Upload
duongkhuong
View
220
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
0
CARL-VON-OSSIETZKY-GYMNASIUM (BERLIN)
Gesa Schwartz‘ Erzählung
„Das Herz in der Dunkelheit“ – eine Geschichte in der Tradition des
romantischen Kunstmärchens?
Besondere Lernleistung
Swantje Niemann
Abgabetermin
10.01.2014
Überarbeitung für die Veröffentlichung abgeschlossen am
19.05.2014
1
INHALTSVERZEICHNIS
I. Einleitung 2
II. Die Romantik und das romantische Kunstmärchen 3
II.1 Die Literaturepoche der Romantik und der Anspruch
romantischer Poesie 3
II.2 Das romantische Kunstmärchen 4
III. „Das Herz in der Dunkelheit“ 6
IV. „Das Herz in der Dunkelheit“ im Vergleich zu romantischer
Literatur 8
IV.1 Vergleichsaspekt Handlung 8
IV.2 Vergleichsaspekt Figurenkonzeption 9
IV.3 Vergleichsaspekt Themen und Motive 12
V. Stellungnahme zur Themenfrage 21
VI. Quellen- und Literaturverzeichnis 24
VII. Dokumentation meines Arbeitsweges 26
VIII. Selbstständigkeitserklärung 27
IX. Anhang: Korrespondenz mit Gesa Schwartz
2
I. Einleitung
Derzeit existiert eine bemerkenswerte Fülle und Vielfalt von literarischen Werken,
die das Fantastische in den Mittelpunkt stellen – und eine große Leserschaft, die
darin „consolation, escape and recovery“1 (Tolkien) oder einfach nur gute
Geschichten sucht. Und (zumindest in meinem Fall) dabei gelegentlich
verblüffende Entdeckungen macht.
Seit ich das erste Buch von Gesa Schwartz gelesen habe, war ich zutiefst fasziniert.
Ich begegnete hier Geschichten, in denen aus Fragmenten verschiedenster
literarischer Traditionen und mythischer Überlieferungen etwas vollkommen
Neues entstanden und mit markanten, ambivalenten Charakteren bevölkert worden
war. Und später, als ich mich näher mit der Literaturepoche der Romantik
auseinandersetzte, war ich verblüfft, wie viel mir doch bekannt vorkam.
Thematisiert Schwartz in ihrem Werk doch nicht nur den Kampf ihrer Protagonisten
gegen externe Widerstände, sondern vor allem ihre Auseinandersetzung mit ihrer
eigenen Identität, ihre von Sehnsucht und Einsamkeit bestimmten Gefühlswelten
und ihre Suche nach einem Zuhause.
Immer wieder spielt Kritik an der Entzauberung der Welt durch eine allzu
rationalistische Sicht und die Verdrängung von Fantasie und Emotion eine große
Rolle. Weitere häufig auftretende Themen und Motive sind Nacht, Herzen, blaue
Blumen, der Aufbruch in die Fremde, die Verwandlung von Stein in Fleisch und
umgekehrt, die Auseinandersetzung mit der Bedeutung und den Möglichkeiten von
Kunst sowie der Einbruch von Magie und Märchenhaftem in die Alltagswelt eines
Protagonisten, der in dieser Alltagswelt nie wirklich heimisch werden konnte, und
nun jenseits davon nach Selbstverwirklichung strebt.
Zunächst war ich über diese Parallelen erstaunt. Später jedoch erschien es mir
logisch, dass angesichts einer zunehmend rational erklärten, von rasantem
technischem Fortschritt und nützlichkeitsorientiertem Denken, aber auch
begründeten Zweifeln an der Fähigkeit des menschlichen Verstandes, die
1 Tolkien, J.R.R.: „On Fairy Stories”, veröffentlicht auf http://brainstorm-services.com/wcu-
2004/fairystories-tolkien.pdf (abgerufen am 01.12.2013)
3
komplexen Probleme der Gegenwart und erst recht der Zukunft zu lösen, geprägten
Zeit, ähnliche Sehnsüchte aufkommen, wie sie auch die Romantiker bewegten.
Ich möchte in meiner BLL zum einen aufzeigen, inwiefern die Impulse, die die
Romantiker gegeben haben, und in welchen ich eine Auseinandersetzung mit
zahlreichen Fragen, die uns auch in der Gegenwart beschäftigen, zu erkennen
glaube, vielleicht heute noch in unserem Denken und der modernen Literatur
weiterwirken. Zum anderen möchte ich nachweisen, dass selbst in dem häufig (und
dann zumeist zu Unrecht) als trivial geschmähten Genre der Fantasy eine starke
Bereitschaft besteht, diese Impulse aufzunehmen und um eigene Ideen zu erweitern,
vielleicht sogar noch eher als in anderen Genres.
Gesa Schwartz selbst äußerte: Es wäre „wünschenswert, wenn es in Zukunft beides
gäbe: die im Wortsinn phantastischen Bücher, die die Poesie in unsere
Zivilisationswüste zurückbringen – und die Wissenschaft, die den Rang und die
Bedeutung dieser Werke erkennt.“2
Am Beispiel von Schwartz‘ Erzählung „Das Herz in der Dunkelheit“ möchte ich
auf die Parallelen zur Romantik eingehen und anhand dieser untersuchen, ob ein
Einfluss romantischer Literatur, hier des romantischen Kunstmärchens, auf ihr
Werk wahrscheinlich ist.
Zu diesem Zweck werde ich zunächst knapp die romantische Literatur im
Allgemeinen, später dann speziell das romantische Kunstmärchen beschreiben.
Anschließend gebe ich einen kurzen Überblick über die Handlung von „Das Herz
in der Dunkelheit“ und zeige die Parallelen zur Literatur der Romantik auf, die ich
in Handlung, Figurenkonzeption und Wahl von Themen und Motiven gefunden zu
haben glaube. In meiner Schlussfolgerung wäge ich diese gegen die Argumente ab,
die gegen einen romantischen Einfluss sprechen würden und beziehe zu guter Letzt
auch Gesa Schwartz‘ eigene Äußerungen ein.
II. Die Romantik und das romantische Kunstmärchen
II.1 Die Literaturepoche der Romantik und der Anspruch romantischer Poesie
2 Schwartz, Gesa: „Phantastik? Definition von Gesa Schwartz“, erschienen in Eglseer, Jürgen &
Gor, Judith (Hrsg.): „Phantast 7 – Klassische Phantastik“, fictionfantasymedia, November 2012,
s.l. S. 12
4
„Die Romantiker entdeckten die Mächte im Unter- und Unbewussten: Traum,
Ahnung, Sehnsucht, das Magische, Zauberische und Gespenstische, den
Magnetismus der Seele und die Geheimnisse der Mythen“,3 charakterisiert Franz
Martini diese literarische Epoche in seinem Werk „Deutsche Literaturgeschichte“.
Und tatsächlich stellte die Romantik eine Bewegung dar, die die einseitige
Fixierung auf die Vernunft und das insbesondere mit der Spätaufklärung
einhergehende Nützlichkeitsdenken ablehnte. Hierbei dürfte die Enttäuschung nach
der Französischen Revolution eine gewisse Rolle gespielt haben, da der Versuch,
aufklärerische Werte zu verwirklichen, dort in eine blutige Diktatur und schließlich
in aggressive Expansion mündete.
Die Romantiker litten besonders unter der Entzauberung der Welt durch die
Wissenschaften. Novalis sprach von den „Wunden, die der Verstand schlägt“4 Sie
setzten dieser Tendenz einen radikalen Subjektivismus und eine Kunstauffassung
entgegen, in der die freie Entfaltung der Vorstellungskraft und der Ausdruck
individuellen Empfindens im Zentrum standen und deren Ziel es war, den Dingen
von neuem eine Aura des Geheimnisvollen zu verleihen – sie zu romantisieren.
Gemäß ihrem Entgrenzungsideal war ihr Ziel die Schöpfung einer Literatur, die
nicht die Grenzen zwischen Genres, Gattungen und sogar Kunstformen bewusst
überschritt. Einengende Regeln für die Kunst, wie sie z.B. Lessing in seiner
Dramentheorie aufstellte, waren den Romantikern zuwider. Es galt „den Gang und
die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die
schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen
Natur zu versetzen“5 (Friedrich Schlegel).
Die Romantiker strebten eine ständig im Werden begriffene Literatur an, deren
Schöpfer sich über sämtliche Grenzen hinwegsetzen und Poesie in sämtliche
Lebensbereiche tragen konnten.
II.2 Das romantische Kunstmärchen
3 Martini, Fritz in Zusammenarbeit mit Martini-Wonde, Angela: „Deutsche Literaturgeschichte“,
Köln, Komet Verlag, 1991, S. 320 4http://12abideutsch.wikispaces.com/file/view/Stimmen%20der%20Romantik.pdf/190988160/Sti
mmen%20der%20Romantik.pdf, abgerufen am 15.11.2013 5 „Deutsche Literaturgeschichte“, S. 319
5
Gerade in der Zeit der Spätromantik entdeckten Schriftsteller und Wissenschaftler
wie Clemens Brentano, Achim von Arnim und vor allem die Gebrüder Grimm die
gemeinsame, erzählerische Tradition des in zahlreiche Fürstentümer zersplitterten,
von der napoleonischen Besatzung gezeichneten Deutschland neu und begannen,
Märchen und Volkslieder zu sammeln – eine nationale Identität stiftende Handlung,
die jedoch nicht ausschließlich politischer Natur war, sondern auch im Einklang mit
einer allgemeinen Affinität der Romantik zu Märchen und Mythen stand.
Beispielsweise sammelten die Brüder Grimm nicht ausschließlich deutsche
Volksmärchen, sondern übersetzten unter anderem die von skandinavischen
Mythen geprägte Edda. „Mythologie und Poesie, beide sind eins und
unzertrennlich“6, verkündete Friedrich Schlegel.
Diese Affinität harmonierte auch mit dem triadischen Geschichtsverständnis der
Romantik; das Märchen war nach Novalis Träger „wahrer Weltgeschichten“7 und
„eine Erinnerung an jene heimatliche Welt, die überall und nirgends ist“ - und somit
ein Schlüssel, um durch Reflektion die Entfremdungsprozesse der Gegenwart zu
überwinden und so den Weg in ein neues Zeitalter zu finden.
Auch abseits von explizit als Kunstmärchen angelegten Texten wirkte dieses Genre
stark auf die Literatur der Romantik ein. So betrachtete Friedrich Schlegel das
Märchen als „Prinzip der Fantasie, das alle Formen, besonders den Roman,
durchdringt“.8
Innerhalb des romantischen Kunstmärchens lassen sich verschiedene Typen
unterscheiden: Zum einen gibt es Kunstmärchen, die sich stark an Volksmärchen
orientieren, wie Clemens Brentano sie verfasste. Sie sind durch eine naive
Erzählweise und die typische „Märchengerechtigkeit“9, welche indirekt der
Wirklichkeit gegenübergestellt wird, gekennzeichnet.
6 Schlegel, Friedrich: „Rede über die Mythologie“ aus „Gespräch über die Poesie“ (1800), zitiert
nach Bohnenkamp, Anne (Hrsg.): „Es geht um Poesie. Die schönsten Texte der deutschen
Romantik“, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, November 2013, S. 61 7 Novalis: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ (1800), zitiert nach „Es geht im Poesie. Die
schönsten Texte der deutschen Romantik“, S. 76 8 Mayer, Mathias; Tismar, Jens: Kunstmärchen Stuttgart/Weimar: Metzler, 3. Völlig
neuüberarbeitete Auflage 1997, S. 55, zitiert in Diekhans, Johannes (Hrsg.): Anhang zu „Klein
Zaches genannt Zinnober“, Paderborn, Schöningh Verlag, 2012, S.156 9 « Die deutsche Literatur: ein Abriss in Text und Darstellung 9. Romantik II » (Hrsg.: Otto F.
Best, Hans Jürgen Schmitt, Reclam, 1974), S. 24
6
Daneben existierte „das Ideen tragende Kunstmärchen (…) ohne
Wirklichkeitsbezüge“10. Ein Beispiel für Märchen dieses Typs wäre Novalis‘
„Hyazinth und Rosenblüt“.
Im dritten Typus des romantischen Kunstmärchens findet eine Synthese zwischen
gewöhnlichem Leben und Märchenhaftem statt, übernatürliche Ereignisse brechen
in das Leben gewöhnlicher Menschen ein und stellen deren bisherige
Realitätskonzeption in Frage. „Das Wunderbare als Abweichung von der Realität
lässt und und diese erst durch die ironische oder desillusionierende Distanz
erkennen. Als künstlerische Ausdrucksform dient es den Romantikern zur
Überwindung des Bruchs von realer und geträumter Welt.“ (Otto F. Best, Hans
Jürgen Schmitt)11Beispiele wären „Peter Schlemihl“ von Chamisso, die Märchen
Tiecks oder „Der goldene Topf“ und „Klein Zaches, genannt Zinnober“ von E.T.A.
Hoffmann.
Gerade Hoffmann betonte, wie wichtig es sei, die märchenhaften Elemente als im
vertrauten Alltag verwurzelt darzustellen, um somit eine stärkere Identifikation mit
der Geschichte hervorzurufen. „Ich meine, dass die Basis der Himmelsleiter, auf
der man aufsteigt in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, so dass jeder
nachzusteigen vermag.“12
Hoffmanns Ziel ist es, der entzauberten, rationalisierten Realität und dem
eintönigen Alltag durch die Befreiung der menschlichen Fantasie ein „fantastisches
Zauberreich“ entgegenzusetzen, das keineswegs im Widerspruch zum realen
Leben steht, sondern vielmehr „der wunderbar herrlichste Teil desselben“13 ist.
III. Das Herz in der Dunkelheit
„Das Herz in der Dunkelheit“ erschien im November 2011 in der von Tanja
Heitmann beim Rowohlt Taschenbuch Verlag herausgegebenen Anthologie „Stille
Nacht. Magische Liebesgeschichten“, einer Sammlung von Fantasyerzählungen,
die die Liebe zwischen Menschen und übernatürlichen Wesen ins Zentrum stellen.
10 Ebd. 11 Ebd. 12 Hoffmann, E.T.A (Hrsg. Segebrecht,W. & Segebrecht, U.): „Die Serapionsbrüder“, Frankfurt,
Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch Bd. 28, 2008, S.469 (zitiert nach Arbeitsblatt C.v.O.
ausgeteilt am 07.11.2013) 13 Günzel, Klaus: „E.T.A. Hoffmann. Leben und Werk in Briefen, Selbstzeugnissen und
Zeitdokumenten.“ Claassen, Düsseldorf, 1979, S. 720 f. (zitiert nach obengenanntem Arbeitsblatt)
7
Es ist die Geschichte der sich langsam entwickelnden Beziehung zwischen der
jungen Bibliothekarin Sophie und dem verfluchten Fürsten Askadon, der in einem
magisch verborgenen Abschnitt der Katakomben von Paris lebt.
Ein personaler Erzähler begleitet Sophie durch die gesamte Erzählung und gibt
detaillierten Einblick in ihr Fühlen und Denken.
Die Handlung setzt ein, als sie sich kurz vor Weihnachten auf dem Heimweg
befindet, entschlossen, die Weihnachtstage, denen sie seit dem vorzeitigen Tod
ihrer Eltern nichts mehr abgewinnen kann, abgeschottet vom Rest der Welt zu
verbringen. Doch unterwegs bemerkt sie einen Mann, der von zwei anderen
zusammengeschlagen wird. Ihr Eingreifen rettet dem Opfer das Leben, bringt sie
aber selbst in Gefahr, als einer der Angreifer sich unter Einsatz übernatürlicher
Kräfte auf sie stürzt und sie schwer verletzt.
Als Sophie nach langer Bewusstlosigkeit wieder zu sich kommt, findet sie sich in
den Katakomben unter der Stadt wieder, in Gesellschaft Askadons, eines
mysteriösen, ständig von magischen Schatten verborgenen Mannes, der ihre
Verletzungen heilt und sich auf zunehmend intensivere Gespräche mit ihr einlässt,
in denen seine Resignation, Selbstverachtung und sein zutiefst ambivalentes
Verhältnis zur Oberwelt deutlich werden, andererseits aber auch ein Verständnis
für ihre Gedanken und Empfindungen, wie Sophie es bisher noch nie erfahren hat.
Als sie sich schließlich erholt hat, verlässt sie entgegen Askadons Warnung ihren
Raum und betritt einen Saal voller unfertiger Skulpturen von Buchfiguren und
Engeln. Unter ihnen befindet sich eine einzige, vollendete Statue: Die Skulptur
eines Dämons, die beklemmende Verzweiflung ausstrahlt und vor ihren Augen zum
Leben erwacht - Askadon. Nun, nachdem sie sein wahres Gesicht gesehen hat,
erzählt Askadon ihr seine Geschichte: Ursprünglich ein attraktiver, aber
hartherziger menschlicher Herrscher, wurde er von seinen Untertanen für seinen
Machtmissbrauch mit einem Fluch bestraft, der ihm sein Herz nahm und ihm nachts
die Gestalt und die Kräfte eines Dämons aufzwingt, ihn tagsüber jedoch versteinern
lässt.
Als Askadon erkennt, dass Sophie genesen ist und besteht er auf ihrer Rückkehr in
die Oberwelt, lädt sie jedoch vorher in die „Galerie der Schatten“ ein, dem Ort, wo
er seine vollendeten Statuen aufbewahrt und Sophie zu einem Tanz auffordert, an
dem sich diese zu beteiligen scheinen.
8
Schließlich verabschiedet sich Sophie von ihm, begreift jedoch auf halbem Weg in
die Oberwelt, dass sie in Wahrheit nie dort zu Hause war und es auch nie sein wird.
Sie gesteht sich ihre Liebe zu Askadon ein, kehrt zu ihm zurück und findet ihn halb
versteinert vor. Als sie ihn jedoch umarmt, hört sie einen leisen Herzschlag – ein
Zeichen dafür, dass der Flucht gebrochen ist.
IV. „Das Herz in der Dunkelheit“ im Vergleich zu romantischer Literatur
IV.1 Vergleichsaspekt: Handlung
In Struktur und Figurenkonstellation weist „Das Herz in der Dunkelheit“ Parallelen
zu den novellenartigen Kunstmärchen der Romantik, wie Hoffmann sie zur
Perfektion gebracht hat, auf.
Eine fantastische Geschichte um Liebe, Erlösung und Magie entspinnt sich aus
einer scheinbaren Alltagssituation heraus – es findet ein fließender Übergang in
eine mythische Welt statt, die durch klare, jedoch durchlässige Grenzen von der
Alltagsrealität getrennt ist. Wie Hoffmanns Märchenprotagonisten Balthasar und
Anselmus in „Klein Zaches, genannt Zinnober“ und „Der goldene Topf“ erlebt
Sophie, wie sich das scheinbar entzauberte Alltagsleben als dünne Fassade erweist,
hinter der übernatürliche Mächte – und Wesen – wirken und Kämpfe austragen.
Anselmus gleicht Sophie auch darin, dass er sich schließlich (in seinem Fall
symbolisiert durch die Wahl zwischen Serpentina und Veronika) für eine Absage
an ein bürgerliches, in der Realität verwurzeltes Leben entscheidet.
Ebenso wie Hoffmann greift Gesa Schwartz im Einklang mit der romantischen
Faszination für Märchen und Mythos das auch aus Volksmärchen bekannten Motiv
des verwandelten oder verfluchten Partners und des Protagonisten auf, der intuitiv
einen Weg findet, den Fluch zu brechen. Das geschieht manchmal von Anfang an
in dem Bewusstsein, was sich unter der tierischen oder monströsen Hülle verbirgt,
manchmal erst nach einem langen Prozess, an dessen Ende diese Erkenntnis steht.
Letzteres ist in dem vielleicht bekanntesten Märchen dieses Typs, „Die Schöne und
das Biest“ von Gabrielle-Suzanne de Villeneuve der Fall, mit dem „Das Herz in der
Dunkelheit“ gewisse, wenn auch begrenzte Ähnlichkeiten aufweist. Es entfällt die
Figur der Fee, die von oben herab die Geschicke der Figuren bestimmt. Und
Askadon ist zwar ebenfalls ein Adliger, der durch einen Fluch für ein Verbrechen
9
büßt, aber Sophie erlebt ihn keineswegs als Doppelgestalt von primitivem Tier und
Märchenprinz, sondern als einen eloquenten, gequälten Dauer-Dämon, der
gelegentlich zu Stein erstarrt.
Dennoch ist die Parallele offensichtlich und wieder eine Verbindung zur
romantischen Literatur, denn auch Schriftsteller wie Hoffmann oder Fouqué fanden
in französischen Feenmärchen Anregungen für ihre Werke.
Beinahe noch älter ist das Motiv des lange im Verborgenen bleibenden Partners und
des (in „Das Herz in der Dunkelheit“ unausgesprochenen und durchlässigen)
Verbots, seine wahre Natur zu erkunden, wie wir es aus dem Mythos von Amor und
Psyche kennen. „Das Herz in der Dunkelheit“ ist die Geschichte einer zweifachen
Entschleierung, in der Sophie zuerst den Dämon hinter dem im Schatten bleibenden
Fremden und anschließend den liebenswerten Menschen im Dämon und dabei
zugleich auch sich selbst entdeckt. Wie sie verlässt auch Hyazinth aus „Hyazinth
und Rosenblüt‘“ seine vertraute Umgebung, hebt den Schleier einer in Geheimnisse
gehüllten Gestalt (in seinem Fall der Göttin Isis) und findet dahinter seine wahre
Liebe, was ihn wieder mit sich selbst und seinem Leben versöhnt. Eine unerwartete,
unwahrscheinliche Wendung zum Guten, von Tolkien „Eukatastrophe“14 genannt
und als wichtiges Kennzeichen eines Märchens bezeichnet. Zusammen mit der
erlösenden Kraft der Liebe, ist sie gemeinsames Merkmal der erwähnten Märchen
und Mythen, der Kunstmärchen Hoffmanns und Novalis‘ und schließlich von Gesa
Schwartz‘ Erzählung.
„Das Märchen steigt aus der Tageswelt auf; seiner Phantastik liegt die tiefere
Wirklichkeit des Mythos zugrunde.“15, schreibt Fritz Martini über „Der goldene
Topf“ – ein Ausspruch, der jedoch auch z.B. auf „Hyazinth und Rosenblüte“ und
auch auf „Das Herz in der Dunkelheit“ zutreffen würde. Natürlich erhebt „Das Herz
in der Dunkelheit“ (ebenso wenig wie die Texte Novalis‘ und Hoffmanns) nicht den
Anspruch, geglaubt zu werden, wie er Mythen typischerweise eigen ist, setzt sich
jedoch mit typisch mythischen Themen16 wie Tod, Grenzerfahrungen, dem
Unbekannten, Unaussprechlichen und Übernatürlichen auseinander.
IV.2 Vergleichsaspekt Figurenkonzeption
14 Tolkien, J.R.R.: „On Fairy Stories” 15 „Deutsche Literaturgeschichte“, S. 350 16 Weinreich, Frank: „Fantasy. Einführung“, Essen, Oldib Verlag Oliver Bidlo, 2007, S. 49
10
„Das Herz in der Dunkelheit“ ist ganz auf die beiden Protagonisten Askadon und
Sophie konzentriert, zwei Figuren, deren Konzeption ebenfalls auffällige Parallelen
zu zahlreichen romantischen Kunstmärchen aufweist.
So finden wir in Sophie eine empfindsame Außenseiterin, die, wie Hyazinth,
Anselmus und Balthasar, auf den ersten Blick perfekt in Gesellschaft und
Alltagsleben integriert ist. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass
zwischen ihr und anderen Menschen ein Graben verläuft und dass sie wie die eben
genannten romantischen Helden ihrer Sehnsucht folgen muss, um schließlich auf
eine außergewöhnliche Weise Erfüllung zu finden.
Interessant ist auch der in zahlreichen romantischen Texten auftretende
relativierende Wechsel zur Perspektive des „Philisters“ bei der Charakterisierung
des Protagonisten, der von seinem Umfeld als „wunderlich“17 (Hyazinth und
Rosenblüte) und eigenbrötlerisch wahrgenommen und mit Mitleid und
Verständnislosigkeit betrachtet wird. So folgt z.B. in „Der Goldene Topf“ auf
Anselmus Verzückung unter dem Holunderbaum der Auftritt einer Bürgerfamilie,
die diese mit mitleidiger Verachtung kommentiert.
Etwas Vergleichbares lässt sich auch in „Das Herz in der Dunkelheit“ beobachten:
„Vampire in Paris, also wirklich, Sophie (,dachte sie). Mit finsterer Miene dachte
sie an ihre Freunde, die lachend den Kopf schütteln würden über ihre blühende
Phantasie (…) Sie dachte auch an die mitleidigen Blicke, weil die arme Sophie sich
über die Feiertage hinter ihren Büchern verstecken würde.“18
Auch ihre von ihrer lebhaften Fantasie geprägte Wahrnehmung der Umwelt, wie
wir sie in einer Passage wie dieser finden „(Sophie) schaute hinüber zu den
Schatten, die sich für Augenblicke zu geheimnisvollen Schemen auftürmten, zu
Chimären mit Löwenköpfen und nachtspeienden Drachen“19 passt zu der für
romantische Texte typischen Mehrdeutigkeit aller Sinneseindrücke.
Auch denkt Sophie darüber nach, „wie viel reicher die Welt sein könnte, wenn nur
mehr Menschen den Blick in die Schatten lenken würden“20, d.h. die Welt mit
17 Novalis: „Das Märchen von Hyazinth und Rosenblüt“ erschienen in Damm, Sigrid (Hrsg.):
„Hyazinth und Rosenblüt – Märchen der deutschen Romantik“ , Berlin, Der Kinderbuchverlag,
1984, S. 44 18 Schwartz, Gesa: „Das Herz in der Dunkelheit“, erschienen in Heitmann, Tanja (Hrsg.): „Stille
Nacht. Magische Liebesgeschichten“, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg,
November 2011, S. 43 19 Ebd. 20 Ebd.
11
Offenheit, Fantasie und der Bereitschaft, sich verzaubern zu lassen, betrachten
könnten. Sophies Fähigkeit, in den Schatten des hektischen Paris geheimnisvolle
Formen zu sehen und später Momente zu erleben, in denen es nichts gibt, außer
„der Gewissheit, dass die Welt voller Wunder war“21, steht im Einklang mit Novalis
Äußerung: „Romantisieren heißt, dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem
Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des
Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein zu geben.“22
Rüdiger Safranski fasst einen Abschnitt aus den „Hymnen an die Nacht“, eines
weiteren Werkes Novalis‘, mit den Worten zusammen: „Sieht man mit dem
liebenden Blick ins Dunkle, ist immer etwas darin.“23 – eine Auffassung, die nicht
besser mit Sophies fasziniertem Blick in die Schatten harmonieren könnte.
Auch Sophies mutiges Eingreifen, als sie sieht, wie Askadon angegriffen wird und
das Mitgefühl, das sie später für ihn empfindet, sind Charakteristika des
romantischen Helden. So empfindet Balthasar am Anfang von „Klein Zaches
genannt Zinnober“ trotz dessen unfreundlichen Auftretens zunächst Mitleid mit
Klein Zaches. Und Hyazinth wird als „herzensgut“24 beschrieben.
Typisch romantisch sind Sophies intensive Auseinandersetzung mit Kunst und die
Bedeutung, die sie ihr zumisst: „Bücher waren für sie alles andere als ein Versteck
oder eine Flucht. Sie waren schon immer ein Trost gewesen, ein Atemholen und ein
Fall in die eigene Dunkelheit, um am Ende reich und verwandelt in die äußere Welt
zurückzukehren.“25
Askadons Charakter ist dagegen wenig typisch für die in romantischen
Kunstmärchen auftretenden Zauberwesen. Er ist weder wohltätiger Zauberer noch
bösartige Hexe, weder sprechendes Tier noch lächerlich groteske Figur à la Klein
Zaches. Jedoch erinnert er an die menschlichen Protagonisten novellenhafter
Kunstmärchen, die aus ihren Begegnungen mit dem Übernatürlichen schuldbeladen
und in einigen Fällen gewissermaßen verstümmelt hervorgehen. In Erzählungen
Hoffmanns und Chamissos verlieren Erasmus Spikher sein Spiegelbild und Peter
Schlehmil seinen Schatten – und sind fortan zu einem Leben abseits der
21 Ebd, S. 62 22 Pikulik, Lothar : „Frühromantik: Epoche – Werke – Wirkung“, München, Verlag C.H. Beck,
1992, S. 219 23 Safranski, Rüdiger: „Romantik. Eine deutsche Affäre“, München, Carl Hanser Verlag, 2007,
S.121 24 „Das Märchen von Hyazinth und Rosenblüt“ in „Hyazinth und Rosenblüt – Märchen der
deutschen Romantik“, S. 44 25 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht – magische Liebesgeschichten“, S.43, 44
12
menschlichen Gesellschaft verurteilt. Über Letzteren heißt es: „Peter Schlemihl
wird gleichsam zum Repräsentanten des romantischen Helden, des einsamen, von
der Gesellschaft „durch frühe Schuld“ (Chamisso) entfremdeten Außenseiters, der
zwar nicht kämpft, aber immer auf der Suche nach Seelenfrieden bleibt.“26 – eine
Beschreibung, die so auch auf Askadon passen würde.
„Ich bin gefangen, seufzt die arme Seele,/ bedarf wohl derer, welche mich
verstehn;“27, dichtet Ludwig Tieck und spricht Gesa Schwartz‘ Protagonisten damit
wahrscheinlich aus der Seele, insbesondere wenn er fortfährt: „Ich muss mein Licht
in andern Augen sehn;/ mit jenen eins, bin ich von dir befreiet,/ mit mir allein, bin
ich mir selbst entzweiet.“28 Es sind Sophies Augen, in denen Askadon sich selbst
und seinen Wert erkennt und ihre Rückkehr zu ihm, die seinen Fluch bricht.
Eine weitere Verbindung zu romantischen Helden sind Askadons künstlerisches
Schaffen, das Ausdruck seines Inneren ist und mit dessen Hilfe er die Grenzen von
Innen- und Außenwelt verschwimmen lässt. Auch in seiner Reflektion von Literatur
und Kunst, steht er zahlreichen romantischen Helden nahe (siehe „Themen und
Motive“).
IV.3 Vergleichsaspekt Themen und Motive
Nicht nur die Konzeption der von Gesa Schwartz gestalteten Figuren, sondern vor
allem die Themen, über die sie reflektieren und die Konflikte, mit denen sie sich
auseinandersetzen, erscheinen vielfach auch in romantischen Werken. Ebensolche
Parallelen gibt es in Motiv- und Bildsprache der Erzählung.
Es ist z.B. wahrscheinlich kein Zufall, dass der versteinerte Askadon ausgerechnet
in der Nacht zum Leben erwacht. Wilhelm Heinse äußert: „Die Sonne löscht alle
Freuden der Nacht aus,(…) so die süßen Melodien und Harmonien der Fantasie
(…) Die Nacht hat etwas Zaubrisches (sic) das kein Tag hat; so etwas
Grenzenloses, Inniges, Seliges.“29
26 Hoffmeister, Gerhart: „Deutsche und Europäische Romantik“ Stuttgart, Verlag J.B. Metzler,
1990, S. 174 27 Tieck, Ludwig: „Einsamkeit“, veröffentlicht auf
http://gedichte.xbib.de/Tieck_gedicht_Einsamkeit.html, abgerufen am 13. 03. 2013 28 Ebd. 29http://12abideutsch.wikispaces.com/file/view/Stimmen%20der%20Romantik.pdf/190988160/Sti
mmen%20der%20Romantik.pdf, abgerufen am 15.11.2013
13
Im Gegensatz zu den Aufklärern, die vom Licht der Vernunft und der „Fackel der
Wahrheit“ sprechen, offenbar also klar ausgeleuchtete, messbare Bereiche
bevorzugen, wenden sich die Romantiker der Nacht und Dunkelheit zu – ähnlich
der Sophie, die nach vergeblicher Suche „im Licht“ und „in der Dämmerung“
schließlich „in den tiefsten Schatten der Welt“30 ihre Heimat findet – und dabei
womöglich in der Tradition der romantischen Absage an „das graue Licht der
Aufklärung“31 (Safranski) steht.
Wie auch in „Das Herz in der Dunkelheit“, wird die Nacht in der romantischen
Literatur zum Raum für Ahnung, Traum und Fantasie, wo alles mehrdeutig und
unendlich ist und das Geheimnisvolle seinen festen Platz hat. Novalis spricht in
seinen berühmten Hymnen an die Nacht von einer „Nachtbegeisterung“32, einer
regelrechten Offenbarung: „Himmlischer als jene blitzenden Sterne/…/ dünken uns
die unendlichen Augen,/ die die Nacht uns geöffnet.“33
Eng damit verwandt ist die bereits erwähnte Bedeutung, die die Romantiker dem
Traum zumaßen – einem Zustand, dem auch in „Das Herz in der Dunkelheit“ ein
längerer Abschnitt gewidmet wird.
Nach dem Angriff der Wehrkatzen, bei welcher Gelegenheit Sophie Askadon zum
ersten Male begegnet, driftet sie zunächst in Bewusstlosigkeit und anschließend in
einen anhaltenden Dämmerzustand über, in welchem Traum und Wirklichkeit
verschwimmen. Die an sprachlichen Bildern reiche Beschreibung dieses Zustands
ist voller Vorausdeutungen über den weiteren Verlauf der Geschichte. „Sie trieb in
einem Meer aus schwarzem Wasser, weit unter der Oberfläche“ – Sophies
Geschichte ist die Geschichte des Abstiegs in die Katakomben und des Blicks hinter
die banalen Oberflächen, die die Welt vielfach präsentiert – „dort, wo Gedanken
nichts als Träume waren und jede Sehnsucht aufging in Schwärmen aus glitzernden
Luftperlen“34.
Ein weiteres zentrales Thema von „Das Herz in der Dunkelheit“ ist das Verhältnis
von rationalem Denken auf der einen und Traum und Fantasie auf der anderem Seite
– und dem Einfluss, den letztere auf die Realität haben können.
30 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“ S. 69 31 Safranski, Rüdiger: „Romantik. Eine deutsche Affäre“, S. 193, ff. 32 Novalis: „Hymnen an die Nacht“, zitiert in „Romantik. Eine deutsche Affäre“, S. 121 33 Ebd. 34 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, S. 48
14
Und natürlich Sehnsucht. Es ist die geteilte Sehnsucht nach Akzeptanz, Verständnis
und Poesie – dem „Zauber der Welt“35 –, die Sophie und Askadon zusammenführt
und die für sie überlebensnotwendig zu sein scheint – wie Luftperlen. „Sehnsucht“
ist ein zentraler Begriff in „Das Herz in der Dunkelheit“. In der Erzählung erscheint
Sehnsucht nicht lediglich als Antrieb, um ein Ziel zu erreichen, sondern auch die
Empfindung an sich und die damit einhergehende Sensibilisierung für das
Wunderbare in der Welt werden gefeiert. Sophie will keineswegs, dass ihre
Sehnsüchte gestillt werden, sondern ist entschlossen, „niemals die Sehnsucht zu
verlieren nach Momenten wie diesen“36, was gut zu Friedrich Schlegels Ausspruch
passt: „Nur in der Sehnsucht finden wir Ruhe (…) wenn unser Geist nicht gestört
wird, sich zu sehnen und zu suchen, wo er nichts Höheres finden kann als seine
eigene Sehnsucht.“37 Und E.T.A. Hoffmann nennt die „unendliche Sehnsucht“ das
„Wesen der Romantik“38.
In ihrem traumdurchdrungenen Zustand nimmt Sophie auch Askadons Nähe wahr:
„Sie war nicht allein in der Dunkelheit, das wusste sie. Am Rand des Meeres stand
Askadon und wartete auf sie.“39 Es ist Askadon, der ihr schließlich hilft, ihre
Einsamkeit und Zerrissenheit zu überwinden, was sie in ihrem Traum
vorauszuahnen scheint – einem Zustand, dem die Romantiker die Befreiung der
unbewussten Potenziale des Menschen nachsagten.
Über die Geschichten, die Askadon ihr in dieser Zeit vorliest, heißt es: „sie (…)
hörte, dass er ihr vorlas, Geschichten, die sie vor langer Zeit gekannt und vergessen
hatte und die nun aus den Tiefen des Meeres auftauchten wie blaue Blumen und sie
Stück für Stück mit sich ins Licht hoben.“40
Die Erwähnung von blauen Blumen und dem Treiben im Wasser in Kombination
mit einer Traumsituation erinnert zwangsläufig an den Traum Heinrich von
Ofterdingens in dem gleichnamigen Roman Novalis‘, der für den Protagonisten
zum Initiationserlebnis wird und in dem ihm die „blaue Blume“, Symbol der
unendlichen Sehnsucht und später der Romantik schlechthin, begegnet.
Obwohl das Thema meiner Arbeit „Das Herz in der Dunkelheit“ ist, halte ich es für
erwähnenswert, dass blaue Blumen auch in anderen Werken Gesa Schwartz‘
35 Ebd., S.68 36 Ebd., S. 62 37 Martini, Fritz; Martini-Wonde, Angela: „Deutsche Literaturgeschichte“, S.322 38 Hoffmeister, Gerhart: „Deutsche und Europäische Romantik“, S. 177 39 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, S. 48 40 Ebd.
15
auftauchen. So symbolisiert in „Grim – das Erbe des Lichts“ eine blaue Blume, die
der Gargoylekönig41 aus der Hand eines Menschenkinds empfängt, die vorsichtige
Annäherung von Menschen- und Anderswelt.
Interessant ist auch die Ästhetik von „Das Herz in der Dunkelheit“. Wenn Sophie
fasziniert die Perfektion der versteinerten Dämonengestalt Askadons bewundert,
erinnert dies nicht von ungefähr an Shelleys Gedicht über Leonardo da Vincis
Medusa („Its horror and its beauty are divine“42) oder an Tiecks
Landschaftsschilderungen, in denen „das Gefühl des Schauers und des Erhabenen
(…) gleichermaßen erregt“43 werden.
Aus Schatten formt Sophies Vorstellungskraft Drachen und Chimären –
gleichermaßen gefährliche wie erhabene Geschöpfe. Und so erschreckend
Askadons Äußeres geschildert wird („ein Dämon mit einem zum Schrei verzerrten
Mund, tiefliegenden Augen und einer Nase, die wie mehrfach gebrochen in seinem
Gesicht lag. Narben zogen sich über die Wangen wie frische Schnitte, und aus
seiner Stirn ragten Teufelshörner“44), ist Sophie – genau wie der Leser – trotzdem
fasziniert: „Selten hatte Sophie eine Dämonenstatue in solcher Vollkommenheit
gesehen“45. Und schließlich findet sie in seinem Gesicht „vollendete Schönheit“46.
Ähnlich wie in romantischen Kunstmärchen erfährt die Protagonistin in „Das Herz
in der Dunkelheit“ – widergespiegelt durch die Werkatzen und Askadons
Dämonengestalt auf der einen, seine verborgene Schönheit und sein künstlerisches
Schaffen auf der anderen Seite – die Ambivalenz der mythischen Gegenwelt.
Auch die Art und Weise des Erzählens weist, obwohl Wortwahl und Erzähltempo
dem Geschmack unserer Zeit entsprechen, gewisse Parallelen zur romantischen
Literatur auf. So arbeitet Schwartz mit dem für die Romantik typischen Stilmittel
der Synästhesie („tosende(n) Schatten“47) oder konstruiert Szenen, in denen alle
Wahrnehmung mehrdeutig ist und Realität und Imagination nicht zu trennen sind.
Ein wichtiges Symbol der romantischen Literatur (wenn auch nicht ausschließlich
dieser Literaturepoche) ist das (verlorene) Herz. So stellte Wilhelm Hauff, dessen
literarisches Schaffen zum Teil in der Romantik wurzelte, das Motiv des
41 Anmerkung: Ein Gargoyle ist eine Art belebter, steinerner Skulptur 42 Shelley, Percy Bysshe: „On the Medusa of Leonardo da Vinci in the Florentine gallery“,
http://www.poets.org/viewmedia.php/prmMID/19937, abgerufen am 02.11.2012 43 Pikulik, Lothar : „Frühromantik: Epoche – Werke – Wirkung“, S. 262) 44 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, S. 55 45 Ebd. 46 Ebd., S. 68 47 Ebd., S. 53
16
verlorenen/ verkauften Herzens ins Zentrum seines Märchens „Das kalte Herz“,
welches, wie „Das Herz in der Dunkelheit“ mit der Rückkehr des symbolträchtigen
Organs in den Körper und der glücklichen Vereinigung des Protagonisten mit seiner
Geliebten endet. Allerdings gibt es hier den gewichtigen Unterschied, dass Askadon
sein Herz verliert, weil er sich rücksichtslos verhält, während der kausale
Zusammenhang im Märchen Hauffs umgekehrt ist. Aber auch E.T.A. Hoffmann
machte in seiner Erzählung „Das steinerne Herz“ das Herz zum zentralen Symbol
für die Verbitterung der Hauptfigur.
Auch das Motiv des Erwachens steinerner Skulpturen ist uns aus der Romantik
vertraut, da Eichendorff es zum Thema seiner märchenhaften Novelle „Das
Marmorbild“ machte (allerdings trägt dieser Prozess dort eher dämonische Züge).
Neben Sehnsucht, Zauber und Verwandlung ist auch „Heimat“ ein Schlüsselbegriff
der Geschichte – und der romantischen Literatur. Sophies Sehnsucht nach einer
Heimat, die sie in der Alltagswelt nicht finden kann, ist entscheidend für die
Geschichte. „Sie hatte sich so sehr nach einer Heimat gesehnt, hatte sie im Licht
gesucht und in der Dämmerung – und nun hatte sie sie gefunden, in den tiefsten
Schatten der Welt.“48 Es ist dieselbe Sehnsucht, mit der sich auch romantische
Dichter wie Eichendorff intensiv auseinandersetzten: „Und meine Seele spannte/
weit ihre Flügel aus/ flog durch die stillen Lande/ als flöge sie nach Haus“49. Diese
Zeilen stammen aus Eichendorffs berühmten Gedicht „Mondnacht“, das,
zusammen mit Novalis‘ „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ gerne genutzt
wird, um Charakteristika und zentrale Inhalte romantischer Literatur aufzuzeigen.
Hier ist vielleicht wieder ein Verweis auf „Grim – das Erbe des Lichts“ angebracht.
Eben diese Gedichte werden dort von zwei sehr positiv gezeichneten Figuren zitiert.
Sie dienen dazu, die Akzeptanz von Geheimnis und Magie, ein Bewusstsein für die
„Poesie der Welt“50 und ein friedliches Zusammenleben mit dem Fremden,
Übernatürlichen als bereichernde (wenn auch schwer zu verwirklichende)
Alternative zur Verbannung von Fantasie und Wunderbarem aus dem Alltag
darzustellen – was übergreifendes Thema aller Werke Gesa‘ Schwartz und damit
auch von „Das Herz in der Dunkelheit“ ist.
48 Ebd., S. 69 49 Von Eichendorff, Joseph: „Gedichte“, (Hrsg. Neumann, Horst Peter & Lorenczuk, Andreas),
Stuttgart, Philipp Reclam, 1997, S. 83
50 Schwartz, Gesa: „Grim – das Erbe des Lichts“, Köln, Egmont Verlagsgesellschaften mbH
(LYX), 2011, S. 148
17
Das Zitat zweier für die Romantik programmatischer Gedichte und die
Verwendung des in unserer Vorstellung typischsten romantischen Symbols, der
blauen Blume, welche fast schon wie ein expliziter Verweis auf diese
Literaturepoche wirken, lassen auf eine Beschäftigung der Autorin mit den Ideen
der Romantik und eine gewisse Affinität zu diesen schließen.
Auch in der Darstellung des bereits unter dem Gesichtspunkt der
Figurenkonzeption erwähnten tiefen Grabens, der zwischen ihren Protagonisten
und den „gewöhnlichen“ Menschen, die für diese wenig Verständnis aufbringen,
verläuft, erinnert Schwartz‘ Erzählung an das typisch romantische Thema des
Gegensatzes zwischen Romantikern und „Philistern“. Letztere ist eine der zwei
Gruppen, in die die Romantiker die Menschen einteilen – fantasielose Menschen,
die gesellschaftliche Konventionen über alles und das Überraschende und
Außergewöhnliche überhaupt nicht schätzen und sich viel auf ihre Vernunft
einbilden. Die Bereitschaft, ihr Realitätskonzept über den Haufen zu werfen, sich
ganz dem Augenblick hinzugeben und sich verzaubern zu lassen, wie Sophie und
viele romantische Helden sie zeigen, ist ihnen völlig fremd – eine Haltung, die in
zahlreichen Kunstmärchen der Romantik, aber auch in „Das Herz in der
Dunkelheit“ hervorgehoben und häufig durch den Handlungsverlauf hinterfragt
wird. So wäre Anselmus in „Der goldene Topf“ sein Zweifel am Wunderbaren
beinahe zum Verhängnis geworden oder wird Fabian in „Klein Zaches genannt
Zinnober“ der Lächerlichkeit preisgegeben. In „Das Herz in der Dunkelheit“ ist von
der „Ignoranz der Menschen“51 die Rede, davon, dass sie verlernt haben, den
Zauber in der Welt zu sehen – und wie sie sich damit selbst beraubt hätten. Es liegt
nahe, eine Parallele zu „Klein Zaches, genannt Zinnober“ zu ziehen, wo der
Versuch, das „heimliche Gift“52 Poesie zu bekämpfen, „die Gesellschaft
verkrüppelt“53 (Fühmann) endet.
Den Philistern stehen romantische Menschen gegenüber, denen keine extreme
Emotion fremd ist und deren sensibles, fantasievolles Wesen sie häufig von der
Gesellschaft isoliert – Menschen wie Sophie und Askadon. Sie sind „tiefsinnig“54
und „melancholisch“55 und fliehen häufig vor der Gesellschaft anderer, deren
51 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“., S.43 52 Hoffmann, E.T.A.: „Klein Zaches genannt Zinnober“, Paderborn, Schöningh, 2012, S. 17 53 Fühmann, Franz: „Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder etwas über das
Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann“, Rostock, Hinstorff Verlag 1979, S.141 54 Hoffmann, E.T.A.: „Klein Zaches genannt Zinnober“, S. 27 55 Ebd., S. 25
18
Treiben sie als hektisch und einengend betrachten und bei denen sie kein
Verständnis finden. Sophie spricht von einem „Fluch, der Einsamkeit bedeuten
kann, weil er uns ausschließt von der Welt, nach der wir uns doch sehnen.“56
Als Mittel, um ihrem bewegten Inneren und ihrer besonderen Form der Weltsicht
Ausdruck zu verleihen, dient den Protagonisten romantischer Werke oft die Kunst.
So schreibt z.B. Balthasar aus „Klein Zaches, genannt Zinnober“ Gedichte oder
sind die Helden der in „Heinrich von Ofterdingen“ erzählten Kunstmärchen Sänger
und Dichter. Die besondere Bedeutung, die der Kunst zugeschrieben wird, zieht
sich durch die gesamte romantische Literatur.
Und auch in „Das Herz in der Dunkelheit“ ist Kunst und was diese bedeuten und
bewirken kann, eines der wichtigsten Themen. Mit Askadon hat Gesa Schwartz
bewusst eine Künstlerfigur ins Zentrum ihrer Erzählung gestellt und viele von
Askadons Aussagen hätten auch die eines romantischen Künstlers sein können.
Interessant ist auch, dass Sophie zunächst Askadons unvollendete Statuen sieht,
was mit dem romantischen Verständnis von Kunst als Prozess und Fragment
harmonieren würde. Die Romantiker betrachteten eher die Musik als die
unbewegliche, vollendete Plastik als höchste Form der Kunst, doch genau diese
Unbeweglichkeit wird in „Das Herz in der Dunkelheit“ aufgehoben, wenn
Askadons Skulpturen scheinbar zum Leben erwachen oder am Ende unter seinem
Schrei zerbersten. Ziel seiner Kunst scheint weniger die Produktion des vollendeten
Kunstwerks, sondern vielmehr der Schaffensprozess zu sein. Dessen Ergebnis ist
die Aufhebung der Grenzen von Innen und Außen, das Sichtbarmachen von
Vorstellungen. „Es ist, als hättest du meinen Gedanken eine äußere Form
gegeben“57, erklärt Sophie, als sie seine Statuen betrachtet. Es erscheint fast, als
habe Askadon den Ausspruch Caspar David Friedrichs beherzigt: „Schließe dein
leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann
fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von
außen nach innen.“58
Sophies Beziehung zu Askadon gewinnt an Tiefe, nachdem sie seine Skulpturen
gesehen hat - und auch der Leser ist fasziniert. Obwohl Askadons Verhalten
teilweise noch immer abweisend ist, sehen wir in seinem schöpferischen Schaffen
56 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, S. 67 57 Ebd., S. 61 58 http://www.kunstzitate.de/bildendekunst/kuenstlerueberkunst/friedrich_cd.htm, abgerufen am
23.12.2013
19
einen Ausdruck der Wandlung, die er in den Jahren der Einsamkeit und Reflektion
durchlaufen hat und die ihn zu einem ebenbürtigen Partner Sophies hat werden
lassen.
Wackenroder schreibt über Kunst, welche er als „wunderbare Sprache“ ansieht,
die es dem Menschen erlaubt, das „Himmlische“ ansatzweise zu begreifen: „…sie
schließt uns die Schätze in der menschlichen Brust auf, richtet unsern Blick in unser
Inneres, und zeigt uns das Unsichtbare, ich meine alles was edel, groß und göttlich
ist, in menschlicher Gestalt.“59
Über die Buchfiguren, welche seine Statuen darstellen, äußert Askadon: „,Die
Menschen der Oberwelt denken, dass es diese Figuren nur in den Büchern gibt,
aber das ist nicht wahr. Es gibt sie in unseren Gedanken und mit ihnen formen wir
die Welt, die uns umgibt und wir werden uns verwandeln, wenn wir bereit sind, uns
von ihren Wundern verzaubern zu lassen.‘“60 Askadon spricht hier von der
Schaffung eines neuen Bewusstseins für die Welt und der Bereicherung, die jeder
durch die Bereitschaft, Faszination und Imagination Raum zu geben, erfahren
würde. Interessant ist hier wieder die Wechselwirkung von außen und innen, die so
oft im Zentrum romantischer Literatur steht.
„Alle Gemüter, die sie lieben, befreundet und bindet Poesie in unauflöslichen
Banden.“61, erklärt Friedrich Schlegel und es sind ausgerechnet Gespräche über
Kunst und Literatur, die Sophie und Askadon einander näher bringen.
Die romantische Dichtung erhob den Künstler (besonders den Dichter) zum
Propheten, der den Menschen seine besonderen Einsichten vermittelt: „was dieser
fliehnde (sic) Schimmer will bedeuten/…/kann nur der Dichter offenbarend sagen/
es wechseln die Gestalten wie die Zeiten/ sind sie euch Räthsel (sic), müßt (sic) ihr
ihn nur fragen./ Ewig bleibt steht in seinem Lied gedichtet,/ was die Natur schafft
und im Rausch vernichtet.“62 (Tieck).
Askadon scheint sich dem teilweise anzuschließen, denn während er die meisten
Menschen für ihre Blindheit für das Wunderbare in der Welt zu verachten scheint,
59 Wackenroder, Wilhelm Heinrich: „Von zwei wunderbaren Sprachen und deren geheimnisvoller
Kraft“ (1797) Ausschnitt aus „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“,
veröffentlicht in: Bohnenkamp, Anne: „Es geht um Poesie. Die schönsten Texte der deutschen
Romantik“ , S. 30 60 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, S.61 61 Schlegel, Friedrich: „Gespräch über die Poesie“ S. 284, zitiert nach:
http://www.zeno.org/Literatur/M/SChlegel,+Friedrich/%C3%84sthetische+und+politische+Schrift
en/Gespr%C3%A4ch+%C3Bber+die+Poesie, abgerufen am 29.01.2013 62 Tieck, Ludwig: „Gedichte“ Dresden 1821, Erster Theil, S. 74-75 (Quellenangabe auf
Arbeitsblatt eines unbekannten Herausgebers)
20
betont er die Bedeutung der Werke menschlicher Schriftsteller und zitiert
Shakespeare und Michelangelo, nimmt daher die Künstler von der allgemeinen
Blindheit aus. „…Michelangelo war ein kluger Mensch, einer der wenigen.‘“63 Und
Sophie spricht von dem Potential literarischer Werke, ihre Leser zu verwandeln64.
Die vielleicht eindrucksvollste Szene ist Sophies und Askadons Tanz zwischen den
Skulpturen, in dem die Grenzen zwischen Stein und lebendigem Körper, Mensch
und Dämon und Fantasie und Wirklichkeit durchlässig werden. „Die Musik drang
durch die Schatten (…). Jede Kälte schmolz in ihrem Inneren, sie fühlte nichts mehr
als die Hingabe an diesen Augenblick und den Willen, niemals die Sehnsucht zu
verlieren nach Momenten wie diesen, in denen es keine Zerrissenheit gab, keine
Einsamkeit, keine Furcht, sondern nur dies: die Gewissheit, dass die Welt voller
Wunder war.“65 – ein Erleben von „dionysischer Ganzheit“, wie Hoffmann es in
seinen „Musikalischen Schriften“ schildert:
„Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts
gemein hat mit der äußeren Sinnenwelt“. Sie bewirke dionysische Ganzheit aller
Leidenschaften durch Vernichtung aller Widersprüche und „erweckt jene
unendliche Sehnsucht, die das Wesen der Romantik ist“ („Musikalische Schriften“,
1810)66 (Hoffmeister).
Im (vielleicht nur scheinbaren, vielleicht auch realen) Erwachen der steinernen
Buchfiguren, wird wieder die Grenze zwischen Kunst und Fiktion und greifbarer
Welt aufgehoben, ähnlich wie in „Klein Zaches genannt Zinnober“, wo sich die
Illustrationen aus den Büchern erheben und Tänze aufzuführen scheinen.
Wohl nirgendwo wird der märchenhafte Charakter von „Das Herz in der
Dunkelheit“ so deutlich wie in der Erlösungsszene am Ende, wo nicht nur der Fluch
über Askadon gebrochen wird, sondern auch Sophie ihre Einsamkeit und
Entfremdung überwindet. Einer der Schlüssel dazu ist ihre Liebe zueinander: „Nur
in der Antwort seines Du kann das Ich seine unendliche Einheit ganz fühlen“67
(Schlegel).
Es ist jedoch nicht allein Sophies Liebe zu Askadon, die ihre persönliche Erlösung
bewirkt, sondern die ganze neue Welt, die sie durch ihn kennengelernt hat und in
63 „Das Herz in der Dunkelheit“ in „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, S. 60, 61 64 Ebd. S. 68
65 Ebd., S. 62 66 Hoffmeister, Gerhart: „Deutsche und Europäische Romantik“, S. 177 67 „Deutsche Literaturgeschichte“, S. 325
21
der sie Akzeptanz und ein Zuhause gefunden hat. „Die Romantik fühlt sich durch
den Verlust der Metaphysik beraubt und von sich und der Welt entfremdet“68
(Weinreich). Von eben diesem Empfinden wird Sophie durch die Entdeckung der
magischen Welt Askadons, aber auch des Zaubers in der „Gewöhnlichen“, d.h.
durch die umfassende „Romantisierung“ im Sinne Novalis‘ befreit: „Die
Scheidewand zwischen Fabel und Wahrheit, Vergangenheit und Gegenwart ist
gefallen, Glaube, Fantasie und Poesie schließen die innerste Welt auf.“69
V. Stellungnahme zur Themenfrage
Angesichts der Zitate romantischer Texte in Gesa Schwartz‘ Werk, die eine
Auseinandersetzung mit dieser Epoche belegen, erscheint ein romantischer Einfluss
auf „Das Herz in der Dunkelheit“ möglich – und vor dem Hintergrund der von mir
herausgearbeiteten Parallelen zu romantischer Literatur nur zu wahrscheinlich.
Jedoch ist es an einigen Stellen durchaus angebracht zu hinterfragen, ob tatsächlich
jede Parallele als Indiz für die Verwendung romantischer Kunstmärchen als
Inspirationsquelle gewertet werden kann.
So habe ich unter dem Vergleichsaspekt „Figurenkonzeption“ die Liebe Sophies zu
einem übernatürlichen Wesen als Parallele und mögliche Verbindung zur Romantik
klassifiziert, ohne zu berücksichtigen, dass dies schon immer ein beliebtes Thema
fantastischer Literatur war und „Das Herz in der Dunkelheit“ zu einer Zeit
veröffentlicht wurde, in der im Zuge des großen Erfolgs der „Bis(s)“-Tetralogie
Stephenie Meyers kaum ein “Urban-Fantasy“-Werk herauskam, das nicht eine
solche Beziehung in den Vordergrund stellte.
Auch die Tatsache, dass Gesa Schwartz ihre Erzählung für eine Anthologie namens
„Magische Liebesgeschichten“ schrieb, lässt einen romantischen Einfluss als nicht
notwendig erscheinen, es sei denn dahingehend, dass die romantische Literatur
generell eine „große Quelle für die Fantasyliteratur“70 (Weinreich) darstellt,
woran Wissenschaftler wie Weinreich keinen Zweifel hegen.
In „Fantasy. Einführung“ betont dieser, dass „die antagonistische Beziehung
Aufklärung versus Romantik“71, deren Anschauungen auch in „Das Herz in der
68 „Fantasy. Einführung“, S. 68 69 Novalis zitiert in: „Deutsche Literaturgeschichte“, S. 320 70 „Fantasy. Einführung“, S. 67 71 Ebd., S. 78-79
22
Dunkelheit“ aufeinandertreffen, sich, ebenso wie weitere Topoi der Romantik,
„besonders in der Fantasy“72 wiederspiegele.
Auch scheinen sich Romantik wie Fantasy gleichermaßen zum Ziel gesetzt zu
haben, das „tief in der menschlichen Psyche verwurzelte Bedürfnis nach
Realitätsüberschreitung zu befriedigen“73.
Dies lässt eine indirekte Verbindung als ausgesprochen wahrscheinlich erschienen,
allerdings ergibt sich die Frage, ob Schwartz‘ Werk nicht vielmehr in der Tradition
der seit dem 20. Jahrhundert etablierten Fantasyliteratur steht und alle
Verbindungen zur Romantik indirekter Natur sind.
Der Blick auf andere zeitgenössische Fantasyerzählungen und –Romane ähnlichen
Inhalts oder auch nur die anderen Erzählungen in der Anthologie scheint dies
jedoch zu wiederlegen.
Ich habe bisher in keinem anderen Werk der Fantasyliteratur (von anderen
Erzählungen oder Büchern derselben Autorin einmal abgesehen) eine solche
Vielzahl von Parallelen zu Texten der Romantik gefunden – und auch nicht auf so
vielen Ebenen zugleich. Schwartz‘ setzt sich gleichermaßen inhaltlich mit einer
bemerkenswerten Vielzahl von Ideen der Romantik auseinander, wie sie deren
Motive adaptiert.
Eine weitere – wenn auch wieder indirekte – Verbindung zur Romantik ist auch die
intensive Beschäftigung der Autorin mit den Büchern Michael Endes, die sie in
zahlreichen Interviews als sehr bedeutsam für sich und ihr Werk erwähnt – Bücher
eines Autors, der „im Sinne der Romantiker (…) die Welt wieder mit Poesie
aufladen, die Phantasie der Menschen mobilisieren und auf eine geistige
Wirklichkeit verweisen (wollte), die hinter den Dingen liegt.“74 Von Ende selbst
stammt der Ausspruch: "Denn danach suchen wir letzten Endes nur, die Poesie ins
Leben zu verweben, im Leben selbst die Poesie zu finden." 75
Und nicht zuletzt äußerte Gesa Schwartz, dass meine Themenfrage als „folgerichtig
und plausibel“ sei und erklärte, „ganz besonders die Epoche der Romantik“ habe
„großen Einfluss“ auf ihr „literarisches Schaffen“76.
72 Ebd. 73 Ebd., S. 39 74 http://www.thienemann.de/me/biografie.htm, abgerufen am 27.12.2013 75 Ebd. 76 Siehe Mailwechsel im Anhang
23
Vor diesem Hintergrund erscheint es mir sehr wahrscheinlich, dass „Das Herz in
der Dunkelheit“ tatsächlich immens von der Literatur der Romantik beeinflusst ist
Nun bleibt nur noch zu beantworten, ob die Erzählung auch in der Tradition des
romantischen Kunstmärchens steht – eine Frage, die ich bejahen würde, denn von
allen Untergattungen der Romantik ist es das Kunstmärchen, das, wie „Das Herz in
der Dunkelheit“ die Auseinandersetzung mit dem Übernatürlichen als Schlüssel zur
Selbstverwirklichung am stärksten in den Mittelpunkt stellt.
Beiden geht es darum, durch den Einsatz des Fantastischen das zu erreichen, was
Tolkien als „recovery“77 bezeichnet – eine tiefgehende Erneuerung des Blicks auf
die uns umgebende Welt.
VI. Quellen- und Literaturverzeichnis
77 http://brainstorm-services.com/wcu-2004/fairystories-tolkien.pdf, abgerufen am 01.12.2013
24
Best, Otto F.; Schmitt, Hans Jürgen (Hrsg.): „Die deutsche Literatur: ein Aufriss
in Text und Darstellung 9. Romantik II“, 1. Auflage, Stuttgart, Philipp Reclam jun.,
1974
Bohnenkamp, Anne (Hrsg.): „Es geht um Poesie. Die schönsten Texte der
deutschen Romantik“ 1. Auflage, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch
Verlag, November 2013
Damm, Sigrid (Hrsg.): „Hyazinth und Rosenblüt – Märchen der deutschen
Romantik“, 3. Auflage, Berlin, Der Kinderbuchverlag, 1990
Eglseer, Jürgen & Gor, Judith (Hrsg.): „Phantast 7: Klassische Phantastik“, s.l.,
fictionfantasymedia, 2012
Fühmann, Franz: „Fräulein Veronika Paulmann oder etwas über das Schauerliche
bei E.T.A. Hoffmann“ 1. Auflage, Rostock, Hinstorff Verlag, 1979
Günzel, Klaus: „E.T.A. Hoffmann. Leben und Werk in Briefen, Selbstzeugnissen
und Zeitdokumenten.“ Claassen, Düsseldorf, 1979 (zitiert nach Arbeitsblatt C.v.O.
ausgeteilt am 07.11.2013)
Hammer, Klaus (Hrsg.): „Französische Feenmärchen des 18. Jahrhunderts“, 3.
Auflage, Berlin, Rütten & Loening, 1979
Hauff, Wilhelm: „Das kalte Herz“, www.mythos-
magazin.de/mythosforschung/us_hauff.pdf, abgerufen am 31.02.2013
Heitmann, Tanja (Hrsg.): „Stille Nacht. Magische Liebesgeschichten“, 1. Auflage,
Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag, November 2011
Hoffmann, E.T.A (Hrsg. Segebrecht,W. & Segebrecht, U.): „Die
Serapionsbrüder“, Frankfurt, Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch Bd. 28,
2008, (zitiert nach Arbeitsblatt C.v.O. ausgeteilt am 07.11.2013)
Hoffmann, E.T.A. (Hrsg.: Diekhans, Johannes): „Klein Zaches genannt Zinnober“,
1. Auflage, Paderborn, Schöningh Verlag, 2012
Hoffmann, E.T.A.: „Märchen und Erzählungen“, 4. Auflage, Berlin/Weimar,
Aufbau Verlag, 1980
Hoffmeister, Gerhart: „Deutsche und europäische Romantik“, 2. durchgesehene
und erweiterte Auflage, Stuttgart, Verlag J.B. Metzler, 1990
Martini, Fritz in Zusammenarbeit mit Martini-Wonde, Angela: „Deutsche
Literaturgeschichte“, 19. neu bearbeitete Auflage, Stuttgart, Alfred Kröner Verlag,
1991
Novalis (Hrsg.: Frühwald, Wolfgang): „Heinrich von Ofterdingen“, 5. Revidierte
und bibliografisch ergänzte Auflage, Stuttgart, Philipp Reclam jun., 2010
25
Novalis: „Hymnen an die Nacht“, abgerufen von:
gutenberg.spiegel.de/buch/5237/2 am 05.01.2013
Pikulik, Lothar: „Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung“, 1. Auflage,
München, Verlag C.H. Beck, 1992
Safranski, Rüdiger: „Romantik. Eine deutsche Affäre“, 1. Auflage, München, Carl
Hanser Verlag, 2007
Schlegel, Friedrich: „Gespräch über die Poesie“, zitiert nach.
www.zeno.org/Literatur/M/Schlegel,+Friedrich/%C3%84sthetische+und+politisc
he+Schriften/Gespr%C3%A4ch+%C3Bber+die+Poesie, abgerufen am
29.01.2013
Schwartz, Gesa: „Grim – das Erbe des Lichts“, 1. Auflage, Köln, Egmont
Verlagsgesellschaften mbH (LYX), 2011
Shelley, Percy Bysshe: „On the Medusa of Leonardo Da Vinci in the Florentine
gallery“, zitiert nach: www.poets.org/viewmedia.php/prmMID/19937, abgerufen
am 02.11.2012
Tolkien, J.R.R.: „On Fairy Stories“, zitiert nach: http://brainstorm-
services.com/wcu-2004/fairystories-tolkien.pdf abgerufen am 01.12.2013
Von Chamisso, Adelbert: „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, 3. Auflage,
Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 2012
Tieck, Ludwig: „Dichtkunst“ in „Gedichte“ Dresden 1821, Erster Theil, S. 74-75
(zitiert nach Arbeitsblatt C.v.O., ausgeteilt am 24.09.2013)
Von Eichendorff, Joseph: „Das Marmorbild“, 2. Auflage, Stuttgart, Philip Reclam
jun., 2008
Von Eichendorff, Joseph, (Hrsg.: Lorenczuk, Andreas; Neumann, Peter Horst):
„Gedichte“, 1. Auflage, Stuttgart, Philipp Reclam jun., 1997
Weinreich, Frank: „Fantasy. Einführung“, 1. Auflage, Essen, Oldib Verlag, 2007
www.kunstzitate.de/bildendekunst/kuenstlerueberkunst/friedrich_cd.html,
abgerufen am 23.12.2013
12abideutsch.wikispaces.com/file/view/Stimmen%20der%20Romantik.pdf/1909
88160/Stimmen%20der%20Romantik.pdf, abgerufen am 15.11.2013