als Armenier aus Syrien sind sehr be-grenzt. Jeder in seiner Familie, der eine Gelegenheit ange-boten bekam, ist bereits in einem anderen Land. Ein Sohnin Armenien, einer in Katar, die Tochter in Frankreich undseine Frau in Amerika. Jetzt versucht er alles, um die Fami-lie in einem sicheren Land zu vereinen. Die Tochter, die al-lerdings schon vor Kriegsbeginn nach Frankreich gezogenist, hat dort geheiratet. Alle Anträge, die sie gestellt hat,um die in Beirut Verbliebenen zu sich zu holen, wurden ab-gelehnt. Kevorks Frau, die in den USA geboren wurde, be-sitzt eine Greencard. Die Versuche, ihren Mann zu sich zuholen, scheiterten jedoch, denn in ihren amerikanischenPapieren ist sie unverheiratet. Alle Versuche, dies klarzu-stellen, wurden bisher abgelehnt.

Familie Godjikian

D

EINSZWEITAUSENDSECHZEHN 27

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nensisch-syrischer Flüchtlinghat er im Libanon einen be-sonders schweren Stand.Palästinenser dürfen im Li-banon kein Eigentum besitzen. Seit2010 ist es ihnen zwar erlaubt, eineArbeitserlaubnis zu beantragen, dochdie haben bisher weniger als zwei

Prozent der im Libanon ansässigen Palästinenser erhalten.Weiterhin verboten bleiben ihnen Beschäftigungen, die dieMitgliedschaft in einem Berufsverband erfordern. Dazugehören auch: Ingenieur, Arzt oder Anwalt. Ein Großteil derPalästinenser lebt noch heute in den zwölf Flüchtlings-camps, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zu Elends-vierteln entwickelt haben. Die libanesische Polizei undArmee haben keinen Zutritt zu ihnen. Gewalt zwischen be-waffneten Gruppen wie Hamas, Fatah und dem IslamischenDschihad sind an der Tagesordnung. Es sind auch dieseLager, die dem Staat als Argument dienen, keine Camps fürsyrische Flüchtlinge zu errichten.

Vielleicht wäre Europa eine Option? Mohammad hat dar-über nachgedacht. Doch er will seine Familie nicht verlas-sen. „Und ich habe Angst, auf dem Weg zu ertrinken.“

YAZAR OUDEH:KLEINE PFLASTER AUF ZU GROSSE WUNDEN

Yazar Oudeh, Mathematiklehrer der JCC-Ersatzschule,kennt die Zerrissenheit, die Mohammad spürt. Er sieht siein all seinen Schülern. Oudeh, 38, ist selbst palästinensi-scher Syrer. Früher hat er Mathe an einer Mädchenschule inYarmouk unterrichtet. Als Milizen verschiedener rivalisie-render Gruppen in das Viertel drangen, ist er geflohen.Seine ehemalige Schule ist schon lange zerstört. Oudeh un-

terrichtet mit Enthusias-mus, er ist laut, fordertseine Schüler auf, mitzu-machen. Er versucht das zuvermitteln, was in einemder Klassenzimmer aufeinem großen Plakat steht:„Schüler brauchen Akzep-tanz, Hoffnung, Ermuti-gung, eine Chance und einLächeln.“ Trotzdem kommtes ihm manchmal so vor,als klebe er viel zu kleinePflaster auf viel zu großeWunden. „Die Jugendlichen

befinden sich in einem konstanten Zustand von Sorgen undÄngsten“, sagt er, „im Libanon fühlen sie sich nicht will-kommen, aber nach Hause können sie auch nicht.“ Siefühlen sich, als gäbe es kein vor und kein zurück. Er berich-tet von Schülern, die wütend ihre Hefte in die Eckeschmeißen. Erst neulich wieder hat jemand geschrien:Warum soll ich meine Hausaufgaben machen? Ich habedoch sowieso keine Zukunft hier. „Viele haben alles verlo-ren“, sagt Oudeh. „Aber am schlimmsten ist es, wenn sie dieHoffnung verlieren. Wir versuchen zwar, sie ihnen zurückzu-geben, aber es ist schwer.“ Die Hoffnung für die meistenSchüler liegt nicht im Libanon. Sie liegt in Europa. Vor zweiWochen kam ein Junge in Oudehs Klasse und sagte: „Ichsoll Sie schön von Iad grüßen, er ist jetzt in Griechenland.“Iad ist nicht der erste Schüler, der sich in den vergangenenMonaten nach Europa aufgemacht hat.

RAHAN FAISAL HAMED:WÜRDE BEWAHREN

Auch Rahan Faisal Hamed hat ein Ziel, das knapp 3.000 Kilo-meter Luftlinie vom Libanon entfernt liegt. „Almania“, sagter und strahlt. Der 17-jährige Palästinenser und seine Fami-lie hatten lange im Flüchtlingslager der Palästinenser „Yar-mouk“ in Syrien ausgeharrt. Zu lange. Sie blieben, als sichRebellen und Regierungstruppen Kämpfe in dem Viertel lie-ferten, als es nur noch eine Stunde am Tag Strom gab, alsdas Wasser knapp wurde und Nahrungsmittel fast unbe-zahlbar. Doch irgendwann stieß auch Rahans Familie anihre Grenzen. Im Sommer 2013 kehrte Rahans älterer Bru-

Fortsetzung auf Seite 32

Den 17-jährigen RahanFaisal Hamed und Ma-thematiklehrer YazarOudeh verbinden dieErinnerungen an Kriegund Gewalt in ihrerHeimat. Die Hoffnunghaben sie trotzdemnicht aufgegeben.

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Was sind die Hauptursachen für Flucht?Martin Bröckelmann-Simon: Die Trieb-kräfte für Flucht sind sehr komplex.Weltweit leben zwischen einer und 1,5Milliarden Menschen in instabilen Staa-ten, derzeit sind dies rund 55 Länder.In den vergangenen Jahren haben dieKonflikte auf der Welt zugenommen.15 davon sind in den vergangenenzwei bis drei Jahren neu entflammt.Von den 55 fragilen Ländern liegen 28in Afrika. Außerdem sind nahezu alleNahost-Staaten darunter. Aus genaudiesen Ländern kommen die meistenFlüchtlinge zu uns. Insofern sind Krieg,Gewalt und zerfallende Staatlichkeitdie Fluchtursachen Nummer eins.

Das heißt, man kann gegen die Flucht-ursachen nicht viel tun?Bröckelmann-Simon: Man kann immeretwas tun. Die schwierige Aufgabedabei ist, eine inklusive Lösung zu fin-

den. Ein friedensschaffender Weg kannnur derjenige sein, bei dem keiner alsVerlierer vom Platz geht. Angesichtsder Gewalt, dem daraus resultieren-den Hass aufeinander und der hoch-komplexen Interessenlage ist das un-glaublich schwierig. Trotzdem führtkein Weg daran vorbei. Die Gruppenmüssen sich an einen Tisch setzen. DieKonflikte müssen überwunden werden,sie sind die Quellen allen Übels.

Was unterscheidet die Arbeit mitFlüchtlingen von Entwicklungsprojekten?Martin Bröckelmann-Simon: Die langfris-tige Orientierung fehlt. GeflüchteteMenschen sind da, wo sie nicht seinwollen. Ihr Blick ist entweder zurückdorthin gerichtet, wo sie herkommen.Oder er geht nach vorne, also dorthin,wo man sich wirklich niederlassen will.Das Thema Zukunft ist die größte Her-ausforderung bei der Flüchtlingsarbeit.

HERAUSFORDERUNGDOPPELTE FLUCHT

Im Zuge des ersten arabisch-israeli-schen Krieges 1948 flohen Hundert-tausende Palästinenser aus dem heu-tigen Israel in die umliegenden Nach-barstaaten Jordanien, Libanon undSyrien. Die meisten Familien woh-nen noch heute dort, inzwischen inder zweiten und dritten Generation.Allein in Syrien lebten bis zum Aus-bruch des Krieges rund 530.000 pa-lästinensische Flüchtlinge, viele vonihnen im Flüchtlingslager „Yarmouk“nahe Damaskus. Im Gegensatz zumLibanon, wo die sunnitischen Flücht-linge seit jeher unwillkommen wa-ren, gewährte das Assad-Regime denPalästinensern ähnliche Rechte wiesyrischen Staatsbürgern. Daher woll-ten sich viele Palästinenser aus demSyrienkonflikt zunächst heraushal-ten. Doch als sich Kämpfer in Yar-mouk einnisteten, kam es immer häu-figer zu Gefechten zwischen syrischenRegierungstruppen und Rebellen. DiePalästinenser gerieten zwischen dieFronten. Das Regime begann, Yar-mouk systematisch auszuhungern.Inzwischen kontrolliert die Terroror-ganisation Islamischer Staat das Ge-biet. Von den ehemals 150.000 Ein-wohnern sollen noch 18.000 Men-schen in Yarmouk leben.

Die palästinensischen Flüchtlinge ha-ben auch im Libanon eine schwierigeGeschichte. Die Gründe hierfür liegenin der komplizierten Geschichte desNahen Ostens. Im Zuge des arabisch-israelischen Krieges 1948 flohenauch mehrere Hunderttausend Paläs-tinenser in den Libanon. Weil der Li-banon mit seinen vier Millionen Ein-wohnern das Verhältnis von Sunni-ten, Schiiten und Christen nicht ausdem Gleichgewicht bringen wollte,steckte das Land die mehrheitlichsunnitischen Neuankömmlinge in La-ger. Die Spannung stieg, bis sich inden Siebzigerjahren libanesische undpalästinensische Milizen zu bekämp-fen begannen.

Nordirak, Libanon, Eritrea, Mauretanien, Afghanistan: Nicht nur bei sei-nen letzten Besuchen von Projektpartnern vor Ort hat sich MISEREOR-Ge-

schäftsführer Martin Bröckelmann-Simon intensiv mit den Herausfor-derungen von Flucht und Vertrei-bung beschäftigt.

ZUKUNFT

Foto: H

arms/

MISER

EOR

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30 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

WIE MISEREOR GEFLÜCHTETEN HILFT81 Projekte für 500.000 Menschen in 25 Ländern mit 21 Millionen Euro Weltweit waren 2015 rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Sie verlassen ihre Heimat auf der Suche nach Schutz vor Krieg, Verfolgung und Gewalt. Zwei Drittel dieser Menschen bleiben im eigenen Land, der Rest flieht insbesondere in die Nachbarländer. In die EU sind nur 4 Prozent der 60 Millionen Geflüchteten gelangt.

hilft den Menschen dort, wo sie sind. Aktuell unterstützt fast eine halbe Million Geflüchtete in 25 Ländern mit insgesamt 21 Millionen Euro. Neben den 67 in der Karte aufgeführten Projekten gibt es weitere 14, die sich auf mehrere Länder und Regionen beziehen. Knapp die Hälfte dieses Geldes fließt derzeit in die Versorgung der Menschen in den Krisen- und Kriegsregionen des Nahen und Mittleren Ostens. unterstützt vor allem die medizinische und psychologische Hilfe sowie Integrations- und Bildungsprojekte für Geflüchtete.

MEXIKO (2)

5.000 MENSCHEN

MAROKKO (1)

9.000 MENSCHEN

REP. ZENTRALAFRIKA (1)

146.500 MENSCHEN

UGANDA (1)

2.500 MENSCHEN

GHANA (1)

250 MENSCHEN

KAMERUN (1)

1.000 MENSCHEN

DR KONGO (2)

7.000 MENSCHEN

HONDURAS (1)

1.400 MENSCHEN

KOLUMBIEN (7)

8.050 MENSCHEN

SUDAN (1)

1.400 MENSCHEN

(

ÄGYPTEN (1)

1.350 MENSCHEN

Gesundheit, Psychosoziale Hilfe

MISEREOR unterstützt neben den abgebildeten Projekten noch 14 weitere Projekte im Bereich Flucht und Zwangsmigration, die sich auf ganze Regionen oder einen Kontinent beziehen. Mit über 5 Millionen Euro werden dabei Menschen in ihren Heimatregionen und entlang ihres Fluchtweges gefördert.

Nothilfe

Rechtshilfe, Beratung

Bildung, Ausbildung und Sozialarbeit

Wiederaufbau, Wohnraum

Landwirtschaft und Einkommensförderung

Anzahl Geflüchteter, die von im jeweiligen Land unterstützt werden

Versöhnungsarbeit Fluchtrouten

LEGENDEDie eingezeichneten Pfeile zeigen die wichtigsten Fluchtrouten der letzten Jahre (Quelle UNHCR). Die Symbole zeigen, auf welche Weise den Geflüchteten in den einzelnen Ländern hilft:

LAND (ANZAHL DER PROJEKTE)

Grafik

: infotex

t-be

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die medizinische und

p

SÜDAFRIKA (2)

4.450 MENSCHEN

SÜDSUDAN (2)

5.400 MENSCHEN

INDONESIEN (1)

220 MENSCHEN

MYANMAR (2)

11.800 MENSCHEN

INDIEN (2)

65.000 MENSCHEN

JORDANIEN (1)

130 MENSCHEN

SYRIEN (6)

12.150 MENSCHEN

LIBANON (6)

28.300 MENSCHEN

SRI LANKA (3)

7.000 MENSCHEN

THAILAND (3)

30.140 MENSCHEN

PHILIPPINEN (4)

15.000 MENSCHEN

MOSAMBIK (1)

25.000 MENSCHEN

IRAK (14)

58.500 MENSCHEN

SOMALIA (1)

3.000 MENSCHEN

EINSZWEITAUSENDSECHZEHN 31

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32 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

der aus Russland nach Syrien zurück. Er hatte in Russlandals Ingenieur gearbeitet, wollte aber in Yarmouk seine Ver-lobte heiraten. 22 Tage nach seiner Hochzeit wurde er voneinem Scharfschützen getötet.

Drei Tage nach seiner Beerdigung hat die Familie Syrienverlassen. Rahan weiß bis heute nicht, ob es Rebellen oderRegierungstruppen waren, die seinen Bruder erschossen.Aber es hätte für ihn auch keine Bedeutung. „Ich wollte nieetwas mit Politik zu tun haben.“ Sie sind erst nach Ain Hel-weh gezogen, eines der berüchtigten Palästinenser-Campsin Saida, in dem das Lebensumfeld von der problemati-schen Sicherheitslage geprägt ist. Aber auch dort war die Fa-milie nicht willkommen. „Meine Schwestern wurden stän-dig belästigt, weil sie kein Kopftuch tragen, nachts hörtenwir Schüsse. Und immer wieder haben die Menschen dortgesagt, dass wir verschwinden sollen, dass wir keine echtenPalästinenser seien, weil wir aus Syrien kommen.“

In Saida hat Rahan zunächst eine Anstellung als Elektri-ker gefunden. Doch ihm war von Anfang an klar, dass erzurück an die Schule wollte. Als ihm Bekannte von dem Pro-jekt erzählten, hat er nicht lange gezögert und sich sofortbeworben. „Vielleicht beende ich noch die Schule hier, abersobald ich genug Geld zusammen habe, mache ich mich mitmeiner Freundin auf den Weg nach Deutschland“, sagt er,„das haben wir gemeinsam beschlossen.“ Ihr Plan ist es, zuheiraten, Medizin zu studieren und Ärzte zu werden.

Rahans Freundin lebt in Homs, Syrien. Sie skypen jedenTag, wenn es die Verbindung zulässt. Seine Eltern wissennichts von ihr. Er weiß, dass sie gegen die Verbindung seinwürden. Das Problem: Rahans Freundin ist Christin, er Mus-lim. Doch Rahan macht sich nicht allzu große Sorgen. EinenPlan hat er schon: „Wenn wir geheiratet haben, werde ichmeine Eltern vor vollendete Tatsachen stellen“, sagt er undgrinst. „Wenn sie ein Problem damit haben, werde ich siedaran erinnern, dass die Eltern meines Vaters auch nichtwollten, dass er meine Mutter heiratet. Khalas, Schluss.“

Rahan hat das geschafft, womit viele seiner Mitschülerhadern: Er hat seinen Optimismus nicht verloren. Er glaubtdaran, dass es einen Weg nach vorne gibt. Sein altes Lebenin Syrien hat er hinter sich gelassen. Am liebsten würde ereinen Schlussstrich ziehen und dem Nahen Osten für immerden Rücken kehren. „Ich will mir meine Würde bewahren.Ich will meine Kinder in einer Umgebung großziehen, wosie nicht wegen ihrer Herkunft diskriminiert werden. Ich willin einem Land leben, in dem Menschen unterschiedlicher Re-ligionen friedlich zusammenleben und in dem ein Men-schenleben respektiert wird.“ Rahan macht eine kurze Pause.„Ich hoffe, dass Deutschland dieses Land sein wird.“

Familie Arakel

aral erinnert sich gerne an die schönen Tage in Alep-po: „Den Menschen dort ging es gut. Aleppo war eine

schöne und sichere Stadt. Wie für Armenier typisch hattenviele ihr eigenes Geschäft. Unter Armeniern ist es Tradition,das Unternehmen des Vaters zu übernehmen. Sie sind ge-schickte Handwerker und machen ihren Job mit Stolz.“

Doch wenn man weiter in die Vergangenheit geht, warihr Leben auch nicht immer so schön. Sie ist zwar armeni-schen Ursprungs, aber im Irak geboren. Aufgewachsen istsie im ersten Golfkrieg. Zusammen mit ihrer Familie hat siezwei Jahre lang auf einem armenischen Friedhof gelebt, daman dort vor Bomben und Schüssen sicher war. Wegen deszweiten Golfkriegs wanderte sie für ein paar Jahre nachAmerika und Kuwait aus, um dort zu arbeiten. Bei ihren Rei-sen hat sie auch ihren Mann kennengelernt und über dasInternet Kontakt gehalten. Kurz vor dem dritten Golfkrieg2003 war sie wieder in den Irak gezogen. Als sie ihrenMann 2005 dann geheiratet hatte, zog sie direkt zu ihmnach Aleppo, um dort acht Jahre in Frieden zu leben. 2014jedoch ging es gezwungenermaßen weiter nach Beirut.

Die Familie kam mit einem Bus und konnte neben ihrerKleidung nur ein paar Fotos und ihre zwei Vögel mitnehmen –in Taschentuchboxen über die Grenze geschmuggelt. Ob siedie Tiere weiter mitnehmen dürfen, wissen sie nicht.

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www.misereor.de/flucht

Fortsetzung von Seite 28

Page 35: "frings." MISEREOR-Magazin  1-2016

Zwei Interview

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EINSZWEITAUSENDSECHZEHN 33

Page 36: "frings." MISEREOR-Magazin  1-2016

34 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

Herr Oswald, was bringt Sie alsMotorenbauer zu MISEREOR? Johannes Oswald: Nach meinem Studi-um war ich in der Entwicklungshilfetätig. Den Einsatz für eine gerechtereWelt halte ich für etwas ganz Entschei-dendes, neben dem Kampf gegen Hun-ger und Unterentwicklung. Da möchteich meine – hoffentlich guten – Ideeneinbringen. Wir brauchen Hightechstatt Lowtech, um die Probleme dieserWelt zu lösen. Ob das damit gelingt,weiß ich nicht. Aber ohne den Einsatzmodernster Technik gelingt es ganzsicher nicht. Der Sinn dafür ist in derWelt der Theologen und sozial Enga-gierten noch ausbaufähig. Aber dazugibt es ja Leute wie mich.

Hightech statt Lowtech?Oswald: Zugegeben, der Satz ist missver-ständlich. Ich bin natürlich nicht dafür,jedem Problem mit komplexer Technikzu begegnen. Generell ist die einfachsteLösung auch die beste Lösung. Mit Low-tech meine ich also nicht einfacheTechnik, sondern Technik von gestern.

Wo bringt die Technik uns weiter?Oswald: Auf der Erde leben immermehr Menschen, die alle am Wohl-stand teilhaben wollen. Moderne Tech-nik hilft uns, Produktionsvorgänge mitmöglichst geringem Einsatz von Ener-gie, ressourcenschonend und in Kreis-läufen zu gestalten. Das ist der Beitrag,den ich als technischer Unternehmerleisten kann. Den ordnungspolitischenRahmen müssen andere setzen.

Nennen Sie bitte mal ein Beispielfür dieses Zueinander!Oswald: Wir haben 2015 den Antriebs-motor für einen der modernsten Fisch-kutter der Welt gebaut. Er fängt diesel-be Menge Fisch wie sein Vorgänger, ver-braucht aber weit weniger als ein Vier-tel der Energie: 7.000 Liter Diesel proWoche statt 40.000 Liter. Das ist gigan-tisch. Nun kann man sagen: „Der billi-

gere Fang verschlimmert nur die Über-fischung der Meere.“ Darauf antworteich: Das mag sein. Die Wirtschaft kannden Energieverbrauch reduzieren. Ord-nungspolitische Maßnahmen, wie eineFangquote, muss der Staat festlegen.

Was ist eigentlich – für den Laien er-klärt – der Clou Ihrer Motorentechnik?Oswald: Heute bieten unsere Direktan-triebe hohe Momente und geeigneteDrehzahlen und kommen völlig ohneÜbersetzungen aus. Das sind sogenann-te „Torquemotoren“ – Torque heißt Dreh-moment und verweist darauf, dassdiese Motoren auf sehr kleinem Bau-raum enorme Kraft entwickeln. Das bie-tet entscheidende Vorteile. In Deutsch-land und in der EU beschäftigen sichExpertenkommissionen damit, den Wir-kungsgrad von Elektromotoren umzwei bis vier Prozent zu verbessern.Schon das halten die Fachleute allerMühen für wert. Wir produzieren Mo-toren, mit denen wir die Energieeffizi-enz unserer Kundenmaschinen um 40,60, ja sogar 80 Prozent steigern kön-nen. In diesem Segment der Torque-motoren sind wir Weltmarktführer.

Ist Technik wichtiger als Ethik?Oswald: Technik kommt nicht ohneEthik aus, aber Ethik inzwischen auchnicht mehr ohne Technik. Kürzlichwurde ernsthaft erwogen, ob es nichtnachhaltiger wäre, alte Maschinen zureparieren, anstatt neue zu bauen. Dasmag im Bereich der Konsumgüternicht uninteressant sein – vielleichtkönnten wir auf manches besser ganzverzichten. Im Maschinenbau und inder Industrie aber wäre ein solchesVorgehen fatal. Ohne Innovation undmoderne Technik würden wir Men-schen in Kürze ein Vielfaches an Ener-gie und Rohstoffen verbrauchen. Anla-gen mit unserer modernen Motortech-nik verbrauchen im Schnitt 35 Prozentweniger Energie als noch vor zehn Jah-ren. Energieeinsparung ist viel effekti-

ver und klimafreundlicher als Energie-erzeugung und zwar egal, wie umwelt-freundlich sie gemacht wird: Übertra-gungsverluste entfallen, und mancheAnlagen müssen erst gar nicht gebautwerden.

Gehen Ihnen Moralpredigereigentlich auf die Nerven?Oswald: Ich bin ein Kind der 70er-/80er-Jahre, die grüne Idee steckt tief in mirdrin. Solange ich jung war und in derWelt nichts beeinflussen konnte, woll-te ich sie halt durch Reden und Appel-le verändern. Nun, tatsächlich hat sichdurch die Ökologiebewegung ja auchvieles zum Guten verändert, abgese-hen von manch’ unsinniger Bürokratie.Heute beeinflusse ich die Welt lieberdurch sinnvolles Handeln. Bloße Mo-ralpredigt ist selten hilfreich, aber viel-fach nervtötend.

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dung, zu sauberem Wasser, zu elektri-schem Strom oder zu einer medizini-schen Grundversorgung ausgeschlos-sen sind. Oder Maschinenkraft mit kör-perlicher Schwerstarbeit ersetzen müs-sen. Dafür ist in der Tat technische In-novation gefragt.

Das klingt, als ob auch diesesParadigma für Sie Grenzen hat.Spiegel: Technische Lösungen zielenauf erhöhte Effizienz. Wir müssen aberzwei Formen der Effizienz unterschei-den: Im einen – negativen – Fall führtdie Einsparung von eingesetzten Roh-stoffen und Energie pro Einheit dazu,dass insgesamt mehr produziert unddamit am Ende nichts eingespart wird.Beispiel dafür: die weltweite Automo-bilproduktion. Was das einzelne Fahr-zeug weniger an Kraftstoff und Ressour-cen verbraucht, wird wettgemacht durchdie höhere Zahl an weltweit verkauf-ten Fahrzeugen. Deswegen müsste dasEffizienzkriterium absolut gesehen, dasheißt auf den Gesamtverbrauch vonEnergie und Ressourcen angewandtwerden, um die Klimaziele zu erreichen.

Könnten Sie das kurz erläutern?Spiegel: Technische Lösungen zur CO2-Minderung helfen insgesamt nur dannweiter, wenn der CO2-Ausstoß nichtnur relativ sinkt, sondern absolut. DieBedrohung der Umwelt durch Klima-schäden verstärkt die bestehende so-ziale Ungleichheit. Im Weltrisiko-Indexrangieren die Philippinen auf Platz 3,Holland nur auf Platz 50. Dabei liegenin Holland prozentual weitaus mehrFlächen unterhalb des Meeresspiegels.Aber die Holländer haben die Infra-struktur und das Geld, um sich vor dro-hender Überflutung wirksam zu schüt-zen. An solchen Beispielen sehen Sie,dass die Klimaproblematik in jedesNachdenken über die Zukunft hinein-gehört. Sie ist ein Vorzeichen vor allem.

Was folgt daraus?Spiegel: Wir müssen zuvor die Suffizi-

enz-Frage stellen: Was brauchen wirfür ein gelingendes Leben? „Wieviel istgenug?“, das ist die Formel, auf die esdas britische Autoren-Duo Robert undEdward Skidelsky gebracht hat. DasBeispiel Brasilien zeigt uns, dass wirt-schaftliches Wachstum und techni-sche Entwicklung nicht mit humani-tärem Fortschritt einhergehen. Im Brut-toinlandsprodukt liegt Brasilien ansiebter Stelle, beim Human Develop-ment Index an 79ster.

Es käme Ihnen also darauf an,beides zu verbinden?Spiegel: Bei Hightech-Entwicklungen soll-ten wir nach gesellschaftlicher Akzep-tanz fragen, nach Transparenz und nachder Beherrschbarkeit neuer Techniken.

Bei den Torque-Motoren, die Johan-nes Oswalds Firma herstellt, dürftendas nachrangige Fragen sein.Spiegel: Schon. Aber Johannes Oswaldbezieht sein Plädoyer für Hightech janicht nur auf die eigenen Produkte,sondern auf Technik insgesamt und erproduziert nach meiner Kenntnis ineinem sehr akzeptieren Bereich.

Mit Ausnahme der Rüstungstechnik,die er als „eine der größten Katastrophender Menschheit“ bezeichnet. Spiegel: Sehr einverstanden. Ich nenneaber noch einen weiteren Aspekt, derbei technikfixierten Lösungsstrategienauf der Strecke zu bleiben droht: Schön-heit, Ästhetik, Muße, Kultur. Der Heili-ge Ignatius von Loyola spricht vom „Ver-kosten der Dinge“. Ich meine, erst einMiteinander der verschiedenen Lebens-Zutaten ergibt den richtigen Geschmack.Und so berechtigt und notwendig es ist,an verbesserter Technik zu arbeiten, sosehr müssen wir an einer Gesamterwei-terung unseres Denkens und Handelnsarbeiten: Kreislaufwirtschaft, Qualitätder Produktion vor Quantität, Überwin-dung der Wegwerf-Mentalität, raus ausStatuskonsum, Vorrang für Nachhaltig-keit. Darauf kommt es mir an.

Herr Spiegel, wie sehr ist technischeInnovation ein Zukunftsthema der Ent-wicklungspartnerschaft?Pirmin Spiegel: Technik, Entwicklungs-partnerschaften und Wirtschaftswachs-tum müssen keine Feinde sein. UnserePosition bei MISEREOR ist klar: Wirbrauchen Technik und Wachstum, wenngutes Leben nicht das Privileg einigerweniger bleiben soll.

Namhafte Ökonomen beschwörendemgegenüber die alte Formel vonden „Grenzen des Wachstums“. Spiegel: Wachstum muss eine Zielbe-stimmung haben: Erfüllung der Grund-bedürfnisse und gelingendes Leben füralle. MISEREOR teilt die Sicht von Gren-zen des Wachstums. Aber die Grenzedarf nicht so gedacht oder gezogen wer-den, dass große Teile der Menschheitvom Zugang zu einer qualitativen Bil-Fo

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36 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

Beschauliches Traktorbrummen, suhlende Schweine und wackere Hofknechtesind auf dem Land nur noch schwer zu finden. Die deutsche Landwirtschaft isthochspezialisiert, es gibt Fleischfabriken und halbautomatisierte Mastanlagen.Immer weniger Bauern bestellen immer mehr Land. MISEREOR hat vier unter-schiedliche Höfe in Deutschland besucht, um herauszufinden, wie die täglicheVersorgung bei uns vor Ort aussieht: einen Biohof mit glücklich kullernden Eiernund der Sorge um neue Leibeigenschaft, einen ehemaligen Familienhof, der mitWeidefutter für die Biogasanlage zum stromerzeugenden Industriebetrieb wird,Solidarische Landwirtschaft mit bockspringenden Kühen und einen Milchgroß-versorger mit einem jährlichen Euter-Ausstoß von viereinhalb Millionen Litern. Diebesuchten Höfe sind Puzzleteile der Welternährung – mit Landwirten, die ihreRolle und Bedeutung als Erzeuger und Ernährer ganz unterschiedlich sehen.

Von Bernd MüllenderFotos von Andrea Schneider

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bei den Indios: Mais, Kürbis, Boh-nen. „Mit modernen Erntemaschi-nen würde das gar nicht gehen.“Neben dem Hofgebäude entstehtein mobiler Hühnerstall. „Die Sola-wi-Mitglieder wollten auch Eier“, sagt Bernd Schmitz. Einesder Mitglieder ist Holzbauingenieur und hat den Stall für100 Tiere entworfen. Jede Woche steht der Stall auf ande-rem Terrain. So gibt es immer frisches Grünfutter, derBoden erhält Frischdünger und die Wiesenflächen bleibenkurz dank der pickenden Rasenmäher.

180 Mitglieder hat die Solawi-Gruppe mittlerweile. Diewöchentliche Lieferung gibt es auf dem Hof oder in einemder sechs Lager rund um Bonn – was für den einzelnen Ver-

allo Bettina“, ruft Bernd Schmitz.Ohne zurückzugrüßen kaut die Kuhim Stall weiter an ihrem Heu. „Betti-

na ist die Mutter unseres Zuchtbullen“, er-zählt der 50-jährige Eigentümer des HanferHofs in Hennef bei Bonn. Jede seiner 50Kühe hat einen Namen. Und auch noch ihrekleinen Hörner: „Wenn man ihnen ge-nugPlatz lässt, ist das kein Problem.“ Milchwirt-schaft ist seit jeher das Kerngeschäft desHofs. Jedes Tier hat jeweils einen HektarWeideplatz, dreimal so viel wie üblich.„Meine Kühe können auf der Weide rennenund Bock springen“, scherzt Schmitz, „und sie fressen nurGras.“ 50 Wiederkäuer seien genug: „Die manage ich allein.Hätte ich 500 Tiere, wäre ich ein Knecht der Industrie.“

Seit vier Jahren gehört Schmitz‘ Hof außerdem zumNetzwerk „Solidarische Landwirtschaft“, kurz Solawi. DieSolawi-Idee boomt seit ein paar Jahren. Rund 80 Bonner Bür-ger suchten 2012 einen Hof, der für sie ackert und Obst undBio-Gemüse anbaut. Jeder der Städter zahlt regelmäßig 60Euro im Monat an Schmitz und erhält dafür im Gegenzugwöchentlich einen Ernteanteil – von dem, was saisonal ge-rade wächst. Mit Bioland-Label, demnächst Demeter, demstrengsten Zertifikat. So schafft Solawi Planungssicherheitfür den Landwirt, das Ernterisiko wird geteilt, Zwischen-händler und Vermarktung spart man sich. Das Modell seiaußerdem ein „schönes Bindeglied zwischen Natur undStädtern“, sagt Schmitz.

Alle Solawi-Mitglieder können mitentscheiden und frei-willig selbst anpacken: jäten, graben, pflanzen, ernten. DieKürbisernte im Oktober mit 40 Leuten sei ein „Highlight anGemeinschaft“ gewesen. Auf dem fünf Hektar großen Sola-wi-Gemüsegelände zeigt Schmitz stolz seinen Biomeiler:Aus der Biomasse von gehäckseltem Gesträuch entsteht Heiz-wärme, nutzbar für den Frühanbau. Nach zwei Jahrenwird der Meiler zu Kompost. Schmitz preist seinen „nach-haltigen, wechselnden Pflanzenmix“. Mischkulturen wie

Bernd Schmitz führt in fünfter Generation seinen Hof in Hennef-Hanfbei Bonn. Neben Bio-Milchwirtschaft setzt er jetzt auf SolidarischeLandwirtschaft – und teilt seine Ernte mit 180 Städtern.

„H

Der Gemeinschaftsbauer

„Welternährung

funktioniert nur durch

eine regionale

Bewirtschaftung.“

Bernd Schmitz

Bei Solawi gewinnenalle: Bernd Schmitzfreut sich über Pla-nungssicherheit;die Städter freuensich über regionales,biologisches Obstund Gemüse.

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WARUM BESCHÄFTIGT SICH MISEREORMIT LANDWIRTSCHAFT UND ERNÄHRUNG?

Rund 800 Millionen Menschen leiden weltweit Hunger: Weilsie arm sind und sich nicht ausreichend mit Lebensmittelnversorgen können; weil sie auf dem für sie verfügbaren Land– auch aufgrund des Klimawandels – nicht mehr genug Nah-rung produzieren können oder es durch Landraub verlieren;weil sie als Kleinbäuerinnen und -bauern im weltweitenHandelssystem benachteiligt werden und mit der Konkur-renz großer westlicher Konzerne nicht mithalten können.Während zwei Milliarden Menschen auf der Welt an Mangel-ernährung leiden, sind gleichzeitig fast zwei Milliardenübergewichtig. Zudem landen jedes Jahr ein Drittel aller Le-bensmittel auf dem Müll. All das sind deutliche Symptomefür die Fehlentwicklungen im Ernährungssystem – nicht nurim globalen Süden, sondern auch bei uns! Die Ernährungs-systeme in Nord und Süd sind dringend reformbedürftig.

Seit der Gründung setzt sich MISEREOR gemeinsam mitPartnerorganisationen in Afrika, Asien und Lateinamerikafür die Rechte von Landwirtinnen und Landwirten ein. DieErfahrung zeigt, dass die betroffenen Menschen vor Ort mitder richtigen Unterstützung selbst für eine stabile und aus-gewogene Ernährung sorgen können. Dafür brauchen sieaber die Kontrolle über Land, Wasser und Saatgut, müssenihre Produkte lokal vermarkten können und die Möglichkeithaben, gemeinsam mit anderen ihre Landwirtschaft nach-haltig weiterzuentwickeln. MISEREOR setzt sich für einErnährungssystem ein, das für viele Menschen Arbeit undEinkommen zu guten Bedingungen schafft, nicht nur in derProduktion, sondern auch in Verarbeitung und Handel, dasunsere Umwelt schützt und eine große Auswahl an Nah-rungsmitteln bereitstellt. Eine gute Ernährung für alle,davon ist MISEREOR überzeugt, braucht Vielfalt – vomAcker bis auf den Teller. Solch ein System ist aber nur mög-lich, wenn die Politik die richtigen Rahmenbedingungensetzt, die Bürgerinnen und Bürger politische Entscheidungs-prozesse aktiv mitgestalten und sich auch die Konsumen-tinnen und Konsumenten ihrer Verantwortung bewusst sind.

MISEREOR weist auf internationale Bezüge wie diese hin undruft Verbraucher, Landwirte und Politik dazu auf, gemeinsamAlternativen für ein zukunftsfähiges Ernährungssystem füralle Menschen zu gestalten. Partnerorganisationen wie dieFood Sovereignty Alliance in Indien, die sich für den Erhaltvon Nahrungsmittelvielfalt und Ernährungskultur einsetzt,die Pastoralinitiative PASMEP aus Burkina Faso, die Kleinst-molkereien und Hirten vertritt und ihre Rechte stärkt, dasCentro Nordestino de Medicina Popular (CNMP) aus Brasilien,das mit Landwirten Unterrichtsmaterial zum Thema gesundeErnährung bereitstellt, sind nur einige Beispiele für eine zu-kunftsfähige, nachhaltige und gerechte Welternährung.

braucher am nächsten liegt. Wachsen soll das Solawi-Projektnicht. „Wir sind eher ein Vorbild für neue Solawis anderswo.“Mehr als hundert Gruppen gibt es inzwischen bundesweit.„Mich fasziniert, dass in einer Solidargemeinschaft wie dieserKräfte stecken, die ich allein gar nicht habe“, sagt Schmitz.

Er sei „Bauer aus Leidenschaft“, und habe „Tausend Beru-fe in einem“: Herdenmanager, Handwerker für alle Gewer-ke, Veterinär, Buchhalter und dazu „die ganze politische Ar-beit“. Auf seinem Auto kleben Sticker gegen das geplanteFreihandelsabkommen TTIP und der Slogan „Bauernhöfestatt Agrarfabriken“. Er ist beim Bonner Verbund „Taste ofHeimat“ engagiert, bekämpft als Landesvorsitzender der Ar-beitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft den Bauern-verband wegen dessen „Größenwahnsinn“ und schimpftüber die Agrarindustrie in den Ländern des Südens: „In Pa-raguay vertreiben sie mit Waffengewalt die indigene Bevöl-kerung, um Gen-Soja anzubauen.“ Sein Credo: „Welternäh-rung geht nur mit einer funktionierenden regionalen Be-wirtschaftung.“ Am besten in vernetzten kleinen Betrieben:„Man muss über den Tellerrand gucken, um zu sehen, wasan der Tischkante passiert.“

Bernd Schmitzschraubt auch gernmal an schweremGerät herum. Er magdas Zupackende anseinem Beruf: „Ichbin Bauer aus Leiden-schaft“, sagt er.

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an könnte sich im Urlaub wähnen. Die Einfahrtzum Hof in Bexhövede im Landkreis Cuxhavenführt durch eine Allee aus mächtigen Buchen und

Eichen. Dahinter liegt ein architektonisch stimmiges En-semble aus zwei eleganten, reetgedeckten Gebäuden, einesdavon unter Denkmalschutz. In den Ställen für 430 Milch-kühe und rund 150 Färsen und Jungkälber herrscht dage-gen ein Hightech-Tiermanagement auf höchstem Niveau.

Der Hof der Brüder Jan und Bodo Heusmann zählt zuden größeren Milchbetrieben im Land. Die leistungsstärks-ten Tiere geben bis zu 50 Liter Milch am Tag. „Da heißt esgern Turbokühe“, mosert Jan Heusmann, 51 Jahre alt,„dabei hat eine hohe Milchleistung klare technische Grün-de“. An der Maissilage zeigt er das Ergebnis einer „ganz neuerfundenen US-Häckseltechnik“: eine Mischung aus beson-ders groben Stengelstücken und aufgebrochenen Maiskör-nern. Bislang klappte entweder das eine oder das andere.

Für Wiederkäuer ist dieses Futter ein Dreisternemahl. DasErgebnis: „Erkennbar mehr Milch, mindestens drei Prozent.“

Bei Jan Heusmann, Vorsitzender der LandesvereinigungMilchwirtschaft in Niedersachsen, geht es international zu:Gerade noch war er in Wisconsin auf einem Kongress fürMilchwirtschaft und hielt einen Vortrag über die Situationin Germany. Seine Kühe werden von einem brandneuen isra-elischen Patentsensor überwacht, der die Kaubewegungenzählt: Bruder Bodo, 44 Jahre alt und gelernter Tierarzt, zeigt

auf dem Rechner im Büro,was sich mit den Datendieser Smart Watch fürRindviecher herausfindenlässt: Sie geben Auskunftüber Wohlbefinden, Krank-heit oder Läufigkeit. ImKälberstall füllt der Auszu-

Rundumversorgung für RinderDie Milchkühe der Brüder Heusmann im Landkreis Cuxhaven schnuppern Nordseeluft und haben es bequem:Dafür sollen sie Spitzenleistungen erbringen.

M

„Ich bin überzeugt,

dass unsere Technik

der richtige Weg ist.“

Jan Heusmann

EINSZWEITAUSENDSECHZEHN 39

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mann. Ihm helfen fixe Einnah-men aus der Biogasanlage mitvier Millionen Kilowatt Stro-mertrag pro Jahr: „Die Anlagefüttern wir mit Mist.“ DasMotto sei wachsen oder wei-

chen, sagt Heusmann. „Viele Kleinbetriebe haben Existenz-ängste.“ Einige werden aus der Milcherzeugung aussteigen.Oder umsteigen auf Bio – da gibt es fast 50 Cent für einenLiter. Auch Heusmann hat durchaus „mal über Bio nachge-dacht“. Die großzügigen Stallungen wären geeignet. AberLand fehlt. Biorinder müssen nach draußen. „Wir müsstenden Bestand halbieren. Und ich bin überzeugt, unser Kon-zept und unsere Technik sind auf Dauer der bessere Weg.“

4,5 Millionen Liter Milch geben die Euter der Heusmann-Kühe pro Jahr. Ein paar Tropfen im Vergleich zur Produkti-on von 150 bis 200 Milliarden in der gesamten EU. Der Ex-portanteil steigt, vor allem mit billigem Milchpulver undKäse. Bruder Bodo Heusmann sagt: „Es heißt, wir Milchbau-ern in der EU würden mit unseren Überfluss-Exporten dieInfrastruktur vieler Länder zerstören.“ Aber das stimme sonicht, meint er. „Es liegt daran, dass es zum Beispiel in afrika-nischen Ländern keine Rechtssicherheit gibt, sondern stellen-weise Willkür herrscht. Und wo Vertrauen fehlt, fängt nie-mand an zu investieren. Weil es sich nicht rechnet.“

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bildende derweil eine KunststoffwanneMade in New Zealand per Schlauch mitdampfend mutterwarmer Milch auseinem mobilen Container, dem „Milk

Shuttle“. Die Wanne hat zwölf waagerechte Gummizitzenim Halbrund, schmatzend stürzen sich die Jungtiere darauf:„Das funktioniert super“, sagt Jan Heusmann. Bestes Essenund Trinken, Schlafen im King Size Format – ein Leben „wiePauschaltouristen“, so Heusmann.

WACHSEN ODER WEICHEN

Weniger erholsam ist das Dauerleben in den Stallungen. ImAlter von zwei Wochen bekommen die Jungtiere ihre Hörnerabgebrannt. Danach geht es in die Kälbermast oder, wegender günstigeren Pacht, zur Aufzucht auf einen Hof nachBrandenburg. Bei einem Milchpreis in historischen Tiefenmuss man mit spitzem Stift rechnen: 24,5 Cent pro Liter zah-len die Molkereien. Vor zwei Jahren waren es noch mehr als40 Cent. Die Gründe dafür: Das Russland-Embargo, eineschwächelnde Nachfrage aus China und das Ende der Milch-quote vor einem Jahr. „Eine schwierige Lage“, sagt Jan Heus-

Ein Schlaraffenlandmit neuester Technik:Bis zu zwölf Kälbergleichzeitig könnenam stählernen „MilkShuttle“ nuckeln undsich mit warmer Mut-termilch versorgen.

Bis vor einem Jahrstabilisierte dieMilchquote den Preisfür einen Liter Milch.Seit sie abgeschafftist, kämpfen dieMilchbauern um ihrÜberleben.

Jan Heusmann undsein Bruder lassendie Kaubewegungenihrer Kühe von einerSmart Watch zählen.Die gelieferten Datenhelfen, die Milchleis-tung zu steigern.

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00 Hühner, untergebracht in komfor-tablen Hühnermobilen, sind JohannaBöse-Hartjes Antwort auf die Massen-

tierhaltung. Für 40 Cent pro Stück „reißensich die Leute um die Eier“, sagt die Hofche-fin. Viel mehr sagt die 62-Jährige nichtdazu, auch über ihre 70 Milchkühe, denOchsen, die Kälber, den Hofladen, das Hof-café mit Sonntagsbrunch verliert sie nur we-nige Worte. Selbst der 24-Stunden-Automatvor der Scheune mit selbstgemachten Roula-den, Hühnereintopf, Würsten in Bioland-Qualität – kaum der Rede wert, ebenso wieder romantische Hof aus dem 17. Jahrhundert „beurkundetim Familienbesitz, seit sich unsere Vorfahren aus der Leib-eigenschaft freigekauft haben“. Mehr muss man darübernicht wissen, findet sie.

Die große Leidenschaft der Biobäuerin aus Thedinghau-sen bei Bremen ist die Agrarpolitik. Der ruinös fallendeMilchpreis dient ihr als Beispiel: „Es wird ein Bauernsterbengeben, wie vorher schon bei kleinen Betrieben mit Hühnernund Schweinen. Die Großindustrie wartet schon.“ Es werde„deutlich zu viel gemolken“, geschimpft aber werde auf dieHändler. Die erfrischend uneitle Frau wettert gegen die Gi-gantomanie der Branche. Massen an Tieren bedeute auchMassen an Mist und Gülle. „Das ist grundsätzlich kein Teu-felszeug. Aber man muss genügend Flächen dafür haben.“Deshalb glaubt sie, dass Niederländer ihre Abfälle hinter derGrenze in Deutschland verklappen. Ihre Annahme: „Daheimsind deren Fahrzeuge GPS-überwacht, bei uns nicht mehr.“

DIREKTVERMARKTUNG SCHAFFT NÄHE

Sie erzählt aus den späten Achtzigerjahren, als sie mit Bioanfing. „Damals waren wir noch die grünen Spinner.“ Bisheute saugt sie Honig aus der Direktvermarktung: „Da hatman so viel Resonanz und Kontakte, das ist unbezahlbar.Heute sehe ich hier zum Beispiel zunehmend Leute, für diejeder Euro zählt. Aber vernünftige Produkte sind es ihnenwert.“ Regelmäßig bietet Böse-Hartje Infonachmittage fürKinder und Jugendliche an, von der Kita bis zum Leistungs-kurs Biologie; die Termine seien „sehr begehrt“. Wirken, ar-gumentieren, überzeugen. Auch mit ihren Gedanken zurWelternährung: „Wir Europäer haben gar kein Futter für all

Biolandwirtin Johanna Böse-Hartje aus Thedinghausen nahe Bremenkämpft gegen die Agrarindustrie. Die Zukunft der Ernährung findetsie zum Fürchten.

Die grüne Warnerin

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Diese beiden Lege-hennen führen einkomfortables Leben.Sie wohnen artge-recht in einem mobilenHühnerstall und ver-treten sich tagsüberdraußen die Beine.

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andkreis Höxter am Rande des Weserberglandes, Ge-markung Marienmünster, an der Abtei rechts, überWirtschaftswege, die kein Navi kennt. Plötzlich fünf

grüne Hügel mit Spitzdächern, daneben Schuppen, Trakto-ren, Lager, hohe Buckel unter Plastikplanen: Das Biomasse-kraftwerk des 29-jährigen Florian Potthast. Er macht ausGülle Strom.

Florian Potthast: „Früher gab es in unserem Familienbe-trieb Ackerbau und Schweinemast, ganz klassisch. Zusam-men mit meinem jetzt 60-jährigen Vater bin ich nach undnach umgeschwenkt, bewusst. Wir stellen Strom her. Rege-nerative Energie ist die Zukunft, da waren wir damalsschon sicher. Wir haben keinen Knecht, sondern jedeMenge winziger Mitarbeiter: Bakterien, Milliarden undAbermilliarden. Viele Leute schimpfen auf das Biogas, we-gen des weitläufigen und hochwachsenden Mais-Anbaus.Aber der Energieertrag ist ebenso konkurrenzlos hoch.Hätte Mais eine schöne gelbe Blüte, wäre sein Image deut-lich positiver. Es ist eine Kreislaufwirtschaft: Aus der Bio-masse vom Acker wird Strom, die übrig bleibenden Nähr-stoffe dienen wieder als Dünger.“

Die Zahlen: Vertrag mit dem Konzern E.ON, Laufzeit 20Jahre, Start 2004. Garantierte Erträge dank des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Täglicher Input: 20 Tonnen Mais, zehnKubikmeter pumpfähiger Zuckerrübenbrei, jeweils aus eige-nem Anbau auf etwa 170 Hektar mehrheitlich gepachtetenFlächen. Etwa die gleiche Menge an Schweinegülle, Rinder-und Hähnchenmist liefern andere Bauern. Ertrag pro Jahr:Acht Millionen Kilowattstunden, das entspricht dem Bedarfvon 3.000 Haushalten. Die Abwärme heizt zudem ganzjährigden weitläufigen Abteikomplex Marienmünster samt Hotelund Kulturzentrum mit mehreren Tausend Quadratmetern.

Potthast: „Ich bin jetzt eher Energiewirt als Landwirt,und zwar mit Leidenschaft. Ich sehe die Pflanzen wachsenvon der Saat bis zur Ernte. Hege und Pflege bleibt. Die Ar-

Florian Potthast aus dem Landkreis Höxter stammtaus einer Bauernfamilie. Doch obwohl er nach wievor den Boden bewirtschaftet, hat er mit der Traditionseiner Vorfahren gebrochen.

Vom Schweine-mäster zum Stromerzeuger

unsere Tiere. Also kaufen wir zumBeispiel Soja in Schwellenländernund erzeugen dann, durch staat-lich subventioniertes, überschüssi-

ges Billigmilchpulver, den Hunger der Welt. Damit zer-stören wir in Drittweltstaaten dörfliche Strukturen.“Ein Bauer aus Burkina Faso, erzählt sie, habe neulich inBerlin bei einer Diskussion den Faden weitergesponnen:„Daraufhin kommen die perspektivlosen jungen Leuteals Flüchtlinge nach Europa.“

Böse-Hartje ist überzeugt: „Grund und Boden sind dieGrundlage unseres Daseins.“ Diese Grundlage sei in aku-ter Gefahr. In Nullzins-Zeiten werde Boden immer inter-essanter für Investoren. Die würden zugreifen, sobaldLandwirte aufgeben. In einigen Jahrzehnten, so ihre Be-fürchtung, könnten womöglich, gefördert durch dasFreihandelsabkommen TTIP, Konzerne wie Monsanto „dieErnährungsweltherrschaft“ erringen. Während Bauern,seit Generationen stolze Herrender eigenen Scholle, im bestenFall als Angestellte bleiben. „Da-gegen müssen wir kämpfen.“

Im Hofladen werdenEier für 40 Cent dasStück verkauft, wemdas noch kein gutesGewissen macht, derkann im angeschlos-senen Café seinerLandliebe frönen.

L

„Grund und Boden

sind die Grundlage

unseres Daseins.“

Johanna Böse-Hartje

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beit ist technisch vielseitig, komplex und immer fordernd,jeden Tag etwas anderes. Das Wort Bauer hat in der Gesell-schaft ja einen negativen Beigeschmack, weil Gülle stinktund die Straßen verdreckt. Früher hatten die Menschenmehr Verbindung zu Ackerbau und Viehzucht, heute ist derBezug kaum noch da. Feuerwehrmänner oder Ärzte habenein besseres Image – aber uns Landwirte braucht man jedenTag, auch wenn es nicht jeder merkt. Mein Antrieb im All-tag ist der gleiche wie bei anderen Menschen auch: Das Ein-kommen zu sichern.“

Rundgang. Potthast zeigt: Fermenter, Nachgärer (Potthast:„Beständig 40 Grad, wie eine Kuh von innen.“), Vakuumkes-sel, Wärmetauscher, Motorenzentrale, Rübenlagune, Hava-riebecken, das Freiluftsilo mit Platz für 14.000 Tonnen Mais.

Potthast: „Es heißt oft: Die dummen Bauern, die könnennur auf ihrem Traktor herumfahren. Aber ungelernt gehtheute nichts mehr. Ich habe drei Jahre eine Lehre gemacht,danach an der Fachhochschule Soest Agrarwirtschaft stu-diert und auch in Kanada Praktika gemacht, mein Ab-schluss ist ein Bachelor. Zu den Verbrauchern meiner Er-zeugnisse habe ich keinen direkten Kontakt – weder alsStromproduzent noch als Futterhersteller. Jeder Bürger be-hauptet: Ich will mich gern ökologisch und regionalernähren. Doch die Wahrheit ist: Die große Mehrheit will bil-lig satt werden. Am Hunger der Welt kann unser Betrieb di-rekt nichts ändern, doch durch unser Biogas können Öl undGas gespart werden. Das ist zumindest ein kleiner Schritt.“

Im Dorf Hohehaus, einige Kilometer entfernt: 170 Ein-wohner, eine Kirche, eine Kneipe und das alte Fachwerkfa-

Andrea Schneider lebt als Fotografin im münsterländi-schen Coesfeld. Als Autodidaktin ist sie von der Tier-fotografie zu ihrem heutigen Schwerpunkt „Ländli-cher Raum“ gekommen. „Mit jeder Geschichte lerneich etwas vom Leben, was sehr bereichernd ist. Ichmöchte das nicht mehr missen. Aber man muss Men-schen lieben, sonst funktioniert es nicht.“

miliengehöft der Potthasts ausdem 17. Jahrhundert: Bauernbeet,Schuppen, ein bellender Hund,Wohnhaus, Büro, hinten Schweine-stallungen mit 600 Tieren, seit Jahren verpachtet. „Tut mirleid“, sagt Florian Potthast, „hier gibt es außer unseremWohnhaus nichts mehr zu zeigen.“

Was hier aus derLandschaft ragt, sindkeine Zelte fürs Schüt-zenfest, sondern ei-ne hochmoderne Bio-gasanlage. Gefüttertwird sie mit Gülle,Mist und Mais.

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ls Rio de Janeiro 2009 den Zu-schlag für die Olympischen Som-merspiele 2016 bekam, war die

Begeisterung enorm. Nur zwei Jahrenach der Fußball-WM würden die Spie-le zum ersten Mal in Südamerika statt-finden, in einem der schönsten Orteder Welt. „Cidade maravilhosa“ – wun-derbare Stadt – nennen die Cariocas,die Einwohner Rios, ihre Stadt. Kritik

A an der Entscheidung gab es keine. Dennschien Brasilien nicht prädestiniert zusein, das Weltereignis auszurichten?Das „Land der Zukunft“, wie StefanZweig 1942 Brasilien als Gegenentwurfzum vom Krieg verwüsteten Europanannte, schien endlich seine Rolle alsführende Nation gefunden zu haben.Brasilien feierte – angesichts enormerEntwicklungsschritte anscheinend mit

„Leidenschaft und Transformation“ lautet das Motto der OlympischenSommerspiele, die Anfang August in Rio de Janeiro beginnen. Seit siebenJahren laufen die Vorbereitungen für das Megaevent in der Stadt amZuckerhut, in der nur einen Monat später auch die XV. ParalympischenSpiele ausgetragen werden. Kann die Transformation gelingen?

Rio 2016 –die besten Spiele aller Zeiten?

Von Philipp Lichterbeck

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habenden Stadtteil Barra daTijuca errichtet. Auf demAreal sind neun Stadien ge-baut worden, das Medienzen-trum sowie ein Hotelkomplex.Ganz in der Nähe liegt das Olym-pische Dorf. Insgesamt zehn Milliar-den Euro werden die Spiele nach letz-ten Berechnungen kosten, drei Milliar-den Euro mehr als 2009 veranschlagt.Obwohl von der Allgemeinheit be-zahlt, wird der Olympiapark nach denSpielen privatisiert, eine exklusiveWohngegend soll entstehen. CarlosCarvalho, Chef einer der drei Baukon-zerne, sagt, dass kein Platz für Armein der Region sei. Diese würden stin-ken. Seine Firma Carvalho Hoskengehört zu den großen Wahlkampfspen-dern von Bürgermeister Paes.

SCHLACHTFELD ARMENVIERTEL

Sandra Maria de Souza ist arm. IhrHaus liegt wenige Meter neben demOlympiapark. Wenn es nach Carvalhound Paes ginge, dann stünde es schonlange nicht mehr. Genauso wenig wiedie meisten der einst mehreren Hun-dert Häuser in Vila Autódromo. Siewurden abgerissen, oft unter gewaltsa-mem Polizeieinsatz. Die Bewohner wur-

gutem Grund: In der ersten Dekadedes Jahrhunderts entkamen 36 Millio-nen Brasilianer der extremen Armut.40 Millionen stiegen laut offiziellerStatistik in die Mittelschicht auf. Esentstanden 19 Millionen versicherungs-pflichtige Jobs. Die brasilianische Wirt-schaft wuchs um durchschnittlich vierProzent, der Mindestlohn stieg Jahrfür Jahr. Der britische „Economist“ ti-telte 2010 zum Bild einer fliegendenChristus-Statur: „Brasilien hebt ab“. EinLand im Olymp. Und Rios Bürgermei-ster Eduardo Paes versprach die bestenSpiele aller Zeiten: „Durch die Olympi-schen Spiele wächst unsere Stadt zu-sammen. Rio wird lebenswerter undgerechter.“

Daran glaubt heute niemand mehr.Die Euphorie ist verflogen. Nicht nur,weil Brasilien in eine abgrundtiefewirtschaftliche und politische Krise ge-schlittert ist, sondern auch, weil Rio,diese sozial und geographisch so ge-spaltene Stadt, durch die Spiele nichtzusammenwächst, sondern immer wei-ter auseinanderdriftet. Wie schon dieFußball-WM 2014 wurde das Sporter-eignis mit den fünf Ringen der Bevöl-kerung mit großen Versprechen ver-kauft, die sich als leer erwiesen.Weder sind diese Spiele günstig für dieöffentliche Hand noch ökologischund sozial nachhaltig. Stattdessen istklar, das Olympia genutzt wurde, ummächtige Privatinteressen zu befriedi-gen. Die Bedürfnisse der Allgemein-heit, besonders der Armen, wurdenhingegen vernachlässigt. Für sie wer-den die Spiele, das ist mittlerweileKonsens, keine Verbesserungen brin-gen. Im Gegenteil.

Sandra Maria de Souza lebt mitihrem Mann, einem Massagetherapeu-ten, und ihren vier Kindern in einemHaus in Vila Autódromo. Das ist einekleine Favela, wie die Armenviertel inBrasilien genannt werden, direkt ne-ben dem Olympischen Park, dem Herz-stück der Olympischen Spiele. DerOlympiapark wurde auf einer Halbin-sel in der Lagune Jacarepaguá im wohl-

Sandra Maria de Souza ist eine Kämpferin– auch ohne olympische Nominierung.Ihr bisheriges Wohnviertel nahe zahl-reicher olympischer Sportstättenfällt buchstäblich den umfang-reichen Baumaßnahmen, gieri-gen Investoren, überfordertenStadtplanern oder einfach nurgleichgültigen Spekulantenzum Opfer – und das allesim Zeichen der Ringe!

den umgesiedelt. Das wertvolle Landsoll Spekulationsmasse werden. Insge-samt mussten in Rio de Janeiro seit2009 rund 80.000 arme Menschen fürInfrastrukturprojekte und Immobilien-projekte Platz machen. Nicht selten ge-schah dies unter Zwang, viele fandensich in Sozialwohnungen am Stadt-rand wieder.

Das Armenviertel Vila Autódromogleicht heute einem Schlachtfeld. Au-ßer Sandra de Souzas Heim und eini-gen anderen vereinzelten Gebäudenist nicht viel übrig geblieben von derGemeinde, die in den Sechzigerjahrenals Fischersiedlung entstand. Dochtrotz der Verwüstung: Sandra de Souzawill nicht gehen. Sie lässt sich wedervon Gewalt einschüchtern noch vonden immer höheren Entschädigungs-zahlungen verführen, die ihr das Rat-

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hören viele paralympische Sport-ler. Außerdem wird der Betrieb des

Stadions privatisiert und von der Fami-lie Marinho übernommen, Herrinüber den allmächtigen Medienkon-zern Globo.

RUDERN IN DER KLOAKE?

Mallrich nennt ein weiteres Versäum-nis, vielleicht das größte: Vor den Spie-len hatte man versprochen, die Lagu-ne Rodrigo de Freitas sowie die riesigeGuanabara-Bucht zu säubern, auf derdie Segelwettbewerbe stattfinden. Dochimmer noch sind beide Gewässer sodreckig wie zuvor. Insbesondere dieBucht gleicht immer noch einer Kloake.

Von einer integrativen Kraft der Spie-le kann bisher keine Rede sein. Lauteiner Umfrage steht mehr als die Hälfteder Brasilianer den Spielen gleichgültiggegenüber. Nur jeder vierte sagt, dieSpiele brächten einen Fortschritt fürdie Bevölkerung. 59 Prozent glauben,dass viel Geld in dunklen Taschen ver-schwunden sei. Die „besten Spiele allerZeiten“? Daran glaubt zur Zeit wohlnur einer: Rios Bürgermeister Paes.

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MISEREOR engagiert sich gemeinsam mit an-deren kirchlichen und sozial tätigen Organi-sationen sowie dem deutschen olympischenSportbund und dem Behindertensportver-band im Bündnis „Rio bewegt. Uns.“ Die Kam-pagne setzt sich dafür ein, den Blick auchauf die Bewohner von Rio de Janeiro im Um-feld der Olympischen und ParalympischenSpiele zu lenken und sich für ihre Teilhabean einem menschenwürdigen Leben einzu-setzen. Dazu gehört, dass einzelne Bevölke-rungsgruppen nicht wegen der Spiele diskri-miniert werden – sei es durch Vertreibungoder Verdrängung, sei es durch Sicherheits-zonen rund um die Austragungsorte ohneZugangsmöglichkeiten.

Die Kampagne erinnert an die olympischenWerte und ruft zu Fairness, Frieden, Nachhal-tigkeit, Leistung und Hoffnung auf. Hierfürsollen wir uns auch in Deutschland einset-zen: Gruppen, Verbände, Schulen und Verei-ne sind aufgerufen, aktiv zu werden undSponsorenläufe oder Aktionsspiele zu orga-nisieren. Damit sollen auch Projekte in Riode Janeiro unterstützt werden, in denen be-nachteiligte Kinder und Jugendliche durchSport und Spiel Teamspirit und dank Bil-dungsangeboten auch Zukunftsperspektivenfür ihr Leben entwickeln. Informationen undAngebote rund um die Kampagne helfendabei, diese Ziele umzusetzen.

www.rio-bewegt-uns.dewww.facebook.com/riobewegtuns

Philipp Lichterbeck lebt alsfreier Korrespondent in Riode Janeiro. Er berichtet vorallem über südamerikani-sche Themen u. a. für DIEZEIT, FAZ, NZZ, Tagesspiegelu. a. Tageszeitungen, Zeit-schriften und Magazine. Für

Arte war er Co-Autor verschiedener Dokumenta-tionen, zuletzt erschien sein karibischer Reise-führer „Das verlorene Paradies“.

haus anbietet. „Es ist eine Frage derWürde“, sagt sie. „Wir sind arm, aberwir haben dies hier aufgebaut. Es istunsere Heimat.“ Sie setzt nun auf dasVersprechen des Bürgermeisters, derzuletzt – des Konflikts müde – ver-sprach, dass Vila Autódromo im Klei-nen neu aufgebaut würde. Daran glau-ben nicht viele Beobachter. Zu oft hatEduardo Paes schon gelogen. Zwar ent-stehen in Rio im Zuge der Olympi-schen Spiele wichtige Infrastruktur-projekte. So wird die U-Bahn in Rich-tung des Olympiaparks erweitert.Schnellbustrassen wurden durch dieStadt geschlagen. Im Businesszentrumwird eine neue Straßenbahn fahren,die auch das heruntergekommene Ha-fenviertel bedient, das an vielen Stel-len revitalisiert wird.

„Aber das alles hat nichts mit denSpielen zu tun“, sagt Frederic Mallrich.„Das hätte die Stadt sowieso machenmüssen.“ Mallrich ist paralympischerRuderer. Er sagt, dass er sich wünschte,die Spiele würden woanders stattfin-den. „Zu wenige Verbesserungen, zuviele Unannehmlichkeiten“, sagt er.Mallrich kann schon bald nicht mehrtrainieren, weil das Ruderstadion ander Lagune Rodrigo de Freitas reno-viert wird, ohne dass die Stadt Aus-weichmöglichkeiten für Sportler schafft,die keine Sponsoren haben. Dazu ge-

Er träumt nicht nur von einerMedaille. Frederic Mallrich wä-re schon froh, wenn er ver-nünftig trainieren könnte. Erist einer von über 4.500 Teil-nehmern der XV. Paralympics,die vom 7. September anstattfinden und in 22 Sport-arten ausgetragen werden.

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„Die Welt ist voller guter Ideen! Lass sie wachsen.“ Seit Dezem-ber 2015 erzählt MISEREOR mit seiner neuen Kampagne Ge-schichten von schlauen und tatkräftigen Menschen wie der Klein-bäuerin Aminata Compaoré aus Burkina Faso. Sie steht stellver-tretend für über 50.000 Bauern, die in dem afrikanischen Landzusammen mit MISEREOR Methoden für eine ertragreichereLandwirtschaft entwickelt haben. Autorin Daniela Singhal hathinter die Kulissen des Plakatshootings in Burkina Faso geschaut.

Fotos von Klaus Mellenthin

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er 17. September 2015 ist ein besonderer Tag im Lebender 36-jährigen Aminata Compaoré. Stolz steht dievierfache Mutter in einem Hof in ihrem Dorf Noun-

gou in Burkina Faso und lässt sich ablichten. Es ist 14.30Uhr, als das erste Foto aufgenommen wird. Normalerweiseverkauft Aminata jetzt Zwiebeln auf dem Markt. Heutesteht sie Modell für die neue MISEREOR-Kampagne. Sie istein wenig aufgeregt. Doch die rund 20 Dorfbewohner, diedas Treiben beobachten, machen ihr Mut. Sie sind fasziniertvon dem Produktionsteam aus Deutschland und seinemEquipment: Der Fotograf hat ein Lichtzelt aufgebaut undeine große Softbox installiert. Alles läuft per Akku, denn inNoungou gibt es keinen Strom.

Als Location wurde die Hauswand von einem von Amina-tas Nachbarn gewählt. Eine einfache Wand aus Lehm. Ami-nata lehnt an der Gebäudekante des Hauses. In ihremRücken sieht man eine geschichtete Lehmmauer, dahinterbeginnt das nächste Grundstück. Man sieht ein Strohdach.Sie sind typisch für die Rundhäuser des Dorfes. Aminataträgt eines ihrer schönsten traditionellen Gewänder. Sielacht noch ein wenig schüchtern in die Kamera. Deshalblässt sich Fotograf Klaus Mellenthin unterstützen: EineFreundin von Aminata stellt sich an die Seite und animiert

sie mit Faxen. Der Trick funktio-niert: Aminata lacht ihr schönstesLachen. Stolz hält sie eine Schalemit den von ihr angebauten Zwie-beln in der Hand.

„Deshalb haben wir uns für sieentschieden“, erinnert sich KlausMellenthin. „Sie hat uns einfach

mit ihrer offenen und sympathischen Art überzeugt. Undihrem unglaublichen Stolz.“ Aminata ist stolz, dass sie es ge-schafft hat, mit dem Zwiebelanbau und -verkauf ihre Kin-der in eine Schule schicken zu können. „Bei der Suche nachder Protagonistin waren wir sehr offen. Es war uns egal, obes ein Mann ist oder eine Frau. Es ging uns um die Geschich-

D

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Oben ist Aminatabeim Foto-Shootingim Hof ihres Nach-barn. Unten wird siemit ihrer Tochter vonder Film-Crew beimVerkauf ihrer Zwie-beln auf dem Marktgefilmt.

Fortsetzung auf Seite 50

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„Es war eine bis andie Grenzen gehendintensive Produktion.“

ben jedoch schnell ge-merkt, dass wir näheram Dorf sein wollen.Denn wir wollten vor allem morgensund abends in der Dämmerung foto-grafieren und filmen.“

Wie hat sich das Team dennvor Ort verständigt?Mellenthin: „Wir hatten einen Überset-zer. Außerdem hat uns ein Kollege vonMISEREOR bei der Kommunikation un-terstützt. Beim Fotografieren selberkommuniziere ich viel auch einfachmit Gestik und Mimik.“

War der Protagonistin Aminatabewusst, was auf sie zukommt?Mellenthin: „Ich denke nicht. MISEREORhat die Bewohner von Noungou vorabsehr gut über unseren Besuch und wasdahinter steckt informiert. Aber ineinem Dorf ohne Strom, Fernsehenund Radio war unser Shooting natür-lich eine ganz neue Erfahrung. Wirhaben uns bemüht relativ unauffälligzu arbeiten: Wir haben mit so wenigTechnik wie möglich und kleinen Ka-meras gearbeitet. Das war Teil unseresKonzeptes.“

Kurz nach Beginn der Produktiongab es einen Militärputsch. Mellenthin: „Wir mussten die Haupt-stadt Ouagadougou verlassen und sindaufs Land gefahren. Das war für unsalle eine sehr herausfordernde Situati-on. Wir haben Schüsse gehört und Stra-ßensperren passiert, aber wir warennie in wirklicher Gefahr. Dennoch wares für alle eine bis an die Grenzen ge-hende intensive Produktion.“

Ihre Bilder aus Noungou zeigen eineinfaches afrikanisches Dorfleben, aberauch sehr aktive, stolze Menschen. Klaus Mellenthin: „Es war uns wichtig,dass wir nicht die klassischen Afrika-bilder zeigen: Porträts von armen Kin-dern, die mit großen Augen in die Ka-mera schauen. Wir wollten starke undstolze Menschen zeigen, die ihr Lebenin die Hand nehmen. Diese Menschenhaben wir in Noungou getroffen. DasLeben dort ist sehr einfach, wir wür-den es als arm bezeichnen. Aber dieMenschen sind zufrieden und stolzauf das, was sie schaffen.“

Wie wurde das Team in Noungouempfangen?Mellenthin: „Sehr herzlich! Die Men-schen waren sehr offen und interes-siert an unserer Arbeit. Ich habe michsehr wohl in Noungou gefühlt.“

Wussten Sie schon vor Ihrer Reise,welche Person Sie porträtieren werden? Mellenthin: „Die MISEREOR-Partner vorOrt haben uns Personen für das Shoo-ting vorgeschlagen. Wir haben uns abernochmal Zeit genommen, um intensi-ve Gespräche mit den Menschen zuführen. So konnten wir Vertrauen zuden Dorfbewohnern aufbauen. Am An-fang waren die Dorfoberen noch mitdabei, am zweiten Tag konnten wir dieInterviews schon alleine führen.“

Das Shooting von Kampagnenmotivund Film hat mehrere Tage gedauert.Hat das Team in Noungou gelebt?Mellenthin: „Am Anfang haben wir inder 45 Minuten entfernten Hauptstadtin einem Hotel übernachtet. Wir ha-

Der Berliner Fotograf Klaus Mellenthin berichtet im Interviewüber den Stolz der Dorfbewohner von Noungou

Sei es beim Erfor-schen des Film-Equip-ments durch AminatasSohn, beim Sichtendes Bildmaterials indem Versammlungs-gebäude von Noun-gou oder beim Posie-ren vor den Film- undFotokameras – dasTeam aus Deutschlandund die Dorfbewohnerhatten trotz der lan-gen und harten Arbeitauch immer viel Spaßmiteinander.

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DIE KAMPAGNE

Seit Dezember 2015 erzählt die neue MISEREOR-Kampagnepositive Geschichten von Menschen, die mit viel Mut, Kreati-vität und Engagement neue Wege gehen und damit ihrLeben verändern. Sie konzentriert sich auf innovative Pro-jekte von Menschen aus Afrika, Asien und Lateinamerika.„Mit der Unterstützung unserer Spenderinnen und Spendermöchten wir diese tollen Ideen wachsen lassen“, so MISERE-OR-Referentin Christine Reimers.

Im Mittelpunkt der Kampagne stehen die Plakatmotive und dieKampagnenwebseite. Dort informieren Videos über die einzel-nen Protagonisten und Projekte. Neben dem Plakat mit Aminataaus Burkina Faso gibt es noch ein Motiv, welches in einem Pro-jekt in Brasilien aufgenommen wurde. Im Laufe des Jahres sol-len noch zwei weitere Motive dazukommen. Die neue Kampa-gne soll die Bekanntheit von MISEREOR weiter stärken, überdie nachhaltige Wirkung der Projekte informieren und somitletztlich dabei helfen, noch mehr Menschen zu unterstützen.

te“, so Tobias Fritschen, Kreativdirektor derAgentur Kolle Rebbe. „Letztlich haben wiruns für eine Frau entschieden. Es ist gut auchmal eine starke Frau zu präsentieren. Denndie Frauen sind die Leistungsträger dieser Ge-sellschaft.“ Aminatas Mann unterstützt seineFrau: Am Anfang war er mit Hinblick auf dasShooting ein bisschen skeptisch, dann freute

er sich. Bei den Video-Porträts der Kampagne war oft Amina-tas jüngste Tochter mit dabei. Sie hat zwei Töchter und zweiSöhne. Sie sind ihr Antrieb. Ihr größter Wunsch ist, dassihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten. Am Foto-Set ist

sie alleine. Mal abgesehen von den neu-gierigen Dorfbewohnern und den Tieren,die sich auf dem Hof tummeln. Die Zie-gen vom Nachbarn und eine Henne mitihren Küken. Vor Aufregung über dasTreiben auf dem Hof hat sie ein Ei gelegt.Fotograf Mellenthin hat es vor den Auber-ginen platziert. Daneben liegen Maiskol-ben, Auberginen, Gurken und Nüsse: Er-träge der Dorfgemeinschaft.

„Leider denken bei uns immer nochviele Leute, dass die Menschen in Ent-wicklungsländern zu wenig selbst unter-nehmen, um sich aus der Armut zu befrei-en. Das ist schlichtweg falsch“, erklärt MI-SEREOR-Referentin Christine Reimers.

„Die Menschen im globalen Süden wollen ihr Leben selbstin die Hand nehmen und haben viele sehr gute Ideen, wiesie ihre Lebenssituation nachhaltig verbessern können.“ DieKreativagentur Kolle Rebbe, mit der die Kampagne umge-setzt wurde, spricht von einem Paradigmenwechsel imSpendenmarkt: „Es geht nicht darum, Elend wegzuspenden,sondern Kreativität und Tatkraft zu unterstützen.“

Aminata wird im Laufe des Shootings immer entspann-ter, es herrscht eine gelöste Stimmung. Nach zwei Stunden,kurz vor der Dämmerung, ist das Shooting beendet. 82 Bil-der sind im Kasten. Eins davon wird das Plakat-Motiv derneuen MISEREOR-Kampagne.

Gemeinsam überlegenFotograf Klaus Mel-lenthin, Kreativdirek-tor Tobias Fritschenund MISEREOR-Refe-rentin Christine Rei-mers, vor welchemHintergrund sie Ami-nata in Szene setzen.

www.misereor.de/aminatawww.misereor.de/julia

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Fortsetzung von Seite 48

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Bevor ihr zum Shooting nach BurkinaFaso aufgebrochen seid: Hattet ihrschon eine Idee, wie Film und Plakathinterher aussehen sollen?Tobias Fritschen: „Wir wollten eine po-sitive Geschichte finden und erzählen.Eine, die die Hilfe zur Selbsthilfe mög-lichst anschaulich darstellt und zeigt,wie MISEREOR das Leben der Men-schen verändert. Natürlich hatten wiruns vor der Reise schon einen Plan fürdas Shooting gemacht, aber am Endekam es dann doch ganz anders. Direktam ersten Tag in Noungou haben wirgemerkt, dass wir unsere Idee für denFilm so nicht umsetzen können.“

Was war anders als bei Shootingsfür andere Kampagnen?Fritschen: „Normalerweise kennt mandie Geschichten der möglichen Prota-gonisten schon vorher genau. Aberdiesmal hatten wir vorab nur wenig In-formationen. Die haben wir erst vorOrt im Gespräch mit den Dorfbewoh-nern von Noungou bekommen.“

Wussten die Menschen in Noungouvon eurem Besuch?Fritschen: „DIOBASS, die Partnerorgani-sation von MISEREOR, und der Refe-rent vor Ort hatten die Menschen sehrgut auf unseren Besuch vorbereitet.Dennoch wollten wir sie mit unseremTeam nicht überrennen. Deshalb fan-den die Interviews auch nur mit demFotografen und der Regisseurin statt.“

Und hat diese Taktik funktioniert?Fritschen: „Auf jeden Fall! Die Men-schen waren sehr aufgeschlossen undhaben uns viel über ihre Arbeit und

ihr Leben in Noungou erzählt. Sie wa-ren stolz darauf, dass wir uns für ihrZwiebelprojekt interessiert haben. Amletzten Tag haben sie sich sogar beiuns bedankt: Sie waren froh, dass siedurch unseren Besuch die Chance ha-ben, etwas in der Welt zu bewegen. Dasssie mit ihrem Projekt auch überregio-nal eine Auswirkung haben können.“

Wie würdest du Eure Reise nach Burki-na und das Shooting zusammenfassen? Fritschen: „Die ganze Reise war heraus-fordernd und spannend.“

Ihr habt euch am Ende für eine Frauentschieden. War das geplant?Fritschen: „Bei der Suche nach der Pro-tagonistin waren wir sehr offen. Es waruns egal, ob es ein Mann ist oder eineFrau. Es ging uns um die Geschichte.Und darum, wie gut sie vor der Kameraerzählt werden kann.“

„Es ist gut, auch mal eine starke Frauzu präsentieren.“

DAS PROJEKT

Aminatas Geschichte steht stellver-tretend für Bauern, die in BurkinaFaso zusammen mit dem MISEREOR-Partner DIOBASS Methoden für eineertragreichere Landwirtschaft ent-wickelt haben. Das Wissen der Klein-bauern in einer der ärmsten Regio-nen des Landes wird wertgeschätztund ihre Innovationsideen unter-stützt. DIOBASS vernetzt die Bauernaus verschiedenen Dörfern und för-dert ihre Ideen. So wie die neuen Me-thoden zu Anbau und Lagerung derZwiebeln der Bauern in Noungou. Inder von extremer Armut geprägtenRegion steigern die landwirtschaftli-chen Innovationen die Erträge derBauern und sichern somit ihr Überle-ben. Das zusätzliche Geld hilft beiArztbesuchen und es hilft, das Schul-geld der Kinder zu bezahlen.

Tobias Fritschen, der die Kampagne als Kreativdirektor für die AgenturKolle Rebbe betreute, berichtet über seine Erfahrungen in Noungou

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TUILES AUX ORANGES – ORANGENZIEGEL

Zutaten240 g Butter, 240 g gemahlene Mandeln, 240 g Mandel-plättchen, 480 g Zucker, 200 g Mehl, 3 Orangen zum Aus-pressen, 2 Bio-Orangen zum Zesten, Cointreau nach Be-lieben

ZubereitungDen Saft aus drei Orangen pressen, mit dem Zesterdünne Streifen von den beiden Bio-Orangen abziehen,Butter schmelzen und mit den Zesten, Orangensaft unddem Cointreau vermischen. Gemahlene Mandeln, Zu-cker und Mehl mit dem Schneebesen in die Flüssigkeiteinrühren, zum Schluss die Mandelplättchen unterhe-ben, Backblech buttern, Ofen auf 170 Grad vorheizen,mit dem Teelöffel walnussgroße Kugeln auf das gebut-terte Blech legen und mit der Rückseite des Löffels flachdrücken. Die Orangenziegel bleiben so lange im Ofen,bis sie eine schöne, goldige Farbe haben. Dann die Oran-genziegel aus dem Ofen nehmen und über einen gerun-deten Holzstab oder Ähnliches legen, damit sie ihre ge-wölbte Form behalten. Abkühlen lassen. Sobald sie erkal-tet sind, servieren (bevor sie wieder weich werden)!

Ein Rezept von Sternekoch Christof Lang,La Becasse, Aachen, siehe auch Seite 10 im Heft.

Karikatur von Helmut Jacek, Zeichnung Flugzeuglebensmitteltransporteaus: Glänzende Aussichten, 99 Karikaturen zu Klima, Konsumund anderen Katastrophen, Seite 52.

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DEN ACKER BESTELLEN

Zwei Drittel des weltwei-ten Kalorienbedarfs wer-den heute von nur dreiPflanzen gedeckt: Weizen, Reis und Mais. Das hat erhebli-che Folgen für Klima, Landwirtschaft und Esskultur. Undmüsse sich endlich ändern, fordern Carlo Petrini, Gründervon Slow Food, und Stefan Mancuso, ein bekannter Pflanzen-forscher. Die beiden Experten haben ein Manifest geschrie-ben und plädieren für einen radikalen Paradigmenwechsel:Nahrung für alle, schreiben sie, sei in Zukunft nur dann zugewährleisten, wenn endlich Schluss gemacht werde mit derressourcenverschwendenden und monotonen Agrarindustrie.Und wir endlich damit beginnen, Nahrung überall biologischvielfältig anzubauen und kulinarisch zu verarbeiten.

Stefano Mancuso/Carlo Petrini: Die Wurzeln des guten Ge-schmacks. Warum sich Köche und Bauern verbünden müssen.Antje Kunstmann Verlag 2016, 10,00 Euro.

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verstehenverstehenVOM FLÜCHTEN, WARTENUND ANKOMMEN

Kirsten Boie erzählt schlichtund schnörkellos die Ge-schichte der syrischen Ge-schwister Rahaf und Hassan,die mit ihren Eltern nachDeutschland fliehen. Sie erzählt, wie die beiden in Syri-en gelebt haben, bis die Flugzeuge mit den Bombenkamen. Was Rahaf und ihr Bruder auf dem Schiff erle-ben, das sie übers Mittelmeer bringen soll und wie sieschließlich in einem Wohncontainer in Deutschland einneues Zuhause finden. Damit auch geflüchtete Kinderim Grundschulalter etwas mit der Geschichte anfangenund sich mit ihren Mitschülern darüber austauschenkönnen, ist das Buch zweisprachig (Arabisch-Deutsch) ge-

FÜNF-STERNE-AUSBILDUNGIN HO CHI MINH STADT

Francis Van Hoi hat vor zwei Jahren die Koch- und Gastrono-miefachschule Mai Sen gegründet, die Jugendlichen aus so-zial benachteiligten Familien eine Schul- und Berufsausbil-dung bietet. Das Projekt wird von MISEREOR unterstützt.Die Brüder Tran Van Thanh und Tran Van Tai sind über denKontakt zu einer katholischen Ordensschwester direkt vonder Straße geholt worden. „Jetzt machen sie bei uns eineAusbildung zum Koch“, sagt Francis Van Hoi.

Ihre Mutter, Nguyen thi Mai, verdient ihr Geld auf derStraße als Müllsammlerin. Das Hab und Gut der 55-Jährigenbefindet sich auf einem abgenutzten Transportfahrrad.Vorne hängt ein Plastiksack für den Müll. Dahinter hat siePappkartons geladen und eine Plastikplane: Ihre Matratzeund ihr „Dach über dem Kopf“. Ihre 18- und 19-jährigenSöhne bekommen durch die Ausbildung in der Gastrono-miefachschule die Chance ihres Lebens. Auf der Straße müs-sen sie bereits nicht mehr schlafen: Sie übernachten mitden anderen Auszubildenden im engen Schlafsaal der Schu-le. 72 Jugendliche erhalten zurzeit eine Ausbildung im MaiSen. Neben der Schulausbildung und Englisch lernen siealle praktischen Tätigkeiten für den Gastronomieberuf.

Francis Van Hoi wurde in Vietnam geboren und bekamdort Krieg und Agent-Orange-Einsätze hautnah mit. 1976floh er nach Deutschland. Nach einer Ausbildung zum Kochund Gastronomen machte er sich 1989 selbstständig underöffnete eine Reihe von Asia-Lebensmittel-Läden in Mün-chen. 1995 gründete Van Hoi mit eigenen Mitteln das Zen-trum Mai Sen in Vietnam. Künftig will Van Hoi besondersdie Ausbildung von Mädchen fördern: „Als Zimmermäd-chen in den Fünf-Sterne-Hotels haben sie gute Chancen,ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen und auf eigenenFüßen zu stehen.“

Prominente Unter-stützerin: Die Mün-chener Fernsehmo-deratorin CarolinReiber besuchte dieGastronomieschuleMai Sen in Saigonim März 2016.entfaltenentfalten Fo

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schrieben. Jan Bircks Bilder spiegeln einfühlsam und un-aufdringlich die Gefühle der Kinder von Angst und Ein-samkeit bis hin zu Mut und Zuversicht: Knapper undwahrhaftiger geht’s nicht.

Kirsten Boie und Jan Birck: Bestimmt wird alles gut. Überset-zung ins Arabische: Mahmoud Hassanein. Zweisprachige Ori-ginalausgabe, Klett Kinderbuch 2016. 9,95 Euro. Ab 6 Jahren.

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54 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

GRUSS AUS THAILANDVON MELISSA MEDOCH

Halbzeit. Mein Freiwilligendienst hat vor über fünf Mona-ten in Thailand begonnen, nachdem ich das erste Mal asiati-schen Boden in Bangkok betreten habe. Zu der Zeit wussteich noch nicht, was mich erwarten würde. Wie werde ichmich einfinden? Was werden meine Aufgaben sein? Wiewird mein soziales Umfeld aussehen? Werde ich die Spra-che schnell lernen können? Alle diese Fragen schwirrtenmir unentwegt in meinem Kopf herum und haben micheine lange Zeit begleitet – und jetzt?

Jetzt habe ich mich bereits eingelebt, habe meine Aufga-ben entdeckt und neue Freunde sowie auch meine Kolle-ginnen und Kollegen kennengelernt. Ich habe hier einenganz neuen, aber schönen Alltag entwickelt und darf vonTag zu Tag dazulernen. Unter der Woche bin ich für dreiTage in den Flüchtlingscamps, welche an der Grenze zu My-anmar liegen. Ich merke, in den ersten Tagen war allesnoch so neu! – Bilder und Situationen bahnen sich ihrenWeg durch meinen Gedankenstrom: Auf den ersten Fahr-ten in die Flüchtlingscamps ist mir noch von dem ganzenGeruckel – hin und her und hoch und runter – schlecht ge-worden. Mittlerweile schaue ich mir dabei die wunderschö-ne Natur an oder lese ab und an.

Vor ein paar Monaten noch waren die Menschen in denCamps, aber auch andere, wie mein Muay Thai Lehrer, mirfremd. Andererseits war auch ich eine Fremde – eine „fa-rang“ (zu thai: westlicher Mensch) oder „gola“ (karen für:englisch-sprachiger Mensch) – die sie noch nicht allzu oftzu Gesicht bekommen haben. Nun freue ich mich unglaub-lich, ein strahlendes Lächeln zu sehen und ein „ich habedich vermisst“ zu hören, wenn ich wiederkehre.

Melissa Medoch ist 19 Jahr alt und kommt aus Aachen. Seit Au-gust 2015 ist sie über den MISEREOR-Freiwilligendienst beiCOERR in Thailand in der Flüchtlingshilfe tätig.

engagierenengagierenMISEREOR-UNTERNEHMERFORUM:KRISE ALS CHANCE SEHEN

Welchen Beitrag können deutsche Unternehmer für die In-tegration von Geflüchteten leisten? Darum ging es beim dies-jährigen MISEREOR-Unternehmerforum. Zwei Beispiele wur-den genannt: Die Deutsche Telekom betreibt mit „refugees.telekom.de“ ein Online-Informationsportal für Geflüchtetein acht Sprachen, bietet Flüchtlingen betriebseigene Woh-nungen, Praktika und Studien-Stipendien an. Die Trimet Al-uminium SE aus Essen bietet 66 Geflüchteten aus Syrien,Irak, Eritrea und Afghanistan einen Ausbildungsplatz an.„Unser Firmengründer Heinz-Peter Schlüter hat seinen 66.Geburtstag im letzten Jahr zum Anlass genommen, 66 neueAusbildungsplätze für Flüchtlinge bereitzustellen. Grunddafür waren seine eigenen familiären Erfahrungen mitKrieg und Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg. Besonders inder Pflicht sehen wir uns als Unternehmen, da dies sein

letztes großes Projekt war, bevor er im No-vember 2015 verstarb. Dies ist auch

als Signal an die Politik zu ver-stehen: Wir zeigen, dass wir

Interesse haben an der Inte-gration der Flüchtlingeund investieren in sie,damit aus der Krise eineChance wird“, so MartinIffert, Vorsitzender desVorstands.

handeln

Fotos: Trimet Aluminium SE, priva

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handeln

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ören Sie das? Dieses Grummelnim Hintergrund? Das sind dieÄngste und Sorgen. Die werden

gerade wieder einmal geschürt! Unddas ist gar nicht gut für die Stimmung.Für die Stimmung, die bekanntlich sowichtig ist.

Die muss stimmen, das heißt, sie mussvor allem stabil sein. Wenn die auchnur ein bisschen ins Schwankenkommt, wenn also Stimmungs-Schwan-kungen entstehen, dann geht das plötz-lich ruck-zuck und sie ist gekippt.

Katastrophe! Panik! Giga-Gau!

Im ausverkauften Fußballstadion, imhackedichten Bierzelt oder in der über-füllten Flüchtlingsunterkunft.

Wenn die Stimmung erst einmal sorichtig kippt, wenn aus guter Launeurplötzlich Frustration und Aggressi-on werden, dann rette sich wer kann!

Menschen, die sich gerade noch fried-lich in ihr Schicksal ergeben hatten,werden zu reißenden Bestien, die alleGrundprinzipien von Recht und Ord-nung vergessen und rücksichtslos nurnoch sich selbst der Nächste sind.

Ich! Meiner! Mir! Mich! Egoistisch. Ge-waltbereit. Asozial.

Stellen Sie sich folgende Situation vor:Mehrere Hundert Menschen stehen ineiner schier endlosen Schlange, weilihnen versprochen wurde, dass am En-de der Schlange die Befriedigung ihrerdringendsten Bedürfnisse auf sie wartet.

Plötzlich verbreitet sich das Gerücht,dass dieses Versprechen nicht für alleWartenden gehalten werden kann, weiles zu Engpässen bei der Ausgabe kommt. Wenn dann der erste Ungeduldige die

Schlange verlässt und sich im Vertrau-en auf das Recht des Stärkeren auf dieÜberholspur begibt, ist das totaleChaos mit Tumulten und Gewaltexzes-sen nur noch eine Frage von Minuten.

So geschehen im baden-württembergi-schen Offenburg in einer – Flüchtlings-unterkunft? Wie kommen Sie dennjetzt auf Flüchtlingsunterkunft?

Ich spreche von der Filiale eines Le-bensmittel-Discounters, wo es all dieMittel des täglichen Lebens zum Spott-preis gibt. Da war eine Küchenmaschi-ne im Supersonderangebot. Und zwarnicht irgendeine Küchenmaschine, son-dern ein asiatischer Nachbau des le-gendären Thermomix TM5.

Der wird im Original in Deutschlandund Frankreich produziert, ist die er-folgreichste Küchenmaschine aller Zei-ten und laut Sternekoch Dieter Müller

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eines der wichtigsten Küchengeräteseit der Erfindung des Feuers. Kostetim Original 1.100 Euro, gab’s beimDiscounter als Kopie für schlappe 200.Allerdings nur in begrenzter Stück-zahl. Was dazu führte, dass die Zahlder Kaufinteressenten die Menge derkäuflichen Geräte um ein Vielfachesüberstieg.

Die Folge: Tumultartige Szenen zumBeispiel in der Filiale in Offenburg.Eine Frau, die eines der begehrten Ob-jekte erbeutet hatte, wurde von einemMann gepackt und umgerissen. Ande-re Kunden stürzten sich auf die Rau-fenden und versuchten nach dem Prin-zip des lachenden Dritten die billigeThemomix-Kopie an sich zu bringen.Am Ende musste die Polizei mit meh-reren Streifenbesatzungen eingreifen,um den Tumult aufzulösen. Und wohl-gemerkt, bei dem ganzen Gemetzelging es um eine doofe Küchenmaschine.

Nicht auszudenken, die gleichen Men-schen hätten hungrig für Nahrung an-gestanden oder für medizinische Ver-sorgung ihrer kranken Kinder. Wie ge-sagt: Es ist gar nicht gut, wenn dieStimmung kippt.

Aber woran merkt man, dass eine sol-che Stimmungs-Kippe kurz bevorsteht?Nun, wenn beispielsweise immer mehrMenschen „aber“ sagen, dann solltendie Alarmglocken diesbezüglich schoneinmal in Schwingung versetzt werden.

Ich bin durchaus der Meinung, Deutsch-land soll die Flüchtlinge aufnehmen,aber… Ich habe nichts gegen Auslän-der, aber… Ich bin kein Rechtsradika-ler, aber…

Und nach dem aber kommt das doch.Das doch noch. Das wird man dochnoch sagen dürfen.

Wobei ich den Eindruck habe, dassman im Nachkriegs-Deutschland nochnie so viel sagen durfte wie heute: DieInjurie als Normalität. Was da an Giftund Galle tagtäglich aus den schäu-menden Mäulern der Tollwut-Bürgertrieft, das erfüllt nicht nur den Straftat-bestand der Volksverhetzung, das ist ein-fach nur widerlich und ekelerregend.

Ätzend wie Pisse aus dem Katzenklozersetzt das den ohnehin nicht ganzgesunden Menschenverstand, bis die-ser völlig aussetzt und nur noch dieniedrigsten Instinkte und primitivstenReflexe das Handeln bestimmen.

Jagt sie! Schlagt sie! Hängt sie!

Viele vergiftete Worte ergeben einenBrandsatz, und wer Menschen alsSchweine beschimpft, der wird sie ei-nes Tages auch schlachten. Und des-halb: Keine Freiheit für die Feinde derFreiheit, keine Toleranz für die Predi-ger der Intoleranz, kein Verständnisfür den Unverstand!

So, und jetzt ist wieder höchste Zeitfür ein „aber-doch“: Aber wir müssendie Ängste und Sorgen der Menschendoch ernst nehmen!

Was für ein Blödsinn!

Wir müssen den Menschen die Ängstenehmen und ihre Sorgen zerstreuen.Das ist es, was wir tun müssen.

In diesem Sinne: Bleiben Sie vernünf-tig, seien Sie besonnen und selbstwenn die Stimmung kippt, bleiben Sieaufrecht! Und bitte ganz ohne aber!

56 EINSZWEITAUSENDSECHZEHN

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leistet seit über 50 Jahren Hilfe zur Selbst-hilfe durch konkrete Projekte und arbeitetmit einheimischen Partnerorganisationen zu-sammen;

ist das katholische Hilfswerk, durch dassich Menschen in Deutschland für Gerechtig-keit und Solidarität mit den Armen in Afrika,Asien, Lateinamerika und Ozeanien einsetzen;

sieht es als seine Aufgabe an, Entschei-dungsträgern in Politik und Wirtschaft „insGewissen zu reden“, auf Menschenrechtsver-letzungen hinzuweisen und sich für einenachhaltige Entwicklungszusammenarbeit ein-zusetzen;

hat das Spendensiegel des DeutschenZentralinstituts für Soziale Fragen (DZI).

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