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Inhalt und Bedeutung des christlichen Menschenbildes Volker Ladenthin Ist es möglich, dass sich eine – auf Mehrheiten angewie- sene – Volkspartei in einer säkularen Gesellschaft auf das „Christliche Menschenbild“ als ihrer letzten d. h. identi- tätsstiftenden Grundlage bezieht? Welche Rolle hat die Re- ligion, hat das Christentum in einer säkularen, multireli- giösen Gesellschaft – und wie verhalten sich Religion und Politik zueinander? Und schließlich: Was ist ein Menschen- bild – und welche Bedeutung hat es für politisches Han- deln? Diese Fragen will der folgende Aufsatz angehen, indem zuerst drei moderne säkulare Menschenbilder vorgestellt und auf ihre Tragfähigkeit hin geprüft werden. In Kontrast dazu werden Aspekte eines „christlichen Menschenbildes“ rekonstruiert. Im Schlussteil wird das Verhältnis von Men- schenbild und politischem Handeln bestimmt. *** In den Entstehungsjahren der modernen Wissenschaften vom Menschen unternahm es Johann Heinrich Pestalozzi, ein „Bild des Menschen“ zu entwerfen, eine pädagogische Anthropologie in allgemeiner Absicht. 1 Ich möchte diesen Versuch Pestalozzis zum Anlass nehmen, um Inhalt und Bedeutung des christlichen Menschenbildes für die Gegen- wart zu reflektieren. Angesichts der Ablösung der Philosophie von der Theo- logie, im Hinblick auf die erstarkenden Naturwissenschaf- ten und anlässlich der im Alltag gewonnenen breiten Ein- 120

Inhalt und Bedeutung des christlichen Menschenbildes · sicht in die prägende Kraft der sozialen Umstände für den weiteren Lebensweg, versuchte Pestalozzi, in seinen „Nachforschungen

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Inhalt und Bedeutung des christlichenMenschenbildes

Volker Ladenthin

Ist es möglich, dass sich eine – auf Mehrheiten angewie-sene – Volkspartei in einer säkularen Gesellschaft auf das„Christliche Menschenbild“ als ihrer letzten d. h. identi-tätsstiftenden Grundlage bezieht? Welche Rolle hat die Re-ligion, hat das Christentum in einer säkularen, multireli-giösen Gesellschaft – und wie verhalten sich Religion undPolitik zueinander? Und schließlich: Was ist ein Menschen-bild – und welche Bedeutung hat es für politisches Han-deln?

Diese Fragen will der folgende Aufsatz angehen, indemzuerst drei moderne säkulare Menschenbilder vorgestelltund auf ihre Tragfähigkeit hin geprüft werden. In Kontrastdazu werden Aspekte eines „christlichen Menschenbildes“rekonstruiert. Im Schlussteil wird das Verhältnis von Men-schenbild und politischem Handeln bestimmt.

* * *

In den Entstehungsjahren der modernen Wissenschaftenvom Menschen unternahm es Johann Heinrich Pestalozzi,ein „Bild des Menschen“ zu entwerfen, eine pädagogischeAnthropologie in allgemeiner Absicht.1 Ich möchte diesenVersuch Pestalozzis zum Anlass nehmen, um Inhalt undBedeutung des christlichen Menschenbildes für die Gegen-wart zu reflektieren.

Angesichts der Ablösung der Philosophie von der Theo-logie, im Hinblick auf die erstarkenden Naturwissenschaf-ten und anlässlich der im Alltag gewonnenen breiten Ein-

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sicht in die prägende Kraft der sozialen Umstände für denweiteren Lebensweg, versuchte Pestalozzi, in seinen„Nachforschungen über den Gang der Natur in der Ent-wicklung des Menschengeschlechts“ sich dessen zu ver-sichern, was den Menschen unhintergehbar auszeichnet.Welches Menschenbild ist angesichts von philosophischerKritik, dem verbindlichen Empirismus der Naturwissen-schaften und der sozialen Erfahrungen mobiler Gesellschaf-ten intersubjektiv begründbar?

Pestalozzi untergliederte die Eigenart des Menschen indreifacher Weise und referierte drei zu unterscheidende Bil-der vom Menschen. Das erste Menschenbild beschrieb denMenschen als Werk der Natur, das zweite beschrieb denMenschen als Werk der Gesellschaft und das dritte be-schrieb ihn als Werk seiner selbst.

Damit griff er auf eine Konzeption zurück, die bereitsRousseau vorgestellt hatte: Erziehung durch die Natur, dieDinge und den Menschen.2 Diese Vorstellung wiederumkonnte sich auf eine Unterscheidung von Aristoteles beru-fen: „Gut und tüchtig nun wird man durch dreierlei, Natur-anlage (physis), Gewöhnung (ethos) und Vernunft (logos).Denn zunächst muß man eine bestimmte Natur haben,z. B. die eines Menschen und nicht die eines anderen Lebe-wesens, und sodann eine bestimmte Beschaffenheit desKörpers und der Seele. Bei gewissen Dingen aber wiederumhilft die bloße Naturanlage nicht, denn die Gewöhnungkann sie verändern. Manches nämlich ist von Natur ent-gegengesetzter Ausbildung fähig, und hier ist es denn alsodie Gewöhnung, welche dasselbe entweder zum Schlechte-ren oder zum Besseren hinleitet. Die anderen Lebewesenendlich leben zwar vorzugsweise nur nach der Natur undnur einige in einigen wenigen Stücken auch nach der Ge-wöhnung, aber der Mensch auch nach der Vernunft, dennnur er besitzt Vernunft. So muß dies alles miteinander über-einstimmen; vieles nämlich tun die Menschen auch widerihre Gewohnheiten und ihre Naturanlage durch die Ver-

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nunft, wenn sie sich davon überzeugen, daß es anders bes-ser sei. Von welcher Naturanlage nun diejenigen sein müs-sen, die für den Gesetzgeber wohl zu lenken sein sollen, ha-ben wir zuvor schon auseinandergesetzt, alles übrige istaber bereits Sache der Erziehung, denn wir lernen es zumTeil durch Gewöhnung und zum Teil durch Unterricht.“3

Mit dem letzten Satz spielt Aristoteles auf seinen (an-thropologisch-historischen) Nachweis an, dass die Naturdie Menschen in Herren und Sklaven unterschieden habeund daher die soziale Ordnung und die Erziehung diesemGebot der Natur folgen müssten. Damit wird die gesell-schaftliche Ordnung einem teleologisch ausgerichteten na-türlichen Geschehen nachgeordnet, dessen sinnvolle undauf das Glück zielende Einrichtung der Mensch zu erken-nen und anzuerkennen habe. Innerhalb dieser Unterschei-dung lehnt aber Aristoteles die Annahme einer Determina-tion menschlichen Handelns durch die Natur ab; selbst diesozialen Verhältnisse bedingten das menschliche Handelnnur (durch Gewöhnung) zum Teil und ließen der Vernunfteinen Freiheitsraum. Freilich geht Aristoteles davon aus,dass Natur, Gesellschaft und Vernunft in ein harmonischesteleologisches Verhältnis gebracht werden können: „Somuß dies alles miteinander übereinstimmen“.

Zu fragen ist, wie die jeweiligen Menschenbilder heuteverstanden werden können, ob diese Unterscheidungenweiterhin gerechtfertigt sind, ob sie in einem Telos des ge-schichtlichen Sinns – wie bei Aristoteles – zusammen-gebunden werden können und ob sie einer bedingungslosenPrüfung ihrer Voraussetzungen standhalten.

1. Der Mensch als Werk der Natur.

Den Menschen als Werk der Natur zu verstehen meint, ihnals von (letztlich unabänderlichen) Naturgesetzen bedingtzu verstehen. In dieser Formulierung ist der Anspruch ge-

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fasst, den Menschen mit den Methoden der modernen Na-turwissenschaft vollständig zu beschreiben oder aus der Be-schreibung der Natur Regeln für menschliches Handeln ab-zuleiten. So kann etwa der aufrechte Gang des Menschenden physikalischen Gesetzen nicht trotzen; der Vererbungs-prozess beim Menschen erfolgt nach den gleichen Regeln,die für alle Lebewesen gelten und das Gehirn des Menschenzeigt die gleichen molekularen Prozesse wie Gehirne ande-rer Lebewesen. Die Natur ist nicht vom Menschen ge-macht, aber sie macht den Menschen. Ganz in diesemSinne schreibt Pestalozzi: Der Mensch „[a]ls Werk der Na-tur: Als solches bin ich ein Werk der Nothwendigkeit, dasgleiche thierische Wesen, das nach Jahrtausenden keinHaar auf seinem Haupt, und keine auch die leiseste Nei-gung seines Wesens in sich selbst auszulöschen vermöchte.Als solches lenkt mich die Natur, ohne Kunde der Verhält-nisse, die ich selber erschaffen, als lebte ich im schuldlosenthierischen Zustand, mit dem Gesetz ihrer Allmacht zumSinnengenus hin wie den Adler zum Aas, das Schwein indie Pfüzze, den Ochsen auf die Triften, die Ziege auf denFelsen, und den Haasen unter die Staude.“4

In der Gegenwart lässt sich dieses Menschenbild zuwei-len in der Ethologie oder der Entwicklungsbiologie finden.Menschliches Verhalten wird in der Ethologie aus der biolo-gisch zu beschreibenden Beschaffenheit des Körpers odervererbten Reiz-Reaktionsmustern abgeleitet. Die Entwick-lungsbiologie erklärt menschliche Geschichte als Anpas-sung an eine gegebene Umwelt. Der Mensch sei „vorpro-grammiert“5. Unmoral ist in dieser Deutung allein dieMissachtung natürlicher Prozesse; Geschichte wird als Se-lektion funktionaler Verhaltensweisen aufgefasst: „Aberunsere Kulturen sind keine willkürlichen Sammlungen zu-fällig erworbener Gewohnheiten. Sie sind der kanalisierteAusdruck unserer Instinkte. (…) Die Gesellschaft wurdenicht von vernünftigen Menschen erdacht. Sie entwickeltesich als ein Teil unserer Natur. Sie ist ebensosehr ein Pro-

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dukt unserer Gene wie ein Produkt unserer Körper.“6 DieGesetzmäßigkeiten der vom Menschen nicht beinfluss-baren Natur („Naturgesetze“) sollen zudem Hinweise oderNormen zur Regelung der vom Menschen beeinflussbarenGeschichte entnommen werden.

In der Hirnforschung zeigt sich derzeit eine ganz aktuelleFassung dieses Menschenbildes. Mit der Forderung etwa des„gehirngerechten Lernens“ wird versucht, Inhalte und For-men des Lernens aus der biologischen Beschaffenheit desmenschlichen Gehirns abzuleiten: „Die Gehirnforschungzeigt nicht nur, dass wir zum Lernen geboren sind und garnicht anders können als lebenslang zu lernen. Sie zeigt auchBedingungen geglückten Lernens … Sie ermöglicht uns da-mit ein besseres Selbstverständnis im besten Sinne des Wor-tes. Es ist an der Zeit, dass wir dies Verständnis unsererselbst für die Gestaltung von Lernumgebungen nutzen.“7

Wenn physiologische Abläufe im Gehirn „Bedingungengeglückten Lernens“ bilden, wird Kultur als Ausdruck na-türlicher Gehirnprozesse verstanden. In letzter Konsequenzkönnte es dann keinen kulturellen Fortschritt geben: Kultu-relle Veränderungen wären identisch mit dem biologischenAblauf und daher – nach den immer gleichen Gesetzen – de-terminiert. (Innerhalb von Naturgesetzen gibt es keinenFortschritt. Ihre Eigenschaften sind Zeitlosigkeit und Un-veränderbarkeit.) Und es könnte auch keine Verantwort-lichkeit für das eigene Handeln geben. Handeln müsste alsdeterminiertes Verhalten verstanden werden. In der Tat ha-ben ja einige Hirnforscher die These der biologischen Deter-miniertheit von Hirnprozessen zur Begründung verminder-ter Schuldfähigkeit im Hinblick auf soziale Prozesseherangezogen. Konsequent zu Ende gedacht, müsste einsolch biologistisches (naturwissenschaftliches) Menschen-bild jegliche Verantwortung des Menschen für sich selbstleugnen: „Werden die Handlungen von Personen ebensowie ihre Überzeugungen, Wünsche und Absichten auf dieunivoke Vorstellung neuronaler Ereignisse reduziert, so

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löst sich nicht nur der Begriff eines komplexen Handlungs-gefüges, sondern auch die ihm zugrundeliegende Vorstel-lung einer in ihrem Handeln präsenten Person und ihrer Le-bensgeschichte auf.“8

Sicherlich unterliegt menschliches Leben naturhaftenProzessen. Keine kulturelle Einrichtung kann gegen dasausgerichtet sein, was dem Menschen von Natur aus zu-kommt: Jeder Mensch muss schlafen und sich erholen, erbraucht Freizeiten, Auszeiten – eine Erfahrung, die aller-dings auch kulturell im Sonntags- und Sabbatsgebot derchristlich-jüdischen Tradition begründet wurde. DerMensch muss essen und trinken, er braucht Bewegung; eraltert, ist gesund oder krank. Die Dauer der Konzentrationist auch bei noch so raffinierten Methoden der Stimulation„natürlich“ beschränkt: Jede (pädagogische) Interaktion hatalso eine Grenze in den natürlichen Bedingtheiten des Men-schen. Auch die Bildungsplanung findet eine Grenze in derNatur des Menschen: Weder lassen sich die Schul- oderLernzeiten beliebig verlängern oder verkürzen,9 noch lassensich alle Lerninhalte zu allen Lebenszeiten thematisieren:Sensible Lernphasen können in einer falschen Lernorgani-sation, durch falsche Inhalte und falsche Methoden verpasstwerden, wie umgekehrt die Verfrühung Kinder und Jugend-liche mit Inhalten konfrontiert, die ihren natürlichen, d. h.körperlichen und geistigen Entwicklungen nicht entspre-chen. Kulturelle Einrichtungen sind hier auf einen intensi-ven und freien Diskurs mit naturwissenschaftlicher, medi-zinischer und psychologischer Forschung angewiesen.

Problematisch ist nicht, dass es unternommen wurde,das Naturhafte am Menschen mit Methoden der Naturwis-senschaften zu beschreiben; seit der Antike ist diese Vor-gehensweise Teil philosophischen (also auch politischenund pädagogischen) Denkens. Problematisch ist aber dieAuffassung, dass sich alle sozialen Prozesse restlos als na-turhafte Prozesse deuten lassen.10 Den Menschen aus-schließlich als Werk der Natur zu verstehen verschlösse

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ihm jeglichen Handlungsspielraum. Immerhin stellen sichunterschiedliche Gesellschaften in unterschiedliche Ver-hältnisse zu den naturwissenschaftlich zu beschreibendenVorgängen. Kulturelle Unterschiede können nie restlosdurch naturwissenschaftliche Forschung erklärt werden.Kultur ist keine beliebige Variation eines ansonsten natur-haften Prozesses – andernfalls gäbe es keinen Streit darum,welche Kultur wo herrschen solle. Das naturalistischeMenschenbild reicht offensichtlich nicht aus, den Men-schen ganz zu beschreiben. Daher muss der Mensch zusätz-lich auch als kulturelles Wesen beschrieben werden.

2. Der Mensch als Werk der Gesellschaft

Pestalozzi bezeichnet den Menschen daher in einem zwei-ten Anlauf zusätzlich als „Werk meines Geschlechts, alsWerk der Welt“11. Der Wettbewerb („Der gesellschaftlicheZustand ist in seinem Wesen eine Fortsetzung des Kriegesaller gegen alle“12), aber auch die Möglichkeit, sich selbstals „ein mit seinem Nebenmenschen in Vertrag und Ver-kommnis stehendes Geschöpf anzusehen“13 (also Gemein-schaft, Vertrag und Befriedung) bestimmen in dieser Per-spektive die Regeln menschlichen Handelns. DieGesellschaft ermöglicht erst einmal Existenz und schränktsie zugleich normativ ein.

Heutzutage hat sich die Soziologie der Erforschung dieserStrukturen verschrieben. Sie unternimmt es, die wechsel-seitigen Abhängigkeiten, die Kommunikations- und Inter-aktionsweisen soweit zu beschreiben, dass sie am Endevon einer „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklich-keit“14 spricht. Menschliches Verhalten soll restlos als Pro-dukt gesellschaftlicher Interaktionen verstanden werden. Inder Sozialisationsforschung werden die Prozesse dieser„Vergesellschaftung des Menschen“ beschrieben und alsZiel pädagogischen Handelns ausgewiesen.

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Emile Durkheim, der wohl die Formulierung Pestalozzisaufnimmt, formuliert: „Unser pädagogisches Ideal ist, jetztwie in der Vergangenheit, bis in die Einzelheiten das Werkder Gesellschaft. Sie zeichnet uns das Porträt des Menschenvor, das wir sein müssen, und in diesem Porträt spiegeln sichdann alle Besonderheiten ihrer Organisation. … Statt daß dieErziehung das Individuum und sein Interesse als einzigesund hauptsächliches Ziel hat, ist sie vor allem das Mittel,mit dem die Gesellschaft immer wieder die Bedingungen ih-rer eigenen Existenz erneuert. Die Gesellschaft kann nur le-ben, wenn unter ihren Mitgliedern ein genügender Zusam-menhalt besteht. Die Erziehung erhält und verstärkt diesenZusammenhalt, indem sie von vornherein in der Seele desKindes die wesentlichen Ähnlichkeiten fixiert, die das ge-sellschaftliche Leben voraussetzt. … Nur die Soziologiekann uns helfen, dieses Ziel zu verstehen, indem sie es andie sozialen Zustände knüpft, von denen es abhängt und diees ausdrückt oder aber sie kann uns helfen, dieses Ziel zuentdecken, wenn das getrübte und schwankende öffentlicheBewußtsein nicht mehr weiß, was es sein soll.“15

Eine solche Sozialisationsforschung versteht den Men-schen als Produkt der Gesellschaft. Durkheim wendet dieseBeschreibung nun zudem normativ, so dass sein Menschen-bild den Menschen nicht nur sozial erklären sondern auchsozial formen (bilden) will. Ziel pädagogischen Handelns istdie Anpassung an die faktische Gesellschaft. Die faktischeGesellschaft wird damit zum legitimen Erzieher.

In der Gesamtschulbegründung fand sich gelegentlichdiese Vorstellung wieder: So erhoffte sich einst der DeutscheBildungsrat, dass allein durch das Organisationsprinzip, einegesamte Population von Schülern in einer Schule zusam-menzuführen, angemessenes soziales Lernen stattfinde:„Die Begegnung der verschiedenen Sozialschichten in der ge-meinsamen Schule kann vielmehr zur Entdeckung und zumBewußtwerden der sozialen Unterschiede führen. … DieDistanz, die so gegenüber der eigenen Herkunft und den bis-

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her unreflektierten Lebensformen gewonnen werden kann,kann zugunsten einer Individualisierung wirken.“16

Die soziale Begegnung kann „führen“ – nicht der Lehrer.Die Umstände können „zugunsten einer Individualisie-rung“ „wirken“; die soziale Gemeinschaft „wirkt“ – nichtdie Vernunft entscheidet über das, was sie bewirken will.(Wieso ist man sich sicher, dass „die Distanz“ nicht das Ge-genteil „bewirkt“?) So sollte durch neue schulische Ge-wohnheiten der durch die soziale Lebenslage bedingte mä-ßige Schulerfolg kompensiert werden.

In ähnlicher Weise erhofft man sich heute von einer ein-fachen Verlängerung der Tagesschulzeit in der Ganztags-schule einen Bildungseffekt. Angeregt durch soziologischeForschungen, die den Schulerfolg in Abhängigkeit von man-gelnder oder erfolgter Förderung der Eltern bedingt sahen,artikulierte sich die Auffassung, durch geringere Kontakt-zeiten zwischen Kindern und Eltern diese Abhängigkeit zunegieren: „In kaum einem anderen Industriestaat entschei-det die soziale Herkunft so sehr über den Schulerfolg unddie Bildungschancen wie in Deutschland.“17

Die sozialen Umstände, das gemeinsame warme Mittag-essen, eine sinnvoll gefüllte Freizeit, die Isolation von einerkonsumistischen oder sogar gewalttätigen Jugendkultursollten ein Umfeld schaffen, das zumindest negative Ein-flüsse fern-, womöglich aber sogar förderliche Einflüsse be-reithielt. Hier vertraut Bildungsplanung auf die sozialisie-rende Wirkung der Gemeinschaft. Über den Bildungserfolg„entscheidet“ die soziale Organisation der Bildungsprozes-se, nicht das Wollen des Subjekts.

Fraglich ist, ob allein die Organisation und allein dieSchaffung einer neuen Schulgemeinschaft die Macht deraußerschulischen Einflüsse tatsächlich kompensieren kön-nen und entscheidend sind. Zweitens ist fraglich, ob eineGemeinschaft so förderlich auf das Subjekt wirkt, dass esaus eigenem Willen, d. h. langfristig und auch nach Verlas-sen der Schule, sich nicht weiterhin gesellschaftlichen Ein-

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flüssen passiv ausliefert (wie in der Sozialisation gefordert),sondern beginnt, die Einflussnahme der Gesellschaft selbst-bewusst zu steuern und nunmehr aktiv auf die Gestaltungder Gesellschaft Einfluss zu nehmen. Wie kann gefordertePassivität (in der Sozialisation) in die geforderte Aktivität(in der Demokratie) umschlagen?

Unzweifelhaft muss jeder Bildungsprozess die sozialenUmstände mit bedenken, in denen er stattfindet: So musssich jede politische oder pädagogische Artikulation bewusstsein, dass Seh- und Rezeptionsgewohnheiten durch diemassiven Einflüsse der Medienwelt bedingt sind. Empiri-sche Untersuchungen haben gezeigt, dass das Zeitempfin-den und damit die Konzentrationsdauer von Schülern sowieinhaltliche Erwartungen von sozialen Erfahrungen mit demMedium Fernsehen geprägt sind: Die Schnittfolgen – oft un-ter einer Sekunde – und die Aufbereitung aller Themen alsUnterhaltungsstoff haben in der neuen Generation die Re-zeptions- und Erwartungshaltung geschaffen, dass schu-lischer Unterricht mit den vertrauten gesellschaftlichenKommunikationsformen konkurrieren oder ihnen sogarentsprechen muss. Auch inhaltlich sind Vorstellungen vonGeschichte oder Politik, Geschlechterrollen oder sinnvol-len Umgangsformen, von Konfliktlösungsmustern undHandlungsoptionen von medialen Vorerfahrungen be-stimmt. Schulisches Arbeiten ist zudem immer auf das le-bensweltlich erarbeitete Vorwissen bezogen, das förderlichoder hinderlich für weitere Prozesse sein kann.

Jedes Lernen und jedes Handeln ist also durch die sozia-len Umstände bedingt. Allerdings stellt sich eine moderneGesellschaft nicht als homogene Masse dar. Sie ist vielfältigausdifferenziert, so dass Sozialisation allein die nachfol-gende Generation zu ebenso vielfältigen (und d. h. auch fal-schen) Lebensformen führen würde, wie sie in der Gegen-wart zu beobachten sind. Eine Gesellschaft bietet faktischzu viele „Gewohnheiten“ an, um sich darauf verlassen zukönnen, dass alle sich nur an das gewöhnen, was die Gesell-

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schaft zu ihrem Erhalt verlangt. Sie müsste also zumindestentscheiden, woran die nachfolgende Generation gewöhntund sozialisiert wird. Hier ist eine Wertentscheidung der er-ziehenden Generation verlangt.

Welche faktischen Lebensformen sollen zu Gewohnhei-ten werden? Die Beantwortung dieser Frage kann nicht wie-der sozialisationstheoretisch beantwortet werden, weil ge-sellschaftlicher Wandel sonst nicht erklärt werden kann:Warum hat das Gesellschafts- und Erziehungssystem derDDR Menschen hervorgebracht, die eben dieses Systemverlassen oder abschaffen wollten? Moderne Sozialisations-theorien sprechen daher nicht mehr von der Determinationdurch gesellschaftliche Prozesse, sondern von Prozessen derEntstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wech-selseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittel-ten sozialen und dinglich-materiellen Umwelt.18 Damitaber stellt sich die Frage, wie die Persönlichkeit entsteht,die mit der Umwelt interagiert. Auch ein rein soziologi-sches Menschenbild reicht nicht aus, menschliches Han-deln zu erklären und zu planen.

3. Der Mensch als Werk seiner selbst

Pestalozzi zeigte den Menschen in Abhängigkeit von Naturund Gesellschaft, ohne dass er annahm, dass durch solcheTheorien erklärt werden könne, wieso es zu unterschiedli-chen „Natur“-Völkern, zu unterschiedlichen Menschenoder zu technischem und moralischem Fortschritt kommenkann. Wäre der Mensch nur Werk der Natur, dann wäreseine Lebensform ebenso unveränderlich wie die Lebensfor-men in der Natur – wo etwa Vögel oder Ameisen ihre Nes-ter oder Sozietäten immer gleich bauen, ohne dass es wil-lentliche Variationen oder Fortschritt gäbe. Wäre derMensch nur Werk der Gesellschaft, dann würde die Vergan-genheit die Gegenwart bestimmen, eine einmal geschaffene

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Gesellschaft könnte sich nicht von innen verändern. Siewürde an neuen Herausforderungen scheitern, würde äu-ßere Einflüsse immer als Bedrohung empfinden; sie würdenicht dazulernen, sie wäre statisch. Von daher standen seitje Pädagogen, die Sittlichkeit, Perfektibilität oder Fort-schrittssfähigkeit als Ziel der Erziehung ansahen, einer Er-ziehung durch Gewöhnung („Sozialisation“) kritisch gegen-über: „Vieles nämlich tun die Menschen auch wider ihreGewohnheiten und ihre Naturanlage durch die Vernunft,wenn sie sich davon überzeugen, daß es anders besser sei.“19

So formulierte es Aristoteles.Damit wird aber die Vernunft zur zentralen Erziehungs-

macht bestimmt. Zwar kann diese nicht ohne Berücksichti-gung natürlicher Bedingtheiten ihre Entscheidungen fällen;zwar ist Vernunft durch die technischen, sozialen und geis-tigen Umstände der Gesellschaft stets sozial und zeitlichverhaftet – gleichwohl geht die Vernunftleistung nicht inAnpassung an Natur und als Sozialisation in die Gesell-schaft auf. Die Vernunft kann von den Abläufen in Naturund Gesellschaft auswählen, sie kann sich zwischen Alter-nativen entscheiden, wenn sie davon überzeugt ist, daß esanders besser ist. Aber wie gelangt der Mensch zu dieserÜberzeugung?

Pestalozzi leitet mit dieser Frage in die Konzeption sei-nes dritten Menschenbildes über: „Als Werk meiner Selbsterhebe ich mich selbst über den Irrthum und das Unrechtmeiner Selbst, insofern ich ein Werk der Natur, und einWerk des Geschlechts bin, das ist, ich erkenne durch dieKraft meines Gewissens das Unrecht meiner thierischenNatur und meiner gesellschaftlichen Verhärtung.“20

Zusätzlich zu seiner Bestimmung als Naturwesen undals Gesellschaftswesen bedarf es einer Bestimmung desMenschen als Vernunftwesen, und zwar dergestalt, dassdie Vernunft die Natur zumindest erkennen, auswählenund nutzen kann und dass sie die Gesellschaft bewertenmuss: „Als Werk meiner Selbst, stelle ich mir … [Welt] un-

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abhängig von der Selbstsucht meiner thierischen Natur undmeiner gesellschaftlichen Verhältnisse, gänzlich nur in demGesichtspunkt ihres Einflusses auf meine innere Verede-lung vor.“21

Das dreifache Menschenbild ist bei Pestalozzi nicht drei-fach in dem Sinne, dass alle drei Wirkmächte gleich wirken.Vielmehr schreibt Pestalozzi der Vernunft die Oberhoheitzu. Zu unterscheiden wären also die Bedingtheiten desMenschen, Natur und Gesellschaft, und die Bedingungenseines Handelns, nämlich Vernunft: „Ich habe daher alsWerk der Natur eine thierische, als Werk des Geschlechtseine gesellschaftliche, und als Werk meiner Selbst eine sitt-liche Vorstellung von Wahrheit und Recht. Mein Instinktmacht mich zum Werk der Natur. Der gesellschaftliche Zu-stand zum Werk meines Geschlechts, und mein Gewissenzum Werk meiner Selbst.“22

Die Vernunft kann beides erkennen, Natur und Gesell-schaft, (in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften)und sie ist es, die den Menschen in ein Verhältnis zu seinenBedingtheiten (Natur und Gesellschaft) versetzt. So kannman sich der Natur unterwerfen oder aber ihre Gesetz-mäßigkeiten nutzen; so kann man Gewohnheiten überneh-men, gute wie schlechte, oder aber neue sinnvolle Lebens-formen schaffen.

Vernunft heißt in theoretischer Hinsicht, dass die Erkun-dung von Natur und Gesellschaft nicht vorgegeben ist, son-dern aus eigenem Willen, mit eigenem Zweck und mit eige-nen Methoden erfolgen kann. Die theoretische Vernunftkann sich Erkenntnisziele und -zwecke setzen und sie zuerreichen suchen. Eben diese Einsicht löste den gewaltigenFortschritt in den Wissenschaften und schließlich die mo-derne Technik aus. Der Mensch kann die Natur nutzenund die Gesellschaft gestalten. Dazu braucht er die Ver-nunft. Die praktische Vernunft prüft die Geltung von Hand-lungsregeln und sucht nach intersubjektiven Begründungs-formen für ethisches Handeln. Erst dann können Menschen

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und Kulturen in einen ethischen Kontakt treten, wenn dif-ferente (kulturelle) Gewohnheiten an allgemeinen vernünf-tigen sittlichen Maximen überprüft werden.

Nun allerdings fragt sich, wie denn diese autonome Ver-nunft zum Bewusstsein ihrer selbst kommen kann. Naturund Gesellschaft passen nicht vorab harmonisch zur Ver-nunft. Wachsenlassen und Gewöhnung können also geradedas nicht hervorbringen, was die Moderne verlangt: Diesinnvolle Erforschung der Natur und den sittlichen Um-gang mit ihr und den Mitmenschen.

Da die Vernunft beim Menschen nicht schon von Geburtan vorhanden ist, muss zudem erklärt werden, wie sie sichbildet. Würde sie von außen gebildet, durch einen Lehrer et-wa, dann wäre sie ja nicht autonom, sondern von der Will-kür des Lehrers abhängig. Eine durch einen Lehrer gebildeteVernunft würde den Menschen letztlich doch zum Werk derGesellschaft erklären. Käme aber diese Vernunft ohne einenLehrer zu sich selbst, dann wäre sie naturhaft im Menschenangelegt – und der Mensch wäre Werk der Natur. Dem Leh-rer käme nur noch die Rolle zu, diesen Gang der Naturnicht zu behindern, also das Kind vor sozialen Störungenzu schützen.

Angesichts der Autonomie der Vernunft stößt die päda-gogische Theorie an ein Paradox, das das naturalistischeMenschenbild ebenso wenig kennt wie das soziologistischeMenschenbild. Aus den vorgetragenen Gründen kann diePädagogik den Menschen weder als Werk der Natur nochals Werk der Gesellschaft auffassen. Fasst sie ihn aber alsWerk der Vernunft auf, so kann sie nicht erklären, wie dieseVernunft zustande kommt.

Bereits Thomas von Aquin hat auf dieses Paradox hinge-wiesen: „Zum Wissen sind nur das Licht des Verstandesund die Wesensformen der Dinge erforderlich. Aber keinesvon beiden kann in einem Menschen von einem anderenverursacht werden, da sonst der Mensch etwas erschaffenmüßte; denn solcherart einfache Formen können wohl nur

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durch Schöpfung hervorgebracht werden. Also vermag derMensch in einem anderen kein Wissen zu verursachen undihn folglich auch nicht zu unterweisen. (…) Nur Gott kannden Geist des Menschen bilden, wie Augustinus sagt. Wis-sen ist aber eine bestimmte Form des Geistes; also ver-ursacht allein Gott in der Seele das Wissen.“23

Das dritte Menschenbild, das den Menschen als Werkseiner selbst auffasst, führt zu einem Paradox: Wieso kanndas Ich „sich bilden“, wenn es zur Bildung schon „Ich“sein müsste?

Diese paradoxe Situation jeder Erziehung kennzeichnetzumindest jene moderne Pädagogik, die der Aristotelischen,Rousseauschen oder Pestalozzischen Unterscheidung folgt,in ihrer Substanz und Struktur: Bildung wird nunmehr ver-standen als altersbezogene Aufforderung zu etwas, was derAufgeforderte nur aus Gehorsam einem „Selbst“ gegenübererbringen kann, das es ohne die anderen gar nicht gäbe, abervon ihnen nicht hergestellt werden kann.

Die Frage ist, wie dieser Gehorsam entstehen kann: Wiesoll jemand lernen, dem zu gehorchen, was er selbst einge-sehen hat? (Für das Lernen muss er doch schon gehorsamsein, d. h. seiner Vernunft folgen.) Warum hält ein Menschsich an das, was er für vernünftig hält? Warum befolgt erethische Regeln, die von seiner Vernunft gefunden wurden?

Die Frage, warum es vernünftig ist, der Vernunft zu fol-gen, kann vernünftig nicht beantwortet werden, ohne dassdie Antwort tautologisch wäre. Die schnellen Antworten,etwa jene, dass der Vernunftgebrauch vernünftig sei, weiler sich naturhaft am meisten bewährt habe (Konrad Lorenz)oder weil andernfalls Gesellschaft nicht funktioniere(Emile Durkheim), setzt ja die Gültigkeit dessen voraus,was erst noch begründet werden soll: Dass die vernünftigeBeurteilung der Welt vernünftig sei.

Der unendliche Erkenntnisfortschritt und der Schutz desMenschen vor Willkür und illegitimer Gewalt stoßen aus-gerechnet an ihrer Geltungsquelle auf ein Problem: Die Ver-

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nunft muss als gültig voraussetzen, was sie doch erst nochbegründen müsste, den Menschen als Werk seiner selbst zuverstehen. Vernunft kann sich ohne Regress ins Unendlichenicht selbst inaugurieren. Auch die Frage nach den Motivenethischen Handelns kann nicht wieder ethisch begründetwerden – denn die Frage nach der Gültigkeit von Ethik stehtja auf dem Prüfstand.

Warum ist es also sinnvoll, nach Wahrheit zu suchenund sittlich zu leben? Würde man diesen Sinn von außenstiften oder setzte ihn als immer schon gegeben voraus,wäre der Mensch heteronom – und müsste gar nicht nachSinn fragen. Verzichtete man auf eine Antwort in der Fragenach dem Sinn, wäre menschliches Handeln nicht rational,weil Handeln letztlich nicht begründet würde.

Sinn kann aber nicht selbst gesetzt werden, weil derMensch dann in ein sich selbst Sinn gebendes und ein vonsich selbst Sinn empfangenes Wesen zerfallen würde – undzu fragen wäre, woher denn die sinngebende Hälfte ihre Op-tion gewinnt, Sinn zu setzen: Warum ist es sinnvoll, Sinnzu geben? Wiederum ein Regress ins Unendliche.

Am Ende der alteuropäischen Emanzipationsbewegung,die den einzelnen Menschen von den magischen Mächtender Natur und den Willkürmächten der Gesellschaft befreitund zum Werk seiner selbst erklärt, steht die Orientie-rungslosigkeit, die dadurch ausgelöst wurde, dass geradedie doch alles fundierende Frage nach dem Sinn des eigenenHandelns nicht mit jener Vernunft beantwortet werdenkann, die diese Frage aufgespürt und nach der Beantwortungder Frage verlangt hatte. Der auf sich selbst gestellteMensch, der Mensch als Werk seiner selbst, steht vor demParadox, sich selbst schaffen zu müssen, aber keinerlei Re-geln dafür zu haben, wie, wozu oder warum er sich schaffensoll. Sinn kann man nicht selber finden, weil man ihnschon haben muss, um auf die Suche nach ihm zu gehen:„Wozu soll ich Sinn finden?“ „Warum ist ein sinnloses Le-ben nicht sinnvoll?“ Der Paradoxien ist kein Ende.

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Auch das dritte Menschenbild von Pestalozzi kann theo-retisch nicht befriedigen. Es kann seinen Grund nicht ange-ben.

4. Der Mensch als Werk Gottes

Die Grenze der Vernunft kann nicht überschritten werden.Sie kann von der Vernunft aufgezeigt, aber nicht aufgelöstwerden, weil ihr Überschreiten entweder unvernünftigwäre oder die Vernunft doch einem fremden Auftrag unter-stellen würde. Beide Male verlöre sie das, was sie auszeich-nete: In allem, was sie von sich gibt, intersubjektiv und ra-tional überprüfbar zu sein.

Offensichtlich reicht die seit der Antike bekannte Drei-stufigkeit bei der Betrachtung des Menschen nicht aus, umdas vernunftgemäße Handeln des Menschen ganz beschrei-ben zu können. Die Vernunft bedarf einer äußeren Amts-einsetzung („Inauguration“); die praktische Vernunft bedarfeiner „Motivation“, die von der Vernunft zwar eingefordertaber nicht geschaffen werden kann.

Pestalozzi formulierte diesen Umstand folgendermaßen –und leitet so implizit zu einem religiösen Menschenbildüber: „Da er aber als Werk seiner selbst nichts anderes ist,als sein inneres Urtheil von der Wahrheit und dem Wesenseiner selbst, so ist es klar, er rettet sich nur durch eine Ge-müthsstimmung, die mit derjenigen, auf welcher das We-sen der Religion ruhet, die nämliche ist, von der Gefahr imgesellschaftlichen Zustand gegen das Verderben seiner thie-rischen Natur, wesentlich kraftlos zu erscheinen, und fin-det nur durch eine solche Gemüthsstimmung wirklicheMittel, die Widersprüche, die in seiner Natur zu liegenscheinen, in sich selbst aufzulösen und unwirksam zu ma-chen. … [E]r sezt die Macht seines Willens der Macht seinerNatur entgegen. Er will einen Gott fürchten, damit er nachdem innersten Urtheil seiner selbst für sich selbst recht

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thun könne. Er fühlt was er kan, und macht sich das was erkan, zum Gesetz dessen, was er will. Diesem Gesez, das ersich selbst gab, unterworfen, unterscheidet er sich vor allenWesen, die wir kennen.“24

Um den Menschen in seinem Handeln ganz beschreibenzu können, bedarf es nicht nur der Erkenntnis der Natur,der Gesellschaft und der Vernunft. Es bedarf der Erkenntnisdessen, was das Erkennen sinnvoll macht und daher zu Er-kenntnis und Vernunft motiviert.

An der europäischen Geistesgeschichte ließe sich zeigen,dass das Christentum diese Aufgabe der „Motivation“ undInauguration übernommen hat und übernehmen kann.Dies soll im folgenden Kapitel kurz – und bezogen auf dieBildungstheorie – nachgezeichnet werden.

a. Die geistesgeschichtliche Antwort

Mit dem Christentum kam ein neuer Gedanke ins alteuro-päische Denken. Es soll gar nicht behauptet werden, dassdieser Gedanke nicht auch außerhalb des Christentums for-muliert wurde, aber geistig und sozial weltweit wirkmäch-tig wurde er erst im Christentum. Es ist der Gedanke derGottesebenbildlichkeit und damit unhintergehbaren Würdeeines jeden einzelnen Menschen.

Aristoteles hatte Bildung nur für die Bürger vorgesehen.Frauen und Sklaven waren ausgeschlossen; sie wurden le-diglich ausgebildet. Das Neue Testament lässt diese antikeUnterscheidung, die durch Rückgriff auf ein naturalisti-sches Menschenbild begründet wurde, nicht zu: „Was ihrnicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habtihr mir auch nicht getan.“25 Alle Menschen sind unabhän-gig von ihrer biologischen Beschaffenheit oder sozialen Stel-lung gleich nah zu Gott, der Gesunde wie der Kranke, derSünder wie der Hohepriester, der Ungläubige wie das Kind.Jeder Mensch ist zu jeder Zeit als von Gott geschaffen anzu-sehen, jeder Mensch hat eine Seele, von seiner Zeugung an.

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Dieses Menschenbild revolutioniert u. a. die Pädagogik –denn nun lässt sich nicht mehr begründen, warum es Bil-dung nur für die politische Elite und Ausbildung für dieSklaven geben soll – und warum Mädchen von der Bildungausgeschlossen sein sollen. Die am christlichen Menschen-bild ausgerichtete Bildungsidee hatte also soziale Kon-sequenzen, auch wenn es keine Inhalte generierte.

Und die inhaltliche Seite? Woraufhin und mit welchenInhalten erzieht man denn? Aristoteles hatte eine einfache,klare Antwort: Man erzieht den männlichen Elitenach-wuchs dazu, nützliche Bürger des Staates zu werden. Dasgute Funktionieren des Staates war das Ziel der Erziehung.

Das Christentum tat sich schwer mit einer solchen Ziel-angabe. Es hatte bis zu Konstantin dem Großen erlebt, dassein gut funktionierender Staat auch bedeuten kann, einegut funktionierende Einschüchterungs- und Vernichtungs-maschine zu besitzen: Die Christenverfolgungen hattendas ja schmerzhaft gezeigt. Bis in die Gegenwart sieht sichdas Christentum auch in Distanz zu staatlichen Ordnungs-systemen. Irdisches Recht und göttliche Gerechtigkeit sindnicht apriori identisch (wie es das Menschenbild, das denMensch als Werk der Gesellschaft versteht, voraussetzt).Und der Sinn des Lebens geht nicht im Zweck des Staatesauf: „Und welchen Nutzen hätte der Mensch, ob er dieganze Welt gewönne, und verlöre sich selbst oder beschä-digte sich selbst?“26

Irdischer Erfolg und Seelenheil sind nicht zwangsläufigidentisch. So heißt es bei Lukas: „Denn nach all diesen (ir-dischen Dingen) trachten die Völker der Welt; euer Vateraber weiß, dass ihr dieser Dinge bedürft. Vielmehr suchetzuerst und vor allem sein Reich, dann wird euch dieses hin-zugefügt werden.“27 Wer nur nach augenblicklichem Nut-zen fragt, verliert womöglich die Wahrheit aus dem Ge-sichtsfeld. Wer aber nach Wahrheit sucht, der wird aufdem Weg dorthin auch Nützliches finden.

Der, der sich allein an den Geboten der Nützlichkeit ori-

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entiert, würde den gesellschaftlichen Erfolg als letztes Zielsetzen: Er sähe den Menschen als Werk der Gesellschaft, dieer absolut setzt. In einem solchen Menschenbild ist Reli-gion eine Funktion der Gesellschaft, Gott eine Erfindungdes Menschen. Der religiös Gebildete hingegen kennt dieunterschiedlichen Optionen der Gesellschaft – und ent-scheidet sich dann für das, was vernünftig ist.

Diese Überlegung klingt in den Worten an, die der Evan-gelist Lukas Jesus in den Mund legte: „Denn nach all diesen(irdischen Dingen) trachten die Völker der Welt; euer Vateraber weiß, dass ihr diese Dinge bedürft. Vielmehr suchet zu-erst sein Reich, dann werden euch die irdischen Dinge mithinzugefügt werden.“28

Das christliche Menschenbild generiert keine Inhalte,sondern befragt kulturelle Inhalte daraufhin, ob sie dasMenschliche (Natur und Gesellschaft) absolut, d. h. an Got-tes statt setzen. Solche Auffassungen kann es nicht tole-rieren.

Und im Moralischen? Die faktische Sitte muss nichtsittlich sein. Die Orientierung an der Sitte (die Erziehungdurch Gewöhnung) hätte ebenfalls ein soziologisches Men-schenbild zur Grundlage und würde die Gesellschaft abso-lut und als letzten Geltungsgrund setzen. Die religiös be-gründete Moral käme nicht von Gott, sondern sie wärevon den Menschen gemacht. Wenn Menschen aber dasEbenbild Gottes sind, dann sind sie nicht auf Gewohnheit,Gesellschaft und Sitte, sondern zuletzt und letztendlich aufGott verpflichtet.

Das christliche Menschenbild generiert auch keine mo-ralischen Inhalte, sondern befragt Sitten und Ethiken da-raufhin, ob sie das Menschliche (Natur und Gesellschaft)absolut, d. h. an Gottes statt setzen. Solche Auffassungenkann es ebenfalls nicht tolerieren. Der religiöse Menschmuss darüber nachdenken, was denn Ziel von Handlungensein kann. Etwas ist nicht gerecht, weil es als gerecht gilt,sondern es soll gelten, weil es gerecht ist.

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Also sind nicht ein funktionierender Staat, geltendesRecht und weltlicher Erfolg letzte Ziele des gottgefälligenLebens, sondern das Bemühen um Wahrheit, Sittlichkeitund Schönheit. Die Suche nach Wahrheit und Sittlichkeitwird zum Spezifikum des christlichen Menschenbildes,nicht die Deklaration von Wahrheiten und Normen: Jedemenschliche Lösung (auch die der Vernunft) kann ange-sichts des Göttlichen nur vorläufig sein; sie muss ihreMacht angesichts dieser ihrer Vorläufigkeit entfalten; siemuss sich nicht einem Ideal, sondern einer Ideeverschreiben – eben der göttlichen, d. h. der Orientierungam Besseren: Gott, sagt Augustinus, sei die Wahrheit, dasGute und das Schöne: „Und dein Gesetz ist die Wahrheit,und die Wahrheit, das bist du.“ – und nicht menschlicheAnnahmen von Richtigkeit. „Denn keine Seele konnte et-was denken oder wird je etwas denken können, das besserwäre als du, der du das höchste und beste Gute bist.“29

All diese auf den menschlichen Entwicklungsprozess be-zogenen Folgerungen aus neutestamentlichem Grundnannte Meister Eckart am Ausgang des Mittelalters „Bil-dung“.30 Nur die Ideen des Guten, Wahren und Schönen eig-nen sich als oberstes Ziel der Bildung. Alles andere wäreAuflehnung gegen oder Abwahl von Gott.

Der bei Paris lehrende Flame Hugo von St. Viktor(1097–1141) drückt es im 11. Jahrhundert so aus: „Zwei Mo-mente sind es, welche die Gottähnlichkeit im Menschenwiederherstellen, die Schau der Wahrheit und die Übungder Tugend, denn der Mensch ist darin Gott ähnlich, dasser weise und rechtschaffen ist, doch jener ist es auf ver-änderliche (also „bildsame“, V.L.), dieser auf unveränderli-che Weise.“31

Dass hier ein flämischer Franzose zitiert werden kann,zeigt, dass diese Auffassung von Bildung keineswegs aufden deutschen Sprachbereich begrenzt war – wie immer be-hauptet wird. Das christliche Menschenbild hatte in derBildungstheorie universalen Anspruch.

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Der Regensburger Bischof Johann Michael Sailer hat die-sen am Ende des 18. Jahrhunderts noch einmal systema-tisch bestätigt: „Die Erziehung ist so rein von aller Selbst-sucht, dass sie den Zögling aus dem Zögling, nicht ausdem Erzieher entwickeln, und durch Entwickelung nur dasGöttliche – nicht sich selber verherrlichen will.“32

Den Zögling aus dem Zögling entwickeln – d. h. dieWürde des Einzelnen nicht dem Zweck der zufälligen Ge-sellschaft opfern, das müsse christliche Bildung anstreben.150 Jahre zuvor hatte der tschechische Kirchenmann AmosComenius genau so die Leitlinie der modernen Schule fest-gelegt: Da niemand Gottes Plan kenne, dürfe niemand Kin-der so erziehen, wie er sich das wünsche, sondern immernur nach Gottes Plan. Dieser sei aber menschlicher Verfüg-barkeit enthoben. Deshalb müsse ein Bildungssystem so ge-staltet sein, dass alle alles allseitig lernen. Nur so könne dasUnendliche (Göttliche) zeithaft (menschlich) organisiertwerden.33

Wenn also einzig die Ideen des Wahren (heute in der Wis-senschaft angesiedelt), des Guten, (heute in der Ethik for-muliert) und des Schönen (heute in den Künsten aus-gedrückt) und die Unverfügbarkeit des Menschen (heuteim Konzept der Individualität und der Demokratie ange-strebt) Ziele von Bildung sind, dann kann man von Unter-richt und Erziehung im Sinne des christlichen Menschen-bilds sprechen. Dann achten Pädagogen im Umgang mitden Menschen Gott. Dann achten sie Gott, dessen Sinnvor-gabe alle menschlichen Zwecksetzungen sich unterordnensollen.

b. Die systematische Antwort

Das christliche Menschenbild, wie es hier in einigenAspekten zu rekonstruieren versucht wurde, löst das Para-dox einer vernünftigen Begründung der Vernunft, das Para-dox einer sittlichen Begründung der Sittlichkeit, indem es

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an den Anfangsgrund nicht die Entscheidung eines Men-schen sondern sein Verwiesensein auf einen Schöpfergottstellt. Dieser schuf, nach Genesis 1,1ff., die Sprache, ausder die Welt entstand; dieser gab die Gesetzestafeln, auf des-sen Stiftungsakt der Gedanke der Gerechtigkeit entstand.Die Motivation, sich an Sprache und Moral zu halten, oblagnicht menschlicher Willkür, sondern war gemäß dieser Tra-dition vor die menschliche Willkür gesetzt, so dass derMensch zwar selbstverantwortlich war in dem Bemühenum Vernunftgebrauch und Sittlichkeit – nicht aber in derHerausforderung, sich diesen Aufgaben zu stellen. Wahr-heit und Sittlichkeit sind nicht gegeben (offenbart) – aberzwingend durch die Offenbarung aufgegeben.

Zugleich hat diese – wie jede – historische Rekonstruk-tion ein Problem: Sie kann als kontingent abgelehnt werden.Zwar mag es so sein, dass es eine Politik (oder Pädagogik)gibt, die sich dem christlichen Menschenbild verpflichtetfühlte – aber ist diese Verpflichtung mehr als nur individuell,zufällig, persönlich bedingt? Ist sie nur möglich – aber nichtnotwendig? Zugleich ist jede geistesgeschichtliche Rekons-truktion nur ein Blick auf die Vergangenheit; andere Rekons-truktionen kämen vielleicht zu anderen Ergebnissen. Ge-schichtsschreibung (= Rekonstruktion) ist das Ergebnis vonMethode. Die Methodenlehre der Geschichtsschreibungkann aber nicht zum Rechtsgrund für die Gültigkeit von so-zialen oder politischen Aussagen werden.

So ist zu fragen: Ist die christliche Lösung des Vernunfts-und damit Erziehungsparadox‘ universal? Wenn sie diesnicht ist, dann wäre das christliche Menschenbild nur einmögliches Menschenbild unter vielen, das dem Zufall vonMehrheitsbeschlüssen ausgesetzt wäre. Menschen könntensich zu ihm bekennen, sie könnten ihre Entscheidung abernicht begründet vertreten. Ist das christliche Menschenbildalso lediglich Tradition, Gewohnheit, Meinungsache unddamit kontingent? Zu fragen ist daher, ob sich dieses Men-schenbild nicht auch (jenseits von Geschichtsschreibung)

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systematisch begründen lässt. Ist die Entscheidung zumchristlichen Menschenbild eine kulturelle, eine geschicht-liche oder aber eine notwendige Entscheidung?

5. Der Mensch als Wirken

Allzu verständlich ist der Wunsch der Menschen, feste, dieZeiten überdauernde Regeln für ihr Handeln zu besitzen.Solche Regeln haben Menschen zuweilen in der Natur ge-sucht, freilich mit der Folge, sich der Natur zu unterwerfenund ihre Sonderstellung in der Natur aufzugeben. SolcheRegeln haben die Menschen in den soziologisch beschreib-baren Mechanismen der Gesellschaft gesehen, freilich mitder Konsequenz, Gesellschaft gar nicht mehr vernünftig ge-stalten zu können. Beide Entmächtigungen des Menschen,beide Versuche, den Menschen von Verantwortung zu ent-lasten, stoßen auf die Einsicht des Menschen in seine Ver-antwortung. Er kann die Verantwortung für sein Handelnwahrnehmen, weil er um sie weiß. Mit diesem Wissen istaber noch kein Sollen begründet; es kann auch nicht be-gründet (motiviert) werden, weil es zur Begründung dessenbedarf, was begründet werden sollen. So gibt es auf die Fragenach dem Sinn keine andere Antwort, als die Suche nachSinn in der nur zu glaubenden Gewissheit zu betreiben,dass es diesen Sinn gibt. Es gibt keinen rationalen Grund,Sinn anzunehmen; aber man muss ihn in allem Handelnvoraussetzen – und man setzt ihn (psychologisch und phi-losophisch betrachtet) in allem Handeln voraus. Handelngeschieht immer unter Sinnoption.

Diese Frage nach der letzten Sinnoption wird von derVernunft, die nach Gründen und Zwecken fragt, aufgewor-fen. Sie kann sie unterschiedlich beantworten – aber ersteine Antwort, die außerhalb der Verantwortung der Ver-nunft liegt, hält den Regress ins Unendliche auf.

Anders formuliert: Motiv, sich an die Vernunft zu halten

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und moralisch sein zu wollen, ist ein Vertrauen in die Welt.Man kann dies als religiöses Urvertrauen bezeichnen. Ohnedieses Urvertrauen zur Welt hätte menschliches Handelnletztlich keinen Sinn, wäre es motivlos. Insofern ist jederMensch aufgefordert, sich dieser Herausforderung seinerVernunft zu stellen – jeder Mensch ist in diesem Sinne in-nerhalb eines religiösen Diskurses.

Religion gibt es aber nicht als eigene Diskursform. Reli-gion ist immer gebunden an historische oder auratischeÜberlieferungen, an Vollzüge inhaltlicher Art. Religion er-scheint immer als Konfession, als Bekenntnis zu einemkonkret Geglaubten. So kann man sagen, dass zwar der Ver-weis auf Transzendenz jedem Menschen eignen ist, dernach Gründen der Geltung vernünftigen Handelns und derMotivation zu sittlichem Handeln fragt. Wie aber dieserVerweis gedacht und gelebt wird, kann unterschiedlichsein. Das Christentum ist eine von vielen „Möglichkeiten“.Das christliche Menschenbild ist also ein Beispiel für jeneallen Menschen gestellte Herausforderung, nach dem Sinnihres Tuns zu fragen, die anders als in Beispielen gar nichterfahren werden kann.

Das Christentum ist als Vollzug ein Symbol vernünfti-gen Fragens. Sein über die Konfessionalität hinausweisen-der Charakter besteht darin, Lösung für ein Problem zusein, das anders als durch Glaubensakte nicht gelöst wer-den kann. Der Glaube ist das Letzte, er kann aber vomMenschen nicht als das Letzte gesetzt werden. Dannstünde er im Widerspruch zu sich selbst. Der moderneStaat kann also das christliche Menschenbild nicht setzen;er kann es aber – in dem beschriebenen Sinne als Beispiel –voraussetzen.

Das Christentum ist gelebtes Beispiel für ein voraus-gesetztes, aber nicht darstellbares Allgemeines; nicht indem Sinne, dass es Vorbild für andere wäre. Dies mag sosein, ist aber eher eine geisteswissenschaftliche Betrach-tung. Das Christentum ist gelebtes Beispiel für ein All-

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gemeines in dem Sinne, dass an seinem Beispiel etwas All-gemeines gezeigt werden kann:– Dass erstens die Vernunft sich weder der Natur noch der

Kontingenz der Gesellschaft unterordnen darf. Einchristliches Menschenbild müsste sich z. B. gegen jenepädagogischen Versuche wehren, die glauben, richtigespädagogisches Handeln aus der Natur ableiten oderdurch die Wirkmechanismen der Gesellschaft ersetzenzu können. Handlungsgründe sind weder Natur nochGesellschaft: in einem christlichen Menschenbild istdie Vernunft letzter irdischer Handlungsgrund.

– Zweitens zeigt das christliche Menschenbild aber, dassVernunft auf der anderen Seite der Selbstbeschränkung,der Selbstrelativierung, der Demut also bedarf.34 Undzwar so, dass wir beim Handeln eingedenk sind, dass un-sere Handlungsgründe nicht die letzten sind, die man an-nehmen muss. Das betrifft auch den Versuch, das Chris-tentum darzustellen.

Das christliche Menschenbild steht in Differenz zu natura-listischen, sozial-deterministischen und kognitivistischenMenschenbildern. Es sieht den Menschen weder nur alsWerk der Natur, noch nur als Werk der Gesellschaft undletztlich auch nicht nur als Werk seiner selbst an.

Das christliche Menschenbild sagt allerdings nicht, wiewir innerweltlich handeln sollen: Es sagt aber, dass wirhandeln sollen. Es negiert die Verantwortungslosigkeitdurch die Verschiebung menschlicher Verantwortung andie Natur, an die Gesellschaft oder an eine sich absolut set-zende Vernunft.

Das christliche Menschenbild verweist den Menschendarauf, sich nicht schon als Werk – Werkstück, Endpunkt –von etwas zu begreifen, sondern als beauftragt, in seinemWirken etwas zu schaffen. Der Mensch ist in dieser Sichtweder Werkstück noch Bild, er ist zum Wirken genötigtund daher dazu, sich stetig zu bilden. Diese Dynamik ist

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durch irdisches Maß nicht zu begrenzen – sie ist auf Gottausgerichtet, also unbegrenzt. Sie wehrt sich aber gegenalle Versuche, menschliches Wirken als letztlich durch dieNatur oder die Gesellschaft bestimmt anzusehen.

Anmerkungen1 Johann Heinrich Pestalozzi: Meine Nachforschungen über denGang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts. Zü-rich 1797, S. 56.2 Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung. (1762). Hg.eingel. u. mit Anm. versehen von Martin Rang. Unter Mitarb. desHg. aus dem Franz. v. Eleonore Sckommodau. Stuttgart 1970, S.109f.3 Aristoteles: Politik. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl(…) hg. von Nelly Tsouyopoulos und Ernesto Grassi. München1965, S. 254 (= VII,13/1332b).4 Pestalozzi: Nachforschungen, S. 170.5 Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Der vorprogrammierte Mensch. DasErerbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten.Wien u. a. 1973.6 Matt Ridley: Die Biologie der Tugend. Warum es sich lohnt, gut zusein. Aus dem Englischen von Angelus Johansen und Anne Wei-land. Berlin 1997, S. 20f.7 Manfred Spitzer: Lernen: Medizin für die Schule. Ein Extrakt, in:Ders.: Lernen. Die Entdeckung des Selbstverständlichen. Eine Do-kumentation von Reinhard Kahl (Archiv der Zukunft). Weinheim2006, S. 51–62, hier S. 60. Wenn die Formulierung „Bedingungen ge-glückten Lernens“ wörtlich zu verstehen ist, setzte sie eine geistes-wissenschaftliche Bestimmung dessen, was „geglücktes Lernen“denn ist, voraus. Dann freilich wäre die Hirnforschung der Geistes-wissenschaft nachgeordnet.8 Eberhard Schockenhoff: Wer oder was handelt? Überlegungenzum Dialog zwischen Neurobiologie und Ethik, in: Günter Rager(Hg.): Ich und mein Gehirn. Persönliches Erleben, verantwortlichesHandeln und objektive Wissenschaft. München 2000, S. 239–287,hier S. 250.9 Die Abschaffung der Ganztagsschule im wilhelminischenDeutschland erfolgte nach massiven Warnungen von Medizinern,dass zu lange Lern- und schulische Anwesenheitszeiten Kinder in

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der freien Entfaltung ihrer natürlichen Kräfte behinderten. Vgl. Ha-rald Ludwig: Entstehung und Entwicklung der modernen Ganztags-schule in Deutschland. Studien und Dokumentationen zur deut-schen Bildungsgeschichte. Hg. vom Deutschen Institut fürInternationale Pädagogische Forschung. Bd. 51, 2 Teilbände. Kölnu. a. 1993.10 Vgl. Volker Ladenthin: Hirnforschung und Pädagogik. In: Viertel-jahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 86 (2010) 1, S. 3–14.11 Pestalozzi: Nachforschungen, S. 170.12 Ebd., S. 107.13 Ebd., S. 89.14 Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftlicheKonstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/Main 1969 (Original:The social construction of reality: a treatise in the sociology ofknowledge. Garden City, New York 1966).15 Vgl., Emile Durkheim: Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vor-lesung an der Sorbonne 1902/1903. Frankfurt/Main 1984, S. 37–55.Hier zitiert nach Franzjörg Baumgart (Hg.): Theorien der Sozialisati-on. Bad Heilbrunn 1997, S. 44–55, hier S. 49f. [Hervorhebung durchden Autor].16 Deutscher Bildungsrat: Einrichtung von Schulversuchen mit Ge-samtschulen [1970], in: Harald Ludwig (Hg.): Gesamtschule in derDiskussion. Bad Heilbrunn 1981, S. 25–54, hier S. 37.17 Vgl. Homepage des BMBF (http://www.ganztagsschulen.org/110.php, Abruf: 13. Juni 2012) [Hervorhebung durch den Autor].18 Vgl. Ulrich Bauer/Klaus Hurrelmann: Sozialisation, in: Heinz El-mar Tenorth/Rudolf Tippelt (Hg.): Beltz Lexikon Pädagogik. Wein-heim u. a. 2007, S. 672–675.19 Aristoteles: Politik.20 Pestalozzi: Nachforschungen, S. 172.21 Ebd., S. 171.22 Ebd., S. 171f.23 Thomas von Aquin: Über den Lehrer/De Magistro. Übersetzt undkommentiert von Gabriel Jüssen, Gerhard Krieger und J. H. J.Schneider. Hamburg 1988, Kap. 14–15.24 Pestalozzi: Nachforschungen, S. 180f. [Hervorhebung durch denAutor].25 Matthaeus 25,45.26 Lukas 9,25.

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27 Ebd., 12,30.28 Ebd.29 Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. [um 400] Mit einer Einlei-tung von Kurt Flasch. Übersetzt, mit Anmerkungen versehen undherausgegeben von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Stuttgart1998, S. 102 (IV,14) und S. 173 (VII,6).30 Ernst Lichtenstein: Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs vonMeister Eckhart bis Hegel. Heidelberg 1966.31 Hugo von St. Viktor: Didascalicon. Zitiert nach Eugenio Garin:Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik. Bd. I.Reinbek 1964, S. 164–208, hier S. 178.32 Johann Michael Sailer zitiert nach Aloysius Regenbrecht: JohannMichael Sailers „Idee der Erziehung“. Eine Untersuchung zur Ein-heit des Erziehungsbegriffs. Freiburg/Breisgau 1961, S. 120.33 Volker Ladenthin: Jan Amos Comenius, in: Ders. (Hg.): Philoso-phie der Bildung (Klassiker Denken 4). Bonn 2007, S. 105–107.34 Heinrich Kanz: Seinsdemut. Erziehungsphilosophische Aspektezu einer erzieherischen Grundhaltung. Frankfurt/Main u. a. 1986.

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