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Jules Verne Meister Zacharius 1. E INE WINTERNACHT Die Stadt Genf liegt an der Westspitze des Sees, der nach ihr den gleichen Namen erhalten hat, und wird von der Rhône, wenn sie aus dem See heraustritt, in zwei besondere Stadtteile geschieden; der Fluß selbst teilt sich etwa in der Mitte der Stadt durch eine Insel in zwei Arme. Eine ähnliche topographische Beschaf- fenheit finden wir bei den großen Zentren des Han- dels und der Industrie häufig und erklären uns dies durch die Leichtigkeit des Transports, die durch die raschströmenden Flußarme ermöglicht wurde und be- stimmend auf die ersten Ansiedler einwirkte. Nennt ja Pascal mit treffendem Wort diese Stromformationen: »Ces chemins qui marchent tout seuls.« 1 Die Wege auf der Rhône können nicht nur »gehende«, sondern sogar »laufende« genannt werden. Zu der Zeit, als sich auf der Insel, die wie eine hol- ländische Galiote 2 in der Mitte des Stroms vor Anker 1 Wege, die allein gehen. 2 Leichtes Fahrzeug mit Segeln und Rudern.

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Jules Verne

Meister Zacharius

1. EINE WINTERNACHT

Die Stadt Genf liegt an der Westspitze des Sees, dernach ihr den gleichen Namen erhalten hat, und wirdvon der Rhône, wenn sie aus dem See heraustritt, inzwei besondere Stadtteile geschieden; der Fluß selbstteilt sich etwa in der Mitte der Stadt durch eine Inselin zwei Arme. Eine ähnliche topographische Beschaf-fenheit finden wir bei den großen Zentren des Han-dels und der Industrie häufig und erklären uns diesdurch die Leichtigkeit des Transports, die durch dieraschströmenden Flußarme ermöglicht wurde und be-stimmend auf die ersten Ansiedler einwirkte. Nennt jaPascal mit treffendem Wort diese Stromformationen:»Ces chemins qui marchent tout seuls.«1 Die Wege aufder Rhône können nicht nur »gehende«, sondern sogar»laufende« genannt werden.

Zu der Zeit, als sich auf der Insel, die wie eine hol-ländische Galiote2 in der Mitte des Stroms vor Anker

1Wege, die allein gehen.2Leichtes Fahrzeug mit Segeln und Rudern.

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liegt, noch nicht so schöne, regelmäßige Bauten erho-ben wie heutzutage, bot ihr wunderlicher Häuserkom-plex dem Auge einen reizvoll verworrenen Anblick. DieBauten schienen übereinander fortzuklettern, und hierund da waren sie, mit Rücksicht auf das beschränkteTerritorium der Insel, auf Grundpfählen errichtet, dieaus den schnellen Strömungen der Rhône emportauch-ten. Die dicken, längst von der Zeit und dem feuchtenElement abgenutzten und geschwärzten Bohlen lugtenin phantastischen, seltsam gestalteten Formen aus demWasser hervor wie ungeheure Krebsscheren, der Stromschäumte und brauste düster grollend im Schatten sei-ner Last zwischen dem Walde von Grundpfählen dahin,und die zwischen den Bohlen aufgespannten Fischer-netze bewegten sich im Lufthauch gleich kolossalen,gelblichen Spinngeweben hin und her, als ob sie denalten Eichenholzungen dieses Unterbaues zum Laub-werk dienen wollten.

Eins der Inselhäuser fiel vor allen anderen durch sei-ne sonderbare, altertümliche Bauart auf, und dies wur-de von einem alten Uhrmacher, dem Meister Zachari-us, seiner Tochter Gérande, dem Gehilfen Aubert Thünund einer alten Magd Scholastique bewohnt.

Welch ein eigenartiger Mann war dieser alte Uhrma-cher! Sein Alter schien unerforschlich, denn auch dieältesten Leute der Stadt erinnerten sich nicht, wannsie Meister Zacharius zum ersten Mal mit seinem wei-ßen, wehenden Haar, das er schonungslos den Winden

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preisgab, hatten durch die Straßen gehen sehen, undwie lange sein magerer spitziger Kopf schon so wun-derlich zwischen den Schultern hin und her wackel-te. Es schien fast, als sei in diesem alten Mann keinanderes Leben als in den Pendeln seiner Uhren. Seintrockenes, leichenhaftes Gesicht war mit der Zeit dü-sterer geworden und gewissermaßen nachgedunkelt,wie die alten Gemälde Leonardo da Vincis.

Das schönste Zimmer des Hauses, aus dem mandurch ein schmales Fenster auf die schneeigen Gipfeldes Jura blickte, hatte Gérande inne, während die kel-lerartige Werkstätte und das Schlafzimmer ihres Va-ters unmittelbar über den Grundpfählen, beinahe aufgleicher Höhe mit dem Flusse lagen; seit undenklichenZeiten verließ Meister Zacharius außer zu den Stun-den der Mahlzeiten diese Räume nur, um die verschie-denen Uhren der Stadt zu regulieren. All seine übri-ge Zeit aber brachte er vor einem Arbeitstische zu, aufdem sich eine Masse der verschieden-artigsten, meistvon ihm selbst erfundenen Uhrmacherwerkzeuge be-fanden.

Meister Zacharius war ein sehr geschickter Mann,und seine Werke wurden geschätzt in ganz Frankreichund Deutschland. Die betriebsamsten Arbeiter in ganzGenf erkannten bereitwillig seine Überlegenheit an;die Stadt betrachtete es als eine Ehre, ihn den Ihrigenzu nennen, und man wies auf Meister Zacharius mitden achtungsvollen Worten:

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»Ihm gebührt der Ruhm, die Hemmung erfunden zuhaben.«

Und von dieser Erfindung datiert wirklich erst, wiedie Arbeiten des Meister Zacharius weiter unten kla-rer anschaulich machen werden, die Entstehung dereigentlichen Uhrmacherkunst.

Wenn Zacharius lange an seiner wundersamen Ar-beit gesessen hatte, legte er behutsam wieder seineWerkzeuge an ihren Platz, bedeckte die kleinen, so-eben abgepaßten Stückchen mit leichten Glasglockenund gönnte dem fleißigen Rade seiner Drehbank Ruhe.Dann öffnete er eine im Fußboden seines Arbeitszim-mers befindliche Klappe und brachte Stunden damitzu, über die Öffnung geneigt in die vorüberrauschen-de Flut der Rhône zu schauen und sich an den nebligenDünsten, die aus ihr emporstiegen, zu berauschen.

Es war an einem Winterabende, als die alte Scho-lastique, die wie auch der Gehilfe nach alter Sitte anden Mahlzeiten ihrer Herrschaft mit Teil nahm, dasAbendessen auftrug; aber obgleich die Speisen sorg-sam, wie sonst, bereitet waren und dem Meister Zacha-rius in schöner blauweißer Schüssel dargeboten wur-den, rührte er heute nichts an und antwortete nichteinmal auf die sanften Worte Gérandes, die über diedüstere Stimmung ihres Vaters sichtlich bekümmertwar. Auch das Geschwätz der alten Magd berührte seinOhr nicht mehr und war ihm so gleichgültig geworden,

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wie das früher so gern gehörte Rauschen des Rhône-stroms. Nach dem schweigsamen Mahl erhob sich deralte Uhrmacher und verließ das Zimmer, ohne, wie ge-wöhnlich, seine Tochter zu küssen, noch, wie sonst,den Anwesenden eine »Gute Nacht« zu bieten. Er ver-schwand durch die schmale Tür und ging auf der Trep-pe, die unter seinen gewichtigen Tritten leise zu äch-zen und zu klagen schien, nach seinem Arbeitszimmerhinab.

Gérande, Aubert und Scholastique verharrten einigeMinuten in tiefem Schweigen. Es war heute abend eindüsteres Wetter; die Wolken schleppten sich schwer-fällig an den Alpen entlang und drohten, sich in Re-gen aufzulösen; die rauhe Temperatur der Schweizstimmte die Seele unwillkürlich schwermutsvoll, unddie Südwinde strichen mit unheilverkündendem Pfei-fen um das Haus.

»Unser Meister ist seit einigen Tagen völlig verän-dert, mein liebes Fräulein,« begann endlich Scholasti-que; »heilige Jungfrau! wenn jemand so mürrisch ist,daß ihm die Worte im Halse steckenbleiben, kann mansich nicht wundern, wenn kein Bissen hinuntergeht.Wer ihm heute ein Wort entlocken wollte, müßte essehr geschickt anfangen.

»Der Vater muß irgendeinen geheimen Kummer ha-ben,« sagte Gérande sanft, während eine schmerzlicheUnruhe sich in ihren Zügen malte; »ich kann mir nichtentfernt denken, was ihn so niederdrückt.«

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»Fräulein, grämen Sie sich nicht so sehr darüber, Siewissen, Meister Zacharius hat sonderbare Gewohnhei-ten, und seine Gedanken sind nicht leicht auf seinerStirn zu lesen; ihm ist jedenfalls irgend etwas Ärger-liches begegnet, aber morgen hat er’s vielleicht schonwieder vergessen, und da wird es ihm leid sein, IhnenAngst gemacht zu haben.«

So sprach Aubert, der Gehilfe des alten Meisters,und schaute dabei in die schönen Augen Gérandes.Er war der einzige, den Meister Zacharius jemals desVertrauens bei seinen Arbeiten gewürdigt und den erdazu herangezogen hatte, denn er schätzte ihn seinerBesonnenheit, seiner großen Herzensgüte und seinesVerstandes wegen. Aubert hatte sich dem jungen Mäd-chen mit jenem geheimnisvollen Vertrauen angeschlos-sen, das bei großangelegten Leidenschaften vorzuwal-ten pflegt.

Gérande war achtzehn Jahre alt, das Oval ihres Ge-sichtchens erinnerte an das der einfachen Madonnen-bilder, die man in den altbretagnischen Städten an denStraßenecken aufgehängt findet, und aus ihren Augensprach die reinste Unschuld und Harmlosigkeit. Manmußte sie lieb haben wie die holdeste Verwirklichungeines Dichtertraums. Sie kleidete sich in wenig auffal-lende Farben, und das weiße, auf ihren Achseln gefäl-telte Leinen erinnerte an jenes zarte Weiß, das den Ge-wändern der Geistlichkeit eigen zu sein pflegt. Das jun-ge Mädchen führte in Genf, das sich damals noch nicht

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den trockenen Lehren des Calvinismus gebeugt hatte,ein eigentümlich mystisches Traumleben.

Wie Gérande an jedem Morgen und Abend ihre latei-nischen Gebete aus ihrem mit eisernen Klammern ver-sehenen Missale ablas, so hatte sie auch in dem HerzenAuberts ein tief verborgenes Gefühl der innigen Hinge-bung gelesen.

Das alte Uhrmacherhaus war für ihn eine Welt ge-worden, und wenn er nach beendeter Arbeit die Werk-stätte ihres Vaters verließ, wußte er sich nichts Besse-res, als seine Zeit bei Gérande zuzubringen.

Die alte Scholastique hatte das alles längst bemerkt,sie sagte jedoch kein Wort darüber; ihre Geschwätzig-keit bemächtigte sich vorzugsweise der kleinen Mise-ren des Haushalts und der Unglücksfälle, von denensie hörte. Man pflegte ihr in solchem Geplauder nichtEinhalt zu tun, und man tat gut daran, denn sie warin dieser Beziehung mit den Genfer Musik-Tabatierenzu vergleichen, die, einmal aufgezogen, all ihre Weisenabspielen und nur auf die Art zum Schweigen gebrachtwerden können, daß man sie zerbricht.

Als Scholastique sah, daß Gérande in ein schmerz-volles Sinnen versunken war, erhob sie sich aus ih-rem alten Lehnstuhl, steckte eine Kerze auf den Leuch-ter, zündete diese an und stellte sie neben eine klei-ne Jungfrau von Wachs, die in einer steinernen Nischestand. Sonst erflehte Gérande an jedem Abend von

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dieser Madonna Schutz und Segen für die kommen-de Nacht und erbat von ihr, als der Beschützerin ihreshäuslichen Herdes, wohlwollende Gnade; aber heuteverblieb das junge Mädchen ruhig an seinem Platze.

»Nun, liebes Fräulein,« sagte Scholastique erstaunt,»das Abendessen ist vorüber und die Zeit zur Gute-nacht gekommen. Wollen Sie Ihre Augen mit langenNachtwachen verderben? . . . Ach! heilige Jungfrau! esist doch etwas wert, zu schlafen und schön zu träu-men! Wer kann in unserer verwünschten Zeit noch voneinem Tage wirklich erlebten Glückes sprechen!«

»Sollen wir nicht einen Arzt für den Vater holen las-sen?« fragte Gérande als einzige Antwort.

»Einen Arzt!« rief die alte Dienerin. »Als ob MeisterZacharius jemals mit einem Ohr auf all ihre Einbildun-gen und Redensarten gehört hätte! Für Uhren mag eswohl Medizinen geben, das gestehe ich zu, aber fürmenschliche Körper gewiß nicht.«

»Was können wir tun?« flüsterte Gérande. »Hat ersich wieder an die Arbeit gemacht, oder ist er zur Ruhegegangen?«

»Gérande,« bemerkte Aubert in beruhigendem Ton,»Meister Zacharius wird von irgendeiner Widerwärtig-keit darniedergedrückt; das ist alles.«

»Wissen Sie, um was es sich handelt, Aubert?«»Vielleicht, Gérande.«»Erzählen Sie uns doch,« rief lebhaft Scholastique

und löschte mit weiser Sparsamkeit ihre Kerze.

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»Vernehmen Sie denn, Gérande,« begann der jun-ge Mann, »daß seit mehreren Tagen eine unbegreif-liche Tatsache vor sich geht. Alle Uhren, die Ihr Va-ter vor Jahren gearbeitet und verkauft hat, bleibenplötzlich stehen und werden ihm zurückgebracht, sodaß gegenwärtig eine große Zahl derselben hier bei-sammen ist. Meister Zacharius hat sie sorgfältig aus-einandergenommen und die Federn in gutem Stand,das Räderwerk vollkommen in Ordnung gefunden. Erhat die Uhren dann mit noch größerer Sorgfalt wie-der zusammengesetzt, aber trotz seiner Geschicklich-keit nicht wieder in Gang bringen können.«

»Dahinter muß der Teufel stecken!« rief Scholasti-que.

»Wie kannst Du so etwas sprechen!« warf Gérandeein; »mir scheint das ganz natürlich. Alles auf Erden istbeschränkt, und so kann nichts Unendliches aus Men-schenhand hervorgehen.«

»Trotzdem müssen wir zugestehen, daß hier eine ge-heimnisvolle Macht zu walten scheint,« meinte Aubert.»Ich selbst bin Meister Zacharius dabei behilflich ge-wesen, den Grund der merkwürdigen Störung in denUhren ausfindig zu machen, und habe ihn nicht ent-decken können. Mehr als einmal entfielen bei der Ar-beit vor Verzweiflung die Werkzeuge meiner Hand.«

»Warum gebt Ihr Euch überhaupt mit dieser gottlo-sen Arbeit ab?« versetzte Scholastique; »ich frage je-den Menschen, ob es mit rechten Dingen zugeht, wenn

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so ein kleines, kupfernes Ding ganz für sich allein, oh-ne alle Hilfe weitergehen und die Stunden anzeigenkann? Man hätte sich mit der Sonnenuhr zufrieden ge-ben sollen!«

»Das werden Sie nicht mehr sagen, Scholastique,wenn Sie gehört haben, daß die Sonnenuhr von Kainerfunden ist.«

»Herr Gott, ist’s möglich!« rief Scholastique.»Glauben Sie wohl,« fragte Gérande harmlos unbe-

fangen, »daß wir den lieben Gott bitten dürfen, ermöchte den Uhren meines Vaters ihr Leben wiederge-ben?«

»Gewiß glaube ich das,« erwiderte der junge Gehilfe.»Das werden ganz vergebliche Gebete sein,« brumm-

te die alte Magd; »aber der Himmel wird sie hoffentlichverzeihen.«

Die Kerze wurde wieder angezündet; Scholastique,Gérande und Aubert knieten auf die Fliesen des Zim-mers nieder, und das junge Mädchen betete für dieSeele ihrer Mutter, um Frieden und Heiligung in derNacht, für die Reisenden und Gefangenen, für die Gu-ten und Bösen und besonders für die unenträtselteTraurigkeit ihres Vaters.

Dann standen die drei Andächtigen mit neuem Ver-trauen wieder auf, denn sie hatten ihre Sorgen in Got-tes Hand gelegt.

Aubert zog sich nun auf sein Zimmer zurück, Géran-de setzte sich in tiefen Gedanken ans Fenster und sah,

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wie die letzten Lichter in der Stadt erloschen, undScholastique schob die beiden großen Riegel vor dieHaustüre, goß ein wenig Wasser auf die noch flam-menden Feuerbrände und begab sich auf ihr Lager, wosie alsbald träumte, daß sie vor Furcht und Schreckenstürbe.

Inzwischen hatten die Schauer der Winternachtnoch zugenommen; zuweilen verfing sich der Wind inden Wirbeln des Stroms unter den Grundpfählen, unddas Haus erzitterte in seinen Fugen, aber an dem Geistdes jungen Mädchens ging dieser Aufruhr der Elemen-te spurlos vorüber; sie dachte nur an ihren Vater. SeitAubert Thün ihr Näheres über die Verstimmung dessel-ben mitgeteilt hatte, erschien ihr sein Leiden in eigen-tümlich phantastischem Licht, und sie konnte sich desGedankens nicht erwehren, daß die ihr so teure Exi-stenz des Vaters zu einer Maschine geworden sei, diesich nur noch mühsam in ihren Zapfen bewegte.

Plötzlich wurde der Laden von einem heftigen Wind-stoß laut gegen das Fenster geschlagen. Gérandeschrak zusammen und stand in plötzlicher Bewegungauf, ohne jedoch, wie es schien, die Ursache des Lärms,der sie aus ihrer Starrheit aufrüttelte, zu begreifen. So-bald sie ihren Schrecken einigermaßen bemeistert hat-te, öffnete sie einen Fensterflügel und spähte hinaus,die Wolken hatten sich auseinandergetan, und ein hef-tig strömender Regen rasselte auf die Dächer hernie-der. Das junge Mädchen bog sich weit hinaus, um den

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vom Winde hin und her geschleuderten Laden heran-zuziehen; aber sie fürchtete sich. Es schien ihr, als obder Regen und der Strom ihre entfesselten Wasser mit-einander vermischten, um dies gebrechliche Haus, dasin allen Fugen erkrachte, in den Grund zu bohren. Siedachte daran, ihr Zimmer, in dem es ihr immer un-heimlicher wurde, zu verlassen, da bemerkte sie untersich den Schein eines Lichtes und sagte sich, daß der-selbe aus dem Fenster ihres Vaters fallen wußte. Undjetzt, als eine augenblickliche Stille im Tosen der Ele-mente eintrat, klangen deutliche Klagetöne zu ihr em-por. Noch einmal machte sie den Versuch, den Ladenheranzuziehen, aber es wollte ihr nicht gelingen; derSturm schlug ihn heftig wieder zurück und fegte wir-belnd in das Zimmer, wie ein Verbrecher, der mit Ge-walt in eine Wohnung einzudringen sucht.

Gérande meinte vor Schrecken und Angst wahnsin-nig zu werden; was tat ihr Vater noch jetzt? Sie öff-nete ihre Zimmertüre, um hinauszulauschen, aber derSturm entriß sie sofort den schwachen Mädchenhän-den und warf sie lärmend hinter Gérande ins Schloß.

Sie befand sich jetzt in dem dunkeln Eßsaal, tastetesich mühsam nach der Treppe, die nach der Werkstät-te führte, und glitt todesbleich und zitternd vor Angstund Besorgnis hinein.

Der alte Uhrmacher stand hoch aufgerichtet mittenin dem Zimmer, das von dem Brausen und Grollen desStromes widerhallte, sein emporsträubendes Haar gab

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ihm ein unheilkündendes Aussehen, und er gestiku-lierte und sprach lebhaft vor sich hin, ohne irgend et-was, das um ihn her vorging, zu sehen oder zu hören.Gérande blieb atemlos auf der Schwelle stehen.

»Das ist der Tod!« rief Meister Zacharius jetzt, »dasist der Tod! . . . was soll ich noch leben, jetzt, da meinSein und Wesen durch die ganze Welt hingegangen ist!denn ich, Meister Zacharius, bin wirklich und wahrhaf-tig der Schöpfer all der Uhren, die aus meiner Handhervorgegangen sind. Ich habe in jedes dieser Gehäu-se von Gold, Silber oder Eisen einen Teil meines Selbsteingeschlossen, und jedesmal, wenn eine dieser ver-dammten Uhren stehenbleibt, fühle ich, daß die Schlä-ge meines Herzens stocken, denn nach seinen Puls-schlägen habe ich sie reguliert!«

Und während der Greis in dieser wunderlich wildenWeise fortfuhr zu phantasieren, schaute er auf seinenArbeitstisch, wo alle Teile einer Uhr, die er sorgfäl-tig auseinandergenommen hatte, ausgebreitet lagen.Er nahm jetzt eine Art hohlen Zylinder, Federhaus ge-nannt, weil die Feder darin eingeschlossen ist, undzog die stählerne Spirale daraus hervor; aber dieseblieb, anstatt nach den Gesetzen ihrer Elastizität abzu-schnappen, zusammengerollt wie eine schlafende Vi-per. Sie schien gichtisch, wie ein ohnmächtiger Greis,dessen Blut zuletzt gerinnt. Meister Zacharius versuch-te umsonst mit seinen hageren, abgezehrten Händen,deren Schattenbild sich in großen Dimensionen an der

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Wand verlängerte, die Spirale aufzurollen; es wollteihm nicht gelingen, und bald schleuderte er sie miteinem furchtbaren Zornesschrei durch die Klappe imFußboden in den Strudel der Rhône.

Gérande stand unbeweglich, wie wenn ihre Sohlenan die Erde festgebannt wären; sie wollte sich ihremVater nähern, wagte es aber nicht, und schwindelndeBilder umgaukelten sie und drohten ihr die Besinnungzu rauben. Da plötzlich flüsterte ihr eine Stimme insOhr:

»Gérande, meine liebe Gérande! der Kummer hat Sienicht schlafen lassen; kehren Sie um, ich bitte Sie; dieNacht ist kalt und stürmisch!«

»Aubert? Sie? Sie hier?« sprach das junge Mädchenhalblaut.

»Mußte mich nicht beunruhigen, was Ihnen Kummermacht?« entgegnete Aubert.

Als das junge Mädchen diese liebevollen Worte hör-te, fühlte sie, wie ihr das Blut zum Herzen strömte; siestützte sich auf den Arm des Gehilfen und sagte:

»Mein Vater ist sehr krank, Aubert! Sie allein kön-nen ihn heilen, denn diese Art des Seelenleidens kannnicht den Tröstungen einer Tochter weichen. So vielich sehen kann, ist sein Geist infolge eines natürlichenVorganges befangen, und nur wenn Sie dazu helfen,daß die Uhren wieder in Gang kommen, wird er wie-der gesund und klaren Geistes werden. – Ach, Aubert!

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es ist doch nicht wahr, daß sein Leben mit dem Gang-werk seiner Uhren zusammenhängt?« fügte sie, nochim Eindruck des soeben Erlebten, schaudernd hinzu.

Aubert antwortete nicht.»Aber dann könnte ja das Gewerbe meines Vaters

dem Himmel nicht wohlgefällig sein?«»Ich weiß nicht,« antwortete der Gehilfe, indem er

die eisigkalten Hände des jungen Mädchens in den sei-nen erwärmte; »jetzt aber müssen Sie in Ihr Zimmerzurückkehren, meine arme Gérande, geben Sie sich derRuhe und auch der Hoffnung hin.«

Gérande ging langsam auf ihr Zimmer zurück undblieb dort bis zum folgenden Tage, jedoch ohne daßsich der Schlaf auf ihre müden Augenlider senkenwollte, während Meister Zacharius unbeweglich undstumm in die unter seinen Füßen dahinrauschendeFlut starrte.

2. DER STOLZ DER WISSENSCHAFT

Die Reellität des Genfer Kaufmanns ist sprichwört-lich geworden; er zeichnet sich durch die strengsteRechtlichkeit und eine ganz außerordentliche Gerad-heit aus. Welcher schamvolle Zorn mußte also MeisterZacharius übermannen, als er erlebte, wie seine mit sogroßer Sorgfalt zusammengesetzten Uhren ihm von al-len Seiten zurückgebracht wurden.

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Er konnte keinen Augenblick daran zweifeln, daßsämtliche Uhren plötzlich und ohne einen zutage lie-genden Grund stehengeblieben waren. Das Räderwerkbefand sich noch in gutem Zustande und vollständig inOrdnung, aber die Federn hatten ihre Elastizität verlo-ren, und der Uhrmacher suchte vergeblich, sie zu erset-zen – die Räder blieben unbeweglich. Diese unerklär-lichen Störungen beunruhigten Meister Zacharius imhöchsten Grade. Seine ingenieusen Erfindungen hattenihn zuweilen in den Verdacht der Zauberei gebracht,und dieser erhielt durch solche unerklärlichen Vorgän-ge nur noch mehr Nahrung. Ja, das Gerücht drang so-gar bis zu Gérande, die für ihren Vater zitterte, sowieübelwollende Blicke sich auf ihn richteten.

Es schien jedoch, als ob Meister Zacharius sich nachder beschriebenen, angstvollen Nacht wieder mit mehrSelbstvertrauen an die Arbeit gemacht hätte; die Mor-gensonne belebte von neuem seinen Mut. Aubert ge-sellte sich ihm alsbald in der Werkstätte zu und erhieltbei seinem Eintritt wie gewöhnlich einen leutseligenMorgengruß.

»Es geht wieder besser mit mir,« hub der alte Uhr-macher an; »ich weiß nicht, was für ein sonderbarerKopfschmerz mich gestern quälte, aber heute hat dieSonne ihn mit den Wolken der Nacht davongejagt.«

»Wahrhaftig, Meister, ich liebe die Nacht nicht, we-der für Sie noch für mich,« meinte Aubert.

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»Und Du hast Recht, Aubert. Wenn Du einmal be-rühmt werden solltest, wirst Du begreifen, daß dasLicht Dir notwendig ist wie die Nahrung des Leibes. EinGelehrter braucht Anerkennung und Huldigung vonseinen Mitmenschen, um Großes zu leisten.«

»Meister, jetzt erfaßt Sie wieder der Hochmutsteu-fel.«

»Der Hochmut, Aubert! Zerstöre meine Vergangen-heit, vernichte meine Gegenwart, nimm mir die Hoff-nung auf meine Zukunft, und es wird mir vergönntsein, in Unbedeutendheit meine Tage hinzubringen.Armer Junge, der Du nichts von den erhabenen Dingenbegreifst, mit denen meine Kunst mich enge verknüpft!Bist Du denn nichts weiter, als ein Werkzeug in meinenHänden?«

»Sie müssen mir doch zugestehen, Meister Zacha-rius, daß ich oftmals Ihre Zufriedenheit errungen ha-be, wenn es mir gelang, die subtilsten Teilchen IhrerTaschen- und Wanduhren zu adjustieren!«

»Gewiß, Aubert, Du bist ein tüchtiger Arbeiter, undich halte Dich lieb und wert; aber wenn Du arbeitest,hast Du Kupfer, Gold oder Silber in Deinen Händen undfühlst nicht in diesen Metallen den Geist, der für michin ihnen pulsiert. Auch würdest Du wohl schwerlich andem Tode Deiner Werke sterben.«

Meister Zacharius schwieg, nachdem er dies gesagthatte, aber Aubert suchte die Unterhaltung von neuemanzuknüpfen.

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»Ich sehe Ihnen gar zu gern zu, wenn Sie so rastlosarbeiten, Meister,« begann er; »Sie werden zu unseremInnungsfest fertig sein, Ihre Arbeit an der Kristall-Uhrschreitet rüstig vorwärts.«

»Wir wollen es hoffen, Aubert; es wird keine gerin-ge Ehre für mich sein, daß ich diesen Stoff, der sohart ist wie Diamant, geschnitten und geschliffen ha-be. Ja, Louis Berghem hat wohl daran getan, die Dia-mantschleiferei zu vervollkommnen; nur mit Hilfe sei-ner Kunst konnte ich die härtesten Steine glätten unddurchbohren!«

Meister Zacharius hielt kleine Stücken Uhrmacher-werks aus geschliffenem Kristall von ganz vorzüglicherArbeit in den Händen. Das Räderwerk, die Angeln, dasGehäuse der Uhr, alles war aus demselben Material; erhatte ein fast unglaubliches Talent in diesem schwieri-gen Werk entfaltet.

Man sah, wie die Wangen des alten Uhrmachers sichvor Erregung färbten, als er jetzt sagte?

»Wie schön wird es sein, diese Uhr durch ihre kri-stallhelle Umhüllung arbeiten zu sehen und die Schlä-ge ihres Herzens zu zählen!«

»Ich will darauf wetten, Meister, daß sie nicht umeine Sekunde im Jahr abweichen wird,« rief der jungeMann.

»Und Du würdest Deine Wette gewinnen! Habe ichnicht mein eigenstes Wesen hineingelegt? weicht viel-leicht mein Herz ab?«

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Aubert wagte nicht, in diesem Augenblick den Mei-ster anzusehen.

»Sage mir aufrichtig,« fuhr der Alte melancholischfort, »hast Du mich nie für wahnwitzig gehalten? Duglaubst, daß ich zuweilen in eine unheilvolle Rasereiverfalle, nicht wahr? Wie oft habe ich in Deinen undmeiner Tochter Augen dies Urteil über mich gelesen!Ach, es tut weh, wenn man nicht einmal von den Men-schen, die man am meisten liebt, verstanden wird! Diraber, Aubert, werde ich klar darlegen, daß ich recht ha-be. Schüttle nicht ungläubig den Kopf; ich sage Dir, Duwirst staunen! An dem Tage, da Du meine Worte ver-stehen lernst, wirst Du sehen, daß ich die Geheimnissedes Daseins, die Geheimnisse der mysteriösen Vereini-gung von Seele und Leib ergründet habe!«

Als Meister Zacharius so redete, sah man ihm an,daß sich auch Hochmut in seinen Stolz mischte. DieAugen glänzten in fast unnatürlichem Feuer, und derStolz durchzuckte seinen ganzen Körper. Und aller-dings, wenn Eitelkeit je gerechtfertigt war, so konnteman das bei Meister Zacharius sagen.

Bis zu seiner Zeit war die Uhrmacherkunst eigentlichnoch in ihrer Kindheit geblieben. Seit dem Tage, woPlato vierhundert Jahre vor der christlichen Zeitrech-nung die Nachtuhr, eine Art Wasseruhr (Klepsydra),erfand, welche die Stunden der Nacht durch den Tonund das Spiel einer Flöte angab, blieb diese Wissen-schaft fast stationär. Die Meister arbeiteten mehr auf

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die Kunst als auf die Mechanik hin, und man konstru-ierte schöne Uhren aus Eisen, Kupfer, Holz oder Sil-ber, die so fein und köstlich geschnitzt waren, wie ei-ne Wasserkanne Cellinis. So entstanden Meisterwerkeder Ziselierarbeit, die zwar als Zeitmesser äußerst un-vollkommen waren, aber doch in bezug auf die Kunstbefriedigten. Wenn die Gestaltungskraft des Künstlersweniger nach plastischer Vollendung strebte, so ver-fiel sie darauf, jene Uhren mit beweglichen Gruppenund Figuren, mit melodischen Glocken zu schaffen,die oft in sehr ergötzlicher Weise die Zahl der Stun-den anzeigten oder abriefen. Wer kümmerte sich dennauch zu jener Zeit darum, den Gang der Zeit zu re-gulieren? Rechtsverjährungsfrist war noch nicht erfun-den; die physischen und astronomischen Wissenschaf-ten begründeten ihre Rechnungen nicht auf skrupu-lös genaue Maße; es gab keine Etablissements, die zubestimmter Stunde geschlossen werden mußten, undnoch viel weniger Eisenbahnzüge, die auf die Sekundeabfuhren.

Des Abends hörte man auf den Klang der Feier-glocke, und nachts, während des tiefen, allgemeinenSchweigens, wurden die Stunden abgerufen. Man leb-te wohl weniger Zeit, wenn die Existenz nämlich nachder Menge der vollendeten Dinge abgemessen wird,aber man lebte besser. Der Geist bereicherte sich anden edeln Gefühlen, die aus der Betrachtung von

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Kunstwerken ihre Nahrung schöpfen, und die Kunst er-stand nicht im Fluge. Man baute zwei Jahrhunderte aneiner Kirche; die Maler fertigten nur wenige Gemäl-de im Lauf ihres Lebens; ein Dichter verfaßte vielleichtnur ein hervorragendes Werk, aber das waren ebenso-viel Meisterwerke, und die Generationen von Jahrhun-derten machten es sich zur Aufgabe, sie nach ihremWerte zu schätzen.

Als endlich die exakten Wissenschaften Fortschrittemachten, folgte auch die Uhrmacherkunst ihrem Auf-schwunge, obgleich sie immer noch von einer unüber-steiglichen Schwierigkeit, der regelmäßigen und kon-tinuierlichen Messung der Zeit, aufgehalten wurde.

Gerade während dieses Stillstandes erfand MeisterZacharius die Hemmung, die ihm gestattete, eine ma-thematische Regelmäßigkeit zu erzielen, dadurch, daßer die Bewegung des Pendels einer konstanten Kraftunterwarf; und diese Erfindung hatte dem alten Uhr-macher den Kopf verwirrt. Der Stolz in seinem Her-zen, der aufstieg, wie das Quecksilber im Thermome-ter, hatte die Temperatur des transzendentalen Wahn-sinns erreicht, und so war der alte Mann von materiali-stischen Ansichten hingerissen worden und bildete sichein, bei der Fabrikation seiner Uhren die Geheimnisseder Vereinigung von Seele und Leib erfaßt zu haben.

An jenem Tage, als er sah, daß Aubert ihm aufmerk-sam zuhörte, sagte er in einfachem, überzeugendemTon:

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»Weißt Du, was das Leben ist, mein Sohn? HastDu die Tätigkeit der Federn, die das Dasein erzeu-gen, begriffen? Hast Du in Dich selbst geschaut? Nein,denn sonst würdest Du mit dem Auge der Wissenschaftdie innige Beziehung zwischen dem Werke Gottes undmeinem Werke wahrgenommen haben; habe ich dochnach seinem Geschöpf die Verbindung des Räderwerksin meinen Uhren kopiert.

»Meister,« fiel hier Aubert lebhaft ein, »können Sieeine Maschine von Kupfer und Stahl mit dem HauchGottes, den wir Seele nennen, vergleichen? diesemHauch, der den Körper belebt, wie ein Luftzug den Blu-men Bewegung verleiht? Kann es unsichtbare Rädergeben, die unsere Arme und Beine in Bewegung set-zen? Welche Stücke könnten so gut zusammengepaßtsein, daß sie Gedanken in uns erzeugten?«

»Darum handelt es sich nicht,« entgegnete ruhig,aber mit dem Eigensinn des Blinden, der auf den Ab-grund zuschreitet, Meister Zacharius. »Wenn Du michverstehen willst, so erinnere Dich an den Zweck dervon mir erfundenen Hemmung. Als ich die Unregel-mäßigkeit im Gange der Uhren gewahrte, sah ich ein,daß die Bewegung in dem Werk nicht ausreichend sei,und daß man sie der Regelmäßigkeit einer andern un-abhängigen Kraft unterwerfen müsse; ich sagte mir,daß dies mit einem Pendel zu erzielen sei, wenn es ge-länge, seine Schwankungen genau zu regeln. War esnun nicht ein erhabener Gedanke, ihm seine verlorene

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Kraft durch die nämliche Bewegung der Uhr wiederzu-geben, die er selbst regeln sollte?«

Aubert machte ein Zeichen der Zustimmung.»Jetzt, Aubert,« fuhr der alte Uhrmacher lebhafter

fort, »wirf einen Blick auf Dich selbst! Begreifst Dunicht, daß es zwei verschiedene Kräfte in uns gibt,nämlich die Kraft der Seele und die des Körpers, al-so eine Bewegung und einen Regulator? Die Seele istdas Prinzip des Lebens, also ist sie die Bewegung. Obdieselbe nun durch ein Gewicht, durch eine Feder odereine immaterielle Einwirkung erzeugt wird, sie sitztnichtsdestoweniger im Herzen. Ohne den Körper aberwürde diese Bewegung ungleich, unregelmäßig, ja un-möglich sein! So reguliert der Körper die Seele und ist,wie das Pendel, regelmäßigen Schwankungen unter-worfen; und daß dies sich so verhält, geht daraus her-vor, daß man sich schlecht befindet, wenn Essen, Trin-ken, Schlafen oder sonstige körperliche Funktionennicht gehörig geregelt sind. So gibt, wie bei meinenUhren, die Seele dem Körper die durch seine Schwan-kungen verlorene Kraft wieder. Wodurch wird diese in-nige Vereinigung des Körpers und der Seele hervorge-bracht, wenn nicht mit einer wunderbaren Hemmung,durch die das Räderwerk des einen in das Räderwerkder andern eingreift. Und das ist es, was ich erratenund für meine Zwecke angewandt habe; es gibt keinGeheimnis mehr für mich in diesem Leben, das alles inallem doch nur eine sinnreiche Mechanik ist!«

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Meister Zacharius war erhaben anzuschauen, als erso seine Halluzinationen, die ihn zu den verborgen-sten Geheimnissen des Unendlichen führten, offenbar-te. Seine Tochter Gérande, die auf der Türschwelle ste-hengeblieben war, hatte alles gehört; sie stürzte jetztihrem Vater in die Arme, und er drückte sie krampf-haft an seine Brust.

»Was fehlt Dir, liebe Tochter?« fragte er.»Wenn ich hier nur eine Feder hätte, würde ich Dich

nicht so sehr, so sehr lieben können, mein Vater!« sagtesie und legte die Hand auf ihr Herz.

Meister Zacharius sah seine Tochter mit starremBlick an und antwortete nicht. Plötzlich aber schrie erlaut auf, fuhr heftig mit der Hand zum Herzen und fielohnmächtig auf sein altes Ledersofa zurück.

»Vater, lieber Vater! was ist Dir?«»Hilfe!« rief Aubert, »Scholastique!«Aber die Magd eilte nicht sogleich herbei; sie war

gerade zur Haustüre gegangen, um zu öffnen, denn eshatte soeben gepocht, und als sie einige Augenblickespäter in die Werkstätte trat, war der alte Uhrmacherwieder zur Besinnung gekommen und rief ihr entge-gen:

»Ich will darauf wetten, meine alte Scholastique,daß Du mir wieder eine von den verwünschten Uhrenbringst, die in Unordnung geraten sind!«

»Ach, Jesus! es ist freilich die Wahrheit,« bestätigteScholastique und übergab Aubert eine Taschenuhr.

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»Mein Herz kann sich nicht darin täuschen!« seufzteder Alte.

Inzwischen hatte Aubert die Uhr mit größter Sorg-falt aufgezogen, er konnte sie jedoch nicht zum Gehenbringen.

3. EIN FESTSAMER BESUCH

Wäre die arme Gérande nicht durch den Gedankenan Aubert an diese Welt gefesselt worden, sie hätte ge-glaubt, ihr Leben ginge mit dem ihres Vaters zugrunde.

Der alte Uhrmacher siechte allmählich dahin; sei-ne geistigen Fähigkeiten konzentrierten sich auf eineneinzigen Gedanken, durch eine verhängnisvolle Ideen-verbindung führte er alles auf seine Monomanie zu-rück, und das irdische Leben schien ganz aus ihm ge-wichen zu sein, um der übernatürlichen Existenz einesTraumlebens Platz zu machen. Auch ließen es sich eini-ge mißgünstige Rivalen angelegen sein, die teuflischenGerüchte über die Arbeiten des Meister Zacharius vonneuem zu verbreiten.

Die Tatsache von den unerklärlichen Störungen inseinen Uhrwerken rief unter den Uhrmachern derStadt Genf keine geringe Wirkung hervor. Wie war diesplötzliche Nachlassen der Federn zu erklären, und wiesonderbar mußte es auffallen, daß das Leben des Mei-ster Zacharius damit in Zusammenhang zu stehen schi-en? Das alles waren Mysterien, wie man sie nicht ohne

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ein geheimes Grauen ins Auge faßt. In den verschie-denen Rangklassen der Stadt, vom Lehrling bis zumKaufherrn, gab es niemanden, der eine Uhr vom altenZacharius gehabt und sich nicht über dieselbe beklagthätte. Man suchte jedoch vergebens, bis zu dem Mei-ster selbst vorzudringen; er war sehr krank geworden,und dies gestattete wenigstens seiner Tochter, die un-aufhörlichen Besuche abzuweisen und dem alten Man-ne Vorwürfe, die oft sogar in Beschuldigungen und An-klagen ausarteten, zu ersparen.

Die Ärzte und ihre Arzneien schienen diesem organi-schen Absterben gegenüber, dessen Ursache unerklär-lich war, total machtlos. Bisweilen schien es, als hörtedas Herz des Alten zu schlagen auf, und dann, nacheiniger Zeit, begann es wieder zu pulsieren, aber mitbeängstigender Unregelmäßigkeit.

Es bestand damals der Brauch, daß man die Werkeder einzelnen Meister einer Beurteilung des Volkes un-terbreitete. Die Vorstände der verschiedenen Innungensuchten sich durch die Neuheit und Vortrefflichkeit ih-rer Werke auszuzeichnen, und in diesen Kreisen begeg-nete der Zustand des unglücklichen Meister Zachari-us dem unverholensten Mitleiden, aber einem Mitleid,das dem Egoismus entsprang. Seine Konkurrenten be-klagten ihn um so bereitwilliger, als sie ihn nicht mehrzu fürchten hatten. Sie erinnerten an die Erfolge des al-ten Uhrmachers, die er durch seine prächtigen Werke

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mit Glockenspiel und beweglichen Figuren erzielt hat-te, welch allgemeine Bewunderung dieselben überallerregten, und zu wie hohem Preise sie in Frankreich,der Schweiz und in Deutschland verkauft worden wa-ren.

Dank der äußersten Sorgfalt Gérandes und Aubertsschien es endlich, als wolle die Gesundheit des Mei-sters sich wieder mehr festigen; und es gelang ihm inder Ruhe seiner Rekonvaleszenz, mehr von den Gedan-ken loszukommen, die ihn bisher so schwer darnieder-gebeugt hatten. Sobald er wieder gehen konnte, be-eilte sich Gérande, ihn aus dem Hause zu führen, dasnoch immer von unzufriedenen Kunden bestürmt wur-de. Aubert blieb allein in der Werkstätte zurück, nahmdie rebellischen Uhren auseinander und setzte sie wie-der zusammen. Zuweilen, wenn er sah, daß all seineMühe umsonst war und er keine Uhr zum Gehen brach-te, griff er verzweiflungsvoll an seinen Kopf, wie wenner fürchtete, selbst den Verstand über dieser Arbeit zuverlieren, wie sein armer Herr.

Gérande führte ihren Vater auf die freundlichen Pro-menadenwege der Stadt und lenkte, indem sie denArm des Meisters stützte, nach Saint-Antoine, vonwo der Blick über den Rücken von Cologny und denSee hinschweift. Bisweilen, an schönen klaren Vormit-tagen, konnte man von hier aus die gigantischen Gipfeldes Mont Buet am fernen Horizont erkennen. Gérande

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nannte ihrem Vater all diese Stätten, die in seiner Er-innerung fast erloschen waren, bei ihrem Namen; seinGedächtnis schien sehr gelitten zu haben, und er emp-fand ein fast kindisches Vergnügen daran, sich all dieseBenennungen wiederholen zu lassen. Dann stützte sichMeister Zacharius auf seine Tochter, neigte das wei-ße Haupt zu ihrem lieblichen blonden Köpfchen her-ab, und so gingen sie friedvoll zurück durch den hellenMorgen.

Endlich kam es dem alten Uhrmacher zum Bewußt-sein, daß er nicht allein in der Welt stand, und wennsein Blick auf der jungen, schönen Tochter ruhte, sagteer sich oft, daß er alt, gebrochen sei, und sie allein undohne Stütze in der Welt zurückbleibe, wenn er seineAugen schlösse. Es hatte schon so mancher junge Ge-hilfe aus Genf um Gérande geworben, aber niemals er-langte einer von ihnen Zutritt in das stille, verborgeneHaus, in dem die Familie des alten Uhrmachers lebte.So war es wohl sehr natürlich, daß in solcher Stundedes Sinnens über seiner Tochter Geschick die Gedan-ken des Alten auf Aubert Thün haften blieben, und alser im Stillen diese Wahl für sein Kind getroffen hatte,bemerkte er zu seiner Freude, daß die beiden jungenLeute in ähnlichen Ideen und einem festen Glauben an-einander groß geworden waren; die Oszillationen ih-res Herzens schienen ihm, wie er gegen Scholastiqueäußerte,

»isochron«.

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Die Magd war hiervon entzückt, und obgleich sie dieBedeutung des Wortes natürlich nicht erfaßte, schworsie bei ihrer Schutzpatronin, daß die ganze Stadt desalten Meisters Äußerung gehört haben solle, noch eheeine Stunde vergangen sei. Meister Zacharius hatte vielMühe, sie zu beruhigen, und erlangte endlich von ihrdas Versprechen, über diese Mitteilung Schweigen zubeobachten; er wußte jedoch zum voraus, daß Scho-lastique derartige Zusicherungen niemals zu haltenpflegte.

So war es gekommen, daß man in ganz Genf voneiner Verbindung Auberts und Gérandes sprach, nochehe die Hauptbeteiligten etwas davon wußten. Zuwei-len aber ereignete es sich, daß bei den Unterhaltungenüber diesen Gegenstand plötzlich die höhnischen Wor-te ertönten:

»Gérande wird Aubert nicht heiraten;« und wenn dieRedenden sich dann verwundert umschauten, erblick-ten sie einen kleinen Greis, der den Bewohnern derStadt gänzlich unbekannt war.

Niemand hätte sagen können, wie alt das sonder-bare Geschöpf sei; man konnte sich allenfalls denken,daß er seit langer, langer Zeit schon auf dieser Weltwandeln müsse, aber damit hatten auch die Vermutun-gen ein Ende. Sein dicker, plattgedrückter Kopf ruhteauf Schultern, die breiter waren als sein kleiner Körperhoch war. Die wunderliche Gestalt hätte gut zu demTräger einer Stutzuhr gepaßt, denn für das Zifferblatt

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wäre genügender Raum auf seinem Gesicht gewesen,und das Pendel hätte ohne Beschränkung in der unge-heuren Brust hin und her gehen können. Seine Nasewar so dünn und spitz wie der Zeiger an einer Son-nenuhr, und die weit auseinander stehenden, sonder-bar geformten Zähne glichen den Häkchen eines Ra-des und knirschten hin und wieder unheimlich in sei-nem Munde. Sprach er, so glaubte man den metalli-schen Ton eines Uhren-Schlagwerks zu hören, und seinHerz schlug so laut und eigentümlich, daß man seinKlopfen für das Tick-Tack einer Wanduhr halten konn-te. Der kleine Mann ging immer nur ruckweise, ohnesich jemals umzuwenden, seine Arme bewegten sichwie Weiser auf einem Zifferblatt, und wenn man ihmfolgte, bemerkte man, daß er in jeder Glockenstundeeine Stunde Wegs zurücklegte, und daß sein Gang einfast kreisförmiger war.

Dieses wunderbare Wesen irrte, oder drehte sichvielmehr schon seit einiger Zeit in der Stadt umher,und man hatte beobachten können, daß er täglich,in dem Augenblick, wenn die Sonne durch den Me-ridian ging, vor der St. Peterskirche stehenblieb underst wenn die Uhr zwölf geschlagen hatte seinen Wegfortsetzte. Von diesem Augenblick an schien er bei al-len Unterhaltungen aufzutauchen, in denen der alteUhrmacher erwähnt wurde, und man fragte sich mitunwillkürlichem Grauen, welche Beziehung zwischenihm und Meister Zacharius bestehen könne; denn auch

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während der Greis mit seiner Tochter spazierenging,ließ er beide nicht aus den Augen.

Eines Tages auf der Treille bemerkte Gérande, wiedas kleine Ungeheuer sie lachend ansah, und drängtesich ängstlich erschrocken dichter an den Vater.

»Was ist Dir, meine Gérande?« fragte dieser.»Ich weiß nicht,« antwortete das junge Mädchen.»Ich finde Dich verändert, mein Kind,« setzte der al-

te Uhrmacher hinzu, »willst Du mir jetzt etwa krankwerden? Nun, wenn solch Unglück über uns herein-brechen sollte, würde ich Dich pflegen müssen; ja, ichwürde Dich treulich pflegen, meine Gérande.«

»Ach, lieber Vater, es ist nichts, aber mich fröstelt,und ich glaube, es ist . . . «

»Nun, was ist’s, Gérande?«»Jener Mensch dort ängstigt mich,« antwortete sie

leise; »er geht fortwährend hinter uns her.«Meister Zacharius wandte sich nach dem Kleinen

um.»Er geht wahrhaftig richtig,« sagte er mit einer Mie-

ne innerer Befriedigung, »es ist genau vier Uhr. Fürchtenichts, liebe Tochter; das ist kein Mensch, sondern eineUhr!«

Gérande sah ihren Vater erschrocken an; wie hat-te Meister Zacharius auf dem Gesicht dieses wunderli-chen Geschöpfs die Stunde ablesen können?

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»A propos,« fuhr der alte Uhrmacher fort, ohne die-sem Zwischenfall weiter nachzuhängen, »ich habe seitmehreren Tagen Aubert nicht gesehen.«

»Er hat uns nicht verlassen, lieber Vater,« antworteteGérande, deren Gedanken mit diesem Gespräch einefreundlichere Richtung nahmen.

»Was macht er denn?«»Er arbeitet, lieber Vater.«»Ah so!« rief der Greis, »er arbeitet an den Uhren,

um sie wieder in Gang zu bringen. Es wird ihm nie undnimmer gelingen, Gérande; denn sie warten nicht aufeine Ausbesserung, sondern auf ihre Auferstehung.«

Gérande wußte hierauf nichts zu antworten und ver-harrte im Schweigen.

»Ich muß durchaus wissen, ob noch mehr von denverwünschten Uhren, unter die der Teufel die Pest ge-bracht hat, zu mir zurückgebracht sind.«

Nach diesen Worten schwieg auch Meister Zachari-us, bis er die Türe seiner Wohnung erreicht hatte, undzum erstenmal seit seiner Genesung stieg er nun in dieWerkstätte hinunter, während Gérande sich traurig aufihr Zimmer begab.

In demselben Augenblick, als der alte Mann die Tü-re der Werkstätte hinter sich schloß, begann eine derUhren, die rings an den Wänden hingen, fünf zu schla-gen. Früher ließen sich all diese so verschiedenartig re-gulierten Schlagwerke zusammen hören, und MeisterZacharius hatte stets seine Freude daran gehabt; heute

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aber ertönte immer ein Glöckchen nach dem andern,so daß das Hämmern und Klingen eine volle Viertel-stunde dauerte. Der alte Meister litt schrecklich darun-ter; er konnte es nicht auf seinem Platze ertragen, son-dern stand auf und trat an die einzelnen Uhren heran,indem er ihnen, wie ein Musikdirektor, den Takt angab.

Als der letzte Klang verhallt war, öffnete sich die Tü-re, und der kleine, greisenhafte Mann trat ein; er sahden Uhrmacher mit starrem Blick an. Es durchschau-erte Meister Zacharius unwillkürlich vom Scheitel biszur Sohle.

»Kann ich mich ein paar Minuten mit Ihnen unter-halten, Meister?« fragte der Kleine.

»Wer sind Sie?« forschte der Alte barsch.»Ein Zunftgenosse; ich bin beauftragt, die Sonne zu

regulieren.«»Ah! Sie regulieren also die Sonne?« rief lebhaft Mei-

ster Zacharius, ohne eine Miene zu verziehen. »Nun,da lassen Sie sich sagen, daß Sie Ihre Sache herzlichschlecht machen; die Sonne geht durchaus nicht ge-nau, und wenn unsere Uhren mit ihr in Übereinstim-mung sein sollen, müssen wir sie bald vor- und baldzurückstellen.«

»Sie haben recht, Meister; beim Pferdefuß des Teu-fels, Sie haben recht! Meine Sonne zeigt nicht im näm-lichen Augenblick wie Ihre Uhren die zwölfte Stunde.Es wird aber die Zeit kommen, wo man erfährt, daß

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das von der Ungleichmäßigkeit der Erdbewegung her-rührt, und wo man eine durchschnittliche Mittagszeiterfinden wird, die diese Unregelmäßigkeit beseitigt.«

»Werde ich das noch erleben?« fragte der alte Uhr-macher, und seine Augen blickten in lebhafteremGlanze.

»Natürlich!« versetzte der Kleine lachend; »glaubenSie denn, daß Sie jemals sterben werden?«

»Ich bin jetzt sehr krank und elend!«»Nun ja, lassen Sie uns ein wenig darüber plaudern.

Beim Beelzebub, ich glaube, wir werden dabei ein The-ma berühren, über das ich mit Ihnen sprechen möch-te.«

Und bei diesen Worten sprang das seltsame kleineGeschöpf ohne weiteres auf den Ledersessel des Altenund schlug seine Beine übereinander, wie die Malervon Leichenbehängen die fleischlosen Knochen unterden Totenköpfen über Kreuz zu legen pflegen. Dannfuhr er in ironischem Tone fort:

»Sagen Sie, Meister Zacharius, was gehen jetzt fürwunderliche Sachen in der guten alten Stadt Genf vor?Es wird allgemein behauptet, daß Ihre Gesundheit ge-litten hat, und daß auch Ihre Uhren sich nach einemArzte umsehen müßten.«

»Ah! danach scheinen Sie zu glauben, daß zwischenmeinen Uhrwerken und mir eine innige Beziehung exi-stiert!«

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»Nun, ich denke mir eben, daß diese Uhren wohlMängel und Fehler haben. Wenn sie sich unregelmä-ßig aufführen, wird man sie zur Raison bringen müs-sen; es ist jedenfalls ihre eigene Schuld, wenn sie nichtgehen.«

Meister Zacharius errötete unwillkürlich vor Zornüber den sarkastischen Ton, in dem der Kleine sprach.

»Was nennen Sie Mängel und Fehler?« fragte er; »dieUhren haben kein Recht mehr, auf ihren Urheber stolzzu sein?«

»Nun, nicht gerade allzusehr!« gab der Kleine zu,»sie führen jedoch einen berühmten Namen, der auf ih-rem Zifferblatt eingraviert steht, und der ihnen Zutrittin die edelsten Häuser und hochstehendsten Familienverschafft. Seit einiger Zeit aber beginnen die Uhrenabzuweichen, und Sie, Meister Zacharius, sollen nichtsdagegen tun können; der ungeschickteste Lehrling ausganz Genf würde Sie deshalb zur Rede stellen dürfen!«

»Mich, mich, den Meister Zacharius!« rief der Greismit einer Stimme, aus der furchtbar verletzter Stolzklang.

»Jawohl, Sie, den Meister Zacharius, der seinen Uh-ren nicht wieder zum Leben verhelfen kann!«

Der alte Uhrmacher stöhnte laut auf, und ein kalterSchweiß trat ihm auf die Stirn.

»Es kommt einfach daher, daß ich das Fieber habe,«sagte er, »und ich glaube, die Uhren haben es auch!«

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»Nun, da Sie, wie es scheint, ganz außerstande sind,wieder Elastizität in ihre Federn zurückzubringen, wer-den Ihre Uhren mit Ihnen sterben.«

»Sterben? Nein, Sie haben es selbst gesagt, ich werdenicht sterben; ich, der erste Uhrmacher der Welt, dermittels verschiedener Stücke und Rädchen die Bewe-gung der Uhren mit absoluter Präzision zu regulierenverstanden hat. Mußte sich nicht die Zeit genau mei-nen Gesetzen unterwerfen, und kann ich demgemäßnicht als Gebieter über sie verfügen? In welch endlo-ser Zeitverwirrung haben sich die Geschicke der Men-schen abgesponnen, ehe mein Genie diese pfadlos ir-renden Stunden in regelrechte Ordnung brachte? AberSie, Mensch oder Teufel, wer Sie sein mögen, habenwohl noch nie an die Herrlichkeit meiner Kunst, die al-le Wissenschaften in ihren Dienst zieht, gedacht? Nein,nein! ich, der Meister Zacharius, kann nicht sterben,denn da ich die Zeit geregelt habe, würde sie mit mirzu Ende gehen. Sie würde in die Unendlichkeit, ausder mein Genie sie gerissen hat, zurückkehren, unddann unwiederbringlich im Abgrunde des Nichts ver-loren sein! Nein, ich kann ebensowenig sterben als derSchöpfer dieses Weltalls. Ich bin ihm gleich gewordenund teile seine Macht, denn wenn er die Ewigkeit er-schuf, so habe ich die Zeit geschaffen.«

Der alte Uhrmacher glich dem gefallenen Engel, dersich gegen seinen Schöpfer empört, und das wunder-liche kleine Ungetüm ihm gegenüber schien ihn mit

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seinen Blikken zu liebkosen und sich dieser gottlosenAusfälle fast zu erfreuen.

»Brav gesprochen, Meister!« rief er jetzt. »Beelzebubhatte weit weniger Recht, sich Gott gleich zu stellen alsSie. Ihr Ruhm darf nicht untergehen, um so weniger,als ich, Ihr Diener, Ihnen gern das Mittel sagen will, umdie rebellischen Uhren wieder in Gang zu bringen.«

»Was ist das für ein Mittel?« rief Meister Zacharius.»Sie sollen es erfahren, Meister, aber erst an dem Tage,an welchem Sie mir die Hand Ihrer Tochter bewilligthaben.«

»Meine Gérande?«»Ja, Ihre Gérande, Meister.«»Das Herz meiner Tochter ist nicht mehr frei,« warf

Meister Zacharius ein. Die sonderbare Werbung schienihn weder in Erstaunen zu setzen noch zu beleidigen.

»Bah! . . . Gérande ist nicht die wenigst schönste Ih-rer Uhren . . . aber schließlich wird auch sie stehenblei-ben . . . «

»Wie! meine Tochter? meine Gérande? . . . Nein!. . . «

»Kommen wir auf Ihre Uhren zurück, Meister Zacha-rius; setzen Sie sie zusammen und nehmen Sie sie aus-einander, so viel Ihnen beliebt! Bereiten Sie alles fürdie Hochzeit Ihrer Tochter und Ihres Gehilfen vor! Här-ten Sie Ihre aus bestem Stahl gefertigten Federn! Seg-nen Sie Aubert und die schöne Gérande; aber denken

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Sie an meine Worte, daß Ihre Uhren nie gehen und Au-bert und Gérande sich nie gehören werden!«

Und damit stand der greisenhafte kleine Mann aufund verließ die Werkstätte; er eilte jedoch so wenig,daß Meister Zacharius noch deutlich hören konnte, wiees in seiner Brust sechs Uhr schlug.

4. DIE ST. PETERSKIRCHE

Trotzdem Geist und Körper des Meister Zachariusimmer schwächer wurden, kehrte er mit gewaltsamerÜberaufregung zu seinen Uhrmacherarbeiten zurück,und zwar mit solcher Hartnäckigkeit, daß Gérande ihnnicht davon abziehen konnte.

Sein Stolz war noch maßloser geworden seit der Kri-sis, die der seltsame Gast in so perfider Weise bei ihmheraufbeschworen hatte, und er war entschlossen, je-nem bösen Einfluß, der so schwer auf seinem Werk undauf ihm selbst lastete, die Spitze zu bieten. MeisterZacharius revidierte zuerst die verschiedenen, seinerSorgfalt unterstellten Stadtuhren; er versicherte sichmit skrupulösester Genauigkeit, daß das Räderwerk inOrdnung, die Zapfen fest waren und die Gegengewich-te einander ausglichen. Er horchte auf die Töne derGlockenspiele so gewissenhaft, wie der Arzt die Brustdes Kranken untersucht, aber nichts verriet, daß dieUhren kraftloser geworden wären.

Oft ließ sich der alte Uhrmacher von Aubert undGérande auf diesen Wegen begleiten; er hätte gewiß

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mehr Freude in dieser Welt gehabt und wäre in bezugauf sein bevorstehendes Ende weniger sorgenvoll ge-wesen, hätte er mehr daran gedacht, daß seine Exi-stenz sich in diesen geliebten Wesen fortsetzte, unddaß in den Kindern immer etwas von ihrem Vater fort-lebt.

Als der alte Uhrmacher wieder nach Hause gekom-men war, nahm er seine Arbeiten von neuem mit fie-berhafter Emsigkeit auf. Obgleich er von vornhereinwußte, daß seine Versuche mißlingen würden, konn-te er es doch nicht lassen, die Uhren, von denen ihmimmer neue in seine Werkstätte gebracht wurden, aus-einanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen.

Aubert zermarterte schon lange vergeblich sein Hirn,jedoch ohne die Ursache des Übels zu entdecken.

»Es kann doch nur von der Abnutzung der Zapfenund Verzahnungen herrühren,« sagte er eines Tages zuseinem Meister.

»Du findest wohl Gefallen daran, mich bei langsa-mem Feuer zu braten?« entgegnete heftig Meister Za-charius. »Sind diese Uhren vielleicht das Werk einesKindes? Habe ich, aus Furcht, mich auf die Finger zuklopfen, die Oberfläche der Kupferstücke auf der Dreh-bank nicht gehörig geglättet? Nein, um eine größereHärte zu erzielen, schmiedete ich sie selbst, und so sinddie Federn mit seltener Vollendung gehärtet. Kann mansie mit einem feineren Öl anfeuchten als ich dazu ver-wendete? Du mußt selbst gestehen, daß das unmöglich

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ist, und wirst nach alledem endlich zugeben müssen,daß der Teufel hierbei die Hand im Spiele hat.«

Und von morgen bis abend strömten wieder unzu-friedene Kunden in das Haus und überfielen mit ihrenKlagen den alten Uhrmacher, der nicht mehr wußte,auf wen er hören und wem er antworten sollte.

»Diese Uhr bleibt nach und läßt sich nicht regulie-ren!« sagte der eine.

»Meine Uhr ist stehengeblieben wie die Sonne Jo-suas,« berichtete ein anderer, »und ich kann sie nichtwieder in Gang bringen.«

Die meisten aber sagten: »Wenn es wahr ist, Mei-ster Zacharius, daß Ihre Gesundheit auf Ihre Uhreneinwirkt, so wünschen wir Ihnen von Herzen baldigeGenesung.«

Der Greis sah die Klagenden mit wirren Augen anund antwortete mit Kopfschütteln oder mit traurigenWorten:

»Liebe Freunde, wir wollen abwarten, bis die Ta-ge wieder warm und schön werden; dann wird meinmatter alter Körper sich wieder beleben und stärken;die Sonne muß uns alle erwärmen und jedem von unswohltun!«

»Nun, das wäre uns gerade recht!« meinte einer derRücksichtslosesten; »also den Winter über sollen un-sere Uhren stehenbleiben? Ihr Name, Meister Zachari-us, ist auf jedem Zifferblatt voll ausgeschrieben, aber,

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bei der heiligen Jungfrau, die Uhren machen dem Na-menszug wenig Ehre!«

Endlich konnte der Meister diese Vorwürfe nicht län-ger ertragen; er holte einige Goldstücke aus seiner al-ten Truhe hervor und begann die unbrauchbaren Uh-ren zurückzukaufen. Und nun eilten die Kunden inMengen herbei, und das mühsam ersparte Geld des ar-men Hauses schmolz schnell, sehr schnell dahin; dieRechtlichkeit des Kaufmanns aber war gerettet, Géran-de billigte hochherzig dies Zartgefühl, das sie gerades-wegs dem Ruin entgegenführte, und bald mußte auchAubert seine Ersparnisse dem Meister anbieten.

»Was soll aus meiner Tochter werden?« fragte deralte Uhrmacher zuweilen, wenn ihn in diesem Schiff-bruch die Gefühle seiner Vaterliebe übermannten.

Aubert wagte nicht hierauf zu antworten, daß er sichstark und mutig fühle, für Gérande und ihre Zukunft zuarbeiten. Meister Zacharius hätte ihn sonst wohl nochan demselben Tage als seinen Schwiegersohn umarmtund so jene verhängnisvollen Worte, die er noch immernicht vergessen konnte, Lügen gestraft.

»Gérande wird Aubert nicht heiraten,« hatte das selt-same kleine Ungeheuer geweissagt.

Unter diesen Umständen kam es soweit, daß derUhrmacher sich all seines Eigentums entäußerte; dieschönen antiken Vasen, die prächtigen, fein geschnitz-ten Eichenfüllungen, die die Mauern seiner Wohnung

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bekleideten, wanderten aus dem Hause in fremde Hän-de; die naturwüchsigen Gemälde aus der ersten flämi-schen Schule erfreuten nicht mehr Gérandes Auge, undsogar die kostbaren, von Meister Zacharius selbst er-fundenen Werkzeuge wurden verkauft, um den unzu-friedenen Kunden gerecht zu werden.

Nur Scholastique wollte sich mit diesem Regimenicht einverstanden erklären; aber ihre Anstrengun-gen, die Zudringlichen fortzuschicken, waren nur vongeringem Erfolg; sie wußten gewöhnlich bis zu demalten Meister vorzudringen und kamen dann bald, mitirgendeinem kostbaren Gegenstande beladen, wiederaus der Werkstätte hervor. Das Geschwätz der altenMagd ertönte auf allen Straßen und Gassen des Stadt-viertels, in denen man sie von alters her kannte; siemühte sich ab, den Gerüchten von Zauberei und Ma-gie, die sich in Bezug auf Meister Zacharius verbrei-tet hatten, entgegenzutreten; da sie aber im Grundeselbst von der Wahrheit des Stadtgesprächs überzeugtwar, hielt sie sich für verpflichtet, wieder und wiedereine Menge Gebete herzusagen, um ihre frommen Lü-gen gutzumachen.

Die Genfer hatten bereits seit geraumer Zeit be-merkt, daß der alte Uhrmacher nicht mehr wie frü-her seinen religiösen Pflichten nachkam; ehemals hatteer Gérande begleitet, wenn sie zum Gottesdienst ging,und wie jeder rege Geist im Gebet einen intellektuellen

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Reiz findet, so war es auch ihm ergangen. Dieses frei-willige Fernbleiben des Alten von der Ausübung hei-liger Gebräuche im Verein mit seiner geheimnisvollenKunst hatte die Anklage der Zauberei gegen ihn im-mer mehr verbreitet und glaubwürdiger gemacht, undGérande beschloß aus diesem Grunde, und weil siesehr wünschte, ihren Vater zu Gott und der Welt zu-rückzuführen, die Religion zu Hilfe zu rufen. Sie glaub-te, der Katholizismus könne einer sterbenden Seelewieder Lebenskraft verleihen; aber diese Dogmen desGlaubens und der Demut trafen in der Seele des Mei-sters auf einen unübersteiglichen Hochmut und stie-ßen mit einem Stolz der Wissenschaft zusammen, deralles auf sich bezog, ohne zu der unendlichen Quellehinaufzusteigen, von der die ersten Prinzipien ausge-hen.

Unter solchen Umständen unternahm das jungeMädchen den Versuch, ihren Vater zu seinen religi-ösen Pflichten zurückzuführen, und ihr Einfluß warein so heilsamer, daß der alte Uhrmacher versprach,am folgenden Sonntage dem Hochamt beizuwohnen.Gérande war entzückt, wie wenn der Himmel sich vorihr aufgetan hätte, und auch Scholastique konnte ihreFreude kaum bezähmen, da sie nun endlich unwider-legliche Gründe hatte, gegen die Verleumdungen ihresHerrn von boshaften Zungen einzutreten. Sie sprach

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von dem bevorstehenden Ereignis zu ihren Nachbarin-nen, ihren Freundinnen, ihren Feindinnen, kurz mit je-dem, den sie kannte, und ebenso mit denen, die sienicht kannte.

»Wir können wirklich kaum glauben, was Sie unsda erzählen, Scholastique,« entgegnete man ihr, »dennMeister Zacharius hat seit langer Zeit schon im Einver-ständnis mit dem Teufel gehandelt.«

»Wenn Ihr so sprechen könnt, habt Ihr gewiß nie dieKirchtürme gezählt, in denen Uhren des Meister Za-charius schlagen? Wie oft sind mit ihren Klängen dieStunden des Gebets und der Messe eingeläutet!«

»Ja, freilich!« gab man ihr zur Antwort; »aber erhat doch Maschinen erfunden, die ganz allein gehen,und die verrichten, was sonst nur wirkliche, denkendeMenschen können.«

»Hätte denn aber ein Kind des bösen Geistes dieschöne eiserne Uhr im Schloß Andernatt fertigen kön-nen?« hob Scholastique zornig an, »dies herrlicheWerk, das die Stadt Genf nicht ankaufen konnte, weilsie nicht reich genug dazu war? Zu jeder Stunde kamein schöner Spruch hervor, so schön, daß jeder Geist,der sich danach gerichtet hätte, schnurstracks ins Pa-radies eingegangen wäre! Soll das etwa auch ein Werkdes Teufels sein?«

Dies Meisterwerk, das der alte Uhrmacher vor etwazwanzig Jahren geschaffen, hatte allerdings viel dazu

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beigetragen, seinen Ruhm zu verbreiten; gerade zu je-ner Zeit war jedoch die Anklage wegen Zauberei gegenihn ziemlich allgemein gewesen. Jedenfalls aber muß-te die Einkehr des Greises in die Kirche des heiligen Pe-trus jetzt alle bösen Zungen zum Schweigen bringen.

Meister Zacharius war in seine Werkstatt zurück-gekehrt, ohne weiter an das seiner Tochter gegebeneVersprechen zu denken. Er hatte endlich seine Ohn-macht erkannt, den toten Uhren wieder Leben einzu-hauchen, und wollte sich daran machen, neue anzufer-tigen. So ließ er denn all die kraftlosen Körper liegenund begann an der Kristalluhr zu arbeiten, die nachseiner Absicht ein Meisterwerk werden sollte. Aber ver-gebens bediente er sich seiner vollkommensten Werk-zeuge, vergebens gebrauchte er Rubin und Diamant,damit diese den Reibungen widerstehen sollten, als erdie Uhr zum erstenmal aufziehen wollte, zersprang daskostbare Werk ihm in den Händen!

Der Greis verbarg diesen Fehlschlag vor jedermann,selbst vor seiner Tochter; aber von nun an war seineEnergie gebrochen, und seine Kraft schien zur Neigezu gehen. Das Leben des alten Uhrmachers glich jetztnur noch den letzten Oszillationen eines Pendels, dieimmer schwächer werden, wenn nichts ihnen ihre ur-sprüngliche Kraft wiedergibt; es schien, als ob die Ge-setze der Schwere direkt auf den Alten wirkten und ihnunwiderstehlich zu Grabe zögen.

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Der von Gérande so sehr ersehnte Sonntag kam end-lich heran; das Wetter war schön, die Temperatur frischund prächtig. Die Städter gingen mit heiterm Geplau-der über die Wiederkehr des Frühlings durch die Stra-ßen, und Gérande, die den greisen Vater sorgsam stütz-te, während Scholastique die Gebetbücher nachtrug,lenkte ihre Schritte nach der St. Peterskirche.

Überall sah man ihnen neugierig nach. Meister Za-charius ließ sich führen wie ein willenloses Kind odervielmehr wie ein Blinder, als er aber die Schwelledes Gotteshauses überschritt, schien es fast, als sähenihn die Gläubigen mit einer Bewegung des Schreckenskommen, und als zögen sie sich vor ihm zurück.

Die Gesänge des Hochamts waren bereits angegan-gen, und Gérande begab sich auf ihren gewohntenPlatz, kniete nieder und betete mit tiefer Inbrunst,während ihr Vater neben ihr stehenblieb.

Die Zeremonie der Messe spielte sich mit der ma-jestätischen Feierlichkeit jener Zeit des Glaubens ab,aber der Greis glaubte nicht; er flehte nicht mit demSchmerzensruf des Kyrie die Barmherzigkeit des Him-mels herab und besang nicht mit dem Gloria in excel-sis seine Herrlichkeit. Die Vorlesung des Evangeliumskonnte ihn nicht aus seinen materialistischen Träume-reien reißen, und er vergaß mit einzustimmen in diekatholischen Huldigungen des Credo.

Der stolze Mann blieb unbeweglich stehen, gefühllosund stumm wie eine Bildsäule von Stein, und selbst

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in dem feierlichen Augenblick, als die Glöckchen dasWunder der Transsubstantiation verkündeten, beugteer nicht seine Knie und sah die Gott gewordene Hostie,die der Priester über die Gläubigen erhob, mit starrenBlicken an.

Gérande schaute nach ihrem Vater, und Tränen tie-fen Kummers fielen auf ihr Missale nieder.

In diesem Augenblick schlug die Glocke von St. Peterhalb zwölf Uhr, und Meister Zacharius wandte seinenKopf nach dem alten Turm, der noch nicht verstummtwar; es kam ihm vor, als blickte das innere Zifferblattnach ihm hin, als glänzten die Stundenziffern wie mitfeurigen Zügen eingraviert, und als ließen die Zeigerelektrische Funken von ihren scharfen Spitzen sprin-gen.

Die Messe ging zu Ende; es war Brauch, daß das An-gelus um die Mittagsstunde gesprochen wurde, und dieDiensttuenden warteten, bis die Kirchturmuhr schla-gen würde, ehe sie den Vorhof verließen. Noch wenigeAugenblicke, und das Gebet sollte zur heiligen Jung-frau emporsteigen.

Aber plötzlich machte sich eine Bewegung in derMenge bemerkbar; Meister Zacharius tat einen Schrei. . .

Der große Zeiger des Zifferblattes war plötzlich,auf zwölf Uhr angelangt, stehengeblieben – die zwölfSchläge der Mittagsstunde ertönten nicht.

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Gérande suchte ihrem Vater, der ohnmächtig nieder-gestürzt war, zu helfen; er mußte zur Kirche hinausge-tragen werden.

»Das ist sein Todesstoß!« flüsterte Gérande schluch-zend.

Meister Zacharius war in seine Wohnung gebrachtworden und befand sich noch immer in einem Zustan-de vollkommener Besinnungslosigkeit. Das Leben pul-sierte in ihm nur noch, wie die letzten Flämmchen aneiner halb erloschenen Lampe aufflackern und empor-zucken.

Als er sein Bewußtsein wiedererlangte, hatten sichAubert und Gérande über ihn geneigt, und in diesemAugenblick der Erregung gewann die Zukunft in seinenAugen die Gestalt der Gegenwart; er sah seine Tochterallein, ohne Stütze in der Welt stehen.

»Lieber Aubert, ich gebe Dir hier meine Tochter,«sagte er plötzlich mit schwacher Stimme und streck-te die Hand nach seinen Kindern aus. – So wurden diebeiden Liebenden an seinem Totenbette vereinigt.

Aber gleich darauf schien eine Bewegung des Zornsüber Meister Zacharius zu kommen; die Worte des klei-nen Alten waren ihm wieder ins Gedächtnis zurückge-kehrt.

»Ich will nicht sterben! Ich kann nicht sterben! Ich,der Meister Zacharius, soll nicht sterben!« rief er aus.»Meine Bücher! . . . Meine Rechnungen! . . . «

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Und mit größter Anstrengung raffte er sich auf, ver-ließ sein Bett und griff nach einem Buche, in dem erdie Namen seiner Kunden und die ihnen verkauftenGegenstände notiert hatte. Er durchblätterte es mit lei-denschaftlicher Hast, und endlich blieb sein hagererFinger auf einer der Seiten haften.

»Da!« rief er, »da! . . . Diese alte eiserne Uhr ist dieeinzige, die mir noch nicht zurückgebracht wurde! Ichhatte sie an Pittonaccio verkauft; sie existiert! sie lebt,und geht noch immer! Ich will sie haben, muß sie wie-derfinden! und ich will sie so gut pflegen, daß der Todkeine Macht über mich gewinnt.«

Er sank in eine tiefe Ohnmacht.Aubert und Gérande knieten neben dem Bett des Al-

ten nieder und beteten für ihn.

5. DIE TODESSTUNDE

Einige Tage waren nach dieser Begebenheit vergan-gen, da erhob sich der todkranke Meister wieder vonseinem Lager und erlangte durch eine fieberhafte Auf-regung scheinbar seine Kräfte zurück. Es war, als wenner von Stolz lebte. Aber Gérande ließ sich dadurchnicht täuschen; sie wußte, daß Leib und Seele ihresVaters für immer verloren waren.

Der Alte brachte nun mit fieberhafter Hast, ohne sichum seine Kinder zu kümmern, die letzten Hilfsmittel

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zusammen, die ihm noch zu Gebote standen; es muß-te ihn eine unbeschreibliche Energie kosten, so kräf-tig einherzuschreiten und, mit sich selber redend undmurmelnd, seine Wohnung zu durchstöbern.

Eines Morgens, als Gérande in die Werkstätte des Al-ten herabstieg, war ihr Vater dort nicht mehr zu fin-den. Sie wartete den ganzen Tag auf ihn und weintesich fast die Augen aus; aber Meister Zacharius erschi-en nicht wieder.

Aubert eilte in die Stadt, um Erkundigungen einzu-ziehen, und kam mit der traurigen Gewißheit wieder,daß der Greis die Stadt verlassen habe.

»Wir wollen den Vater aufsuchen!« rief Gérande,als der junge Gehilfe ihr diese schmerzliche Nachrichtbrachte.

»Wo kann er sich hingewendet haben?« fragte Au-bert.

Da erhellte eine plötzliche Eingebung seinen Geist;es war nicht anders möglich, als daß der Alte den Wegnach Schloß Andernatt eingeschlagen hatte; denn allseine Gedanken hatten sich in letzter Zeit auf die ei-serne Uhr konzentriert, die ihm noch nicht zurückge-bracht war. Er mußte sich aufgemacht haben, um siezu suchen.

Aubert teilte Gérande diesen Gedanken mit, und siemeinte, man würde in dem Buche ihres Vaters weitereAufklärung hierüber finden.

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Beide gingen nun in die Werkstätte hinab und fan-den den Band offen auf dem Arbeitstische des altenUhrmachers liegen. Alle Taschen- und Wanduhren, dieer je verkauft und jetzt wieder zurückerhalten hatte,waren sorgfältig darin gebucht und in der letzten Zeitausgestrichen, nur eine einzige Notiz stand noch ohneweiteren Vermerk da; sie lautete:

»Verkauft an Herrn Pittonaccio eine eiserne Uhr mitSchlagwerk und beweglichen Figuren; aufgestellt inseinem Schlosse zu Andernatt.«

Es war dies die lehrhafte Uhr, von der die alte Scho-lastique mit so großen Lobeserhebungen gesprochenhatte. »Mein Vater muß dort sein!« rief Gérande.

»Laß uns hineilen, wir können ihn vielleicht nochretten!« schlug Aubert vor.

»Nicht für dieses Leben, aber vielleicht für jenes!«flüsterte Gérande.

»Wir sind in Gottes Schutz, Gérande! Machen wiruns auf die Reise! Das Schloß Andernatt liegt in denSchlünden der Dents du Midi, etwa zwanzig Stundenvon Genf.«

Noch an demselben Abend reisten Aubert undGérande zu Fuß, und nur von ihrer alten Magd be-gleitet, ab. Sie verfolgten die Straße, die sich längsdes Genfer-Sees hinzieht, und legten noch in dersel-ben Nacht fünf Stunden zurück, ohne sich in Bessingeoder Ermance, wo sich das berühmte Schloß »der Ma-yor« erhebt, aufzuhalten. Nicht ohne Mühe und Gefahr

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durchwateten sie den Dransestrom; wo sie an Ortschaf-ten vorüberkamen, erkundigten sie sich, ob Meister Za-charius hier vorübergezogen sei, und bald erhielten siedie Gewißheit, daß ihre Ahnung keine trügerische ge-wesen war; der alte Uhrmacher hatte wirklich diesenWeg verfolgt.

Als der folgende Tag sich seinem Ende nahte, wa-ren sie bereits an Thonon vorübergekommen und hat-ten Evian erreicht, von wo man die Bergrücken derSchweiz in einer Entfernung von zwölf Wegstundenliegen sieht. Aber die beiden Verlobten hatten heu-te kein Auge für diese entzükkenden Fernsichten; sieschritten mit fast unnatürlicher Kraft vorwärts. Aubert,der sich auf einen Knotenstock stützte, bot bald Géran-de, bald der alten Scholastique seinen Arm und hieltsich selber nur durch den Gedanken aufrecht, daß erseine Begleiterinnen stützen müsse.

Während die drei auf der herrlichen Straße, die sichauf schmalem Plateau am Ufer des Sees hinzieht, wei-tergingen, sprachen sie von ihren Hoffnungen, ihremKummer und ihren Befürchtungen.

Als sie Bouveret erreichten, wo die Rhône in denGenfer-See tritt, schlugen sie eine andere Richtung einund wandten sich von dem See ab. In den bergigenGegenden von Vionnaz, Chesset, Collombay, halb ver-steckten Dörfern, nahm ihre Ermüdung zu; die Knie

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ermatteten, und ihre Füße wurden wund auf dem stei-nigen Pfade, der mit spitzem, scharfem Granit bedecktwar. – Noch immer keine Spur von Meister Zacharius!

Trotz ihrer namenlosen Ermüdung schritten die Ver-lobten rüstig vorwärts und suchten weder in den ein-sam liegenden Hütten Ruhe, noch kehrten sie imSchlosse »Monthey« ein, das mit seiner UmgebungMargaretha von Savoyen als Apanage verliehen ist.Endlich, gegen Ende des Tages, erreichten sie, fastohnmächtig vor Ermüdung, die Eremitage von Notre-Dame du Sex, die unter den Dents du Midi, sechshun-dert Fuß über der Rhône liegt.

Da die Nacht bereits anbrach, nahm der Eremit siein seine Klause auf; die Armen konnten keinen Schrittmehr tun und mußten endlich Ruhe suchen.

Auch der Einsiedler wußte ihnen von Meister Zacha-rius keine Nachricht zu geben, und Gérande fragte sichverzweiflungsvoll, ob sie wohl hoffen dürfe, ihn, denKranken, in diesen finsteren Einöden noch lebend wie-derzufinden. Es war tiefe Nacht; der Orkan pfiff in denBergen, und mit furchtbarem Donner stürzten Lawinenvon den Gipfeln der zerklüfteten Felsen.

Aubert und Gérande hatten sich vor dem Herde desEremiten niedergekauert und berichteten ihm von ih-rem Kummer. In einem Winkel waren die von Schneedurchnäßten Mäntel zum Trocknen aufgehängt, undvor der Hütte ließ der Hund ein jämmerliches Geheulertönen, das sich mit dem Tosen des Sturms mischte.

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»Der Stolz hat einen guten Engel zu Fall gebracht,«sagte der Eremit; »es ist dies der Stein des Anstoßes,an dem die Geschicke der Menschen so oft scheitern.Dem Hochmut, diesem Urquell aller Laster, kann mankeine Vernunftgründe entgegenhalten, da er sich, sei-nem Wesen nach, der Einsicht anderer verschließt!«

Alle vier knieten nieder; da ließ sich das Gebell desHundes mit verdoppelter Stärke hören, und es wurdeheftig an die Tür gepocht.

»Macht auf, im Namen des Teufels!«Die Türe gab unter den gewaltsamen Stößen nach,

und ein Mann mit vom Winde zerzaustem Haar, wir-rem Auge und zerrissener Kleidung stürzte herein.

»Mein Vater!« schrie entsetzt Gérande.Es war wirklich Meister Zacharius.»Wo bin ich?« rief er; »in der Ewigkeit! . . . die Zeit

ist zu Ende . . . die Stunden schlagen nicht mehr . . .die Zeiger sind stehengeblieben!«

»Vater! lieber Vater!« flehte Gérande in so herzzer-reißendem Ton, daß er den Greis in die wirkliche Weltzurückzurufen schien.

»Du hier, meine Gérande?« rief er, »und Du, Aubert!. . . Ach, liebe Kinder, werdet Ihr in unserer alten Kirchegetraut werden?«

»Vater,« bat Gérande, »komm mit uns zurück nachDeinem Hause in Genf; komm mit uns!«

»Verlassen Sie Ihre Kinder nicht!« rief Aubert.

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»Warum soll ich nach der Stätte zurückkehren, in dermein Leben nicht mehr pulsiert, in der ein Teil meinerselbst schon begraben liegt?«

»Ihre Seele ist nicht erstorben!« sagte der Eremit miternster Stimme.

»Meine Seele! . . . O nein! . . . Ihr Räderwerk ist gutin Ordnung; ich fühle, wie sie in gleichem Zeitmaßschlägt . . . «

»Ihre Seele ist immateriell; Ihre Seele ist unsterb-lich!« entgegnete überzeugungsvoll der Eremit.

»Ja . . . unsterblich wie mein Ruhm! . . . Aber nochist sie im Schlosse Andernatt eingeschlossen, und ichwill sie wiederholen.«

Der Eremit bekreuzte sich; Scholastique war halb totvor Schrecken; Aubert hielt Gérande in seinen Armen.

»Schloß Andernatt wird von einem Verdammten be-wohnt,« versetzte der Eremit, »von einem Verdamm-ten, der das Kreuz meiner Eremitage nicht grüßt!«

»O Vater, geh nicht dorthin!« flehte Gérande.»Ich will meine Seele! meine Seele gehört mir . . . «»Halten Sie ihn auf! O bitte, halten Sie meinen Vater

zurück!« rief Gérande.Aber schon war der alte Uhrmacher aufgesprungen,

zur Türe hinausgestürzt und in dem Sturm und demDunkel der Nacht verschwunden.

»Mir! mir, meine Seele! . . . « hallte es noch gellendzurück.

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Gérande, Aubert und Scholastique stürzten hinterMeister Zacharius her, unwegsame Pfade entlang, aufdenen der Greis, von übermenschlicher Kraft und derÜberaufregung des Fiebers getrieben wie ein Orkan da-hinjagte. Der Schnee fiel in dichten Wirbeln und misch-te seine weißen Flocken mit dem Schaum der Waldbä-che, die in dem Tosen des wilden Wetters über ihreUfer getreten waren.

Als Gérande, Aubert und Scholastique an der zur Er-innerung an das Massaker an der thebanischen Legionerrichteten Kapelle vorüberkamen, bekreuzten sie sich,Meister Zacharius aber entblößte nicht sein Haupt.

Endlich, mitten in unwirtbarer Gegend, tauchte dasDorf Evionnaz auf; das härteste Herz mußte weichwerden beim Anblick dieses in schauerlichster Einödeverlorenen Fleckens. – Der Greis setzte seinen Wegunaufhaltsam fort; er war nach links abgebogen undhatte sich in die Schlünde der Dents du Midi vertieft,deren spitzige Gipfel bis zum Himmel emporzuragenschienen.

Bald erhob sich vor den Wanderern eine alte, düste-re Ruine, die wie ein Felsen aus dem Boden hervorzu-wachsen schien.

»Da ist es! Da! . . . « rief der Alte und beschleunigtevon neuem seinen zügellosen Lauf.

Schloß Andernatt war schon zu jener Zeit nur nocheine Ruine, die von einem dicken, zerstückelten Turmüberragt wurde. Fast schien es, als drohte das morsche

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Gemäuer einzustürzen und die alten Giebel an seinemFuße zu zerschellen. Die ungeheuern Steinhaufen wa-ren schauerlich anzusehen; zwischen Schutt und son-stigen baulichen Überresten gewahrte man öde Sälemit zertrümmerten Decken und im Geröll unheimlicheWinkel, die zum Schlupfwinkel für Schlangen und Nat-tern geschaffen schienen.

Ein enges, niederes Ausfalltor, das sich auf dem mitSchutt gefüllten Graben öffnete, gewährte Zutritt zumSchlosse Andernatt. Was für Bewohner waren darüberhinweggegangen? Wer konnte es sagen?

Ohne Zweifel hielt sich ehemals ein Markgraf, halbRäuber, halb Ritter, in dieser verfallenen Burg auf, undihm folgten Banditen und Falschmünzer, die dann ander Stätte ihres Verbrechens gehangen wurden. Manraunte sich zu, daß Satan in wilden Winternächtenhier erschien, um am Abhang des tiefen Abgrundes, indessen Schatten die Ruinenstücke verschwanden, sei-ne Tänze aufzuführen.

Meister Zacharius wurde durch den unheilkünden-den Anblick dieser Gegend nicht in Schrecken gesetzt;er gelangte bis zu dem Ausfalltor, und da niemandihm den Eintritt wehrte, auf einen großen finstern Hof.Auch hier wurde er nicht verhindert, weiterzuschrei-ten, und erstieg eine Art geneigter Ebene, die zu einemlangen Korridor führte; die Bogen waren schwer unddüster, wie wenn sie den hellen Tag erdrücken woll-ten.

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Niemand stellte sich auch hier dem Greise entgegen,aber Gérande, Aubert und Scholastique folgten ihmfortwährend und ließen ihn nicht aus den Augen.

Meister Zacharius ging seinen Weg so sicher, als wür-de er von einer unsichtbaren Hand geführt. Er kam aneine alte, wurmstichige Türe, die unter seinen Stößenwich, scheue Fledermäuse schwirrten empor und be-schrieben schräge Kreise um sein Haupt.

Ein ungeheurer Saal, der besser erhalten war als dieanderen Räume, tat sich vor seinen Blicken auf. Hohe,mit Malerei verzierte Füllungen bekleideten die Wän-de, auf denen sich Larven, Eulen1 und Tarasken2 durch-einander zu bewegen schienen. Einige Fenster, langund schmal, wie Schießscharten geformt, bebten un-ter den Stößen des Orkans.

Als Meister Zacharius in der Mitte des Saales an-gekommen war, schrie er laut und freudig auf; sichgegenüber an der Mauer erblickte er die Uhr, an derjetzt sein ganzes Sein und Denken hing. Es war einMeisterwerk ohnegleichen und stellte eine alte romani-sche Kirche mit Strebepfeilern aus Schmiedeeisen undeinem schweren Kirchturm dar, in dem sich ein voll-ständiges Glockenspiel für die Antiphone des Tages,das Angelus, die Messe, die Vesper, Kompletorium und

1Leichenfressende Ungeheuer.2Drachengestalten.

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Salve befand. Über der Kirchentüre, die sich zur Stun-de der Gottesdienste öffnete, war eine Rosette ausge-höhlt, in deren Schwibbogenverzierung die zwölf Stun-den des Zifferblatts in Relief ausgehauen waren und inderen Mitte sich die beiden Zeiger bewegten. ZwischenKirchtüre und Rosette erschien in kupfernem Rahmen,wie wir es schon von der alten Scholastique hörten,zu jeder Zeit des Tages ein bezüglicher Spruch. Mei-ster Zacharius hatte einst die Aufeinanderfolge dieserSinnsprüche mit christlichem Geist und hoher Sorgfaltgewählt und geregelt; die Stunden des Gebets, der Ar-beit, des Mahls, der Erholung und der Ruhe folgteneinander nach Ordnung der Kirchenzucht und mußteneinen gewissenhaften Beobachter ihrer Anempfehlun-gen unfehlbar zur Seligkeit führen.

Meister Zacharius wollte sich freudetrunken der Uhrbemächtigen, als er ein lautes, höhnisches Lachen hin-ter sich vernahm.

Er wandte sich um und erblickte beim Schein einerrauchenden Lampe das wunderliche kleine Ungetüm.»Sie hier?« rief er aus.

Gérande schmiegte sich angstvoll an ihren Verlob-ten. »Guten Tag, Meister Zacharius,« begann das grei-senhafte Wesen.

»Wer sind Sie?«»Ich bin Pittonaccio, Ihnen zu dienen! Sie sind wahr-

scheinlich hierher gekommen, um mir Ihre Tochter zur

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Frau zu geben. Sie erinnern sich doch noch meinerWorte! Gérande wird Aubert nicht heiraten.«

Der junge Gehilfe stürzte auf Pittonaccio zu, aberdieser glitt ihm unter den Händen fort wie ein Schat-ten. »Halt ein, Aubert!« rief Meister Zacharius.

»Gute Nacht!« sagte Pittonaccio – er war verschwun-den.

»Laß uns von dieser verdammten Stätte fliehen,mein Vater,« rief Gérande verzweiflungsvoll.

Aber Meister Zacharius war nicht mehr zu sehen;er eilte bereits hinter dem Phantom Pittonaccios herüber zerbröckelnde Treppen und durch halb verfalleneStockwerke. Scholastique, Aubert und Gérande bliebenvernichtet in dem weiten Saal zurück; das junge Mäd-chen war auf einen Steinblock gesunken und die al-te Magd kniete neben ihr auf dem Boden und betete.Aubert stand neben seiner Braut und wachte über sie.Ein tiefes Schweigen herrschte in dem öden Raum undwurde nur durch die kleinen Tiere unterbrochen, dieleise pochend in dem alten Holze arbeiteten, und dieder Volksmund »die Totenuhr« nennt.

Als die ersten Strahlen des anbrechenden Tages ih-ren blassen Schimmer in das Gemach sandten, wagtensich die drei aus dem Zimmer und irrten auf den end-losen Treppen und Korridors umher; aber trotzdem siezwei Stunden lang das Gemäuer durchsuchten, begeg-neten sie keiner lebenden Seele, und nur das Echo ant-wortete auf ihr Rufen. Bald befanden sie sich hundert

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Fuß unter der Erde, bald schauten sie aus der Höhe aufFelsen, Wälder und Klüfte herab.

Endlich führte sie der Zufall in den ungeheuren Saalzurück, in dem sie eine so angstvolle Nacht verlebt hat-ten. Sie fanden ihn nicht mehr leer, denn Meister Za-charius und Pittonaccio hatten sich unterdessen ein-gefunden und waren augenscheinlich in einer angele-gentlichen Unterhaltung begriffen; ersterer hielt sichstarr und steif wie ein Leichnam, letzterer lehnte an ei-nem Marmortisch und hatte sein greises Haupt in dieHand gestützt.

Als der alte Uhrmacher seine Tochter eintreten sah,ging er auf sie zu, erfaßte ihre Hand und führte sie zuPittonaccio:

»Hier, meine Tochter, ist Dein Herr und Gebieter,Dein künftiger Gemahl!« sprach er.

Gérande schauerte zusammen.»Niemals wird sie ihm gehören,« rief Aubert zornig,

»denn sie ist meine verlobte Braut.«»Niemals, niemals!« rief Gérande, wie ein klagendes

Echo, ihm nach.Pittonaccio brach in ein höhnisches Lachen aus.»So wollt Ihr meinen Tod?« rief Meister Zacharius.

»Dort in jener Uhr, der letzten, die noch geht von allen,die ich mit meinen Händen verfertigt habe, ist mein Le-ben eingeschlossen, und dieser Mann hat gesagt: ›Gibmir Deine Tochter, und die Uhr ist Dein!‹ Er will sie

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nicht aufziehen, und es liegt in seiner Macht, sie zu zer-brechen und mich in ein Nichts zurückzuschleudern!Ach, meine Tochter, Du liebst mich also nicht mehr!«

»Mein Vater!« flüsterte Gérande, als sie wieder zurBesinnung kam.

»Wenn Du wüßtest, was ich, fern von diesem Prin-zip meiner Existenz, gelitten habe!« klagte der Greis.»Wie leicht war es möglich, daß diese Uhr vernachläs-sigt wurde, daß ihre Federn sich abnutzten, ihr Räder-werk in Verwirrung geriet! Aber jetzt könnte ich selbstfür sie sorgen, denn ich, der berühmteste Uhrmacherseiner Zeit kann und darf nicht sterben! Sieh, meineGérande, wie die Zeiger so schön und sicher vorwärtsgehen. Halt, jetzt wird es fünf schlagen! Merke wohlauf und lies den schönen Spruch, der jetzt vor unserenAugen erscheinen wird.«

Von dem Glockentürmchen ertönten fünf Schläge,die schmerzlich in Gérandes Seele widerklangen, undin dem kupfernen Rahmen über der Kirchtür zeigtensich die Worte:

»Man muß die Früchte vom Baum der Wissenschaftessen.«

Aubert und Gérande sahen einander staunend undbestürzt an. Das waren nicht mehr die frommen Sinn-sprüche des katholischen Uhrmachers; der Hauch desSatans mußte diese Uhr gestreift haben.

Zacharius aber schien das nicht zu beachten; er fuhrfort:

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»Hörst Du, meine Gérande? Ich lebe, noch lebe ich!Höre meinen Atem! . . . Sieh, wie das Blut in meinenAdern rollt! . . . Nicht wahr, mein Kind, Du willst nichtden Tod Deines Vaters und nimmst diesen Mann zumGemahl, auf daß ich unsterblich werde und endlich dieMacht Gottes erlange!«

Bei diesen gottlosen Worten bekreuzte sich die alteScholastique, während Pittonaccio ein lautes Freuden-geschrei hören ließ.

»Und dann, Gérande, sollst Du mit diesem Mannglücklich sein! Nimm ihn an, es ist hohe Zeit; Dein Da-sein wird mit absolutester Präzision geregelt werden;o, Gérande! gib mir, Deinem Vater, der Dir das Lebengab, das Leben wieder!«

»Gérande,« flüsterte Aubert, »Du bist mein, ich binDein Verlobter!«

»Er ist mein Vater!« schluchzte Gérande und sankzusammen.

»Nimm sie hin,« rief Meister Zacharius, »und nun,Pittonaccio, wirst Du Dein Versprechen halten.«

»Hier hast Du den Schlüssel zu der Uhr,« sprach dasUngetüm und überreichte dem Greise ein Werkzeug,das einer aufgerollten Natter ähnlich sah.

Meister Zacharius bemächtigte sich desselben, eilteauf die Uhr zu und begann sie mit fieberhafter Schnel-ligkeit aufzuziehen. Die Feder knirschte schwer, daß esmit wehem Gefühl in den Nerven nachtönte; aber deralte Uhrmacher drehte weiter und weiter, ohne daß

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sein Arm erlahmte; fast schien es, als ob diese Rota-tionsbewegung unabhängig von seinem Willen sei. Erdrehte immer schneller und mit sonderbaren Zuckun-gen, bis er endlich vor Mattigkeit niedersank.

»Jetzt ist sie für ein Jahrhundert aufgezogen!« riefer.

Aubert verließ, wie von Sinnen, den Saal, fand end-lich nach langem hin und her klettern den Weg ausdem verwünschten alten Gebäude und stürzte hinausaufs Feld. Bald hatte er die Einsiedelei von Notre-Damedu Sex erreicht und flehte den heiligen Mann mit soverzweifelten Bitten an, daß dieser sich bestimmenließ, den jungen Mann nach Schloß Andernatt zu be-gleiten.

Wenn Gérande in dieser Stunde der Angst nichtweinte, so kam es einzig daher, daß die Tränen in ihrenAugen versiecht waren.

Meister Zacharius hatte den weiten Saal noch nichtverlassen; er horchte Minute für Minute auf das regel-mäßige Tick-Tack der Uhr.

Inzwischen hatte es zehn geschlagen, und zumgroßen Entsetzen Scholastiques waren die Worte:

»Der Mensch kann Gott gleich werden«

in dem Rahmen über der Kirchtüre erschienen. DemGreise waren diese Sprüche nicht anstößig; er las sieim Gegenteil mit wahnsinnigem Entzücken und gefielsich in diesen hochmütigen Aussprüchen, während Pit-tonaccio ihn umkreiste.

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Die Heiratsakte sollte um Mitternacht unterzeichnetwerden, aber die Braut, in der das Leben fast erloschenwar, sah und hörte nichts mehr. Das Schweigen wurdenur durch die Worte des Alten und durch das Hohnge-lächter Pittonaccios unterbrochen.

Es schlug elf Uhr, und Meister Zacharius las zitternd,mit gellender Stimme, die Lästerung:

»Der Mensch soll ein Sklave der Wissen-schaft sein

und ihr Eltern und Familie zum Opferbringen.«

»Ja,« rief er, »es gibt nichts Besseres als die Wissen-schaft in der Welt!«

Die Zeiger drehten sich mit Schlangenzischen aufdem eisernen Zifferblatt, und die Uhr schlug in eiligenStößen.

Meister Zacharius schwieg jetzt; er war zur Erde ge-sunken, sein Atem drang röchelnd aus der Brust hervor,und man hörte ihn nur noch flüstern: »Das Leben! dieWissenschaft!«

Die Szene hatte zwei neue Zeugen erhalten; der Ere-mit und Aubert waren erschienen. Meister Zachariuslag auf dem Boden, Gérande kniete betend neben ihm. . . Da hörte man plötzlich ein leises Anschlagen, wiees dem Glockenschlage der Stunden vorausgeht.

Meister Zacharius richtete sich empor.»Mitternacht,« rief er.

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Der Eremit streckte seine Hand gegen die alte Uhraus, und – die zwölf Schläge ertönten nicht.

Meister Zacharius schrie so laut und gellend auf, daßes bis in die Hölle gehört werden mußte, da in demkupfernen Rahmen die Worte erschienen:

»Wer da versucht, Gott gleich zu sein,ist verdammt in Ewigkeit.«

Die alte Uhr zerbrach mit Donnerkrachen, und dieFeder hüpfte unter tausend phantastischen Zuckungenim Saale umher. Der Greis hatte sich wieder erhoben,eilte hinter ihr her, suchte sie zu erhaschen und rief inwahnsinniger Angst:

»Meine Seele! meine Seele!«Immer schneller hüpfte die Feder davon; es war dem

Alten unmöglich, sie zu erfassen.Endlich griff Pittonaccio nach ihr, erhaschte sie und

verschwand, indem er einen furchtbaren Fluch aus-stieß, unter der Erde.

Meister Zacharius fiel rücklings nieder – er war tot.Der alte Uhrmacher wurde am Fuße der Gipfel von

Andernatt beerdigt; dann kehrten Aubert und Géran-de nach Genf zurück. Während all der langen Jahre,die Gott ihnen noch beschieden hatte, suchten sie mitihrem Gebet die arme Seele loskaufen und zu retten,die durch die Wissenschaft auf solche Irrwege geleitetworden war.