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Gabriele Rabel Goethe und Kant

Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

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"Auszüge aus briefen, tagebüchern, biographien und aus Goethes wissenschaftlichen schriften, soweit sie auf das verhältnis Goethes zu Kant bezug haben"

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Gabriele Rabel

Goethe und Kant

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Gabriele Rabel

Goethe und Kant

RBV-'CRjgg

Sieh' das gebändigte Volk

der lichtscheuen muckenden Käuze Rutscht nun selber o Kant!

über die lvolken dich hin.

(Erster Band

1927

Selbstverlag: IVien, I., Postfach 90

Druck von pau! Gerin, lvien, II., Zirkusgaffe 13

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Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

der Übersetzung.

Copyright 1927 by Dr. Gabriele Rabel, Wien.

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Ich weihe dies Buch ehrfürchtigen Geistes dein weisen Meister, dankfrendiger Seele dem hilfreichen Führer,

ergebenen Herzens dem treuesten Freund

Berrn profeffor

Richard lvettstein

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Vorrede.

Der Titel meines Buches „Goethe nnö Kant" ist kurz, schlagworthaft, viel»inspannend. Ich beeile mich, etwaige falsche Vorstellungen, die er erwecken könnte, zu zerstören.

3ch stelle nicht die Persönlichkeit der beiden Denker abwägend, abschätzend einander gegenüber. Ich unter-nehme es nicht, den ganzen Umfang ihres Lebenswerkes zu „würdigen". Bescheidener, enger umgrenzt ist meine Aufgabe.

N?ir besitzen eine große Reihe mündlicher und schrift-licher Äußerungen von Goethe, worin er Kants mit großer Verehrung gedenkt, ihn mit Stolz einen Gleich­gesinnten nennt und seinen Schriften einen bedeutenden Einfluß auf die eigene „Denkweise und Studien" zugesteht. Diesen Zeugnissen gegenüber nimmt die literarische Welt eine seltsame Stellung ein. weitaus die größte Zahl der Schriftsteller ignoriert sie, kennt sie vielleicht gar nicht. Line zweite Partie hält es mit jenem Kommentator, der Goethes Behauptung, £tli sei doch die einzige Frau gewesen, die er wirklich geliebt habe, mit der zurecht­weisenden Fußnote beantwortete: hierin irrt Goethe.

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Goethe sagt, er sei aus eigener Natur einen ähnlichen Weg gegangen wie Kant. Hierin irrt Goethe. — Goethe findet, fein ganzes Schaffen, Tun und Denken fei den großen Hauptgedanken der Kritik der Urteilskraft analog. Hierin irrt Goethe. — Goethe behauptet, Kant habe sich um die Welt und um ihn ein grenzenloses Verdienst erworben. Hierin irrt Goethe. Denn Goethe ist, — er weiß es nicht, aber jeder bessere Feuilletonist kann es ihm sagen: „der äußerste Gegensatz, der in Deutschland gegen Kantische Denk- und Fühlweise gesunden werden kann". „Nie wäre zwischen Goethes Naturanschauung und der Kants eine Vermittlung, eine Versöhnung zu denken." „Kant und Goethe gehören nicht zusammen." „Kant und Goethe sind die pole des deutschen Geistes­lebens." — „<Es führt keine Brücke, weder der Form noch der Sache nach von Goethe zu Kant." Und Goethe „mußte sich von Kants ganzer Sinnesart und von jeder seiner Lehren abgestoßen fühlen".

Recht klein an Zahl ist die dritte Gruppe von Schrift-stellern, die Goethe die «Ehre antaten, seine Worte ernst zu nehmen.

(Einen Teil der in der Literatur vorgefundenen Urteile habe ich in der Abteilung L des Anhangs zusammen­getragen. Nicht eingereiht ist unter die dort aufgeführten Autoren der einzige, der den Beziehungen Goethes zu Kant bisher ein systematisches Werk gewidmet hat, Karl Vorländer. Da wäre des Zitieren? kein «Ende ge-wesen. Mit großem Fleiß hat Vorländer eine «Lhronik

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der Umläufe Goethes um das Zentralgestirn Kant aus Briefen und Tagebüchern zusammengetragen, die den notwendigen Unterbau für meine Arbeit bildete. In meinem Buch konnte nun das literarhistorische (Element zurücktreten und der Stoff nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet werden.

Meine Aufgabe war durch die Situation vorgezeichnet. (Es galt, Goethes Kantroorte zu erläutern, durch Auszüge aus des einen wie des andern Denkers Schriften das verwandte in ihrer Gedankenwelt vortreten zu lassen. Dabei bot sich mir ein verläßliches Leitseil in den Ausreichungen, die in Goethes Handexemplaren von Kants lverken heute noch zu sehen sind und von denen ich einige in Band II reproduziere, von diesen Strichen und Randbemerkungen ziehen oft deutlich sichtbare Fäden zu Goethes eigenen Schriften, ja so mancher Ausspruch, den man als besonders goethisch zu werten pflegt, entpuppt sich als ein Zitat aus Kant.

3n der Natur meiner Aufgabe lag es, daß — wie in gewissen modernen Bildnereien — die Regel der Perspektive verletzt, Goethes Bild etwas verzerrt werden mußte. Goethe war stolz auf seine Fähigkeit, ein lvelt-panorama zu sein, und auch ich bin nicht blind gegen das reiche, vielfältige Leben, das durch ihn gespiegelt wurde. Hier aber mußte die Kant zugewendete Seite dieses lveltgemäldes in grelles Licht getaucht, in größeren Dimensionen umrissen, das Kantfremde nur flüchtig angedeutet werden. Wer übet Goethes Weltanschauung

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schreiben will, der muß — so fordert yarnack mit Recht — „die verschiedensten, scheinbar widersprechendsten Auße-mngen zugrundelegen und erst aus ihrer Totalität einen Schluß ziehen". Ich will aber nicht über Goethes Weltanschauung schreiben. Ich will bloß zeigen, was er von Kant gelernt hat und worin er schon von Natur kantisch war. Dieses Material in eine Goethe-Mono-graphie einzubauen wäre eine zweite Aufgabe.

In meinem Buch liegt der Schwerpunkt bei Kant, unserm „herrlichen Kant", dem „köstlichen Mann", wie Goethe ihn nennt. Ihn auf dem Umweg über Goethe auch jenen Lesern näher zu führen, die ihm sonst fremd oder feindlich gegenüberstanden, wäre mein lvunsch. Darum bringe ich zahlreiche Auszüge nicht nur aus den Kritiken, sondern auch aus den fast unbekannten Jugend-schriften; darum habe ich mich bemüht, aus diesen Auszügen sprachliche Schwierigkeiten zu entfernen.

Meine Wiedergabe ist in allen Fällen eine freie, auch dort, wo kleiner Druck oder Anführungszeichen ein Zitat ankündigen. Diese Zeichen sollen nur bedeuten: dieses sagt Kant nach meiner Auffassung, nicht aber: wörtlich so sagt es Kant. Mein Buch hat also gleich-zeitig den Charakter eines Kant-Kommentars, ins­besondere will es ein Kommentar zu der für Natur-forscher und Künstler so wertvollen und doch so schwer verständlichen Kritik der Urteilskraft sein.

Line derartige Aufgabe ist schwierig und heikel und die Art, wie man sie löst, naturgemäß immer anfechtbar.

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Dem einen wird auch meine freie Übersetzung immer noch zu schwer verständlich fein, der andere wird die Strenge des Originals darin vermissen. Auch ich selbst be-trachte das (Erreichte durchaus nicht als das Bestmögliche, und wenn das freundliche Interesse, welches meinem Buch vor seinem (Erscheinen entgegengebracht wird, auch nach dem (Erscheinen anhalten sollte, so hoffe ich, in absehbarer Zeit in einer zweiten verbesserten Auflage die Härten und Mängel, die ihm jetzt noch anhaften, ausschalten zu können.

(Eine zweite Schwierigkeit, mit der mein Buch zu kämpfen hat, ist die, daß es nicht für einen einheitlichen Leserkreis bestimmt ist. Manches möchte es den Fach­leuten, manches der großen Schar der „Allgemeiu-gebildeten" mitteilen. Diesem Übelstanb glaube ich indessen durch die äußere Anordnung des Stoffes ab­geholfen zu haben. Die (Einteilung in sehr kurze Para­graphen und ein ausführliches Register wird es, wie ich hoffe, jedem £efer ermöglichen, das zu finden, was er sucht und braucht, und zu überschlagen, was ihn nichts angeht, überhaupt hat mir die Idee vorgeschwebt, ein Nachschlagewerk, eine Materialsammlung für das Thema „Goethe-Aant" zu schaffen; eine wirklich tiefgehende Behandlung der berührten Probleme selbst war bei dem schier grenzenlosen Stoff nicht anstrebbar.

Insbesondere gilt diese captatio benevolentiae für die beiden letzten Hauptstücke. In der Erkenntnis-theorte und Naturwissenschaft glaube ich mich für einiger­

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maßen sachverständig halten zu dürfen, Aesthetik und Ethik hingegen sind Leider, welche ich zum erstenmal, durch die Aufgabe gezwungen, zu betreten wage. Ich baue darauf, daß durch Sachkunde nicht getrübte Un--befangenheit auch ihren Wert hat. Line Nation, die Geschworenengerichte hochhält, mag sich auch gelegentlich in wissenschaftlichen Fragen einen Laienrichter gefallen lassen, wenn der bloß ehrlich ist und sein Gefühl nicht als Wissen ausgeben will.

Nach mehreren Richtungen habe ich Dank zu sagen. Zunächst den Weimarer Goethe-Wächtern: Professor

)ulius Wähle, Professor Max Wecker und Direktor Hans tDahl, die mich bei einem mehrmonatlichen Aufenthalt in Weimar auf das liebenswürdigste unter-stützt, mir mit nie ermüdender Gefälligkeit Manuskripte und Bücher zur Verfügung gestellt und meine Arbeit durch zahllose Auskünfte wesentlich erleichtert und gefördert haben.

Herrn Direktor Wahl vom Goethehaus bin ich noch ganz besonders dafür zu Dank verpflichtet, daß er mir die kostbaren Kant-Exemplare aus Goethes Bibliothek und den herrlichen Goethe-Kopf von Sebbers zur Reproduktion überließ. Es ist der Kopf, der auf dem Titelblatt zu sehen ist. vor ihm liegt die Medaille, die 1(804 nach Kants Tod geprägt wurde, nebst dem Spruch, den Goethe dazu gedichtet hat. Der Kantkopf auf dem äußeren Einband ist die Vorderseite dieser Denkmünze.*)

*) Näheres hierüber im Anhang A ^52.

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Die Medaille stammt aus dem Besitz des sperrn Hofrat Professor ZVurzbach in N?ien, dem ich ebenfalls auf das allerwärmste dafür danken muß, daß er mir dieses seltene Stück aus seiner Sammlung zur Abbildung in meinem Buch freundlichst angeboten hat.

Schließlich möchte ich auch noch der Druckerei Paul Gerin in tüten meinen Dank nicht vorenthalten, die mir durch ihr besonderes (Entgegenkommen das schwierige Experiment des Selbstverlages erleichtert hat.

Für alle Verstöße, die mir etwa in meinem Verlags­noviziat unterlaufen sollten, bitte ich generell um

Nachsicht.

Wien, im Dezember H926.

Dr. Gabriele Kabel,

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Die folgenden Zeilen mögen eventuell auf die leere Seite hinter dem Vorwort des ersten Bandes eingeklebt werden.

Nachschrift.

Nach Vollendung des ersten Bandes wurden neue Abbildungen für den äußeren Einband hergestellt, zu denen ich ein paar erläuternde Bemerkungen nach-tragen möchte. Der K antiKopf ist der gleiche, der in A \32 beschrieben ist, nur wurde dis Umschrift ihrer besonderen Häßlichkeit wegen weggelassen. Der Goethe-Ropf, der ihm jetzt gegenübersteht, stammt aus einer Medaille, die j.824 von Bovy angefertigt worden ist. Sie gehört meinem Schwager Professor Heinrich Lorenz in Graz. (Es sollen von dieser Denkmünze nur zwölf Exemplare existieren, die sämtlich von Goethe persönlich verschenkt wurden. (Einer der glücklichen (Empfänger war der Pfarrer Vogel, der Goethe mit Christiane getraut hatte. (Ein Sohn des Pfarrers wurde im Alter von fünf Jahren von seinem Gheim, dem mit Goethe gleich-a l t r i g e n a k a d e m i s c h e n M a l e r L h r i s i i a n L e b e r e c h t V o g e l , gemalt. Das Portrait hängt in der Dresdner Galerie. (Eben dieser Sohn, später evangelischer Theologieprofessor in Wien, ließ sich als KV jähriger Greis von meinem Schwager ärztlich behandeln und gab ihm sein Fami­lienkleinod zum Dank.

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Über meine Art zu zitieren.

Da mein Thema ungewöhnlich viel Zitate erfordert, die den Leser leicht verwirren können, so muß ich einen besonderen Leitfaden dazu beigeben.

Kleine Schrift bedeutet immer ein Zitat oder wenigstens ein Referat über fremde Gedanken. Der Lebende hat recht, auch den erlauchtesten Toten gegenüber, und so erscheinen meine eigenen Worte in großer Schrift, die Aussprüche Goethes und Kants dagegen in kleiner.

Der Buchstabe A verweist auf die Abteilung A des Anhangs, die im Rücken des zweiten Bandes lose, leicht herausnehmbar, eingefügt ist.

Die beigefügten Zahlen geben die Kümmern an. Auszüge aus Kant enthält diese Abteilung nicht,

lvenn also einem Zitat das Zeichen A angehängt ist, so weiß der Leser, auch ohne nachzuschlagen, daß er be­stimmt nicht Kantische Worte liest.

Das Zeichen § ohne Zusatz bezieht sich immer auf die Einteilung des hier vorliegenden Buches. Wenn Kants Paragraphen gemeint sind, so wird der abgekürzte Titel des benutzten Werkes vorangesetzt (z. B. Prol. § J3, UKr. § 6).), wo es angeht und nötig ist. (Es geht nicht an, wo Gedanken aus verschiedenen Schriften ver­

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schmolzen wurden, und es ist nicht nötig, wo der ganze Abschnitt sich auf den gleichen Fundort bezieht.

Daß die Auszüge aus Kant fast niemals wört-liche Zitate sind, wurde schon hervorgehoben.

Für die am häufigsten vorkommenden Werke Kants benütze ich folgende Abkürzungen:

RV. Kritik der reinen Vernunft, Prt). Kritik der praktischen Vernunft, UKr. Kritik der Urteilskraft, Phil. Rel. philosophische Religionslehre (Religioninner­

halb der Grenzen bloßer Vernunft), Prol. prolegomena zu jeder möglichen Metaphysik,

ITT. A. Metaphysische Anfangsgründe der Natur-Wissenschaft.

Soweit es irgend möglich ist, gebe ich keine Seiten­zahlen, sondern Paragraphen oder Kapitelüberschriften. Wo es die ersteren nicht gibt und die letzteren allzu um-ständlich wären, zitiere ich nach den Seitenzahlen der Philosophischen Bibliothek, dabei aber für Rv. und UKr. die Seitenzahlen der von Goethe benutzten Auflage ver-wendend, wie sie in der philosophischen Bibliothek am Rande beigedruckt sind. Leider decken sie sich nicht durch-gehend? mit den wirklich in Goethes Büchern stehenden Seitenzahlen, aber da diese nur Wenigen zugänglich sind und auch ich sie nicht dauernd kontrollieren konnte, so muß ich mich auf die Angaben der philosophischen Bibliothek stützen.

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[<S] bedeutet eine von Goethe angestrichene Aant-Stelle.

Goethe zitiere ich, wo überhaupt eine genauere Angabe notwendig ist, nach „!v. A.", d. h. der großen Weimarer oder Großherzogin Sophie-Ausgabe. Diese Ausgabe hat vier Abteilungen:

I. poefte, Dramen, literarische Aufsätze u. dgl. II. Naturwissenschaftliche Schriften.

III. Tagebücher. IV. Briefe.

Die Angabe lv. A. ohne römische Zahl bezieht sich auf die Abteilung I.

Hecker bedeutet: Goethe, Maximen und Reflexionen, Ausgabe von Max Hecker, Schriften der Goethe-Ge­sellschaft H905.

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Einleitung. ( E r s t e s K a p i t e l .

Grundsätzliches. § v

Goethes Selbstzeugnisse über sein Verhältnis zu Kant.

Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden, so bliebe nicht viel übrig. Hiebet aber ist es keineswegs gleichgültig, in welcher Epoche unseres Lebens der £influ§ einer fremden Persönlichkeit stattfindet. Daß Lessing, lvinckelmann und Kant älter waren als ich, und daß die beiden ersten auf meine Jugend, der letztere auf mein Alter wirkte, war für mich von großer Bedeutung (A 192*).

Kant ist der vorzüglichste unter allen neueren Philosophen ohne allen Zweifel. <Er ist auch derjenige, dessen Lehre sich fortwirkend er-wiesen hat, und die in unsere deutsche Kultur am tiefsten eingedrungen ist. Lr hat auch auf Sie gewirkt, ohne daß Sie ihn gelesen haben. Jetzt brauchen Sie ihn nicht mehr, denn was er Ihnen geben konnte, be­

sitzen Sie schon . . . Kant hat nie von mir Notiz genommen, obwohl ich aus eigener

Natur einen ähnlichen Weg ging wie er. Meine Metamorphose

der pflanzen hatte ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinn seiner kehre (A 200).

*) Ober meine Art zu zitieren siehe Schluß der Vorrede.

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2 Grundsätzliches

Die hier zitierten Aussprüche sind uns durch (gtfermann überliefert. Muß uns das mißtrauisch gegen sie machen ? )ch glaube nicht. Freilich, wenn ich «Lcker-inanns Ausgabe von Goethes Naturwissenschaft mit den Original Manuskripten verglich, waren meine Gefühle für diesen Herrn nicht immer freundlich. N?as für sinn-lose Konglomerate hat er aus den verschiedensten Aon-zepten zusammengekleistert! Und hier und dort stieß ich gar auf Einschiebsel in Lckermanns Handschrift, die ich — nicht ohne Zorn und (Eifer — seiner Phantasie zuschrieb. Aber ich mußte ihm diesen Verdacht immer wieder abbitien, irgendwoher aus Goethes Vorräten hatte er alle Übergänge herausgeschnitten und bloß transplantiert. Daß in den „Gesprächen" auf Datum und Satzfolge nicht zu sehr zu bauen sei, das glaub ich, daß aber der getreue Horcher einigermaßen bedeutungsvolle Aussprüche frei erfunden hätte, glaube ich nach diesen Erfahrungen nicht mehr. Wäre selbst wirklich Goethes überraschende Hochschätzung der Brabanter Bogen­schützen, sein Rat, deutsche Turner nach Flandern zu schicken, auf daß sie Pfeile schnitzen lernen*), ein Wunsch­traum <2tfermatms — welches Interesse hätte diesen verleitet, zugunsten Kants zu träumen? Hatte er doch selbst, wie wir oben hörten, Kant nie gelesen!

Aber seltsam! so sehr des Bemerkens wert diese Zeugnisse wären, so wenig sind sie bemerkt worden.

*) peierfeti, Die Glaubwürdigkeit Lckermanns, Sitjungsbet. d. Berliner Akademie,

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§ V Goethes Selbstzeugnisse, 5

Nur ein einziger Schriftsteller, nämlich <£. <Laxo in seiner ausgezeichneten Abhandlung „La philosophie de Goethe" bekennt ehrlich feine Verlegenheit über den ersten Aus-

sprach: Dieses Wirken Kants auf Goethes Alter ist dem geübtesten

Auge nicht bemerklich, und wir können in dem Bekenntnis des Dichters nur eine letzte Huldigung an den philosophischen Kultus Schillers (eben.

Was die zweitzitierte so auffallende Äußerung anlangt, so haben bloß drei Interpreten zu ihr Stellung genommen — mit Sachkenntnis nur der alte Danzel (\8$3). Von dem restlichen paar lebender und sehr angesehener Aantforscher beschränkt sich der eine auf die vorsichtige Wendung

e- würde eine eigene Abhandlung erfordern, nachzuweisen, inwie-fern die Metamorphose im Sinn von Kants Lehre gedacht fei,

der andere findet Goethes Ausspruch

nicht nur dunkel, sondern schlechthin paradox. Denn nie ließe sich zwischen Goethes Naturanschauung und der Kants irgendwie eine Vermittlung oder eine Versöhnung denken. £s ist klar, daß wenn hier eine Beziehung zwischen Kant und Goethe vorwaltet, sie nicht im Inhalt der Natnranschaunng beider gesucht werden darf, sondern nur in der Form.

Und weil diese Erkenntnis dem Philosophen so klar scheint, fühlt er sich berechtigt zu der folgenden kunstreichen Interpretation: so wie Goethe die festen Arten und Klaffenbegriffe der ünne'fchen Botanik verworfen habe und das Dasein der Pflanzen aus den Bedingungen ihres Werdens erkläre, so habe Kant den

i*

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Grundsätzliches.

Seinsbegriff der dogmatischen Metaphysik aufgelöst und den Gegenstand der Erfahrung auf die Bedingungen seiner Möglichkeit zurückgeführt.

Alle, aber auch wirklich alle Elemente dieses ver-gleich? liegen Goethes Denken gleich fern. Vor allem, um nur das Unkomplizierteste zu nennen, hat er gar nicht die festen Arten und Klaffen der Linneschen Botanik verworfen, über diesen Punkt und darüber, was die Metamorphose der Pflanzen in Wirklichkeit mit Kants Lehre zu tun hat, wird das naturwissen-fchaftliche Hauptstück ausführlich Kunde geben.

Line Vermittlung und Versöhnung zwischen Kants und Goethes Naturanschauung ist freilich nicht denkbar! Denn wie sollte man vermitteln und versöhnen, wo ohnedies alles in reinster Harmonie verläuft. Wesentliche Stücke seiner Naturlehre wie die Definition des Grg anis-mus und des Typus hat Goethe von Kant über-nommen, und wo er nicht geradezu lernt und entlehnt, freut er sich der spontanen Übereinstimmung. Der Kritik der Urteilskraft ist er „eine frohe Lebensepoche schuldig", „denn die großen Hauptgedanken des Werks sind seinem ganzen bisherigen Denken, Tun und Schaffen ganz analog (A \68).

Dieser Ausspruch ist sehr bekannt, steht er doch in dem allgelesenen Aufsatz „Einwirkung der neueren Philosophie". Aber er teilt das Schicksal sämtlicher Goetheworte über Kant — man gibt nichts darauf. Allzufest hat man sich die polare Gegensätzlichkeit der

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§ V Goethes Selbstzeugnisse, 5

beiden Denker in den Kopf gebohrt. Die Überein­stimmung sei nicht so bedeutend, wie es Goethe ver-meinte, sagt man, und beruft sich dabei mit Vorliebe auf die folgenden Zitate aus dem gleichen Aussatz:

ich sprach nur aus, was in mir aufgeregt war, nicht aber, was ich gelesen hatte ... es gelang mir nicht, mich den Kantifchen anzu­nähern ... sie sagten mit lächelnder Verwunderung, es sei wohl ein Analogon Kantischer Vorstellungsart, aber ein seltsames. Sie konnten mir nichts erwiedern, noch mir irgend förderlich sein.

Großer Beliebtheit erfreut sich ferner das Urteil über die Kritik der reinen Vernunft:

Sie lag völlig außerhalb meines Kreises ... ins Labyrinth selbst konnt ich mich nicht wagen, bald hinderte mich die Dichtungs­gabe, bald der Menschenverstand, und ich fühlte mich nirgend gebessert.

Aber dieser ganze Aussatz, in dem Goethe zu­sammenhängend „Kants (Einfluß aus seine Denkweise und Studien" darzulegen wünscht (Tagebuch 5.\8\7), ist unklar und voller Widersprüche. Nach zwei Iahr-zehnten die allmähliche Entwicklung von Gefühlen historisch zu schildern ist gar schwer. Zudem dürfte jeder Kantleser ähnlich unsicheres Hin- und £?etpendeln zwischen Bewunderung und Widerwillen besonders im Anfang erlebt haben. Gerade in solchem Wechsel zwischen Angezogen- und Abgestoßenwerden kommt oft der tiefste Einfluß zustande.

Unmittelbar grenzen an die zitierten Sätze die folgenden an, die grundsätzlich Übergängen werden:

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6 Grundsätzliches.

Nun schien zum erstenmal eine Theorie mich anzulächeln . . . Aber- und abermals kehrte ich zur Kantischen Lehre zurück, einzelne Kapitel glaubte ich vor andern zu verstehen und gewann gar manches zu meinem Hausgebrauch.

Das bezieht sich ausdrücklich auf die Vernunft-kritik.

Nun aber erschien die Kritik der Urteilskraft, und dieser bin ich

eine höchst frohe Cebensepoche schuldig . . . Leidenschaftlich aufgeregt ging ich auf meinen Wegen nur desto rascher fort, weil ich nicht wußte, wohin sie führten und für das, was und wie ich mirs zugeeignet hatte, bei den Kantianern wenig Anklang fand . . . Auf mich selbst zurück­gewiesen studierte ich das Buch immer hin und wieder. Noch erfreuen mich in dem alten Exemplar die Stellen, die ich damals anstrich, sowie dergleichen in der Kritik der Vernunft, in welche tiefet einzudringen mir auch zu gelingen schien, denn beide Werke aus einem Geist entsprungen deuten immer eins aufs andere.

Und jetzt erst heißt es: Nicht ebenso gelang es mir, mich den Kantischen anzunähern ..

Aber wer sind denn diese Kantifchert? Welches Recht haben wir, ihr Urteil als maßgebend anzusehen? Man lese, was Schiller (A 67) über sie sagt. Wenn Goethe bei der Lektüre der Vernunftkritik das Gefühl hatte, daß es ihm gelang, tiefer einzudringen, dann darf man folgern, daß Funken aus den Zeilen zu ihm über­sprangen und zündeten. Was also verdankt er dieser Lektüre? Was ist es, was er zu „seinem Hausgebrauch" daraus gewann?

Die Frage ist bis heute noch nicht einmal gestellt. Zu ihrer Beantwortung sind „die Striche in den alten Exemplaren" ein unschätzbares Instrument. (Ein Schrift­

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§ v Goethes Selbstzeuanisse, 7

steller behauptet zwar, es seien „die Striche eines, der sich durch Unterstreichen gewisser Worte rein mechanisch vor dem Einschlafen zu bewahren sucht". Ich reproduziere einige von ihnen durch Vbraldruck in der Abteilung B des 2. Bandes. Mag sich dann jeder Leser selbst sein Urteil bilden. )ch für mein Teil fand Goethes An-streichungen vielfach sinngemäßer als die Sperrungen in der Ausgabe der Phil. Bibliothek. Gft ist mir eine zuvor dunkle Stelle durch Betonen der von Goethe hervorgehobenen Worte plötzlich licht geworden.

Nur ein einziges Werk kam mir in Goethes Bi-bliothek noch unter die Augen, welches eben so stark mit Tesespuren gesegnet ist wie die beiden Aantkritiken, es ist das Buch von Geoffroy 5t. Hilaire, welches Goethe als Unterlage für seinen Aufsatz „Principes de philosophie zoologique" gedient hat. Hier sind ganz unverkennbar jene Stellen bezeichnet, die zu künftiger literarischer Verwendung bestimmt waren. Ahnlich ver-Hält es sich aber auch mit den Aantbüchern. )n vielen Fällen lassen sich die Fäden verfolgen von einem be-strichten Absatz zu Goethes eigenen Schriften. Und für manche Äußerungen Goethes über Kant bilden diese Striche den Kommentar. Sieht man z. B. die Gestalt, die Goethe den §§ J5 und *6 RV gegeben hat, so begreift man plötzlich die seltsam klingende Wendung A *68, wo er die Synthese und Analyse, die er immer wie das Atemholen abwechselnd betrieben Habe, mit Kant in Zusammenhang bringt. Auch da sind die Antiker schnell

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8 Grundsätzliches.

fertig mit dem Wort: Goethe hat Aant hier wie überall total mißverstanden. Ach nein, er hat bloß den Kantischen Gedanken weiter gedacht.

Aber, sagt jemand, wenn Goethe ernstlich Aant einen bedeutenden (Einfluß aus seine Entwicklung bei-gemessen hätte, wie konnte er schreiben (A \72 b):

vorläufig will ich bekennen, daß nach Shakespeare und Spi-noza auf mich die größte Wirkung von Sinne ausgegangen.

Da ist doch Aant nicht dabei!

Nur gemach. Line Parallelstelle in einem Brief an Zelter (A ^59) gibt die sehr einfache Erklärung:

Außer Shakespeare und Spinoza wüßte ich nicht, daß irgend ein Abgeschiedener eine solche Wirkung auf mich getan als £imte.

Ein Abgeschiedener! Und Marti war für Goethe ein Lebendiger, ein höchst Lebendiger gewesen. Neue Pro-duktionen tauchten alljährlich auf, die Gemüter erregend, Schüler kamen aus Königsberg und schwärmten begeistert nicht nur von dem Scharfsinn, dem vielseitigen Mssen des Meisters, nein, auch von seinem entzückenden Mtz, dem Liebreiz und der Anmut seines vortrags, der Güte seines Wesens. So mag manches uns unbekannte Bonmot, mancher Gedankensplitter seinen Weg zu Goethe ge-funden haben, töte sollte er den Zeit- und Landesgenossen mit Shakespeare, Spinoza und Linrte auf eine Stufe stellen. JEjätte wohl Goethe einen von diesen „unser alter Lehrer" titulieren können, wie er in A uo Aant bezeichnet? In dieser Quelle, einem Brief an Voigt.

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§ v Goethes Selbstzeugnisse. 9

wird Kants „Anthropologie" ziemlich heruntergerissen, Aber trotzdem hören wir auch da noch von

all dem vortrefflichen, Scharfsinnigen, Köstlichen, worin unser alter Lehrer sich immer gleich bleibt.

Ahnliche Epitheta finden wir da und dort: „der köstliche Mann", „unser Meister", „unser herrlicher Kant" (A \69, A *93 b) „unser vortrefflicher Kant" (A 1,55). In A \35 lesen wir, daß

kein Gelehrter ungestraft jene große philosophische Bewegung, die durch Kant begonnen, von sich abgewiesen habe.

Auf Lckermanns Frage, welchen von den neueren Philosophen er für den vorzüglichsten halte, antwortet Goethe (A 200):

Kant ist der vorzuglichste, ohne allen Zweifel . . .

zu Parthey sagt er (A 203) Kant ist der erste, der ein ordentliches Fundament gelegt hat - . .

Paulus gegenüber spottet er (A 2ZH) über jene Philo­

sophen, die sich trotz aller Warnungen Kants um das Spekulieren über

das Übersinnliche vergeblich abmühen,

Entsprechend zu <2<f ermann: (A 208 b)

Kant hat unstreitig am meisten genützt, indem er die Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei.

Aus zweier Jeugen Mund hören wir (A vt); daß Goethe auf einem Spaziergang in Dornburg in tiefer Ergriffenheit einen Hymnus auf Kants Ethik anstimmt, sein „unsterbliches Verdienst" auf diesem Felde preist. Und ähnlich enthusiastisch wird die Ästhetik beurteilt:

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to Grundsätzliches

die guten Menschen, wenn sie der Sache näher kommen wollten, müßten Kernte Kritik der Urteilskrast lesen (A 222) ... es ist ein grenzenloses Verdienst unseres alten Kant um die Welt und ich darf sagen auch um mich . . . (A 2U)

Und zuguterletzt legt Goethe Soret gegenüber (A 2\2) ein erstaunliches Bekenntnis ab.

lvir alten Kantianer, sagt er. Denn ich bin Kantianer.

3ch habe für diese Einleitung nur Äußerungen allgemeinen «Lharakters herausgegriffen. Sie genügen, denk ich, um über die )dee Caros lächeln zu machen, es fei bloß eine Huldigung für Schiller (!), wenn Goethe von einem Wirken Kants auf fein Alter spricht.

Nach alledem ist meine litterarische Situation klar. <Es ist nicht eine These, die ich aufstelle und die ich zu beweisen hätte, daß Goethe in vielen Dingen ein Schüler Kants gewesen, (fr selber behauptet es. )ch habe blos zu zeigen, welche Kapitel aus Kants Werken es find, die Goethe „vor andern verstehen", welches die großen Hauptgedanken, die er als feinem Schaffen, Tun und Denken analog empfinden konnte, was das „gar manche" ist, das er „zu feinem Hausgebrauch gewann", inwiefern er „aus eigener Natur einen ähnlichen lveg ging" uff.

(Es handelt sich also darum, die Gedankenwelt der beiden Männer auf jenen Gebieten, wo sie sich berühren, im (Einzelnen zu vergleichen. Bei diesem Vergleich wird allerdings — trotz der Symmetrie des Titels — Kant ein größerer Kaum zugewiesen werden müssen als Goethe. Denn erstlich sind des letzteren Schriften all­

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§ 2. Historischer Überblick. U

gemeiner besannt und leichter verständlich, die des Philosophen muffen einem sehr großen Teil des lesenden Publikums erst besannt gemacht werden. Außerdem ist eine gewisse Unf^mmetrie schon dadurch gegeben, daß . Goethe zu Kants Schriften Stellung genommen hat, niemals aber das Umgekehrte geschah. <2s ist also der fast vorgeschriebene Weg: erst ausführlich zu referieren, was Kant lehrt, und dann zu sehen, was Goethe dazu sagt.

§ 2 .

Kurzer historischer Überblick über Goethes Kantstudien.

Sa Kant erst „auf Goethes Alter wirkte", so konnte die Wirkung eine so stürmische nicht mehr fein wie die der Zuerstgekommenen. Für die Seele gilt nicht das Gesetz der Superpofition der Kräfte, in ihr erzeugt eine Kraft nicht unter allen Umständen die gleiche Be­schleunigung, ob sie allein, mit andern zugleich oder nach ihnen einwirke. Hier geht das Alter, also die Zeit mit in die Rechnung ein als eine Widerstandsgröße, so daß bei gleichen Kräften die Beschleunigung dem Lebensalter umgekehrt proportional ausfällt.

Daß aber Kant überhaupt auf Goethes Alter wirken konnte, das ist auch mitbedingt durch die große Ver-änderung, die mit diesem um die lNitte feines Lebens vorging. (Eine solche Wandlung, ja oft geradezu eine Umkehr ihrer Denkweise tritt bei manchen Menschen um ihr 40. )ahr herum ein. Nicht etwa, daß die

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Grundsätzliches.

«Elemente der jugendlichen Weltanschauung mit einem Schlag verschwinden würden, die Grundanlage des Menschen — sei sie durch die Sterne bestimmt oder durch Vererbung — kann sich vermutlich nicht wandeln. Aber der bewußte Intellekt verlegt den Schwerpunkt, oder um mit Keyserling zu sprechen, die Einstellung wandelt sich. (Ein drastisches Beispiel aus jüngster Ver­gangenheit bildet Rudolf Steiners Salto mortale aus dem Haeckelismus in die Theosophie. Aber auch Kant widerrief in der zweiten fjälfte seines Lebens, was er in der ersten gelehrt hatte, und weil er doch seine „vor­kritische" Grundlage nicht vernichten konnte, malt sich in seinen späteren Werken ein erbitterter, oft fast tragischer Kampf zwischen dem neuen und dem alten philosophisch »n Adam. Und so hat auch Goethe um sein 40. Jahr seine große Wandlung durchgemacht. Als er aus Italien heimkam, war er den Freunden fremd.

Adolf Netz charakterisiert im Goethe-Jahrbuch ^924 den Bruch in Goethes Leben so:

Der nachrömische Goethe der Reife ist nicht der Vollender des jungen Goethe, sondern tritt neben ihn als ein neuer Goethe, und dieser ist nicht der „deutsche Dichter", der jener werden wollte; um ihn sammelt sich nicht sein Volk, sondern eine internationale Gemeinde der Studierten.

Wir haben es hier ausschließlich mit dem reifen Goethe, dem „Goethe der Studierten" zu tun. Der „deutsche Dichter" geht uns — für diesmal — nichts an. Zwar findet man in Kants Schriften Stellen, die ein

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§ 2. Historischer Überblick, 15

merkwürdig tiefes Verständnis für eine künstlerische Weltanschauung erraten lassen, aber Dämonisches, Dionysisches, Senfitivität, Leidenschaft sind jedenfalls nicht die Eigenschaften, die für Kant charakteristisch sind und durch die er Macht über die Menschen gewann. Den Denker und Forscher Goethe muß man isolieren, wenn man den vergleich mit Kant durchführen will. Diese Isolierung fällt indessen nicht schwer, weil eben bei dem „Goethe der Reife" der Akzent auf der kritischen Tätigkeit liegt. Und so geschieht das Seltsame, daß Gundolf, der die Verwandtschaft seines Helden mit Kant empört ableugnet, dennoch nicht umhin kann, in der zweiten Hälfte seines Buches einen Beleg um den andern für eben diese Verwandtschaft beizubringen.

Für die Wandlung, die mit Goethe um sein $0. )ahr vorging, kann man eine Gruppe von Dokumenten als repräsentativ auffassen, die zufällig sämtlich in den Februar V89 fallen.

Da erscheint im Deutschen Merkur ein Aufsatz von Goethe, der das Lob des Unterscheiden? singt, und Knebel tüchtig die Lernten liest, weil er nicht Zusammengehöriges zusammenziehen will. Und da reagiert Iacodi mit den denkwürdigen Worten:

Du bist ja geworden wie unsereiner und treibst Metaphysik! A d i e u 1 e p a r a d i s !

Unmittelbar darauf hören wir von Wieland die erstaunliche Kunde:

Goethe studiert seit einiger Zeit Kant mit großer Applikation.

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Grundsätzliches.

Und in demselben Februar 5739 spricht Herder über Goethes Denkart ein höchst auffallendes Urteil, ein Urteil, in dem sich bereits der künftige Antagonismus andeutet.

Moritz' Philosophie ist ganz goethifch . . . Mir ist diese Philo­sophie im feinsten Grgcn zuwider, sie ist selbstisch, abgöttisch, unteil-nehmend und für mein Herz desolierend.

(Eben dieser Herdern so verhaßte Karl Philipp Moritz ist es gewesen, der sozusagen Goethe schon in Italien auf das Kantstudium vorbereitet hat. Denn wie im ästhetischen Hauptstück aezeigt wird, weisen die Ansichten dieses Kunstphilosophen mit denen Kants eine überraschende Parallelität auf.

In den ersten fünf Jahren fühlte sich Goethe am mächtigsten von Kants Naturphilosophie angezogen. Die ideologische Urteilskraft, schreibt er an Reichardt (A v), interessiert ihn noch mehr als die ästhetische. Und in den Aufsätzen, die zwischen *790 und ^95 entstanden sind, finden wir überall das Lcho dieser Lektüre.

Später, während der Freundschaft mit Schiller steht die Ästhetik obenan, und was schließlich am Ende seines Lebens den abgeklärten Greis am meisten ge­fangen nimmt, das ist Kants (Ethik und Religions­philosophie.

Wenn Karoline Herder aussagt: (A 69)

Goethe wurde nach und nach Anhänger und Schulet von Kant,

Lichte und Schelling. Der letzte Philosoph hatte immer bei ihm recht,

so ist etwas Wahres daran. Jedem neu auftauchenden

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§ 2. Historischer Überblick, 15

kicht wendet er sich zu rote eine nie ganz befriedigte Frau: Jetzt endlich wird es „der Richtige" fein. Als die erste frohe Kant-<Epoche vorüber ist, vermag er im Juni Fichte zu schreiben: *

Ich werde Ihnen den größten Dank schuldig feilt, wenn Sie mich endlich mit den Philosophen versöhnen, die ich nie entbehren und mit denen ich mich nie vereinigen konnte.

(Ein paar Jahre später schreibt er an Schelling, er verspüre einen Zug zu seiner Philosophie, wie noch nie zu einer vorher. Aber Fichte sowohl als ScheHing sind ihm doch nur ephemere Größen, die «Einzigen, die er sich in sein Alter hinüberrettet, sind Kant und Spinoza.

Line Periode der Kantserne scheint zwischen 1805 und *81? zu liegen. Hier schiebt sich gelegentlich außer Spinoza auch Giordano Bruno in den Vorder­grund. Und in dieser Periode mag auch das Distichon entstanden fein:

Zwei Zahrzehende kostest du mir; zehn Jahre verlor ich, Dich zu begreifen und zehn, mich zu befreien von dir.

Diese Worte können auf niemand anders als auf Kant gemünzt sein, sind auch im Register der Weimarer Ausgabe unter dessen Namen angeführt, ©b freilich Goethe hier überhaupt in eigener Person spricht, bleibt offen, in den Xenien kommen die verschiedensten keute zu ZVort. Aber so weit es überhaupt erlaubt ist, aus

Versen Schlüsse zu ziehen, ist dieser Stoßseufzer vielsagend. Man braucht nicht zehn Jahre, um sich von etwas zu bs-freien, was einem von Anfang lästig oder gleichgültig war.

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^6 Grundsätzliches^

3m )ahre *8*7, da Goethe daran geht, seine wissenschaftliche Biographie zu schreiben, beginnt er Kant neu zu lesen und sofort fühlt er sich mit neuer Gewalt gepackt. Die bewundernden Aussprüche, die wir aus seinem Mund gerade aus den folgenden fahren vernehmen, sind darum besonders wertvoll, weil es damals nicht mehr wie um V98 zum guten Ton gehörte, von Kant mit Verehrung zu sprechen. Kant galt als überwunden, erledigt, abgetan. Und gerade in dieser Zeit, wo, wie Cousin meldet, „alles was Jugend, Kraft, Zukunft hat" sich von dem einst vergötterten abwendet, hält Goethe treu zu ihm und benützt jede Gelegenheit, ihn zu preisen.

Wenn jemand — wie Adolf Metz oder auch mit Einschränkungen Gundolf — feststellt, daß die Richtung ins Maßvolle, Methodische,Grüblerische,Kritische Goethes künstlerischem Lebenswerk geschadet habe, so wider­spreche ich nicht. Indessen: hätte Goethe diese Richtung vermieden, wäre er „nur Narr, nur Dichter" geblieben, er wäre nicht Goethe für uns geworden, nicht ein Führer und Vorbild für Alle.

Goethe selbst hat, genau wie auch Schiller, in dem Urteil darüber, ob ihm die Philosophie mehr genützt oder mehr geschadet habe, geschwankt. 2lber wer hat nicht an sich solche schwankende (Einschätzung vergangener Ereignisse und Bestrebungen erlebt? kver weiß überhaupt, was ihm nlitzt und was ihm schadet?

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§ 2. Historischer Überblick.

(Eine Art Fatalismus oder Frömmigkeit ist wohl der Weisheit letzter Schluß. Die Vorsehung oder dos Unterbewußtsein werden schon das Richtige zu finden wissen, wenn wir uns nur ihrer Leitung gläubig über-lassen. Die Entwicklung, die ein Mensch nehmen muß, liegt in seinem „mtelligibeln Charakter" begründet, und von dem wissen wir nichts.

jedenfalls begeht man angesichts der Entwicklung, die Goethe nun einmal durchlaufen hat, einen me­thodischen Grundfehler, wenn man den jungen Goethe mit dem alten Kant vergleicht; um so mehr als Kant bitteres Unrecht dadurch geschieht, daß man seine )ugendschriften überhaupt nicht berücksichtigt. Ulan stelle sich einmal vor, man kenne von Goethe nichts als was er nach dem 60. )ahr schrieb — den zweiten Teil Faust ohne den ersten, die lvanderjahre ohne die Lehrjahre, die Wahlverwandtschaften, aber nicht den Werther. Alle diese lehrhaften, unlebendigen Konstruktionen sind ja nur erträglich für uns durch den verklärenden Glanz, der von den Iugendwerken her auf sie und ihren Autor fällt. So offenbaren aber auch Kants Kritiken dem Leser ein ganz anders intensives Innenleben, wenn er ihre Vergangenheit kennt, als wenn er es nur mit ihnen allein zu tun hat.

(Eher als den jungen Goethe mit dem alten Kant mag man noch den alten Goethe mit d?m jungen Kant vergleichen, besonders wenn es auf allgemeine Gefühle ankommt, denn mit dem dichterischen Schwung des

2

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*8 Grundsätzliches,

jungen Philosophen kann es der dem alten Dichter ver-bitebene Rest immer noch aufnehmen.

(Einen zweiten Fehler warf schon Danzel der Literatur über Goethe vor, daß man nämlich diesen ewig lernenden, ewig strebenden Mann auf Äußerungen, die er zu irgend einer Zeit gemacht, festlegt und ihm verwehren möchte, je darüber hinaus zu kommen.

Zwei charakteristische Beispiele:

Das eine betrifft das radikale Böse.

fjctt da Goethe, höchstwahrscheinlich ohne noch Kants Religionslehre gelesen zu haben, auf irgend ein on dit hin in vertraulichen Briefen an seine Freunde eine flüchtige «Empfindung hingeworfen: Kant hat sich „mit dem Schandfleck des radikalen Bösen besudelt". GH dieser Schandfleck! «Er ist ein Schandfleck für die deutsche Literatur geworden. Goethe hat längst privat (A und öffentlich (A ^88) sein Urteil zurückgenommen, hat sich längst zur Annahme des radikalen Bösen bekannt, aber seine Verehrer binden ihn noch hundert Jahre nach seinem Tode auf jene undurchdachte Augenblicks­äußerung fest.

Das zweite Beispiel.

Goethe hat am Beginn seiner philosophischen Studien Schiller übelgenommen, daß er die Urpflanze als eine )dee bezeichnete, er glaubte sie doch „mit Augen zu sehen", und der Satz Kants, es sei das Eigentümliche der )dee, daß keine (Erfahrung ihr kongruiere, macht ihn

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§ 2. Historischer Überblies. 19

„tief unglücklich". Nun muß Zeit seines Lebens dieser verstockte Realist einen tiefen Widerwillen gegen alles verspüren, was zwischen Geist und Sinnlichkeit eine Kluft legt. (So z. B. Simmel.) <£t aber findet (A V5)

bei redlich fortgesetztem Bemühens!), daß der Philosoph wohl möchte recht haben, welcher behauptet, daß keine Idee der Erfahrung völlig kongruiere,

und spottet resigniert über unser Bestreben, diesen Hiatus, wenn wir schon durchaus nichts vermögen, mit Albernheit zu überwinden.

Sehr richtig bemerkt dazu Max Morris ()ub.-Ausg. Bd. 39), Idee und Erfahrung in ihrem Widerstreit fei das große Hauptthema von Goethes Mffenschafts-lehre. Aber dieses große Hauptthema verdankt er eben Kant. Der Stachel jenes kantischen Satzes, der ihn erst so unglücklich gemacht hat, bohrt jich tief und tiefer ein, bis endlich der schmerzende Fremdkörper durch intensive Stoffwechfelarbeit aufgelöst und assimiliert wird. Sann redet der Alte mit wohlwollender Überlegenheit von „dem beschränkten Begriff einer titpflanze", von einer Forderung, die ihm „damals unter der sinn-lichen Form einer Urpflanze vorschwebte", und er be-richtet stolz, wie er sich von diesem beschränkten, allzu konkretgefaßten Begriff der Urpflanze zum „Begriff und wenn man will zur Idee" der Metamorphose

erhob. (A 22).) Seine Anhänger aber wollen ihn von der be-

schränkten geistigen Stufe der Urpflanze niemals entlassen.

2'

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20 Grundsätzliches,

Schon die meisten Goethe-Ausgaben tun so, als ob es ganz gleichgültig wäre, zu welcher Zeit Goethe einen Ausspruch tat. Lr selbst durste freilich, „feinen eigenen papieren gegenüber sich als Redaktor verhaltend", die Jahreszahl der ersten Niederschrift weglassen, denn tn dem Augenblick, da er eine ältere Schrift neu redigiert zum Druck gab, bekam sie den lvert einer neuen. Ein anderer Herausgeber darf sich das Weglassen der Wahres-zahl nicht erlauben, genau so wenig, wie er sich als Redaktor verhalten darf.

§ 3

N?ar Goethe Kantianer?

£jeute wissen die Kinder mehr wie wir alten Philosophen, wie ich alter Kantianer. Denn ich bin ein Kantianer.

So spricht Goethe (A2\2b) zu Soret. Der pro­testiert. versichert, es stecke genug Originales in Goethes Philosophie, daß man sie Goetheanisch eher als Man» tianifch nennen könne.

Da zieht Goethe ein wenig zurück:

3n der Tat nehme ich nur einzelne Punkte der Kantischen Philo­sophie an, in anderen weiche ich ab.

3st nun Goethe Kantianer oder ist er es nicht? Auf Fragen dieser Art gibt es eine typische Antwort: „)e nachdem, was man unter einem Kantianer versteht." versteht man darunter einen Menschen, der nicht anders als durch die Brille des Meisters sehen kann und dessen

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§ 3. War Goethe Kantianer? 21

Autorität als Mordkeule auf jeden Anderssehenden her-untersausen läßt, — so ist noch nie ein bedeutender Mensch Kantianer gewesen.

versteht man darunter einen Philosophen, der die Grundlagen des Kan tischen Systems anerkennt, aber in Unwesentlichem abweicht, dann wird man, fürcht ich, die Diskussion darüber, wer Kantianer sei, niemals enden können. Denn was ist wesentlich, was unwesentlich? N?er darf es nennen und bekennen; ich glaub es, ich glaub es nicht — das kantische System.

Nennen wir indes einen Kantianer oder einen Schüler Kants Jeden, der sich intensiv in seine Gedanken einzuleben versuchte, der sich selbst als beeindruckt und beeinflußt bekennt, — dann kann uns nichts hindern, Goethe nach seinen eigenen Worten als einen „alten Kantianer" zu bezeichnen.

Aber, heißt es, Goethe täuscht sich selbst, wenn er wähnt, ein Schüler Kants zu sein, er hat sich eingebildet, ihm näher zu stehen als er ihm wirklich stand, er gebraucht kantische Ausdrücke und meint nichts Kantisches darunter, et nähert sich oft den kantischen Untersuchungen, um sofort wieder von ihnen abzugleiten, usw.

Der sachliche Gehalt solcher Urteile wird im Haupt-tcil dieses Buches eingehend geprüft werden, hier in der (Einleitung kommt es mir nur auf den allgemeinen

methodischen Gesichtspunkt an. Wer ist verpflichtet, einen anderen Denker richtig

zu verstehen?

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22 Grundsätzliches.

Erstens: wer ihn rezensiert,

zweitens: wer ihn kommentiert,

drittens: wer gegen ihn polemisiert.

lver aber ist nicht dazu verpflichtet? lver — selbst schöpferischer Geist — sich von ihm anregen läßt. Soll denn geistige Einwirkung nur anerkannt werden, wo das Resultat eine getreue Kopie ist?

Hätte Kant nichts weiter an Goethe getan, als daß er Probleme in ihm aufgerührt hat, die ihm zuvor keine Probleme waren, und wäre es selbst nur das eine „)dee-<Lrfahrung"-j)roblem, so dürften wir Goethe das Recht nicht abstreiten, Kant feinen Lehrer zu nennen. Penn fein guter Lehrer will anderes als seine Schüler auf die Bahn des Selbstdenkens bringen und Kant, der nicht müde wurde zu betonen, daß man nicht Philosophie, sondern nur philosophieren lehren könne, sollte anderes gewollt haben?

Aber nun weiter. Wer will entscheiden, was „Kant richtig verstehen" heißt? ZVar nicht Fichte des guten, des allerbesten Glaubens, er habe Kant — zwar nicht dem Buchstaben, doch dem Geist nach richtig interpretiert?

Aber entschiedenst bestritt ihm Kant diesen Anspruch.

Wer von uns darf sagen, daß es ihm nicht ebenso ergehen könnte, wenn uns eine spiritistische Seance der­einst Kants echten Geist bescheren sollte? ZVas ist da zu tun? Kant selbst gibt uns einen lvink. Denn er behauptet bei Besprechung platos, es sei gar nichts Ungewöhn­

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§ 3. War Goethe Kantianer? 25

liches, einen Autor durch vergleichen feiner Schriften besser zu verstehen als er sich selbst verstand.

Schließlich ist auch eine philosophische Lehre ein Naturprodukt und muß es sich gefallen lassen, von JTtenfchenanllfür beliebig ausgenutzt und mißhandelt zu werden, Warum soll just Goethe das Recht nicht haben, Kant „auf feine Weife" zu nehmen, wo die offiziellen, amtlich approbierten Kantianer ihn auf so viele, viele Weifen nehmen und wo in der Literatur eine so seltene, so erfreuliche Übereinstimmung darüber herrscht, daß Kants größte Schüler, Fichte, £?egel, Schopenhauer ihn sämtlich „atff geniale Weife mißverstanden" haben. )n einem bestimmten Sinn könnte man sogar, scheint mir, Goethe diesen Begründern von Kant — fei es auch gegen feinen Willen — angeregter Schulen gleichberechtigt an­reihen. Unter der an Kant gebildeten Parole „Unter­suchung des (Organs, mit dem man forscht", ist eine mächtige neue Wissenschaft entstanden, jene „Kritik der Sinne", die Goethe fordert, die Sinn es Physiologie. 3ohannes Müller, ihr erster großer Vertreter, ist nicht nur Schüler Goethes, sondern (nach Kries) auch ein be­geisterter Verehrer Kants gewesen. So wenig löblich es ist, wenn populäre Darstellungen Kants Philosophie selbst physiologisch interpretieren, so wenig ist dagegen einzuwenden, daß Goethe und Müller als Natur­

forscher sich durch Kants kritische Selbstbesinnung auf­geregt fühlten, den Körper ebenso zu behandeln, wie er den Geist behandelt, die Frage zu untersuchen: wieviel von

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24 Grundsätzliches.

betn, was ich wahrnehme, gehört mir, dein Subjekt, wieviel gehört dein Gbjekt zu?

Der Satz „Was fruchtbar ist, ist wahr" bedeutet freilich nichts als ein Paradox. Aber was fruchtbar ist, hat Daseinsberechtigung — das gilt.

„Und nun lebe wohl, ehrwürdiger Schatten, habe Dank, daß du uns veranlaßtest, zu streiten, zu schwatzen, uns zu ereifern und wieder kühl zu werden. Die höchste Wirkung des Geistes ist es, den Geist hervorzurufen."

Überall wo verkündet wird, Goethe Habs nicht „Rantische Gedanken gedacht, sondern aus Anlaß von Kant Gedanken gedacht" — da sähe ich gern diesen Spruch, den Goethe Diderot ins Grab nachschickt, in Rot und Gold gestickt an der Wand hängen:

Die höchste Wirkung des Geistes ist es, den Geist hervorzurufen.

§

Philosophie und Weltanschauung.

Den jungen Goethe mit dem alt en Kant, den Künstler Goethe mit dem Denker Kant vergleichen erschien mir als methodischer Fehler. Als ebenso gründ-verkehrt empfinde ich es, daß man gewöhnlich Kants Philosophie und Goethes Weltanschauung gegen-einander hält.

Mag man nun Philosophie mit Siebe zur Weisheit oder mit Wille zur Wissenschaft übersetzen, Welt­

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§ 4- Philosophie und Weltanschauung, 25

anschauung ist keines von beiden, weder Weisheit noch

Wissenschaft. Weltanschauung ist eine beliebige Art, die

lvelt zu schauen, zu fühlen, sie ist mit dein Blut, mit der Erziehung, mit dem Milieu unbewußt übernommen,

Philosophie muß erarbeitet werden. Weltanschauung ist notwendig einseitig*), Philosophie könnte man sym­

bolisieren unter dem Gleichnis der j)arallaxenbestim-

muttg. Man muß den Standort wechseln, um die Tiefen-

dimenfion zu erschließen. (A ?\, 4.)

Kants lveltanschauung gleicht in manchen Stücken

der Goethes. Aber man kennt und bespricht blos seine

Philosophie. Goethes Philosophie gleicht in vielen punkten der Kants und hat sich an ihr gebildet. Aber

man kennt und bespricht blos seine Weltanschauung. Und

so vergleicht man zwei unvergleichbare Dinge. Freilich:

da ja Philosophie und Weltanschauung durch per-sonalunion verbunden sind, besteht ein Zusammen-

hang zwischen ihnen. Notwendig entwickelt sich philo-sophie auf dem Untergrunde der Weltanschauung, teils

in Zustimmung, teils in Opposition zu ihr.

Der radikale Draufgänger Dietrich Kerler behauptet:

*) Zum Beispiel: (Es sann eine proletarische, eine katholische, eine nationalistische Weltanschauung geben, aber feine derartige Philo­sophie. 3n diesem Sinn, sosern in an das bewußt Einseitige betonen will, mag es auch gestattet sein, von einer naturwissenschaftlichen Welt-anschauung zu sprechen. Wobei stillschweigend zugegeben wird, daß dem Anschaun der ZVelt von der Seite der Naturwissenschaft aus not-wendig noch eines von der anderen Seite entsprechen muß.

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26 Grundsätzliches.

alle großen Denker wollen ganz und gar nicht die Wahrheit, vielmehr dient ihnen wie dem Advokaten im schlechten Sinn das Denken lediglich dazu, ein vorweggenommenes Resultat mit allen logisch sauberen und unsauberen Mitteln zu beweisen. (Der Denker,

1920.)

Er wirft (Auferstehung der Metaphysik J920

sämtlichen großen Denkern ohne Ausnahme fehler-

Haftes, laxes, dazu noch unredliches, durch außer­

logische Motive bestimmtes Denken vor und darf sich

dabei auf Keyserlings Wort berufen, daß

alle großen Denker in einem tieferen verstände betrügen.

Das Motiv aber, welches Kants ganzes Werk be­

herrscht, ist dieses:

Ls kommt alles auf die Redlichkeit an, feine Gedanken nicht zu verfälschen, geschehe dies in so frommer Abficht, als es wolle.

Darum die scharfe Trennung zwischen der Ver-

nunft in ihrem theoretischen und in ihrem praktischen

Gebrauch. £?ier sag ich, was logische Kritik mich zu sagen zwingt — es mag euch lieblich oder hart in den ©hrert klingen, es mag meine eigenen Lieblingsgedanken

fördern oder zerstören, dort aber sage ich, was — jenseits

von wahr oder falsch — mir als lebendigem Menschen

praktisch nötig ist. Mache ich diese Trennung nicht, dann kann ich niemals vermeiden, daß die Argumente des

Herzens sich in die Beweise des Kopfes insgeheim ein-

schleichen und sie verfälschen.

3enes wundervolle Wort: „das Wissen wegschaffen,

um für den Glauben Platz zu lassen", ist gewiß die

Page 45: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ Philosophie und Weltanschauung, 2?

einzig reinliche Lösung. Nur könnte man Kant vorwerfen,

er sei auf diesem Wege noch nicht weit genug gegangen.

Denn schließlich hat er dem Glauben doch verzweifelt wenig Platz gelassen. Was er der Kunst gewährt, das

gestattet er der Religion nicht: daß sie außerhalb der Grenzen bloßer Vernunft ihr Sonderdasein führe. Jjier

korrigiert ihn Goethe sehr schön in einem leider in den

„ Lesarten" der Weimarer Ausgabe verschütteten Konzept

(A *9t).

Bei Kant hat sich die Philosophie in vielen Punkten

in Opposition zur Weltanschauung entwickelt. Wie

Nietzsche hat er seine Ideale „aufs (Eis gelegt". Ander­

wärts fühlt man auch bei Kant, wie nicht Logik, sondern

Instinkt den Denker leitet. Daß man es aber zu fühlen

gelernt hat, dankt man seiner Schule.

Dasselbe Reinlichkeitsgefühl, welches Kant zu feiner

berüchtigten Zweiteilung zwang, es gab auch Goethe das Bekenntnis ein:

Ich bin polYtheift als Künstler,

Pantheist als Naturforscher,

Monotheist als sittlicher Mensch.

Er könnte hinzufügen:

Agnostiker als Philosoph — denn wäre

er nicht als Philosoph Agnostiker, so könnte er nicht poly-,

Pan- und Monotheist zugleich sein.

Page 46: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

2 8 Grundsätzliches.

8 5.

Die Rolle des Systems bei Kant und bei Goethe.

Es ist freilich richtig, daß Goethe im Gegensatz zu Kant kein Bedürfnis empfand, sein philosophisches

Denken in ein geschlossenes System zu bringen. <£r nahm

überall, was er brauchen konnte, ließ alles an sich heran­kommen und wartete ab, was daraus werden würde.

Kant dagegen rang mit all feinet Kraft danach, seine Ge­

danken „architektonisch", wie er es gerne ausdrückt, nach

einheitlichem plan zusammenzufassen. Sieht man aber

genauer hin, nicht bloß auf das Gewollte, sondern auf

das wirklich Geschaffene, so schrumpft der Unterschied

erheblich zusammen. Kant ist gar nicht — diese Ent­deckung ist schon von mehreren Seiten gemacht worden — der strenge Systematiker, für den man ihn hält und für

dert er sich wohl selbst gehalten hat.

Die Klagen über Widersprüche und Inkonsequenzen in der Kritik der reinen Vernunft sind alt . . . Wäre dieses Werk ein absolut ein­heitliches Ganzes, so müßte aus einem im Keim vorhandenen Fehler ein Gebilde konsequenter menschlicher Irrung erwachsen sein. . . . Daß wir in der Kritik einen reichen Schatz gediegener Wahrheit heben können, rührt daher, daß sich Kants Denken nicht in der Bewegung der geraden Linie vollzieht, wobei entweder das Ziel getroffen oder für immer verfehlt sein müßte, sondern einem durch die Anziehungs­kraft der Wahrheit veranlaßten, vielverschlungenen Kreisen um diesen Mittelpunkt gleicht. (2tpel, Diss. Berlin 1,39-}.)

Nikolai Hartmann wirft sogar in den Kantstudien

die Frage auf, ob denn Kants „standpunktliche

Page 47: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 5. Die Rolle des Systems. 29

Grenzsetzung für seine Untersuchungen überhaupt maß-gebend gewesen? Ob nicht in Kants eigenen Formu­lierungen schon überall der Durchbruch durch diese Grenzsetzung zu merken sei".

3ch meine, Goethes berühmte Genialität im raschen (Erfassen des wesentlichen verleugnet sich nicht, wenn er sich die Notiz macht:

Kant beschränkt sich mit Vorsatz in einen gewissen Kreis und deutet ironisch darüber hinaus,

die er dann in A *69 näher dahin ausführt, daß „der

köstliche Mann" bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken bemüht

schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete.

Nach Nietzsche ist

Wille zum System bei einem Philosophen der Wille, sich dümmer zu stellen, als man ist.

Am Willen hat es bei Kant wohl nicht gefehlt, aber

er war zu ehrlich, als daß es ihm hätte gelingen können.

V68 schreibt Kant an Herder: Da ich an nichts hänge und mit einer tiefen Gleichgültigkeit gegen

meine und anderer Meinungen das ganze Gebäude öfters umkehre und aus allerlei Gesichtspunkten betrachte ..., so habe ich seitdem mir getrennt sind, in vielen Stücken anderen Einsichten Platz gegeben.

Ich bin nicht der Meinung eines vortrefflichen Mannes, der da empfiehlt, wenn man einmal sich wovon überzeugt hat, daran nachher

nicht mehr zu zweifeln. Zn der Philosophie geht das nicht.

lind \ ?72 an Markus Herz: Das Gemüt muß immer in der Geschmeidigkeit und Beweglich-

(eit erhalten werben, wodurch man in den Stand gesetzt wird, alle er­

Page 48: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

30 Grundsätzliches.

denklichen Standpunkte einzunehmen, die wechselweise einer das optische Urteil des andern verifizieren.

Diese Geschmeidigkeit und Beweglichkeit, dieser fort-

währende Standpunktswechsel bringt manchmal den Leser in helle Verzweiflung, ist aber gerade das Lebendige,

das An- und Aufregende in feinem N?erk, und das, was

ihm eine so unerhörte Fruchtbarkeit verleiht.

N?as Goethe mit dem vielzitierten Wort, daß man

sich „als" der und als jener verschieden zur ZVelt einstellen

darf und muß, prägnant ausdrückt, das sagt uns Kant

weniger prägnant, weniger leicht verständlich durch seine

vielfachen fiktionalistischen Gedankengänge. Dabei ist er niemals in „den Fiktionalismus" verfallen. Davor

bewahrte ihn der realistische Instinkt seiner Weltan­

schauung. Ich sehe manchmal Kant im Bilde eines

Nachtwandlers, der zwischen Abgründen auf spitzem Grat dahmfchreitet und es sogar riskieren darf, einen

Schritt nach links oder rechts vom geraden ZVege abzu-

weichen, den er immer wieder zu finden weiß. Manche

haben solche Seitenpfade „konsequent zu <&tde zu

gehen" versucht, sie sind abgestürzt. So aber im labilen

Gleichgewicht sich erhalten zu können, das empfinde ich als

eine der tiefsten Gemeinsamkeiten zwischen Goethe und

Kant. Und diese Gesamthaltung muß man vergleichen,

wenn man überhaupt vergleichen will, nicht aber wie

es gemeiniglich geschieht, die dichterisch-naturphilo-

sophische Weltanschauung Goethes mit den Resultaten

erkenntnistheoretischer Forschung bei Kant.

Page 49: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 5. Die Rolle des Systems. 31

War Goethe philosophischen Systemen abgeneigt,

so ist er doch im Reich des Organischen selbst Systematiker. Kant hat die reine Vernunft nicht anders behandelt wie

Goethe die Knochen (vgl. § 73), Goethe das Gebäude

der Naturwissenschaften so fundiert und eingeteilt wie

Kant jenes der Geisteswissenschaften. (5. z. 23. A 5.)

Nennt Kant die reine Vernunft

einen wahren Gliederbau, in welchem alles um eines willen und ein jedes Einzelne um aller willen da ist,

sieht er dieser Idee gemäß seine Aufgabe darin, „jedem

Begriff und jedem Lrkenntnisvermögen seine Stelle

anzuweisen", so ist Goethes Grundtendenz auf seinem

Eigengebiet die gleiche. Lr hat auch die betreffenden Wendungen bei Kant regelmäßig hervorgehoben.

Der Geist des Vaters in Goethe, der Geist der

Ordnung, des Rubrizieren?, Schematisieren?, Syste-

matisierens in ihm hat ihn vermocht, mit Meyer und

Schiller gemeinsam eine umständliche Tabelle anzulegen: über Nutzen und Schaden des Dilettantismus in allen

möglichen und unmöglichen Fächern. Und sogar die Farbenlehre unter Kategorien zu bringen war sein

heißes Bemühen. Zunächst versteckt er sich wie gewöhnlich

hinter Schiller: es solle geschehen, bloß um ihm entgegenzuarbeiten (A 98); wie aber Der abwinkt

(A 99), da kommt die Wahrheit heraus: daß Schiller

bloß vorgeschoben war, daß Goethe darauf brennt und

darauf „bestehen muß", die Kategortentafel zu bauen

(A *oo).

Page 50: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

32 Grundsätzliches.

Am Schluß des zweiten Hauptstückes werde ich zeigen,

daß die Gegensätze in der Auffassung der Natur oder in

der Stellung zur Mathematik, die man so überlaut

betont, bei genauerer Betrachtung der Tatsachen ebenso

zusammenschrumpfen wie der angebliche Gegensatz

zwischen dem systematischen Kant und dem unsyste­matischen Goethe.

§ 6.

Kant und die Schulgelehrsamkeit.

Ebenso verkehrt ist es, wenn man sich etwa Kant

als den Typus des „Professors", des Schulgelehrten

imaginiert und sich die lebenswarme Gestalt Goethes

daneben im Faust-Wagner-Kontrast ausmalt.

Alle, die den Philosophen persönlich kannten,

sagen ungefähr so über ihn aus, wie sein Freund

Fachmann:

<£r war in der Unterhaltung unerschöpflich. In der Gesellschaft, wo Kant war, herrschte geschmackvolle Fröhlichkeit. Seine Gespräche wurden anziehend durch die muntere Saune, mit welcher er sie führte, die witzigen (Einfälle, die passenden Anekdoten ... Er hatte einen edlen freien Anstand und eine geschmackvolle Leichtigkeit in seinem Benehmen. (Er besaß ganz die gesellige Biegsamkeit und wußte sich in den Ton einer jeden besonderen Gesellschaft zu stimmen.

Gelehrten Verkehr vermied er, soviel es angehen

wollte, feine liebsten Freunde waren ein Oberförster,

ein General, ein Kaufmann — Offiziere und Edelleute

feine gewohnte Umgebung. Er spielte Billard und

Page 51: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 6. Kant und die Schulgelshrsamkeit. 35

L'hornbre, er trank gern, er unterhielt sich mit Vorliebe

und (Erfolg mit dem „Frauenzimmer".

Ganz ein gesellschaftlicher Beobachter, ganz ein gebildeter Philosoph, ein Philosoph der Humanität und in dieser menschlichen Philosophie ein Shastesbury Deutschlands,

so nennt ihn sein grimmiger Feind Herder.

Kant war kein Büchermann, sondern ein Welt-

mann gleich Goethe. Seinen blauen Augen wird der

tiefe strahlende Blick des geborenen Beobachters nach-

gerühmt, und auf die bloß „Gelehrten" ist er schlecht

zu sprechen.

Lin stumpfet oder eingeschränkter Kopf kann ganz wohl mit Gelehrsamkeit ausgerüstet werden, in dem Grad sogar, um selbst ein gründlicher kehrer zu sein, und dabei doch jenen Mangel an Urteils-kraft ausweisen, den man Dummheit nennt. (H. v. 172 Anm.)

lveil die Jugend auf den Universitäten vernünfteln lernt, ehe sie etwas rechtes versteht, so entstehen die ewigen Vorurteile der Schulen, die abgeschmackter sind als die gemeinen, die frühkluge Geschwätzigkeit junLer Denker, die blinder und unheilbarer ist als die Unwissenheit. Der

Schüler trägt aufgeklebte Wissenschaft, die sein Gemüt unfruchtbar macht und ihn durch lvissenswahn verdirbt, und so kommt es, daß die Akademien mehr abgeschmackte Köpfe in die N?elt schicken als irgend ein anderer Stand. <Vorlesungsprogramm t?57.)

Kant wird nie müde, über die zünftigen Philosophen

und ihre Wortgelehrsamkeit seinen Spott zu ergießen.

Züie man euch lehret manchen Tag, Daß was ihr sonst aus einen Schlag Getrieben wie Essen und Trinken frei, Lins zwei drei dazu nötig sei,

darüber hat er sogar eine eigene Abhandlung geschrieben,

3

Page 52: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Grundsätzliches.

die „falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen

Figuren".

Während die kogik alles ans die einfachste Erkenntnisart bringen soll, machen es diese Figuren zu einem Recht, Einsichten verwickeln

zu dürfen . , .

wenn jemals auf eine gänzlich unnütze Sache Scharfsinn und scheinbare Gelehrsamkeit verschwendet worden ist, so ist es diese. Und wenn einmal der ehrwürdige Rost des Altertums diese sogenannten Modi, in denen mit viel geheimer Kunst seltsame Wörter verschlungen werden, einer besser unterwiesenen Nachkommenschaft überliefert haben wird, so wird er sie die emsigen und vergeblichen Bemühungen ihrer Vorfahren bewundern und bedauern lehren.

überhaupt wäre es nicht übel, den Mephisto

in der Maske des Magisters Kant auftreten zu

lassen. feinem Meisterstück, den Träumen eines

Geistersehers, sagt sogar dieser Pseudo-Mephisto fast wörtlich: )ch bin des trocknen Tons nun satt. Man höre:

(ES wird mit nachgerade beschwerlich, immer die behutsame Sprache der Vernunft zu führen, lvarum sollte es mir nicht auch erlaubt sein, im akademischen Ton zu reden, der entscheidender ist, und sowohl den Verfasser als den £efer des Nachdenkens überhebt, welches über lang oder kurz beide nur zu einer verdrießlichen Unentschlossenheit

führen muß.

IXHe wenig gelehrten Dünkel Kant besaß, zeigt

das von Goethe doppelt angestrichene Bekenntnis,

daß die Natur in allem, was Menschen ohne Unterschied an« gelegen ist, keiner parteiischen Austeilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei und die höchste Philosophie es nicht weiter bringen könne als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten verstände hat angedeihen

lassen.

Page 53: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 7. Kants Wirkung auf die Zeitgenossen. 35

Und noch unmittelbarer, geradezu ergreifend äußert

sich dieser verzicht auf allen Wissenswahn in einer

handschriftlichen Eintragung in sein Exemplar der

„Beobachtungen":

Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher, Ich fühle den ganzen Vurst nach Erkenntnis, die begierige Unruhe, darin weiterzukommen, die Zufriedenheit bei jedem Fortschritte. €s gab eine Zeit, da ich glaubt«, dies alles könne die Ehre der Menschheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß, Rousseau hat mich zurechtgebracht. Jener verblendete Vorzug verschwindet. Ich lerne die Menschen ehren und wurde mich viel unnutzer finden als die ge­meinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, daß diese Betrachtung allen übrigen einen wert geben könnte, die Rechte der Menschheit herzu-stellen.

§ 7.

Kants Wirkung auf die Zeitgenossen.

Auch darf man sich nicht vorstellen, daß Haitis Philosophie von der damaligen Zeit so rein intellektuell genommen worden sei wie von der heutigen. Bedrückte

Gemüter wandten sich an ihn um Trost und Hilfe, ©n

junges Mädchen schreibt:

Großer Kant! Z» dir rufe ich wie ein Gläubiger zu feinem Gott um Hilf um Trost oder «m Bescheid zum Tod ©ff, mein Herz zer­springt in tausend Stücken, lvenn ich nicht schon soviel von Ihnen gelesen hätte, so hätt' ich gewiß mein £eben schon geendet mit Gewalt.

Der junge Herder hat Kant wiederholt angedichtet,

aus dem Inhalt seiner Vorlesungen ©den gemacht,

Page 54: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

36 Grundsätzliches

Lenz verfaßte, als Kant zum Ordinarius ernannt wurde,

ein zwölfstrophiges begeistertes Z?uldtgungspoem*).

Der Theologe Paulus schreibt:

töte herzerbebend waren die Jahre der Kantischen Morgen-röte! Lang angebetete Vorurteile verkrochen sich, die Kraft des Denkens erhob sich zu einem für alle Arten von Despotismus furchtbaren An­sehen. . , . Die Moralität der Menschen war angeregt worden mit Macht. Alle Tätigkeit wurde geheiligt und alles Beilige • • . zur Aktivität aufgefordert.

Der Dichter Gottfried Bürger nennt die Kritik

sein „tägliches (Erbauungsbuch", der Mystiker )ung-

Stilling apostrophiert Kant:

Gott segne Sie! Sie sind ein großes, sehr großes Werkzeug in der £?and Gottes.

Der lyrische Dichter Kosegarten widmet „ein

Sträußlein Feldblumen" dem Manne, der

mein moralisches Selbst mich recht würdigen . . . lehrte, der in feinen Untersuchungen des praktischen Vernunftvermögens ebenso liebenswürdig, einfältig und menschlich schön erscheint, als et in der Analyse aller Spekulation anfangs furchtbar, abschreckend und grausend erscheinen mag, dessen Kritik der praktischen Vernunft man nicht lesen kann, ohne ihrem Verfasser um den Hals zu fallen.

Erhard, ein junger Bekannter von Goethe,

Schiller und Körner, den Schiller als einen „dezidierten

Menschen mit einem starken Hang zur Satire" kenn­

zeichnet, schreibt, die Kritik der praktischen Vernunft habe eine Wiedergeburt seines ganzen inneren

*) Diese Notiz sowie die folgenden Urteile sind Vorländers Biographie (Kant, sein Leben und fein werk 192=}) entnommen.

Page 55: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 7. Kants Wirkung auf die Zeitgenossen. 37

Menschen bewirkt, die ihn immer wieder zu Tränen

höchster lvonne hinriß. Solche Tränen sollen auch sonst in Aants Vorlesungen reichlich geflossen sein, wenn

der Weise seine Göttin, die Pflicht, in erhabenen und glühenden Tönen feierte und lobpries.

Schiller fand (A 39), die neue Philosophie sei

gegen die Leibnizsche viel poetischer und habe einen

weit größeren Charakter, und er wollte sich von ihr

zu einer poetischen Theodicee anregen lassen.

töas für einen Sturmwind die Rantische Philosophie

damals bedeutet hat, das können wir heute nur schwer

ermessen. Für uns alle gilt, was Goethe zu Lckermann

sagte: die Lust ist so voll von Kant, daß man ihn ein­

saugt, ohne es zu wissen. Manche schmälen auf ihn und ahnen nicht, wieviel sie von ihm geborgt haben.

Heute verschimpfiert man seine Lehre als Professoren*

Philosophie, damals nannte man ihn einen „ver­

wegenen Mann, der die deutsche Akademie mit einer

schrecklichen Revolution bedroht", damals war er,

wie 2tltK£hina den Weisen symbolisiert, ein Orkan,

der alles aufwirbelnd durch die Lande fegt.

Freiheit hieß seine hinreißende parole — in der

Religion Freiheit von Dogmen, in der politik Freiheit des Staatsbürgers, in der Moral Freiheit des Willens.

Das war wohl ein Schlachtruf, der die Stärksten und

Ldelsten im Lande wachrütteln mußte.

Solches glaubte ich der jetzigen Generation ins

Gedächtnis zurückrufen zu sollen, die sich einen farblosen

Page 56: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

58 Grundsätzliches

nüchternen pedantischen Begriffsautomaten konstruiert hat und diese Holzpuppe mit dem Namen Koni belegt.

§ 8.

Gegensätze.

Das ofterwähnte abscheuliche Schlagwort „Goethe

und Kant sind Gegensätze" ist natürlich schon darum mit

Vorsicht aufzunehmen, weil es überhaupt keine Menschen

gibt, die Gegensätze sind, sondern nur solche, die Gegen-

sätze haben. Auf breiter gemeinsamer Grundlage

heben sich einzelne kontrastierende Eigenschaften stark ab. Weiß und schwarz sind nur darum Gegensätze, weil

beide Farben sind. Weiß und heiß sind keine Gegensätze.

Aus diesem Grund gibt es keine Gegensätze, die

nicht vereinigt werden können. Und wenn man in der

Literatur unter anderen auch das kategorische Diktum

findet:

Kantianer und Goetheaner kann man nicht sein!

so ist das unter allen Umständen falsch.

Lduatd Sprang er erzählt in einem Nachruf auf

Alois Hie hl, er habe diesen gern einen „kritizistischen

Spinozisten" genannt, und Riehl habe den „Ehren-

namen" gern auf sich sitzen lassen. Aber Kritizismus und

Spinozismus, — sind das nicht die äußersten Gegensätze?

Keine zwei Individuen sind einander völlig gleich.

Überall gibt es Verwandtschaften, überall Gegensätze.

Page 57: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 8. Segensätze, 59

(Es kommt auf die Stellung des Beobachters an,

ob er zwei literarische Gestirne in (Opposition oder

in Konjunktion sieht, Für den Psychologen aber wird es in erster Linie maßgebend sein, worauf die behandelten

Personen selber den Akzent gelegt, ob sie selbst einander

als Gegensätze empfunden haben oder nicht. Nun hören wir bei Goethe in seinen eigenen Be-

kenntnissen von einem Gegensatz zu Schiller, zu )acobi,

zu Schlosser, oder, um nicht nur persönliche Freunde

zu nennen — von einem Gegensatz zu Linn6, zu Spinoza — wir hören nie und nirgends ein Sterbens*

wörtchen von einem Gegensatz zu Kant.

N?er sich dagegen intensiv als Gegensatz zu Kant

gefühlt, ja sich öffentlich als sein literarischer Gegner betätigt und alles KantfeinMiche in deutschen Landen

um sich geschart hat — das war Herder. Und so geschieht es nicht aus subjektiver Willkür, sondern im Einklang

mit den historischen Daten, wenn ich nicht Goethe und Kant, sondern Herder und Kant als Antipoden hinstelle,

und wenn ich dementsprechend auch die anti-kantische

Richtung in der Literatur nicht als Goetheanismus,

sondern als Herderismus bezeichne. Ich will nun

versuchen, diese Richtung vorläufig kurz zu charakterisieren,

bekenne aber dabei im Sinne des Schlusses von § 3V

daß meine Verstandeswage nicht ganz unparteiisch sein

dürfte. Meine Liebe zu Kant zieht den einen Arm so

stark herunter, daß seine Gegner am<Lnde leichter befunden

werden mochten, als sie wirklich sind.

Page 58: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Hg Grundsätzliches.

§ 9-

Herderismus und Kantianismus.

Den Geschichtsphilosophen und den Aesthetikern ist

der Gegensatz zwischen diesen beiden feindlichen Strö­mungen am geläufigsten. Dem normativen Ratio-

nalismus Kants stellt man den empiristischen

Individualismus Herders gegenüber, der sich zur

Aufgabe macht, die Fülle des Linzelerlebnisses aus-

zuschöpfen. Schon aus diesem Gesichtspunkt gehört die

sogenannte „Lebensphilosophie" mit zum Herderismus.

3ch möchte aber hier einen anderen Gesichtspunkt

einführen.

)n dem Augenblick, da Goethe beginnt, ein Denker

zu werden, ertönt aus Herders Mund eine tief symbo-

tische Klage (A 8):

Mir ist diese ganze Philosophie im feinsten Grgan zuwider . . . Sie ist für mein Herz desolierend. Ich mag die Gde nicht, in der auch ein Gott um sein selbst willen allein existiert.

<£)t>e, tetlnahmslos, für das Herz desolierend ist

ihm die Goethesche Philosophie, —schon damals und wird es in der Folge immer mehr. Dieselbe Klage, derselbe

Schrei, womit heute die Anthroposophen unzahlige

Hörsale erfüllen. Trostlosigkeit ob der Gde und Kälte

des abstrakten Denkens. Die Anthroposophen, die sich

fälschlich Goetheanisten nennen, sind für mich die re-präsentativen Vertreter des Herderismus. Sie philo-

fophietert mit dem Herzen, sie sind Fühl- nicht Denktypen.

Page 59: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ g. Hcrderismus und Kanttanismus.

Fichte schreibt einmal an Reinhold (2. ?. 5795):

Ghnerachtet es freilich kein geringes Gut für mich ist, einer Philosophie mich bemächtigt zu haben, die mein Herz in Überein­stimmung mit meinem Kopfe setzt, so würde ich mich doch feinen Augenblick besinnen, eine völlig diese Eintracht zerstörende Lehre dafür anzunehmen, wenn sie richtig wäre, und auch dann meine Pflicht zu tun glauben.

So etwas würde ein Herderist niemals sagen. Der

Herderist macht die Unterordnung des Kopfes unter das

Herz zum Grundsatz. <£r hat religiöse Innigkeit,

künstlerisches Empfinden, ein tiefes lveltgefühl, ein

starkes (Ethos, aber nicht eine Spur von Neigung oder

Begabung zu logischem Denken, vor allem ist ihm

alle geistige Sonderung im feinsten Organ zuwider.

Die beiden angesehensten Biographen Herders fällen folgendes Urteil über ihn:

Der Leweis wird bei ihm zur predigt, die Geschichtsphilosophie zu einem frommen Glauben. (Haym.)

So wandelt er denn mit voller Sicherheit mir auf dem Haine zwischen Philosophie und poefie, auf dem zwischen poefie und predigt (Suphan.)

Dieses ungeklärte Chaos ist es, was ich als für Herder

und den Herderismus charakteristisch hervorheben möchte.

So kann ich auch die Forderung nach einer irrationalen Philosophie, die Behauptung, daß es irrationale (Er­

kenntnis gebe, nur als Herderismus bezeichnen. EDenn

ihr gegenüber der Kantiantsmus darauf besteht, stur

Rationales als Wissenschaft gelten zu lassen, so ist diese Tendenz keineswegs gleichbedeutend mit„Rationalismus".

Page 60: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

42 Grundsätzliches

Der Irrationalismus soll, nach Aussage eines seiner

Vertreter, durch die Überzeugung charakterisiert sein,

daß „die Welt nicht aufhört, wo die Vernunft aufhört".

<2ben dies ist der Sinn der Kantischen Lehre von den Lrkenntnisgrenzen. Der Rationalismus vor ihm glaubte,

mit der Vernunft alles beherrschen zu können. Für

Kant ist aber auch, abgesehen vom Transzendenten,

alles Materials, alle Existenz als solche nicht rational

erschließbar, muß einfach gegeben sein. Nur das

Formen des Gegebenen ist Sache der Ratio. Aber

eben dieses Formen ist auch die Aufgabe der Wissenschaft.

Und wenn auch die Welt nicht aufhört, wo die Vernunft

aufhört, so ist doch der Wissenschaft eben dort ihre Grenze

gesetzt. Ls scheint mir eine Verwechslung von Wissen und Leben, von Kennen und (Erkennen zu fein, wenn man von irrationaler «Erkenntnis redet.*)

§ HO.

Hamann und Kant.

von rechtswegen müßte hamann und nicht Herder als das Oberhaupt der Antikantianer gelten, wenn nicht

sein Wirken zu sehr im Dunkel, zu sehr auf persönlichen

*) Den Unterschied zwischen Kennen und Erkennen hat Moritz Schlick in seiner Allgemeinen Lrkenntnislehre sehr einleuchtend heraus-gearbeitet. Zch finde aber, daß daraus für das Kantische Ding an sich das Gegenteil von dem folgt, was Schlick selbst im neuesten Heft der Kantstadien (1926, Heft 2/3) daraus folgert. Das Ding an sich ist weder kennbar noch erkennbar

Page 61: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 10. ßtmtcmn und Kant. *5

Einfluß beschränkt geblieben wäre, als daß man von ihm eine Schule ableiten könnte.

3n der Biologie pflegt man das Experiment der

Kreuzung als maßgebend dafür anzusehen, ob zwei

Individuen von gleicher Art find oder nicht. )n der Literatur unternehmen im allgemeinen nur Gperetten-

und kustspieldichter den Versuch, miteinander Nach-

kommenschaft zu zeugen. £?amamt und Kant haben ihn

auch gemacht. Aber das Paar blieb steril, lvas sie zeugen

wollten, war — ein kehrbuch der Physik für Rinder.

<2in reizender Scherz. Die beiden weithin als Unverstand-

lich berüchtigtesten Männer Deutschlands tun sich zu­

sammen, um ein Lehrbuch für Kinder zu schreiben, von

dem Verlauf des Experiments gibt uns das hübsche Buch von Heinrich Weber (f?amattn und Kant) ein paar

Proben. Hamann schreibt z. B.:

Warum sind Sie so zurückhaltend und spröde mit mit? Und warum kann ich dreist mit Ihnen reden? Ich habe entweder mehr Freundschaft für Sie als Sie für mich oder mehr Einsicht in unsere Arbeit als Sie . . . Überzeugen können Sie mich nicht, denn ich bin keiner von Ihren Zuhörern, sondern ein Ankläger und Widersprecher. Ich will gerne Geduld mit Ihnen haben, solange ich Hoffnung haben kann, Sie zu gewinnen und schwach sein, weil Sie schwach sind. Sie müssen mich fragen und nicht sich, wenn Sie mich verstehen wollen ...

Kant, der „gute Homunculus", wie ihn fjamann

selbst nennt, scheint sich diese Tonart überraschend lange

haben bieten zu lassen. Gelegentlich wundert sich Z^amamt selber (in einem Brief an )acobi) über die Geduld, die

Kant seinem Widerspruch entgegengebracht, selbst dann,

Page 62: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Grundsätzliches.

wenn er entschieden Unrecht hatte. Aber, wenn irgendwo,

so darf man hier von „extremen polen" reden.

Von fjamartn stammen alle jene typischen Sätze,

die das feste Inventar der Anti-Kantianer bilden, — zum Beispiel:

Dinge und Natur hängen nicht von mir ab, sondern umgekehrt. Unsere Vernunft muß warten und hoffen, Dienerin, nicht Gesetz­

geberin der Natur sein wollen. Entspringen Sinnlichkeit und Verstand als zwei Stämme aus

einer gemeinschaftlichen Wurzel, . . - zu welchem Behuf nun eine so gewalttätige, unbefugte, eigenmächtige Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat?

Besonders dieser letzte Ausruf aus £?antanrts Meta­

kritik ist das Leldgeschrei aller Herderisten geworden, lvarum scheiden, was die Natur zusammengefügt hat!

Aber sie könnten keine Stunde leben, wenn sie konsequent

wären. Die Kuh, die Gras frißt, zerreißt die Natur, wie

der Philosoph, der (Erkenntnis sucht. Nur daß die Kuh es

realiter tut, der Philosoph bloß logisch. Aber die Her-

deristen erkennen nicht einmal diesen Unterschied an. vermöge eines seltsamen lvort-Aberglaubens bedeutet

ihnen jedes Auseinanderlegen von Begriffen ein Zer-

reißen der Sache, und mit ihrem geradezu satanischen Durcheinanderwerfen der Begriffe vermeinen sie der

Einheit der Sache näher zu kommen. So wird denn vom (Erscheinen der Vernunftkritik an

bis heute und wohl in alle Ewigkeit amen gegen Kant

der „Einwand" vorgebracht: „daß die Vernunft nicht ab­

gesondert von den andern Kräften existiert und wirkt".

Page 63: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ HO.. fjattantt und Kant.

Als ob Kant je so Törichtes behauptet hätte. Und als ob

die Wissenschaft dazu da märe, das zu trennen, was

bereits getrennt ist. Aber auf diesen Punkt wird noch

des näheren in „Analyse und Synthese" eingegangen,

und dort wird auch gezeigt werden, daß die Linheits-

fanatifer sich zu Unrecht auf Goethe berufen. (Eben darum hatte ich Goethes Aufsatz AS, bet mit dem

Beginn seines Kantstudiums zeitlich zusammenfällt, und

der die Unentbehrlichfeit künstlich eingeschlagener Merk-

pfähle unterstreicht, als bedeutsames Dokument hervor-

gehoben. Für Hamanns Haß gegen alle Scheidung hat Goethe schöne tüorte gefunden (A jso). Aber er belehrt

ihn: €s gibt Beine Lehre, keine Mitteilung ohne Sonderung . . .

Hamanns chaotischer Stil, sein kunterbuntes Kauder­

welsch ist ein rechtes Symbol des Herderismus. Weil in-

dessen seine Schreibart so sibyllinisch war, daß sogar seine

intimsten Freunde, )acobi und Herder, bekennen

müssen, sie nicht ganz durchdringen zu können, so blieb

Hamann ein vereinzelter, und sein Schüler Herder wurde

der offizielle Gegenpapst Kants. !Vas Hamann wollte, das war die Einheit des

primitiven noch undifferenzierten Lebewesens. VOas Kant und Goethe wollten, das war die (Einheit

hochstehender Organismen, die aus wohl spezialisierten

Gliedern bestehen. Die Natur will Einheit und sie will

auch Mannigfaltigkeit, Differenzierung. Sich also in diesem

ZViderstreit auf die Natur zu berufen, führt zu nichts.

Page 64: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

46 Grundsätzliches.

§ U-

Goethe als Synthese von Herder und Kant.

Goethe nennt einmal den Zustand, in dem er in

I t a l i e n g e l e b t , f r u c h t b a r e D ä m m e r u n g .

Vielleicht ist zu Helles £icht der Fruchtbarkeit über­

haupt hinderlich wie gewissen chemischen Prozessen. Daher kann es die klare Reife des Alters mit der Jugend

an Fruchtbarkeit nicht aufnehmen. Darum ist „Unreife" kein minderwertiger Zustand, bloß ein anderer, der

s e i n e s p e z i f i s c h e n V o r z ü g e u n d F e h l e r h a t . I n d i e s e m Sinn nenne ich den Herderismus die (Einstellung des un­

reifen Menschen, den Kantianismus die des reifen.

Herder selbst hat nach dem Urteil seiner Zeitgenossen kein

Reifestadium erlebt. <£r war erst genial, dann senil.

Und darum empfinde ich es als so tief symbolisch, daß Goethe in seinem $0. Jahr die Wendung von Herder

zu Kant vollzog. Ich sagte es schon — es kann sich nicht um einen totalen Bruch mit gewohnter Weltanschauung

dabei handeln, nur um eine Schwerpunktsverlegung.

(Elemente, die in der Symphonie des Goetheschen Geistes

anfangs die Führung hatten, sind aus der Oberstimme in die Begleitung übergegangen. Der Ton liegt von jetzt ab

bei dem bewußten wachen kritischen Intellekt.

Und weil er so mit seinem Forscherverstand auf

f e i t e n K a n t s s t a n d , w ä h r e n d i n f e i n e r D i c h t e r s e e l e

ein „Herder-Komplex" weitergährte, so sehe ich in ihm die Synthese zwischen Herderismus und Kantianismus,

Page 65: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ U- Goethe als Synthese von fjerdct und Kant. |7

die sonst sehr selten ist. Weder der einen noch der andern

Richtung stand er so schroff verständnislos, so feindlich gegenüber wie ihre extremen Vertreter einander seit je

gegenübergestanden sind und einander in alle Ewigkeit

gegenüberstehen werden, — beide beständig über den am

Boden liegenden Gegner triumphierend. Schon Goethe

schildert in A U3 sehr drastisch den „allzufrühen meta-

kritischen Triumph". lvenn aber ein Kant Biograph die grotesken Kapriolen

der Herder-Verehrer mit der Feststellung quittiert, daß

„Herders !verk in der Geschichte vergessen ist und Kant

lebt", so erscheint mit auch dies als ein allzufrüher Triumph. Mag Herders Metakritik gelesen werden oder

nicht, die Geistesverfassung, aus der sie geboren wurde,

ist unvergänglich. Und so geht es immer hin und her. Auf der einen Seite versichert ein Anhänger Kants, daß in

dessen Herder-Rezension eine neue Weltanschauung sichtbar wird, vor der die fjetöetfcbe

versinken muß, da den Stimrmmgsbegtiffen der klare wissenschaft­liche Gedanke entgegentritt.

Auf der anderen Seite findet ein „ tebensphilofoph"

es zeige sich jetzt deutlicher als je, daß der Kantianismus eine wesentlich akademische Angelegenheit

gewesen sei,

und daß die „un- und antikantische Philosophie", deren

Ursprung er von Goethe und Leibnitz ableitet, nach seiner

Meinung ein viel reinerer Ausdruck deutschen Wesens ist, als aller Kantianis-

MUS.

Page 66: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

48 Schiller -Kant -Goethe,

Aber Herders unklare Stimmimgsmelt ist nicht ver­

sunken, sein lverk ist als Extrakt des Anti-Kantianis-

mus unsterblich. Und der Kanttanismus ist nichts „ge­wesen", sondern was er ist und war, wird er immer sein.

Beide Parteien sind — wie es Kant einmal so

hübsch ausdrückt — wie die kuftfechter in Walhalla,

die sich fortwährend gegenseitig zerstückeln, aber sofort

nach der Schlacht wieder zusammenwachsen, um sich aufs

neue in unblutigen Kämpfen zu erlustigen.

Wäre aber Goethe das, was die Herderisten aus ihm

machen möchten, nämlich ihr Parteigänger und ein Feind

Kants, dann könnte sich nicht das gesamte deutsche Volk,

welcher geistigen Richtung sich der Einzelne auch zuzählen

mag, unter seiner Lahne einträchtig zusammenfinden.

Z w e i t e s K a p i t e l .

Schiller — Kant — Goethe. § 12.

Wann hat das Gespräch über Idee und Erfahrung stattgefunden?

)n Goethes Aufsatz „Der versuch als Vermittler",

der im April V92 geschrieben ist, kommt ein höchst auf­

fallender und merkwürdiger Satz vor. Goethe stellt fest,

daß die Kraft des menschlichen Geistes alles mit einer

ungeheuern Gewalt zu verbinden strebt und warnt vor

der Gefahr, welche man läuft,

Page 67: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 12. Das Gespräch über Idee und Erfahrung. <$9

wenn man mit einer gefaßten Idee eine einzelne Erfahrung

verbinden; oder ein Verhältnis, das nicht ganz sinnlich ist, das aber die bildende Kraft des Geistes schon ausgesprochen hat, durch einzelne versuche beweisen will.

Höchst auffallend und merkwürdig nenne ich diesen

Satz, weil Goethe (A vo) uns erzählt, er sei unmittelbar

vor (Eröffnung der „Hören", also im Sonnet V9t mit

Schiller über das Verhältnis von )dee und «Erfahrung in

eine leidenschaftliche Kontroverse geraten, und Schiller

habe ihn durch den Kcintischen Satz ganz unglücklich

gemacht:

tPie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen fein sollte? Denn darin besteht eben das (Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne.

Aber wie denn! warum prallt Goethe vor diesem

Satz wie vor einem Gorgonenhaupt zurück, wenn er doch

zwei )ahre zuvor selbst daraus verfallen war, daß es nicht

angehe, mit einer gefaßten )dee eine einzelne Erfahrung

zu verbinden?

Zugegeben, daß Goethe bei seiner Warnung nur an

die Theorien der Newtonianer dachte,—zugegeben, daß

es ihn entsetzt haben könnte, wenn der gleiche Vorwurf,

den er seinen Gegnern machte, nun auf ihn selbst zurück-

f i e l , — a b e r a u s g e s c h l o s s e n i s t e s , d a ß d e r S a t z a l s s o l c h e r

ihn so tief schmerzen konnte, wenn er ihn zwei )ahre

zuvor selbst zu Papier gebracht hatte. N?as folgt daraus?

D a s b e r ü h m t e G e s p r ä c h ü b e r ) d e e u n d E r f a h r u n g m u ß

vor dem April V92 stattgefunden haben.

4

Page 68: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

50 Schiller —Rant—Goethe,

Als ich diese subjektive Gewißheit erlangt hatte,

machte ich mich daran, alles, was mir an historischen Dokumenten erreichbar war, sorgfältig zu prüfen und

fand als wahrscheinlichsten Termin für die Kontroverse den 3V Oktober \7<)0. Bei dieser Gelegenheit zeigte

sich, daß auch Düntzer — aus anderen Gründen als ich — zu dem*gletchen Resultat gekommen war.

üblicherweise verlegt man das Gespräch auf den

Juli V94, und zwar deshalb, weil am September

Schiller (A53) von einer „vor sechs Wochen" mit Goethe

gehaltenen Aussprache berichtet. Aber man lese diesen

Bericht nur aufmerksam durch! €r beweist gerade, daß

damals nicht der Zank über Idee und Erfahrung vor sich gegangen sein kann.

Wir hatten vor sechs Wochen über Kunst und Kunftiheorten ein langes und breites gesprochen und uns die Bauptibeen mitgeteilt, zu denen wir auf ganz verschiedenen Wegen gekommen waren. Zwischen diesen Ideen fand sich eine unerwartete Übereinstimmung.

Wie paßt diese unerwartete Übereinstimmung zu

Goethes dramatischer Schilderung? Ist es denkbar, daß

ein und dasselbe Gespräch von dem einen Teilnehmer als

ein unentschiedener Kampf, von dem andern als Auf-

deckung überraschender Harmonie empfunden wird?

Und wieso erzählt Schiller bloß von „Kunst und Kunsttheorie", kein Wort von Idee und Erfahrung, von

Naturphilosophie, von einer symbolischen Pflanze? wieso

sucht man in den ersten mit Goethe gewechselten Briefen

vergeblich nach einer Anspielung auf die dramatische

Page 69: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ \ 2 . Das Gespräch über Idee und Erfahrung. 51

Szene? Wäre wirklich erst vor so kurzer Zeit der Realismus

des einen mit dem Idealismus des andern hart auf hart

aufeinandergeprallt, so müßten notwendig leidenschaft-

liche Kontroversen über das Verhältnis zwischen )dee

und (Erfahrung den Briefwechsel einleiten. Aber da

finden wir weder in Scherz noch (Ernst die leiseste An­spielung auf einen derartigen Konflikt, nichts als ein

fortwährendes Staunen über die wunderbare llberein-

stimmung der )deen, — den gleichen Ton, in dem

Schillers Brief vom v September 5794 gehalten ist. Nun

aber sehet Schillers Bericht vom v November V9<>

(A ^s) mit dem vielsagenden Satz am Schluß:

Überhaupt ist mir seine Philosophie zu sinnlich und betastet

mir zu viel.

Da haben wir sie, die unerquickliche Auseinander-

setzung, die Goethe im „Glücklichen (Ereignis" beschreibt, lvas deni einen )dee ist, die er „aus der Seele holt",

hält der andere für sinnliche (Erfahrung. Sie sprechen

verschiedene^Sprachen, ärgern sich gegenseitig, bis schließ-

lich „Stillstand gemacht wird" (Goethe) und „Über-zeugung und Streit zugleich aufhört (Schiller). Die beiden (Erzählungen passen in einander wie Schloß und Schlüssel.

Goethe behielt alles Sachliche richtig im Gedächtnis,

nur die Daten verwechselte er und übersah, daß zwischen

der ersten an die Metamorphose anknüpfenden Aussprache

mit Schiller und der ferneren Ausbildung ihres Der-

hältnisfes vier Jahre lagen. Das Schiller darum liebens-würdig gewesen sei, weil er Goethe für die fjorert

4*

Page 70: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

52 Schiller —Kant—«Soett[e.

gewinnen wollte, das ist nachträgliche Rekonstruktion.

Die Erwähnung der Hören ist aber der einzige Anhalts-

punkt für das )ahr V9t- Schiller mag liebenswürdiger

und konzilianter gewesen sein, weil es seit fahren sein

tiefster Herzenswunsch war, von Goethe gekannt und

geachtet zu sein, während Goethe seine Vorurteile gegen den Dichter der Räuber nur „der Gattin

zuliebe, die er von Kindheit an zu lieben gewohnt war"

überwand.

Als Goethe das „glückliche Ereignis" beschrieb, lag

ihm der Briefwechsel mit Schiller noch nicht vor, und

Tagebuch-Aufzeichnungen fehlen aus jener Zeit fast

völlig. So wissen wir auch nicht, wie oft in den Jahren

V90—V9t die beiden Männer noch zusammenkamen.

Äußerlich hemmten zahlreiche beiderseitige Reisen sowie

Schillers schweres Leiden den Verkehr, innerlich die Ver­ärgerung, in der sie an jenem 3 V Oktober V90 aus­

einandergegangen waren, mit dem Gefühl, durch

mehrere Grddiameter getrennt zu fein (A vo). Besonders

Schiller war merkwürdig abgekühlt. Wie sehnsüchtig hatte

er vorHerden bewunderten Dichter mit der Seele gesucht!

Wie hatte er in feinem brennenden Interesse für den

großen Mann jeden Tratsch und Klatsch über ihn brühwarm

dem Korrespondenten gemeldet! Jetzt auf einmal fühlt

er sich dem geistigen Rivalen überlegen, er buhlt nicht

mehr um ihn. Kaum kommt der Name Goethe noch in

den Briefen vor. Und erst am 28. Juni V9t kann Goethe

befriedigt melden,

Page 71: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ \ 2 . Das Gespräch übet Idee und Erfahrung. 53

daß seit der neuen Epoche*) auch Schiller freundlicher und zu-

traulicher gegen uns Züctmaraner wird (A <J8).

Schillers Schwägerin erzählt:

Auf die Einladung zur Teilnahme an den Hören besuchte

Goethe Schiller in Zena, und in einem Gespräch entstand die

Annäherung, die wir solange gewünscht hatten (A n<s).

Daß dieser Besuch am Juli stattgefunden habe,

kommt mir nicht wahrscheinlich vor, weil sonst Schiller

in seinem sehr ausführlichen Brief A 50 wohl ein Wörtchen davon erwähnt hätte. <Ls wird eher vor dem $. Juli ge­

wesen sein. Aber schließlich ist ja der Tag herzlich un-

wesentlich. tüo man jenes zufällige Zusammennachhausegehn

und im Gespräch die Treppe hinansteigen, das in Goethes

(Erzählung so anschaulich und einprägsam wirkt,

eigentlich unterbringen soll, ist mir vollkommen dunkel.

Ju keinem der Dokumente will es passen. Oder sollte

sich eben dieses am 2\. Mai zugetragen haben?

Abschließend möchte ich diesem literarhistorischen

Paragraphen noch hinzufügen, daß der Nachtrag zu den

Annalen „Erste Bekanntschaft mit Schiller" nicht von Goethe stammt, sondern eines der Ragouts aus Lcker-

manns Milche ist, — zusammengebraut aus dem Ab-

schnitt über Schiller in den echten Annalen von V94 und

dem Aufsatz „Glückliches (Ereignis".

*) Die „neue Epoche" datiert p e t er f e n (Goethe-Jahrbuch (926),

leider ohne Angabe der Urkunden, auf die er sich stützt, voin 2 n. Ittai

V9t ab .

Page 72: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

5-5 Schiller—Kant -Goethe,

§ 13.

Kant als Vermittler zwischen Schiller und Goethe.

Goethes Aussage, daß Schiller in jener Unter­

redung am 3V Gkober ^790 als ein „gebildeter Kan­

tianer" geantwortet habe, muß nicht als Anachronismus

aufgefaßt werden. Allerdings hat sich Schiller erst vier

Monate später offiziell zu Kant „bekehrt" (A 27), indessen

kantfremd war er schon damals nicht. )n seiner Antritts­

vorlesung im Mai *789 hatte er sich „nicht geschämt zu fantisieren" (A u),unö eben in jenem Herbst *790 erschien in der Thalia eine Abhandlung mit der Anmerkung:

„Ls ist wohl bei den wenigsten Lesern nötig zu erinnern,

daß diese )deen auf Veranlassung eines Kantischen

Aufsatzes in der Berliner Monatsschrift entstanden sind".

Zudem ist es nicht weiter wunderbar, wenn ihm als

Professor an einer Universität und in einer Stadt, die

Reinhold in ein Feldlager Kants verwandelt hatte,

wo die tust von Kantischen Formeln sauste, auch jener

Grund- und Leitsatz: „Wie kann jemals Erfahrung ge­geben werden, die einer )dee kongruent wäre?" im

Kopfe parat lag, um bei passender Gelegenheit her-

vorgeholt zu werden.

So mochte er ganz wohl schon damals Goethen, der

sich von Schillers Philosophie dauernd mehr imponieren ließ als es nötig gewesen wäre, als ein „gebildeter

Kantianer" erschienen sein.

Page 73: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ H3. Kant als Vermittler zwischen Schiller und Goethe. 55

Schiller hatte Kant gelesen und Goethe hatte Kant

gelesen, als sie im Herbst 5790 zusammenkamen. „Das Gespräch kam bald auf Kant." Und doch war es, als

sprächen sie von zwei verschiedenen Autoren, von dem

Ganzen des Kantischen Systems hatte weder ber eute

noch der andere einen Begriff.

Den jungen Geschichtsprofessor haben wie be­

greiflich die „)deen zu einer Geschichte in Weltbürger-licher Absicht" ant meisten interessiert. )n seiner Antritts»

Vorlesung knüpft er an sie an. Sache des Philosophen ist es, sagt er mit Kant, aus einem planlosen Aggregat

menschlicher Handlungen ein System zu machen.

Er nimmt diese Harmonie aus sich selbst heraus und verpflanzt

sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d. i, er bringt einen ver-

nünstigen Zweck in den Gang der tüelt und ein teleologisches

Prinzip in die Weltgeschichte.

Goethe hinwieder hatte in der Kritik der Urteils-

kraft den Metamorphosengedanken und die innere Teleologie der (Organismen entdeckt, und dieser Gedanken­

komplex stand für ihn im Vordergrund. Körner be­

r ich te t {A \6) :

3n der Kritik der ideologischen Urteilskraft ha er Nahrung für

seine Philosophie gefunden.

und Goethe selber bekennt (A v):

Der ideologische Teil hat mich fast noch mehr interessiert als der

ästhetische.

Schiller war von seinem eigenen Wohnsitz aus durch das Tor der Freiheit in das weite Reich Kant ein­

Page 74: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

56 Kchiller—Kant—Goethe.

getreten. Goethe kam von der andern Seite her durch das

Tor der Natur. So stehen zunächst die Geistesantipoden

einander durch den ganzen Lrddia,neter geschieden gegenüber (A ^70).

Aber die Lehre jenes unfaßbar reichen, unermeßlichen

Genius, dem das Reich der Natur wie das der Freiheit

gleichermaßen Untertan war, sie bildete die Kugel»

Oberfläche, auf der die beiden Wanderer sich allmählich

zu einander hin arbeiten konnten. )ene Lehre, die dem

Geist und der Materie, dem verstand und der Sinnlichkeit,

der sittlichen Welt und der töelt des Lebens gleich gerecht

wird — sie war wie keine zweite geeignet, den Idealisten

und den Realisten zu versöhnen.

)n der Kritik der Urteilskraft haben sie sich gefunden.

Will man die Formel paradox zuspitzen, so kann man sagen: in einem einzigen Satz der Kritik der Urteilskraft

haben sie sich gefunden, in dein Satz aus § $5:

Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah, und

die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind,

sie sei Kunst und sie uns doch als Natur aussieht.

Für Schiller ist dieser Satz von „ungemeiner Frucht-barkeit" geworden (A 38), er hat in der Tat ganze Ab­

handlungen über ihn an Körner gesendet. Aber genau

so fasziniert war auch Goethe davon. Dies bekunden z. B. die Dokumente A 3$ a, A \<ö2, A 1(68 und

A 2\\, wo immer wieder der Gedanke,

ein Kunstwerk solle wie ein Naturwerk, sin Naturwerk wie ein

Kunstwerk behandelt werden,

Page 75: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ i5. Kaut als Vermittler zwischen Schiller und Goethe. 57

mit größter Befriedigung referiert wird. Auch in den

j)ropyl3en-Aufsätzen finden wir seine Spuren.

Daß nun dieser Gedanke und die auf ihn aufgebaute

Definition der Schönheit, die damals das ausschließliche Thema der Korrespondenz Schiller-Körner bildete, auch

jenem „langen und breiten Gespräch über Kunst und

Kunsttheorien" zugrunde lag, das geht mit voller Klar­

heit aus den Briefen A 53, 55 und 56 hervor. Der

Vergleich der Schönheit in Kunst und Natur, das war

der Köder, mit dem Schiller Goethe locken konnte.

Dieser vergleich ist einer jener „großen Hauptgedanken

der Kritik der Urteilskraft" von denen Goethe sagen

konnte, sie seien seinem eigenen Denken analog. Goethe

fand solche Gedanken in dem Buch nur wieder, Schiller,

dessen ganzem bisherigen Schaffen, Tun und Denken

sie völlig fremd gewesen waren, lernte sie geradezu

aus diesem Buch und machte sich nur dadurch fähig und würdig, der Freund Goethes zu werden. So ist es völlig

berechtigt, was, wie ich zu erinnern glaube, schon

Vorländer aussprach: Nicht Schiller hat zwischen Goethe und Kant vermittelt, nein, Kant hat zwischen Goethe und Schiller vermittelt.

Erst als durch Kant der Kontakt hergestellt war,

dann erst, nicht früher! fühlten sie ihre dichterische

Schicksalsgemeinschaft. Sehr erheiternd wirkt der Disput, ob Schiller Goethe

zu Kant, hin oder Goethe Schiller von Kant weg ge--

zogen habe. Keiner zog hin, keiner zog her. Sie fanden

Page 76: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

58 Schiller — Kant —Goethe.

sich in Kant, und Goethe berichtet, daß er durch Schiller

mit der kantischen Philosophie nur immer mehr

zusammenwuchs. Das ging so viele )ahre hindurch,

noch die Aufsätze in den Propyläen von V98/9 sind

dessen Zeugnis. Dann, überraschend spät, erst nach vollen zehn fahren, trat die Reaktion ein.

Was Schillers Verhältnis zu Kant anlangt, so stimme

ich im Wesentlichen Günther )acoby bei, der findet,

Schiller sei nur Gast in der Philosophie gewesen, seine Funktion konnte und sollte feine andere sein als die,

Kant zu popularisieren, ins Schöngeistige zu übersetzen.

Indes wird in § wahrscheinlich gemacht, daß Kant in einem Punkt durch Schiller beeinflußt worden

sein mag.

Ganz überaus treffend ist der vergleich, den Wilhelm

von Humboldt (A 229) zwischen den beiden Freunden

zieht. Goethe ist ihm um kein Sfaat weniger eine philo*

sophierende und grübelnde Natur als Schiller. Nur sei

Schiller mehr dialektisch. Schnell gestalte sich ihm Meinung, Maxime, Grundsatz und gehe in tt>orte über,

wahrend es dagegen Goethes Art sei, nichts durch die

Dialektik für abgemacht zu halten. Bei Schiller erwuchsen nicht wie bei Goethe die

Gedanken aus unscheinbarem Samenkorn langsam zum

Sicht — er schnitt sie fertig als Pfropfreiser von fremden

Bäumen und überpflanzte sie in seinen (Satten, da

konnten sie bald leuchtende Blüten treiben. Goethe war

Selbstdenker, ein Kant kongenialer Geist, Schiller ein

Page 77: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ Schiller als geistiger Befteftor. 59

meisterhafter Schüler. Es gibt Kantianer, es gibt

Goetheaner, hat man je von einem Schilleraner gehört?

Lr empfand es selbst. Darum widerriet er Goethe das

Studium der kantischen Philosophie und meinte, Kant

sonne Goethe nichts geben, „er selbst aber studierte ihn eifrig". (A 200.)

§ H-

Schiller als geistiger Reflektor.

Sich in fremde Gedanken virtuos einzufühlen, ihnen

rhetorisch glänzende, eindringlich einprägsame Form

umzugießen, darin lag Schillers Größe.

Allerdings, fast zu schwungvoll, zu glänzend ist diese

Sprache, um der vollendete Ausdruck für ernsthafte

philosophische Gedanken zu fein. Dieser glatt zuge-

fchltffenen Dialektik, diesem aufgeregten Pathos gegen­

über empfinde ich Kants vielgeschmähten „Kanzleistil" eher als den wertvolleren, weil dem gedanklichen Gehalt

angemesseneren.

3* muß Rousseau solange lesen, bis mich die Schönheit des

Ausdrucks gar nicht mehr stört, dann kann ich ihn erst mit Vernunft

übersehen.

JPas Kant hier von Rousseau sagt, könnte er eben#

f oroohl von Schiller sagen.

Blendende Antithesen, hinreißender Rhythmus um-

hüllen diese Schriften mit dem Scheine hohler äußerlicher

Page 78: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

60 Schiller —Kant —Goethe.

Rhetorik, und man ist über die Entdeckung überrascht,

daß sie in der Tat Gedanken enthalten.

Indessen wissen mir, daß Kant seine Freude an ihnen hatte. Der Abhandlung „über Anmut und Würde"

zollte er öffentlich die höchste Anerkennung, und in seinem

Nachlaß fand man ein Exzerpt aus dem ästhetischen Brief, worin Schiller auseinandersetzt, „der Transzenden-

talphilosoph gebe sich keineswegs dafür aus, die Möglichkeit

der Dinge zu erklären, sondern begnüge sich, die Kennt-

nisse festzusetzen, aus welchen die Möglichkeit der Er-

fahrung begriffen wird".

Ein großer verstehet ist auch etwas Großes. ZVie

Schiller es verstand, Kants Gedanken scharf pointiert und

eindringlich zurückzugeben, so wurde er auch für Goethe ein Spiegel, in dem dieser sein eigenes Bild deutlicher,

in klareren Konturen sah, als er es sonst zu sehen ver-

mochte. Eigentlich verlangte Goethe von diesem Verkehr

nicht viel anderes. Er brauchte einen urteilsfähigen, be­

geisterten, anregenden Leser für seine Werke und für

sein keben. 3n dem Briefwechsel wirkt es eigenartig,

wie Schiller kaum je anderes tut, als Goethes eigene

Gedanken in eine philosophisch anmaßendere Form zu kleiden und wie dankbar Goethe solche Gaben aufnimmt.

Zum Beispiel:

Goethe überschickt dem Freunde den alten Aufsatz

über den versuch und bittet um Bemerkungen dazu.

Schiller übergießt ihn mit einem Schwall hochtrabender

Page 79: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ vi. Schiller als geistiger Reflektor. 6 H,

Nlorte, und Goethe quittiert „den lehrreichen Brief" und

ist stolz, daß er soweit gekommen ist, ihn als eigenes Glaubensbekenntnis unterschreiben zu können.

Aber was sagt eigentlich Schiller in diesem lehr-

reichen Brief? Nichts, was nicht in dem Aufsatz „Der Versuch als Vermittler" auch schon gesagt wäre. Goethe

spricht nicht von „kritischer Polizei", aber er sagt, Theorie und Erfahrung müssen auseinander gehalten werden.

Goethe redet nicht von „rationaler Empirie", aber er

beschreibt, wie man es anfangen müsse, um die Erfahrung

vernünftig zu gestalten. Goethe sagt nicht:

Überhaupt kann eine Erscheinung oder Faktum, die etwas durch-

gängig vielfach bestimmtes ist, nie einer Regel, die bloß bestimmend

ist, adäquat fein.

So geschwollen drückt er sich nicht aus. Aber er

spricht von der Gefahr, welche man läuft, wenn man mit

einer gefaßten )dee eine einzelne Erfahrung verbinden

will. Und so mit allem. Goethe freut sich, seine kunstlos

hingeworfenen Gedanken in so bombastischen Tönen

vortragen zu hören. Entzückend naiv gesteht er in A \68

diesen Stolz ein: wie er sich allmählich an eine ihm völlig fremde Sprache gewöhnt, durch die er sich vor­

nehmer und reicher dünken kann und sich nun von den

Popularphilosophen nicht mehr schlecht behandeln lassen

muß.

tDenn ich im übrigen abzuschätzen versuche, welchen Anteil Schiller an Goethes Kantftudien gehabt haben

mag, so möchte ich sagen:

Page 80: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

62 Herder —Kant —Goethe

Von dem inneren keben, dem gefühlsmäßigen

Gehalt der kantischen Philosophie hat Goethes geniale

Intuition selbst Besitz ergriffen, das System, soweit er überhaupt in dieses eingedrungen ist, verdankt er der

Unterweisung Schillers.

Drittes Kapitel.

Herder — Kant — Goethe.

§ 15.

Herder als Schüler Kants.

Das Verhältnis Herders zu Kant ist äußerst kom­pliziert und könnte zu einer Fülle lehrreicher Be-

trachtungen Anlaß geben. €s ganz aufzuklären bin ich

nicht imstande. Dazu würden viel tiefere Studien gehören,

als ich sie mit meinem jetzigen plan vereinbaren konnte.

3ch bringe zunächst einige charakteristische Stellen aus der umfangreichen und vertrauenswürdigen Herdermono­

graphie R. Hayms:

„Am 2V August (762 saß Herder zum erstenmal in des Magisters

Kant Auditorium, von Stund an wurde er fein eifrigster Zuhörer.

Durch ihn wurde die Philosophie das „ kieblingsfeld seiner Zugend",

Kant ließ ihn unentgeltlich seine Vorlesungen hören, und er hörte sie

sämtlich, mehrere zu wiederholten malen."

Herder dichtet:

Mein Lrdenblick ward hoch — er gab mir Kant.

Page 81: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ \ 5 . Herder als Schüler Kants. 65

Vder: lvenn die Zeit einst nach zertrümmertem All ihren

Liebling ihrer Brust eingraben, wenn sie dann mit den phönix­

schwingen sich ein Feuer fächert wird, so brenne, der Ewigkeit Nacht

unüberglänzbar zu leuchten, auch Dein Name, Kant.

3m Reisetagebuch von \76$ zählt Herder alles auf, was er in einer idealen Schule lehren möchte, darunter

auch Psychologie als eine reiche phyfif der Seele, Kos­

mologie als die Krone der ZTemionfchen Physik.

Ein lebendiger Unterricht darüber im Geiste eines Kant —

was für himmlische Stunden!

fjaym findet, daß sich der Einfluß jenes mächtigen Geistes auf die Gedankenbildung

des Jünglings unabweislich und auf lange hin geltend macht. Einzelne

Anklänge an Kantfche Aussprüche, Wendungen und Hebensarten,

. . . finden sich zerstreut überall in den der Königsberger Periode

zunächst liegenden Stücken aus Herders Leder. Ganz besonders nahe

berührt sich mit den „Beobachtungen über das Schöne und Erhabene"

(Herders kieblingsschrift) die Wochenblattsabhandlung von 1766.

Fast sieht es aus, als ob er das Kantische lverkchen aufgeschlagen neben

sich liegen gehabt, als er diese Abhandlung schrieb, viel wichtiger ist

jedoch, wie im Grunde alles, was Herber an Philosophie besag,

den Kantischen Stempel an sich trug.

Ein festes System war es fürs erste nicht, aber eine zwischen

ganz bestimmten Grenzen verlaufende Gedankenbewegung, in der

Kant suchend und prüfend mitten inne stand und in die er auch feinen

Schüler hineinzog. Die Überlieferung der keibniz-tvolfschen Meta-

physik in den Hintergrund gedrängt durch die Erfahrungsphilofophie

Bacos und Jtocfes, gekreuzt durch die kecken Träume Roufseaus, und

zersetzt vornehmlich durch die scharfsinnigen Zweifel Humes. Diese Elemente gähren bei Kant durcheinander . . . Dieselben Elemente

bei Herder, nur daß sie bei ihm teils verworrener, teils unvermittelter

nebeneinander liegen, und daß Herder zeitlebens über jenes unreife.

Page 82: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Ijcrbec —Knut—<9oeil;c.

zwischen entgegengesetzten Strömungen umgetriebene Philosophieren

nicht hinauskam. Er war und blieb in der Hauptsache ein Kantianer

vom Jahre <765.

Haym führt nun verschiedene auffallende Ähnlich­keiten zwischen den Gedanken des kehrers und des

Schülers an, die ich nicht alle nachprüfen kann. Nur einen

Satz möchte ich noch zitieren, weil ich ihn für unbedingt

richtig halte.

Zugleich philosophisch und zugleich historisch verfuhr Kant bei

diesen anthropologischen Arbeiten, und auf Kernt ist es daher auch

guten Teils zurückzuführen, daß Herder je länger je mehr in einer

Geschichte der Menschheit seine wissenschaftliche Hauptaufgabe

erblickte.

§ *6.

Kants Rezension der „)deen".

Vorlesungsprogramm \T16 entwickelt Kant

d e n p l a n s e i n e r G e o g r a p h i e u n d A n t h r o p o l o g i e ,

die er aber schon von Beginn seiner akademischen Unter-

Weisung an vortrug.

Die physische Geographie, die auch das natürliche Verhältnis der

Länder und ItTeere und alles merkwürdige aus den drei Naturreichen

anzeigt, soll das eigentliche Fundament aller Geschichte bilden.

Die moralische Geographie betrachtet den Menschen auf der ganzen

Erde und legt eine Karte der jetzigen und früheren moralischen Zu-

stände des menschlichen Geschlechts vor Augen. Die politische Geo-

Hraphie ist nicht mehr eine Aufzählung zufälliger Unternehmungen,

Regierungsfolgen, Eroberungen und Staatsränken, sondern sie erwägt

bie Folgen, die aus der Wechselwirkung zwischen physischen und

moralischen Kräften sich ergeben, das Beständige, was zu allem Übrigen

Page 83: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ (6. Kants Rezension von Herders „3been". 65

den entfernten Grund enthält, nämlich die Tage der Länder, die pro«

dufte, Sitten, Gewerbe, Handlung und Bevölkerung. So kann die Einheit

der (Erkenntnis erlangt werden, ohne die alles Wissen Stückwerk ist.

Auffallenderweise hat Kant seine eigenen „Ideen

zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" un-mittelbar vor denen Herders erscheinen lassen, seiner

Angabe nach veranlaßt durch eine Ankündigung in der

Gothaischen Gelehrten-Zeitung, die

ohne Zweifel aus einer Unterredung mit einem durchreisenden

Gelehrten genommen und die sonst ohne begreiflichen Sinn bliebe.

Aber was brauchte es ihn zu kümmern, ob diese nicht von ihm eingerückte Ankündigung einen begreiflichen

Sinn bekomme oder nicht? Wahrscheinlicher ist, daß Herders bevorstehende Publikation, von der er durch

Hamann unterrichtet war, ihn antrieb. Seinen leitenden Gedanken drückt Kant so aus:

«Eine Rechtfertigung der Natur — oder besser der Vorsehung —

ist kein unwichtiger Beweggrund, einen besonderen Gesichtspunkt der

Weltbetrachtung zu wählen. Denn was hilfts, die Herrlichkeit der

Schöpfung im vernunftlosen Naturreich zu preisen, wenn der Teil,

der von allem diesen den Zweck enthält, die Geschichte des menschlichen

Geschlechts, ein unaufhörlicher Linwurf dagegen bleiben soll, bessert

Anblick uns nötigt, unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden?

Und nun Herder:

Der (Sott, der in der Natur alles . . . geordnet und eingerichtet

hat, so daß von der Kraft, die Erden und Sonnen hält, bis zum Laden

eines Spinngewebes nur eine Weisheit, Güte und Macht herrscht, —

wie, sprach ich zu mir, dieser Gott sollte in der Bestimmung und (Ein-

richtung unseres Geschlechtes im Ganzen von seiner Weisheit ablassen

und hier keinen Plan haben?

5

Page 84: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

66 Herder —Kant —Goethe.

Kant schließt seine Abhandlung mit einem Appell

an „einen philosophischen Kopf, der übrigens sehr

geschichtskundig sein müßte", eine „Philosophie der

Geschichte" zu schreiben. (Er selbst habe bloß die Idee einer solchen Weltgeschichte andeuten wollen. Bedenkt

man, daß Kant ohne Zweifel diese Anregung schon viel früher seinen Zuhörern gab, im Zusammenhang mit dem

anfangs skizzierten Programm einer geographisch- anthro­

pologischen Geschichte, so hat man den ganzen plan zu

Herders „Ideen" vor sich und denkt sich sein Teil dabei,

wenn Herder in der Vorrede erzählt, daß dieser Gedanke

ihm „schon in ziemlich frühen Jahren, da die Auen der

Wissenschaft noch im Morgenschmucke vor ihm lagen", vorgeschwebt habe. Innerlich war et gewiß des allerbesten

Glaubens, den plan seines kehrers ausgeführt und ihm damit eine Freude bereitet zu haben. Wie vom Donner

gerührt vernahm er dessen Aburteil. Lntsetzt schreibt er an G. Müller:

Denken Sie! der heftigste Feind meiner Zdeen ist der mir un-

erwartetste, — mein eigener ehemaliger Lehrer Kant!

Warum, warum nur fiel Kants Urteil so übermäßig,

so ganz ungewöhnlich scharf aus? Zum Teil mag es fein, weil er sich die Ausführung seines plans ganz anders

vorgestellt hatte, zum Teil glaube ich eine Erklärung

dieser Schärfe in Goethes Wort zu finden, man fei gegen

nichts strenger als gegen erst abgelegte Irrtümer.

Denn Herders Buch scheint mir manche abgelegte

Irrtümer Kants zu enthalten. Sicher gilt dies von dem

Page 85: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ H6. Kants Rezension von Herders „Ideen". 6?

zweiten Kapitel des ersten Teils, welches fast wörtlich aus Kants „Allgemeiner Himmelstheorie" entnommen

ist. Ein plagiat ist das nicht, denn Kants Schrift wird rühmend erwähnt.

Herder setzt da auseinander: die geistigen Eigen-

fchaften der Menschen hängen von der Grobheit oder Leinigkeit ihrer Materie ab, mit zunehmendem Abstand

von der Sonne wird die Materie der Planeten immer

feiner und damit auch ihre kebewelt immer geistiger, die

Bewohner von (Erde und Zitats stellen also auch in

geistiger Hinsicht einen mittleren Zustand dar. (Es

besteht eine Beziehung zwischen der Umdrehungsge-schwindigkeit eines Himmelskörpers und der Behendigkeit seiner Bewohner. Nach dem Tode leben die Seelen ver­

mutlich auf einem andern Planeten weiter. Dieses alles

steht im Anhang von Kants Theorie des Himmels zu

lesen.

Ahnlich mochte Kant gefühlt haben, wie Goethe nach der Rückkehr aus Italien Schiller gegenüber.

€t war mit verhaßt, weil ein kraftvolles, aber unreifes Talent

gerade das, wovon ich mich zu reinigen gestrebt, recht im vollen, hin­

reißenden Strom über das Vaterland ausgegossen hatte. Ich glaubte,

all mein Bemühen völlig verloren zu sehen.

Glänzend charakterisiert Kant Herders schriftstellerische Art:

ein sich nicht lange verweilender, vielumfassender Blick, eine in

Auffindung von Analogien fertige Sagazität, im Gebrauch derselben

aber kühne Einbildungskraft, verbunden mit der Geschicklichkeit, für

seinen immer in dunkler Lerne gehaltenen Gegenstand durch Gefühle

Page 86: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

68 H erb er — Kant—Goethe.

einzunehmen, die . . . als vielbedeutende lvinke mehr von sich ver­

muten lassen als kalte Beurteilung wohl geradezu in denselben an-

treffen würde.

Herders Zöut war maßlos. Alles um ihn herum

schürte die Glut. Nur Hamatttt, Kants Antipode, kam mit

der Feuerspritze:

Ei, ei, mein lieber Gevatter, Landsmann und freund, daß

Ihnen die Schläge Zhres alten kehrers so weh tun, gefällt mir nicht

recht. Dies gehört zum Autorspiel, und ohne diese veniam mutuam

muß man sich gar nicht einlassen. Zeder gute Kopf hat so einen Satans-

engel nötig statt eines memento mori.

§ V-

Herder und Goethe.

Gerade in die Zeit dieses höchsten Kanthaffes fällt d e r H ö h e p u n k t v o n H e r d e r s F r e u n d s c h a f t m i t G o e t h e .

Daß sie vorher gemeinsam Kants Theorie des Himmels

gelesen haben könnten und das Gedicht „ÖMtfeele" die

F r u c h t d i e s e r L e k t ü r e w ä r e ( v g l . § 5 9 ) i s t a m L n d e n u r

Hypothese. Und bei dem ersten Zusammensein in Straß-bürg war kaum von Kant die Rede. Damals kam Herder

frisch von dem neuen, noch glühender verehrten Lehrer Hamann, damak interessierten ihn Literatur und

Sprache, Shakespeare, ©fsian, Volkslieder. )n all dem

ist er ausschließlich Hamann-Schüler, und diese Richtung war seiner Natur von vornherein angemessener als die

naturwissenschafrlich-kosmologische, die er Kant verdankt.

Herder schreibt einmal an Hamann, die naturwissen-

Page 87: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ V- Herder und Goethe. 69

schastliche Seite der Ideen sei für ihn bloßes Beiwerk, Gngehn auf den Modeton des Jahrhunderts. Sehr

glaubhaft. Herder war völlig naturfreind. lvenn

er über die Natur schreibt, tut er es in der Fasson einer

„schönen Seele". Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen,

wie Goethe Physik, Biologie oder Meteorologie um ihrer

selbst willen zu treiben, wie Rant über die Entstehung

der lvinde, die Erdrotation, die Natur des Feuers, das

Wesen der Erdbeben, die Bestimmung der Rassen, rein

um des Problems willen Untersuchungen anzustellen.

Die Natur als solche interessiert Herder nicht. Während

er die „Ideen" schreibt, braucht er nach dem Plan des Werks ein paar Kenntnisse von ihr, studiert und exzerpiert

ad hoc ein Dutzend Fachwerke. Nie vorher und nie nachher

hat er sich um die Natur gekümmert.

Unbegreiflich ists, wie Menschen so lange den Schatten ihrer

Lrde im Mond sehen konnten, ohne zugleich es tief zu fühlen, daß alles

auf ihr Umkreis, Rad und Veränderung fei. Wer, der diese Figur je

beherzigt Hätte, wäre hingegangen, die ganze Züelt zu entern lvort-

glauben in Philosophie und Religion zu bekehren oder sie dafür mit

dumpfem und heiligem Eifer zu morden?

Dies ist der Geist, in dem sterbet die Natur anschaut.

Sie ist ihm Stoff zu phantastisch-symbolischen Spielereien.

Goethe berichtet: Ich fühlte mich zu finnlichen Betrachtungen der Natur geneigter

als Herder, der immer schnell am Ziel fein wollte und die Idee ergriff,

wo ich kaum noch einigermaßen mit der Anschauung zustande war.

Herders „Gott", der zunächst nach den „Ideen" er­

schien, war stark mit antikantischer Polemik durchsetzt,

Page 88: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

70 Herder—Kant—Goethe.

doch besitzen wir eine eigentümliche Äußerung Jacobis:

wenn du mir nur einen anderen als diesen Herderschen Gott

mitbringst! Mit dem Herderschen hat uns Kant schon V65 begnadigt-

Goethe aber nimmt diesen Herderschen Gott in

Italien mit großer Begeisterung auf. Noch ist die Zeit, wo er sagen kann:

Wir sind uns so nah als man sich sein sann, ohne derselbe zu sein

(Es war der zweite Wellenberg in dieser eigenartig

periodisch schwingenden Freundschaft. Nach dem Straß­

burger Aufschwung brachten die ersten Weimarer Jahre

einen Niedergang, persönliche (Eifersucht auf Goethes

Stellung am Hof, falsche Vorstellungen über Goethes

Lebensführung stiegen Herder damals ab. Als die Miß-

Verständnisse geklärt waren, stieg die Kurve mächtig an.

Herder, mit seinem ins Naturwissenschaftliche hinein­

ragenden iPcrf beschäftigt, saugte Goerhes Naturstudien

gierig «in, Goethe vertiefte sich selig in Herders Spinoza-

Lehre. Ihre geistige Übereinstimmung war die denkbar

innigste. Dann aber, aus Italien wiederkehrend, war Goethe

verwandelt, geschwängert mit einer Wucht neuer Ge­

danken, für die ihm der Ausdruck fehlte, geneigter zu

ernsthaften philosophischen Studien,als er es sonst gewesen.

Karl Philipp Moritz hatte ihn in Rom in einem Sinn unterwiesen, der Kant vorarbeitete. Herder, nun seiner­

seits in Italien, fühlt instinktiv die (Entfremdung. Goethes

Philosophie ist ihm kalt, öde, für sein Herz desolierend,

im feinsten Grgan zuwider. Als aber Herder im

Page 89: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ \ 7 . Herder und Goethe, 7 \

Sommer V90 von seiner Reise zurückkommt, stellen sich

persönlich doch wieder die herzlichsten Beziehungen her.

Goethe ist — freilich mehr im Interesse des Landes —

eifrig bemüht, den Fortstrebenden in Weimar zu halten

und erwirkt ihm eine bessere Position. Die nächsten

drei oder vier )ahre ist die Freundschaft äußerlich wieder in Blüte.

3m Winter *788/9 hatte Goethe die Vernunft-

kritik zu studieren begonnen — mit schwankendem Urteil.

Vieles zog ihn an, vieles stieß ihn ab. Einzelnes eignete

er sich an, das Ganze zu sehen vermochte er nicht. Darauf erschien die Kritik der Urteilskraft und mit ihr Goethes

„frohe kebensepoche". Ivir wissen, wie leidenschaftlich

er sich die naturphilosophischen Theorien dieses Werks

zueignet, wir wissen, wie er mit jedem philosophisch

I n t e r e s s i e r t e n s o f o r t d a v o n z u s p r e c h e n b e g i n n t . K ö r n e r

und Schiller melden es: Das Gespräch kam bald auf

Kant. Sollte er dem alten Herzensfreund Herder gegen-

über stumm geblieben sein? vielleicht dürfen wir Goethes

Einfluß darin erblicken, daß Herder in den Humanitäts­

briefen (V92/3) seine Verehrung für den alten Lehrer

wieder stärker zur Schau trägt als seinen Groll.

Ich bitte, es in der Abteilung C des zweiten Bandes

nachzulesen, wie er dort von seinem „Freunde Kant" spricht, wieviel Verständnis er seiner Morallehre ent-

gegenbringt, wie begeistert er diesen Denker „von un-

zerstörbarer Heiterkeit" schildert, dessen lehrender Vortrag

der unterhaltendste Umgang war, dessen fast unbegrenztes

Page 90: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

72 Herder—Kant—Goethe.

Wissen Völker-, Menschen- und Naturgeschichte gleicher-

maßen umfaßte, wie er das Glück preist, diesen Philo­

sophen zum Lehrer gehabt zu haben.

Nichts Mssenswürdiges war ihm gleichgültig. Keine Kabale,

keine Sekte, kein Vorteil, kein Namen-Lhrgeiz hatte je für ihn den

mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit.

<£r munterte auf und zwang angenehm zum Selbstdenken. Despo-

tismus war seinem Gemüte fremd. Dieser ITC mm, den ich mit groß-

ter Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Jmmanuel Kant.

Sein Bild steht angenehm vor mir.

Dieser unvermittelte Lobeshymnus könnte bedeuten,

daß Goethes neue Rantbegeisterung den Freund an seine eigene erste Berührung mit dem liebenswürdigen

lveisen erinnert, daß er drum dankbar hervorgesucht

habe, was et ihm schuldet. An einer andern Stelle soll

gleichzeitig Herder (nach Haym) die Kritik der Urteils-

kraft „ein ideen- und sachenreiches lverk" genannt haben. Aber nicht nur dieses U?erk, auch Kants liberale

Auffassung der Religion, wie Herder sie in den Humanitäts-

bliesen skizziert, muß Gegenstand der Goethe-Herderschen

Gespräche gewesen sein. Denn die enttäuschte Wendung

in A 40 über den „mit vieler Mühe gesäuberten Philo-

sophenmantel" wäre unverständlich, wenn Herder immer

nur auf Kant geschmält hätte.

3n den Jahren nach dem Erscheinen der ersten

Humanttätsbriefe wird die Entfremdung zwischen

Goethe und Herder auch äußerlich merkbar. Differenzen

persönlicher Art spielen mit. Aber sowohl Carolirte

Herder (A 69) als Goethe selbst (A 68) geben aus-

Page 91: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ v- Herder und Goethe. 73

drücklich als den entscheidenden Faktor Goethes Partei-

nähme für Kant an. Auch Herders Biographen Suphart

und fjciYW sind überzeugt, daß der persönliche Konflikt

wegen des herzoglichen Kontrakts (V95) nicht solche Formen angenommen hätte, hätten sie im Geistigen

noch harmoniert. V94fc begann die „neue (Epoche", wo

Schiller und Goethe sich unter der Führung Kants zu

einem philosophisch - ästhetischen Bund zusammentaten. Herder stand in ohnmächtigem Groll, weder mitkönnend

noch wollend daneben. Aus den «Erinnerungen der

Herderin hört man die Stimmung des Mannes heraus.

Goethe hielt sich monatelang in Jena auf, ging in den Ton und

Übermut der neuen Sekte ein, die ihm als ihrem Protektor huldigte.

Lr machte dort die Xenien und war umnebelt von der Weihrauchwolke

der Zenaischen Rotte zum Staunen der Besseren in Weimar.

„vorher" soll nach Laroline Herder Goethe über die

kritische Philosophie gespottet haben. Dieses „vorher" ist unbestimmt, wie leider alles, was wir über diese )ahre

wissen, weil es nur aus nachträglicher Rekonstruktion

stammt. Briefe und Tagebücher lassen uns im Stich.

Indessen möchte ich es nicht in Abrede stellen, daß Goethe

auch nach V9<> noch über die „kritische Philosophie" gespottet habe, wie sie ihm in der Gestalt anmaßender Kantianer entgegentrat, die das, was er aus seinem Kant

herausgelesen hatte, nicht gelten ließen, und ihn dafür

mit einem Schwall von Phrasen und Formeln zu be-

täuben suchten. Daß er selbst später dieses „alberne

critische Wesen" mit all seinen Auswüchsen mitgemacht

Page 92: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Herder—Kant—Goethe.

habe, bescheinigt uns außer der eben zitierten drastischen

S c h i l d e r u n g a u c h n o c h d e r k ö s t l i c h e , e r s t k ü r z l i c h z u m Vorschein gekommene Ausfall des Herzogs Karl August

(Am). <2r ärgert sich halb zuschanden über Goethe:

Mit Göthen kann man gar nicht mehr über diese Sachen reden,

denn et verliert sich gleich in eine so wort- und sophismenreiche

Diskussion, daß mir die Geduld ausgeht und ihm zuweilen die

Klarheit und «Einfachheit des Gedankens.

Schon die Annalen von V95 melden:

Herder fühlt sich von einiger (Entfernung, die sich nach und nach

hervortut, betroffen. Seine Abneigung gegen die kantische Philosophie

und daher auch gegen die Akademie Jena hatte sich immer gesteigert,

wahrend ich mit beiden durch das Verhältnis mit Schiller immer mehr

zusammenwuchs. Daher war jeder Versuch, das alte Verhältnis her­

zustellen, fruchtlos.

Herders Haß gegen den Rantianismus machte ihn

ungerecht gegen Schiller und Goethe, sein Abscheu vor

Goethes „unmoralischen" Produktionen machte ihn nur

umso zorniger gegen den Rantianismus, dessen Ästhetik

die Kunst von moralischen Forderungen befreite. So

steigerten sich die beiden Hit$equellen gegenseitig, bis es

schließlich zur Lxplosion kam.

§ *8.

Herders Metakritik.

Schon bei der Besprechung der Humanitätsbriefe hebt

Haym hervor, „wie seltsam zweideutig und unschlüssig

Page 93: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ \6. Herders Ittetahitif. 75

Herder Anerkennung und Mißbilligung mischte, bald

den jüngeren gegebn den späteren Kant, bald Kant gegen

den Kantianismus ausspielend".

3n der Metakritik unternimmt Herder einen schwachen

Versuch, den Mann und das Werk zu scheiden.

Keine Zeile ist für oder gegen den Verfasser des berühmten

Werkes geschrieben, dem ich an anderem <vrt aus treuer Erinnerung

meine Hochachtung bezeugt habe. Hier ist die Rede vom Buch, nicht

vom Verfasser.

Mag es auch wirklich Herders lvunsch gewesen sein,

den alten Tehrer, „dessen Bild angenehm vor ihm stand",

nicht persönlich zu kränken, sein Temperament riß ihn zu

so leidenschaftlich gehässigen Ausfällen gegen „das Buch"

hin, daß man nicht einsieht, wie der Verfasser es hätte

anfangen sollen, sich nicht getroffen zu fühlen.

Daß Herder von dem, was Kant mit der Vernunft­

kritik bezweckt, auch nicht ein Zipfelchen erfaßt hat, be-

zweifelt meines lvissens niemand, nur über den positiven

Gehalt seines Buchs sind die Meinungen verschieden.

Mich hat es trotz seiner offenbaren Fehler gefesselt, und wenn ich je ein Seminar über Kant zu halten hätte,

wählte ich es vielleicht als Text. Man könnte daran gut

zeigen, was Kant nicht gewollt hat, und es wäre unter-

haltsamer als sich immer nur im Kantischen Kreise zu

drehen.

Auch sind nicht alle (Einwände Herders unberechtigt,

nur treffen sie meist bloß die Oberfläche. Mit wirksam

trockener Ironie zerpflückt er Kants seltsame Wortwahl:

Page 94: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

76 Herder—Kant—Goethe.

Hat das Fürwahrhalten nur in der besonderen Beschaffenheit

des Subjekts seinen Grund, so wird es Überredung genannt.

So Kant. Und Herder darauf:

So wird es nicht genannt, sondern Wahn, lv ahnen.

Höchst wirkungsvoll ist der Abschnitt über den „mora-

lischen Glauben", auf den ich im vierten Hauptstück zurück-komme und die Kapuzinerpredigt über den Mißbrauch

der kritischen Philosophie.

Drastisch schildert er das anmaßende Besserwissen, die j)hrasenhaftigkeit der jungen Studenten, — jenes

Übel, dem Kant abhelfen wollte (§ 6), und das er vielleicht

nur verschlimmert hat. lvenn Herder durch dieses Motiv angetrieben wurde, der Jugend in seiner Metakritik ein

„Gegengift" zu bieten, so entschuldigt diese Tendenz das

lverk. Sein Fehler aber war, daß er es überhaupt nur mit

dem falsch verstandenen Kantianismus zu tun hatte, und

den richtigen kennen zu lernen sich nie die Mühe gab.

§ 19-

Goethes Stellungnahme zur Metakritik.

Jeder Herbertft wird in Herders Metakritik eine Fülle

von Sätzen finden, die ihm „aus der Seele geschrieben"

sind. Jeder Herderist ist cknderseits überzeugt, daß Goethe

zu feiner Klaffe gehöre und jene tiefe unüberwindliche

Abneigung gegen die Kantifche Philosophie, die den

Herderismus auszeichnet, ebenfalls empfunden habe.

Man sagt: nur darum kommt in feinen Schriften diese

Page 95: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 59- Goethes Stellungnahme zur Metakritik. 77

Abneigung nicht so stark zum Ausdruck, wie er sie instinktiv

gefühlt haben „muß", weil er nicht tief genug über die

strittigen Probleme nachgedacht hatte, um sich die große

Divergenz zwischen sich und Kant bewußt zu machen.

Aber nun male man sich folgende Situation: )n

Goethes intimstem Freundeskreis werden alle die Argu-

mente geschmiedet, mit denen man typischerweise gegen

Kant Sturm läuft. FritzZacobi hatte an Kant geschrieben

( A \ 2 ) :

Nach Ihrer kehre nimmt die Natur die Form unseres vor-

stellungsvennögens an, . . . ich im Gegenteil bin geneigter die Form

der menschlichen Vernunft in der allgemeinen Form der Dinge zu

vermuten. . .

Entsprechend hatnanns Satz:

Nicht Gesetzgeberin, sondern Dienerin ist die Vernunft

erklärt auch Herder:

Die Vernunft ist nur die große vernehmerin, und der Verstand

erschafft nichts, sondern er erkennt bloß an, was ihm die Sinne darbieten.

Und selbstverständlich geht überall die alte Philister-

leier durch: wozu trennen, was die Natur vereinigt hat?

Sollte Goethe wirklich diese Streitpunkte nicht be-

griffen haben? Das annehmen heißt seine Geisteskraft

recht gering einschätzen. )m sachlichen Teil dieses Buches wird ausführlich

berichtet, wie Goethe sich zu den aufgezählten Problemen

verhielt, hier soll nur das historische referiert sein.

lvas tut Goethe, als jenes Werk erscheint, welches

alle typischen Ausfälle gegen Kant gehäuft enthält?

Page 96: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

78 Herder —Kant —Goethe.

Fällt er betn Freunde selig um bett Hals? Jauchzt unb jubelt er wie die ©leitn und Knebel: (Endlich ist

der Erlöser erschienen, der uns von diesen untrüglich öden

Begriffshirngespinsten befreit! ©der ist er zurückhaltend?

Traut er sich kein Urteil zu? Läßt er es offen, ob Herder

nicht am «Ende recht haben könnte?

Nichts von gliedern. (Er wendet sich verächtlich von

dem Manne ab, dessen Philosophie nach Angabe sämt­licher Literaturkompendien mit seiner eigenen völlig

identisch ist und tritt an die Seite jenes andern, der fein

polarer Gegensatz ist, von dem feine Brücke zu ihm führt,

dessen ganze Seins- und Denkart ihm in tiefster Seele

widerstrebt.

(Ein seltsames, ein höchst seltsames Phänomen! (Eine enorme Verlegenheit für die Literatur.

„)n der Sache war Goethe trotzdem mit Herder völlig

einig" sagt der (Eine, „konsequenterweise" hätte er sich

aus Herders Seite schlagen müssen, sagt der Andere u. f. f.

N?arum also diese enorme, diese gigantische Inkonsequenz?

Man hilft sich sehr einfach. Die Freundschaft mit Schiller soll an allem schuld sein.

Aber mit dieser Freundschaft hat es eine eigene Be­

wandtnis. persönliche Sympathie war es nicht, was

Goethe zu Schiller zog. Sehr treffend charakterisiert

Haym ihr Verhältnis als ein „philosophisch-ästhetisches Bündnis" und kontrastiert es gegen die intime Herzlich-

feit, die Goethe mit Herder verband. Man vergleiche nur

Page 97: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ Hg. Goethes Stellungnahme zur Metakritik. 79

den Ton, in dem Goethe mit seinen freunden, sogar

noch in späterem Alter mit Zelter verkehrt, und die

kühle Klangfarbe des Goethe-Schillerschen Briefwechsels. Irgendwo macht Goethe die feine Bemerkung, er und

Schiller hätten Freundschaft nicht nötig gehabt, weil sie durch so viel sachliche Interessen verbunden waren.

Unter diesen sachlichen Interessen aber nahm der Kan-

tianismus einen breiten Raum ein. Menschlich hat

Goethe immer an Herder gehangen, — bis zu seinem

Tod. Und wenn Freundschaft die Richterin in diesem

Streit gewesen wäre, so hätte sie für Herder und nicht für

Schiller entschieden. Aber nicht das Herz, sondern der

Kopf gab den Ausschlag.

(Ebenso unmotiviert ist die von einer Seite ausge-

sprochene Deutung, Goethes friedliebende Natur habe

jeden Kampf verabscheut. Wie vertragen sich denn die

BEeniert mit seiner Friedensliebe?

(Einen leidenschaftlichen Krieg führte Goethe dazumal,

aber er stand dabei im gleichen kager wie Kant. Ganz

richtig ist vorländers Ausdruck, es habe sich geradezu um eine „Partei" gehandelt. Schiller, Meyer, Humboldt,

Goethe und Kant auf der einen Seite, — die Gefühls­

philosophen Herder, Jean Paul, Schlosser und was sonst noch unter den „ Vornehmen" verstanden sein mochte,

auf der anderen. Auf seinem Höhepunkt stand Goethes

„Parteigefühl" im Jahre V96. Man sehe folgende drei

Briefe:

Page 98: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

80 Herder—Kant—Goethe.

V den vom 20. )uni an Meyer (A 74):

rvir, die wir einmal verbunden sind . . . dagegen hat freund

Humanus ein böses Beispiel gegeben

und zum Schluß wie ein Siegel auf das Verbundensein ein Zitat aus Kant.

2. den vom 26. Juli an Schiller (A 77):

Kants Aufsatz über die vornehme Art zu philosophieren hat mir

viel Freude gemacht. Auch durch diese Schrift wird die Scheidung

Hessen, was nicht zusammengehört, immer lebhafter befördert,

schließlich z. den vom 30. Oktober wieder an Meyer (A 79):

N?ir haben in dem Schillerschen Musenalmanach eine sehr leb­

hafte Kriegserklärung an das Volk getan. . . . Der alte Kant hat

sich Gott fei Dank über die Herren endlich auch ereifert und einen

allerliebsten Aufsatz über die vornehme Art zu philosophieren in die

Berliner Monatsschrift setzen lassen. . . ..3ch hoffe, wir sollen uns bei

unserem bösen Ruf erhalten und ihnen mit unserer (Opposition

noch manchen bösen Tag machen.

Daran schließt Goethe das Gedicht vom Chinesen

{A 79) und gibt uns durch den Zusammenhang mit dem

Brief die Deutung, wo er jenes „Lästige und Schwere"

sieht, das doch das „(Echte, Reine, Gesunde" ist. (Es ist der Geist Kants, der Geist der Gründlichkeit und Solidität,

der „Geist der Schwere", den Zarathustra in über­

mütigen Liedern zu verhöhnen liebt, — der durch dieses

Gedicht verherrlicht werden soll. Der gleichen Stimmung

ist das 3£enton erwachsen:

vornehm nennst du den Ton der neuen Propheten? Ganz richtig,

vornehm philosophiert heißt wie Hotüre gedacht.

Und das alles aus lautet Friedlichkeit!

Page 99: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 20. Kants Replik. 81

© Menschen, Menschen! kiteraten, titeraten! Bei

euch muß der Vogel Strauß in die Schule gegangen sein.

©bet nehmen wir den Brief (^o?) vom 28.)uli V98,

also dem Erscheinen der Metakritik noch näher liegend:

Kants Zurechtweisung des Salbaders ist recht artig. €s gefällt

mir an dem alten Mann, daß er bei jeder Gelegenheit auf denselben

Fleck schlagen mag. So wollen wir es künftig auch halten.

Dies war einProgrammpunkt für die neu zu gründende

Zeitschrift „Die Propyläen", die recht eigentlich zum Kämpfett geboren war.

Nein, nein, — mit solchen Ausflüchten wie Schillers

Freundschaft und Goethes Friedensliebe kommt man

nicht um die nackte Tatsache herum, daß Goethe mit

Herder in der Sache nicht einig war.

§ 20.

Kants Replik.

Der „metakritische Triumph" war gewaltig. Alles

was da in Deutschland Antikantisches kreuchte und

fleuchte, schmiegte sich glücklich an Herder an.

Ls erschienen eine große Anzahl Repliken. Uns interessiert hier nur eine von ihnen, eine Sammlung von

Aufsätzen, die unter Kants Allerhöchstem Protektorat

von Königsberg aus erlassen wurde: „Mancherlei zur

Geschichte der metakritischen Invasion".

Zwei Glanzstücke hatte die Sammlung.

6

Page 100: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

82 Herder —Kant—Goethe,

Das eine war Hamanns versuch einer „Metakritik über den purismum der reinen Vernunft", abgedruckt

zu dem Zweck, um Herders Metakritik als eine bloße

Wiederholung zu entwerten. )ch gebe dieses Stück im

zweiten Band wieder. <Ls ist nicht lang, gibt ein gutes

Bild von fjamamts Stil und gehört sachlich zu meinem Thema. (Db viele Leser herausfinden werden, was darin

eigentlich gesagt ist, muß ich dem Schicksal überlassen,

lvas mich betrifft, so glaube ich immerhin soviel zu sehen, daß nur Fanatismus Herders Buch als bloße Ausarbeitung

der Gedanken seines Freundes bezeichnen kann.

fjamann war nicht stolz auf fein Werk. <Lr schreibt:

Mein armer Kopf ist gegen Kants ein zerbrochener Topf, Ton

gegen Lisen. Die ganze Zdee ist mir verunglückt, und ich habe nur

betn Ding ein Ende zu machen gesucht, daß ich mich des Gedankens

daran entschlagen konnte.

Wichtiger ist das zweite Glanzstück der Sammlung:

Rant selbst verkündet durch den Mund feines getreuen

Schülers Rink, was er über seinen ungetreuen Schüler

Herder zu sagen hat. Rink erzählt:

Kant hatte um dieselbe Zeit, als Herder zu seinen Zuhörern

gehörte, die Begriffe Raum, Zeit und Kraft als die drei Grund-

begriffe aller Synthests aufgestellt und von denselben behauptet, daß

sie die einzigen synthetischen Begriffe der Metaphysik, alle übrigen

hingegen nur analytisch wären. Kant erinnert sich noch gar wohl seiner

ehemaligen noch dogmatischen Vorstellungsart. . . . (Es mußte ihn

daher nicht wenig befremden, feine eigenen Hauptideen in der Meta­

kritik wiederzufinden und zu seinem Erstaunen zu sehen, was Herr

Herder nach seiner schon bekannten Manier für ein wunderliches Phi-

Page 101: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 20. Kants Replik. 83

losophem aus jenen Grundideen durch die sonderbarste Mischung und

Komposition derselben gemacht habe. Wir haben den gedachten

Umstand aus Kants eigenem Mund erfahren und bei dieser Gelegen-

heit eine Handschrift erhalten, die uns bezeugt, daß Herder in seiner

Metakritik, was die Hauptsache betrifft, den neuen Kant durch

den alten Kant zu widerlegen sucht.

Auch Karl Siegel (Htzrder als Philosoph) erzählt

von einer Schülerarbeit Herders „Versuch über das Sein",

die die Begriffe Raum, Zeit und Kraft bereits in der

gleichen lveise wie später verwende, und die aus der

häuslichen Bearbeitung von Kants Vorlesungen hervor-

gegangen sei.

töte ist das aber nun? lvenn wirklich in sovielen

Fällen nachgewiesen werden kann, daß Kants Unterricht

Herders Ideenvorrat entscheidend beeinflußt hat, kann

ich dann meine Behauptung von einem Gegensatz

zwischen Herder und Kant noch aufrechterhalten? Ja doch! Und hätte Herder alle einzelnen Gedanken von Kant

abgeschrieben, was er daraus machte, wäre immer gleich

unkantisch gewesen. (Es geht ntcht an, zu sagen, sein Kampf sei der des jungen Kant gegen den alten; denn in

dem vorkritischen Kant steckt doch schon der Keim zum

„kritischen", und Herder wäre—im Gegensatz zu Goethe

— auch mit too Jahren niemals ein „kritischer" Herder geworden. Hier bewahrheitet sich, was Keyserling so

nachdrücklich betont: nicht auf einzelne Lehren kommt

es an, sondern auf den Sinneszusammenhang, in dem sie

stehen, auf die Einstellung. Darum würde ich auch niemals auf die bloße Übereinstimmung einzelner Gedanken bei

Page 102: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

8* Herder—Kant—Goethe.

Goethe und bei Kant mein Buch aufbauen, wenn es nicht

meine Überzeugung wäre, daß ihre innere Einstellung

zu den UMtproblemen, daß ihre gesamte geistige Haltung

mit Ausnahme einiger Ä'nzelzüge eine weitgehende Parallelität ausweise.

§ 2V

Herders „Kalligsne".

VOie ein Triumxhator setzte Herder seinen vermeint-

lichen Siegeszug fort. Hatte er zuerst die Vernunftkritik

vernichtet, so sollte jetzt die Kritik der Urteilskraft daran glauben. <2s erschien die Kalligone.

Daß Herder wegen der pietätlofigkeit gegen seinen

Lehrer viel auszustehen hatte, merkt man in der Vorrede.

(Er entschuldigt sich, wiederholt, daß nur von einem Buch

die Rede war, nicht vom Verfasser. Und nun versucht er,

seiner ehemaligen Kantverehrung hinterdrein eine

kritische Wendung zu geben. Der Jüngling bewunderte des Lehrers dialektischen Witz, seinen

politischen sowohl als wissenschaftlichen Scharfsinn, seine Beredsam-

feit, sein kenntnisvolles Gedächtnis. Bald aber merkte der Jüngling,

daß wenn er sich den Grazien dieses vortrags überließe, er von einem

feinen dialektischen lvortnetz umschlungen würde, innerhalb

welchem er selbst nicht mehr dachte. Strenge legte er sich auf, nach

jeder Stunde das sorgsam Gehörte in seine eigene Sprache zu ver-

wandeln. Nie fühlte er sich freier und ferner vom System seines

Lehrers, als wenn er dessen Witz und Scharfsinn scheu ehrte.

Der gleiche Mann, der zuvor (vgl. 5. 7 2 ) „angenehm

zum Selbstdenken zwang" soll nun plötzlich dialektisch

Page 103: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 2V Herder- „Kalligone". 85

das Selbstdenken gehindert haben. Ls war ein verzweifelter

versuch, von der Vergangenheit loszukommen.

urteilt, die Tendenz der Kalligone sei im

Grunde gegen Goethe und Schiller gerichtet.

Die Bewunderer Goethes und Schillers waren zugleich die

Schüler Kants und Achtes, sie kleideten ihre kobsprüche auf den neuen

Klassizismus in die Formen des philosophischen Idealismus . . . Kant

mußte ihm büßen, was die Goethe und Schiller gesündigt hatten.

Offen wagte Herder gegen die beiden nichts zu unter-

nehmen. In seinen sämtlichen Kunstschriften der letzten

Jahre sollen ihre Namen nicht vorkommen. Aber es

scheint, daß er sich dafür durch versteckte gehässige An-spielungen, wie Schiller (A 8-t) es ausdrückt, durch „in

die Maden beißen" schadlos hielt.

3ch selbst habe bei flüchtiger Durchsicht der Kalligone nur eine gegen Goethe gerichtete Polemik gefunden, die

sehr harmloser Natur ist. Sie wendet sich gegen die in A 70 wiedergegebene Äußerung Goethes:

lvir sehen diese Philosophie als ein Phänomen an, dem man

auch seine Zeit lassen muß, weil alles seine Zeit hat.

Diese nicht eben „bedeutende" Sentenz gewinnt für

uns Reiz dadurch, daß Herder sie in der Vorrede zum

dritten Band der Kalligone spöttisch zitiert. Nachdem er

sich seitenlang in Schmähungen gegen die Transzendental-

Philosophie ergangen, schreibt er:

Nur wir Deutsche dulden den Verderb junger Gemüter, die

Verführung der jugendlichen Phantasie zu unnützen Künsten des

lvortkrams, der Disputiersucht, der Rechthaberei, des stolzblinden

(Enthusiasmus für fremde kvortlarven, die ignorante verleidung alles

Page 104: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

86 Herder —Kant—Goethe.

reellen Wissens und Tuns, diese Verödung der Seelen, wir dulden

sie gern und willig. H>ir sehen sie als ein Phänomen an, dem man

auch seine Zeit lassen müsse, weil alles seine Zeit habe. Und die Nach-

barn spotten unser, und unsere Jugend verdirbt transzendierend.

(ES sollen aber, wie gute Kenner der Kalligone sagen,

viel schlimmere Dinge gegen Goethe darin stehen, und

Haym meint, daß M e y er, der einzige aus dem Goetheschen

Kreis, der bis dahin noch bei Herders verkehrt hatte, sich

auf dieses Buch hin nun auch zurückzog.

3m Gegensatz zu Schiller, der (vgl. A 8) und A J2 0

äußerst scharfe Urteile über Herder fällt, begegnet G o eth e

dem offensichtlich schwer leidenden ITCcmn mit milder

Nachsicht. Trotz allem Bösen, das er von ihm erduldete, hat er die pietät gegen den Freund und Lehrer seiner

)ugend nie verletzt.

Als Herder in deutlicher Rivalität mit Goethe ein

allegorisches Drama schreibt, um nach Lessingscher Manier zu zeigen, wie man zu dichten habe, da sagt er nur mit-leidig:

Was mir auffällt, ist die Bitterkeit und Trauer in einem Produkt.

3ch möchte nicht in der Haut des Verfassers stecken.

Nach Kants Tod wurde die Medaille geprägt, die

das Titelblatt meines Buches wiedergibt - sie zeigt

den Genius der Philosophie auf einem von Eulen ge­

zogenen Wagen. Goethe deutet das Symbol so: Sieh das gebändigte Volk der lichtscheuen muckenden Käuze

Kutscht nun selber o Kant! über die Wolken dich hin.

Daß Goethe den Herder der letzten Lebensjahre mit

zu den muckenden Käuzen rechnet, ist nicht zweifelhaft.

Page 105: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 22. Herder und Rudolf Steiner. 87

§ 22.

Herder und Rudolf Steiner. Eine Parallele.

Damit könnte ich das Kapitel über Herder beschließen.

Indessen erliege ich der Versuchung, noch einen Paragraphen anzuhängen, der nur indirekt mit meinem

Thema zu tun hat. )ch erwähne öfter der Anthro-pofophie als einer speziellen Form von Herderismus.

In dem Maß, als ich mich mit Herders Person mehr be-

schäftigte, häuften sich mir die Parallelen zwischen ihm und Rudolf Steiner, und ich denke, daß der Vergleich auch meine Leser interessieren wird.

Er ist zu einem vornehmen katholischen Prälaten geboren,

genialisch flach und oratorisch geschmeidig, wo er gefallen will.

3ft das mein Urteil über Rudolf Steiner? Nein, es

ist Schillers Urteil über Herder.

Kostbar, unübertrefflich ist dieser Ausdruck „genialt s ch flach". Das irisiert, leuchtet, blendet, glänzt in tausend

Fqrben, aber es sind Gberflächenfarben, Schmetterlings-

färben. Willst du dir sie zueignen, du behältst nichts als grauen Staub in der Hand.

Dabei ist indes die „Flachheit" intellektuell gemeint. Ls

ist eine für den Kritiker ebenso amüsante wie zum Denken

aufregende Erscheinung, daß Herderisten und Kantianer

sich beständig gegenseitig Oberflächlichkeit vorwerfen.

Das ist nicht, wie man zunächst denken möchte, auf beiden Seiten bloß papierene Redensart. Dem Gefühle nach

ist Schiller im vergleich mit Herder der Flache. Und

Page 106: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

88 Herder —Kant —Goethe.

wiederum muß man es an Goethe preisen, daß er

sowohl irrt Denken als im Fühlen an die Grenzen mensch-

licher Tiefe zu dringen vermochte.

Immer reizte es ihn, auf dem von andern entdeckten, noch rohen

und steinigen Boden zuerst die Pflugschar anzusetzen. Wenn irgend

eine neue Aussicht in die Welt des Wissens sich eröffnete, da ließ es

ihm keine Ruhe. . . Die mühsame geduldige entsagsame Arbeit der

ersten Materialsammlung, der genauen Linzelforschung war nicht

seine Sache, aber diese Arbeit aufzufangen, dieser Materialien sich mit

rapidem Fleiß zu bemächtigen, um sie durch geistvolle Kombination,

durch vorgreifende Ahnung fruchtbar zu machen, den jiigett anderer

Leute seinen Kopf aufzusetzen, das war sein Ehrgeiz, und darin bestand

seine Genialität. Last überall nur ein Nachtreter, wurde er auf

diese lveise ein vortreter.

Wiederum ein Urteil über Herder. Diesmal von

Rudolf Haym. Aber wer müßte nicht dabei an Rudolf

Steiner denken, wie er — um nur ein Beispiel zu nennen

— just im Jahre *900 Enthüllungen über die Gnosis

zu machen begann, „zufällig" gerade in dem Jahre, da lNeads „Fragmente eines verschollenen Glaubens" er-

schienen, was aber freilich nach anthroposophischem Be­finden nur böser lville in kausalen Zusammenhang bringen kann.

Der Beweis wird ihm zur predigt, sagen Herders

Biographen, und die predigt zum Gedicht. Auch diese

verschwommene und seltsam faszinierende Mischung von Gelehrten-, Künstler- und prieftertum ist uns von

Steiner her wohl vertraut. Und auch Herder soll persönlich

so hinreißend, so magisch, so als „Prophet" gewirkt

Page 107: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 22. Herder und Rudolf Steiner. SA

haben wie Rudolf Steiner. (Die bestrickende Liebens­würdigkeit Steiners scheint er dabei nicht besessen zu haben.) Herders wie Steiners ZVerk wird — und nicht nur von Kantianern — als „verworrener (Eklektizismus" bezeichnet. Mancherlei haben sie zusammengeschleppt, darunter auch Gold und (Edelgestein in grandiosem ehrfurchtgebietendem Ausmaß. Ihre Belesenheit umfaßt den ganzen (Erdkreis und alle Kulturen bis an die äußersten Grenzen der Zeiten. Aber ihre Lehren bilden keinen Organismus, sondern ein Mosaik. Den genialisch Aachen fehlt die innere Kraft zur Durcharbeitung, zur Vertiefung in ein Problem. (Eine spielerische Symbolik, die aus einer Assoziation, aus einem Wortwitz eine Theorie macht, ein hemmungsloses hingerissen* werden von jedem (Einfall sind der (Ersatz dafür.

Solche Menschen wirken machtig als Anreger durch die N?ucht ihres Temperaments und Willens, aber dauernde „positive (Ergebnisse" wie etwa die Kants und Goethes lassen sich nicht so im Fluge erhäschen. Zuerst glaubte ich, der Ursprung der Sprache sei ein Spezialproblem, dem Herder seinen andauernden Fleiß zuwandte. Aber wie er — nach Hayms Darstellung — dieses Problem behandelt hat, das ist äußerst aufschlußreich.

Von \767—*771 behauptet Herder, daß die Völker durch die Sprache allmählich denken und durch

das Denken allmählich sprechen gelernt haben, daß die Ableitung der

Sprache aus göttlicher (Offenbarung wider die Analogie aller mensch-

lichen Erfindungen, wider die Geschichte und wider alle Sprachphilo-

Page 108: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

90 Herder—Kant—Goethe.

fophie verstoße ... daß das erste Kapitel der Genesis ein alt morgen,

ländisches Nationallied sei, hervorgegangen aus dem Bedürfnis, den

Ursprung der Welt und des Menschengeschlechts mythologisierend zu

erklären.

hören wir: <£iit aufmerksamer Blick auf das Werk der sieben Tage zeigt —

welche Entdeckung! — daß wir eine Hieroglyphe vor uns haben, aus

der sich menschliche Schrift und Symbolik gebildet, von der die ältesten

Künste und Wissenschaften ausgegangen. . . . Es ist das erste kehr-

stück Gottes an die Menschen, das Meisterstück der göttlichen Pädagogik.

Aus ihm sind alle Sprache, alle ilieder, alle Bilder und Philosophien

entsprungen. Nicht der dichtende Menschengeist, sondern Gott selber

ist dieses Denkmals Urheber.

^aym fügt hinzu: „Mit dem wegwerfendsten Spott

spricht jetzt der Mann, dem früher die Vorstellung einer

hebräischen Nationalm^thologie so geläufig war, von der

Sucht der neueren Zeiten, alles zum Nationalmärchen

zu machen." Müssen wir da nicht des „wegwerfenden Spottes" gedenken, mit dem der Steiner von ^905 jene

„naturwissenschaftliche Weltanschauung" verhöhnt, die

der Steiner von ^895 leidenschaftlich verfocht? Müssen

wir uns nicht der genialen Selbstverständlichkeit erinnern,

mit der er den Menschen das einemal „von selbst" aus

Affen, Reptilien und Amöben, das anderemal mit Hilfe

von neun Hierarchien aus — ZVärmekörpern sich ent­wickeln ließ?

Ha^m referiert noch weitere Wandlungen und zieht

das Fazit: Kaum in einem anderem Punkte herrscht in den Gedanken Herders

so viel Verwirrung als in Beziehung auf den Ursprung der Sprache.

Page 109: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 22. Herder und Rudolf Steiner. 91

Auch bei Karts findet sich solche Verwirrung, und sogar auch in den wichtigsten Teilen, die Abschnitte über das „Ding an sich" und über den „intuitiven verstand" werden davon Kunde geben, aber der psychologische Unterschied liegt darin, daß es sich hier um Gegenstände handelt, von denen Kant selbst zugibt, daß er nichts von ihnen wisse, weil sie an oder jenseits der Grenze mensch-licher Erkenntnis liegen, während Herder und Rudolf Steiner alle ihre Konfusionen regelmäßig mit der Miene des apodiktisch wissenden vorbringen.

Hören wir wieder Haym: Daß die älteste Urkunde ein Kompendium aller möglichen Kennt­

nisse sei, ist ihm ein Faktum, in der naivsten Weise vindiziert er dieser

Hypothese die würde einer Tatsache und setzt die philosophische

lvelterklärung als auf Hythothesen beruhend, herab.

Die Analogie ist schlagend. Denn eben dies gehört zu den possierlichsten (Eigenschaften der Steinerianer, daß immer die Behauptungen der Anderen Hypothesen und Hirngespinste, ihre eigenen dagegen, und wären sie noch so phantastisch und unverifizierbar, schlichte Tat­sachen sind.

tPenn man Herder und Steiner von weitem flüchtig betrachtet, so mochte man urteilen, sie seien von einem faustischen (Erkenntnisdrang beseelt. ITCan täuscht sich. (Es ist nicht (Erkenntnis, was sie wünschen und brauchen, esistbloß der Glaube an (Erkenntnis. )hr dröhnendes Pathos, bei Steiner mehr durch die Stimmbänder, bei Herder durch den Sprachstil erzeugt, halte ich für echt.

Page 110: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

92 Herder—Kant—Goethe,

Was sie eben vortragen, es sei was es sei, daran glauben

sie im Augenblick fest, und ihr Streben nach Wissenschaft-

lichkeit ist befriedigt, sobald sie etwas haben, was sich

mit diesem Pathos vortragen läßt.

Einstein hat einmal gesagt: „Große wissenschaftliche

Leistungen sind nicht allein Sache des Intellekts, sondern

auch des Charakters. Auf die Eingabe kommt es an,

die man den Problemen entgegenbringt". Die „genialisch

flachen", die die Eingabe an das probiern nicht auf­

bringen können, sind denn auch wirklich — bei allem

demonstrativ zur Schau getragenen und meiner Meinung

nach subjektiv echten Ethos — in ihren Handlungen immer

ein bißchen zweifelhaft. Auch von Herder weiß die

Literaturgeschichte allerlei Spiegelfechtereien und Zwei-

deutigkeiren zu melden, wie sie von dem Vergleichs­

objekt allgemein bekannt sind.

Es ist auch kein Zufall, daß die Polemik solcher Geister

leicht eine unerfreuliche Gestalt annimmt, da sie von der Stärke ihrer inneren Überzeugung leben und alles fach»

liche Argumentieren ihnen fremd ist. EDo sie logisch werden möchten, werden sie dialektisch, und Dialektik

ist nicht etwa eine Form der Logik, sondern ihr Gegenteil,

denn ihrtüesen besteht darin, die Diskussion von den Haupt-bahnen auf ein Nebengeleise abzuleiten —was ein echter

Logiker niemals zustandebringt. Das Resultat all dieser

Ggenschaftenist—oder kannwenigstenssein: D e mag ogi e.

Page 111: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

93

Erstes Hauptstück. E r s t e s K a p i t e l .

Wie ist Polemik möglich? § 23.

Kants Lrstlnigsschrift über die wahre Schätzung der lebendigen Kräfte.

Alle Individuen und wenn sie tüchtig sind, ihre Schulen, sehen das

problematische in den Wissenschaften als etwas an, wofür oder wogegen

man streiten soll, eben als wenn es eine andere Lebenspartei wäre,

anstatt daß das Wissenschaftliche eine Auflösung ausgleichbarer oder

eine Aufstellung unausgleichbarer Antinomien fordert. (Wecker U83)*).

Dieses ist ein Satz Goethes. ItTcm kann aber in ihm

den Extrakt von Kants lvissenschaftslehre erblicken. Das

„Problematische in den Wissenschaften", das, was die

Gelehrtenschaft in feindliche Tager spaltet — das hat der Philosoph mit Vorliebe zu seinem )agdgrund er­

wählt, aber niemals, um sich der einen Partei anzu­

schließen, um für ober gegen zu streiten. Immer und überall bestand seine Methode darin, einen über die

Parteien erhobenen Standpunkt zu suchen, von dem aus

*) So lese ich die Handschrift. Wecker hat statt dessen „die Auflösung,

Ausgleichung oder Aufstellung ..

Page 112: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

9$ Wie ist Polemik möglich?

Thesis und Antithesis als gleich berechtigt und gleich unberechtigt übersehen werden können.

Diese Grundtendenz, scheinbar Entgegengesetztes zu vereinigen, hat er mit Goethe gemein. Die Tatsache der

wissenschaftlichen Polemik, die unheimliche Tatsache, daß allenthalben Männer gleichen lvissens, gleicher (Einsicht,

gleicher Verstandesschärfe, gleich ehrlicher Überzeugung

einander in unversöhnlichem Gegensatz gegenüberstehen, wurde ihnen beiden zum probiern.

N?ie ist Polemik mö glich? so hätte Kant im Stil

seiner sonstigen Formulierungen einen großen Abschnitt seines Werkes überschreiben können. Seine Antworten

auf diese Frage sind teils von logischer, teils von pfvcho* logischer Art. Für den vergleich mit Goethe interessiert

uns mehr der zweite Typus. So tief und so ursprünglich steckt in Kants Charakter diese Tendenz, Kontroversen

schiedlich auszugleichen, daß schon feine allererste Schrift, die er als Student im Alter von 22 Jahren verfaßte, ein

Beispiel für sie liefert.

Die Situation war damals die folgende: Man hatte

sich geeinigt, daß irgend eine Größe — man nannte sie „die Kraft" — bei allen Veränderungen im Universum

konstant bleibe, und zwar, weil es für Gott nicht „an­

ständig" wäre, wenn er immer wieder eingreifen und

etwaige Verluste ausgleichen müßte. Aber wie war diese

konstante Größe mathematisch zu formulieren? Nach

Des Cartes hieß das Kraftmaß mv Masse mal der

„schlechten Geschwindigkeit", nach Leibniz mv2 (Masse

Page 113: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 23. Kants Lrstlingsschrift. 95

mal betn EZuadrat der Geschwindigkeit). Der junge An­

tiker glossiert die Tage in seiner Vorrede so:

Sowohl die Partei des Lartesius als die des Herrn von Leibniz

haben für ihre Meinung all« die Überzeugung empfunden, der man in

der menschlichen Erkenntnis gemeiniglich nur fähig ist. Man hat von

beiden Teilen über nichts als das Vorurteil der Gegner geseufzet, und

jedwede Partei hat geglaubet, ihre Meinung würde unmöglich können

in Zweifel gezogen werden, wenn die Gegner derselben sich nur die

Mühe nehmen wollten, sie in einem rechten Gleichgewicht der Gemüts-

neigungen anzusehen.

Das ist köstlich! Ganz wunderbar köstlich. Bei welcher Polemik geht es anders zu?

Das zweite Hauptstück seiner Schrift beginnt:

(§ 20.) Zch finde bei Herrn Bülfinger eine Betrachtung, der ich

mich jederzeit als einer Regel in der Untersuchung der Wahrheiten be-

dient habe. Wenn Männer von gutem Verstände ganz widereinander

laufende Meinungen behaupten, so ist es der kogik der Wahrscheinlich-

kett gemäß, seine Aufmerksamkeit am meisten auf einen gewissen Mittel­

satz zu richten, der beiden Parteien in gewissem Maße recht läßt.

Kants Lösung ist seltsam. Für ihn ist

(§ un) der Körper der Mathematik ein Ding, welches von dem

Körper der Natur ganz verschieden ist, und es kann von jenem etwas

wahr sein, was bei diesem nicht wahr ist.

(§ U5.) Die Mathematik läßt keine andere Kraft in einem Körper

zu, als die von draußen in ihm verursacht woxben. Der Naturkörper da­

gegen hat ein vermögen in sich, die Kraft, die durch eine äußere Ursache

in ihm erweckt worden, von selber in sich zu vergrößern.

(§ 12^). Insoweit eine Kraft von einer äußeren Ursache abhängt, ist

sie allemal nur wie die schlechte Geschwindigkeit. Sie muß aus der

innern Quelle der Naturkraft des Körpers die zum Quadrat«

maß gehörigen Bestimmungen überkommen.

Page 114: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

96 Wie ist Polemik möglich?

Diesen Vorgang nennt Kant die tebendigwerdung

oder Vivifikation der Kraft. Und nun zieht er das Fazit:

(§ 125). Die lebendigen Kräfte werden in die Natur aufgenommen,

nachdem sie aus der Mathematik verwiesen worden. ITC an wird keinem

von den beiden großen UMtweifen, weder keibnizen noch Cartefen

durchaus des Irrtums schuldig geben können. Auch sogar in der Natur

wird keibnizens Gesetz nicht anders stattfinden als nachdem es durch

Lartesens Schätzung gemildert worden. (Es heißt gewissermaßen die

Ehre der menschlichen Vernunft verteidigen, wenn man sie in

den verschiedenen Personen scharfsichtiger Männer mit sich selber ver­

einigt und die Wahrheit, welche die Gründlichkeit dieser IJTänner niemals

gänzlich verfehlet, auch alsdann herausfindet, wenn sie sich gerade

widersprechen.

Der heutige Durchschnittsphysiker überlegt es sich keinen

Augenblick, diese eigenartige Lösung für „unphysikalisch"

zu erklären. Kant selbst hat sie später aufgegeben. Auf

die sachliche Berechtigung seines Ergebnisses kommt es

hier nicht an, sondern bloß auf die seelische Einstellung,

die dazu geführt hat. Hier schon geht es um das probiern,

aus dem später die Kritik erwachsen ist: die Ehre der

menschlichen Vernunft, die durch jede unlösbare Polemik

gefährdet ist, zu retten. Nicht die Vernunft selber ist

schuld daran, wenn sie uns in Irrtum führt, sondern nur

gewisse Schwachheiten des Herzens, dem diese Vernunft

zugeordnet ist. Denn (§ 2V) <2s können sich immer fremde Absichten einmischen,

und von welcher Partei sollte man sagen können, daß sie hievon ganz

frei wäre?

irtit überraschender Schärfe sieht der 22 jährige diese

Schwachheiten.

Page 115: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 25. Kants Lrstlingsschrift. 97

(§ 58.) Die Herren betrügen sich. Sie finden Bewegungen dieser

Art nicht für gar zu vorteilhaft vor ihre Meinung: sie suchen sie also

von der Untersuchung gänzlich auszuschließen. Dies ist eine Krankheit,

woran diejenigen ordentlicherweise darniederliegen, die in der <&>

kenntnis der Wahrheiten Unternehmungen machen. Sie schließen so-

zusagen die Augen bei dem zu, was dem Satze, den sie sich in den Kopf

gesetzt haben, zu widerstreiten scheinet. Eine kleine Ausflucht, eine

frostige und matte Ausrede ist fähig, ihnen gen ug zu tun, wenn

es darauf ankommt, eine Schwierigkeit wegzuschaffen.

Bei dieser Stelle muß ich immer der landläufigen

Diskussionen über okkulte Phänomene gedenken, beiwelchen

es besonders überrascht, wie leicht den sich so überlegen

kritisch dünkenden Gegnern des Okkultismus „eine

kleine Ausflucht, eine frostige und matte Ausrede"

genug tut.

Zur Abwechslung lasse ich Goethe dazwischenreden: Da den Menschen eigentlich nichts interessiert als seine Meinung,

so steht jeder, der eine Meinung vorträgt, sich rechts und links nach

Hilfsmitteln um, damit er sich und andere bestärken möge. Leidenschaft-

lich rhetorisch ergreift er das falsche, sobald er es für den Augenblick

nutzen kann.

K a u t f ä h r t f o r t : Man hätte uns in der Philosophie viel Fehler ersparen können, wenn

man sich in diesem Stücke einigen Zwang hätte antun wollen. Wenn

man auf dem lvege ist, alle Gründe herbeizuziehen, welche der Verstand

zu Bestätigung einer Meinung darbietet, so sollte man mit eben der

Aufmerksamkeit und Anstrengung sich bemühen, das Gegenteil auf

allerlei Arten von Beweisen zu gründen. Man sollte nichts verachten,

was dem Gegensatze im geringsten vorteilhaft zu sein scheinet und es in

der Verteidigung desselben aus das höchste treiben. Zn einem solchen

Gleichgewicht des Verstandes würde öfters eine Meinung verworfen

werden, die sonst ohnfehlbar wäre angenommen worden.

Page 116: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

98 wie ist Polemik möglich?

N?ir vernehmen den gleichen Gedanken 20 Jahre

später in der Vorrede zum „einzig möglichen Beweis-

gründ" Ü763). Wenn man die Urteile der unverstellten Vernunft in verschiedenen

denkenden Personen mit der Aufrichtigkeit eines »«bestochenen Sach­

walters prüfte, der die Gründe der zwei strittigen Teile so abwägt, daß

er sich in Gedanken an die Stelle der Sprecher versetzt, sich bemüht,

diese Gründe so stark zu finden, als sie nur immer werden können,

und dann erst auszumachen, zu welchem Teile er halten wolle, so würde

viel weniger Uneinigkeit in den Meinungen der Philosophen sein, und

eine ungeheuchelte Billigkeit, sich selbst der Sache der Gegenpartei

so weit anzunehmen als es möglich ist, würde bald die forschenden

Köpfe auf dem gleichen Wege vereinigen.

Klingt es nicht wie ein (Echo auf diesen Rat, wenn

Goethe (ZV. A. II, 6, S. 189) sich also vernehmen läßt: Überhaupt sollte man sich in Wissenschaften gewöhnen, wie ein

anderer denken zu können; mir als dramatischem Dichter konnte dies

nicht schwer werden, für einen jeden Dogmattsten freilich ist es eine

harte Ausgabe.

und in A 227 : Lerner bedenke man, daß man es immer mit einem unauflös­

lichen Problem zu tun habe, und erweise sich frisch und treu, ( lies zu

beachten, was irgend auf eine Art zur Sprache kommt, am meisten

dasjenige, was uns widerstrebt, denn dadurch wird man am ersten

das Problematische gewahr, welches zwar in den Gegenständen selbst,

mehr aber noch in den Menschen liegt.

§ 2«.

Die Antinomie der reinen Vernunft.

Die Methode, auch den nicht gewünschten Satz mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen — diese von

Page 117: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 24. Die Antinomien. 99

Kant systematisch geübte Methode ist es gewesen, die ihn schließlich in das Zentrum seines Werkes, in das Antinomienproblem hineinzog.

Goethe findet, ihm als dramatischen Dichter falle es nicht schwer, wie ein Anderer zu denken. Kant aber ist über dem versuch, Rede und Gegenrede gleich über-zeugend zu gestalten, zum „dramatischen Philosophen" geworden. Ich wenigstens empfinde das Antinomien-kapitel der Vernunftkritik als außerordentlich dramatisch.

Aus der Tatsache, daß die Vernunft mit sich selbst in Widerspruch geraten kann, ist die Kritik erwachsen. Das spürt der Leser. €r spürt es deutlich, wie hier das fjerz des Buches schlägt. Alles übrige sind Knochen, Bänder, Sehnen, hier ist lebendiges pulsierendes Fleisch und Blut, von hier aus wird der ganze Organismus ernährt. Folgende vier Thesen und Antithesen stellt Kant einander gegenüber und bemüht sich, beide Seiten so kräftig als möglich zu beweisen.

Thesis. Antithesis. V Die tüelt hat einen Anfang

in der Zeit mtb ist betn Raum

nach auch in Grenzen einge-

schlössen.

2. Line jede zusammengesetzte

Substanz besteht aus einfachen

Teilen, und es existiert überall

nichts als das Einfache oder das,

was aus diesem zusammen­

gesetzt ist.

Die tüelt hat keinen Anfang

und feine Grenzen im Raume,

sondern ist unendlich.

Kein zusammengesetztes Ding

besteht aus einfachen Teilen,

und es existiert überhaupt nichts

Einfaches in der Welt.

7*

Page 118: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

VOO Wie ist Polemik möglich?

Thesis. Antithesis. 3. Die Kausalität nach Ge- Es ist keine Freiheit, sondern

setzen der Natur ist nicht die alles in der Welt geschieht ledig-

einzige, aus welcher die Lr- lich nach Gesetzen der Natur,

scheinungen in der ZVelt insge-

samt abgeleitet werden können.

Es ist noch eine Kausalität durch

Freiheit zu ihrer Erklärung an-

zunehmen notwendig.

q. Zu der Welt gehört etwas, (Es existiert überall kein

das entweder als ihr Teil oder schlechthin notwendiges Wesen,

als ihre Ursache ein schlechthin weder in der Welt, noch außer

notwendiges Wesen ist. der Welt als ihre Ursache.

Den sachlichen Gehalt dieser Probleme will ich hier überhaupt nicht berühren. Die beiden letzten, Freiheit und Gott, werden späterhin erörtert werden. Die beiden ersten, die sogenannten mathematischen Antinomien werden von den heutigen Mathematikern nicht mehr ernst genommen. Russell behauptet sogar, nur durch elementare Schnitzer gelange Kant zu seinen Beweisen — wozu ich nur bemerken möchte, daß von den neuen Anti-normen, die er selber, Russell, in die IDelt gesetzt hat, Sätzen, in denen ängeblich ebenfalls die Vernunft in

Widerspruch mit sich selber geraten soll, gänz gewiß das gleiche gilt. Aber von diesen amüsanten Spielen des Geistes sind nun wieder die heutigen Mathematiker seltsam benebelt.

Die Auflösung der Antinomien ist bei Kant diese: die Vernunft gerät durch ein bloßes Mißverständnis

Page 119: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 25. vom Interesse der Vernunft. 101

in dieses Dilemma — das Mißverständnis nämlich, daß man Erscheinungen für Dinge an sich hält.

Die IDelt ist weder endlich noch unendlich, weder begrenzt noch unbegrenzt teilbar, weil alles Zeitliche und Räumliche nur eine Anschauungsform ist und keine Eigenschaft der Welt an sich. Es hat also in den ersten beiden Antinomien keine von beiden Parteien recht, in den letzten dagegen beide. Im theoretischen Vernunft-gebrauch darf man die Grenzen der Erscheinung nicht überschreiten und ist darum verpflichtet, sich auf die bloße Naturkausalität zu beschränken und Freiheit und Gott außer Spiel zu lassen. Für den praktischen ver-nunftgebrauch dagegen sind diese beiden Ideen die notwendige Grundlage.

Aber dies alles interessiert uns hier nicht, Wir steuern auf die psychologischen Betrachtungen los, die Kant in dem Kapitel „vom Interesse der Vernunft an diesem ihrem Widerstreit" auf die logische Entwicklung der Sätze und Gegensätze folgen läßt.

§ 25.

vom Interesse der Vernunft.

Kernt sagt da ungefähr folgendes: lvir haben gesehen, daß beide Gegner unwiderlegliche Gründe

für ihre Behauptungen beibringen konnten. Durch rein logische Ab-wägung des für und wider ist also der Streit nicht zu entscheiden, und diejenigen, die sich zu der einen oder der anderen Partei bekennen,

tun es vermutlich auch nicht aus tieferer Einsicht in die Sache. Mr

Page 120: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

H02 Wie ist Polemik möglich?

müssen schon nach anderen Motiven suchen, — besonders wenn wir begreifen wollen, warum der Kampf so hitzig ist. Um uns da Klarheit zu verschaffen, wollen wir erwägen, auf welche Seite wir uns selber „am liebsten" schlagen würden, wenn wir gezwungen wären, Partei zu ergreifen. Jetzt handelt es sich also grundsätzlich nicht um Logik und ZVahrheit, jetzt geht es ausschließlich um unser „Interesse" an der einen oder der anderen Lösung.

Die Behauptungen der Thesis zusammengenommen ergeben das System des Dogmatismus, die der Antithesis entsprechen der Denkungsart des Empirismus.

Aus der Seite des Dogmatismus steht ein gewisses praktisches Interesse obenan, denn jeder Satz der Thesis ist ein Grundstein der Moral und Religion. Dieses wirkt besonders aus den gemeinen Der-

stand ein, der sich einbildet, das zu wissen und einzusehen, was zu glauben seine Besorgnisse und Hoffnungen ihn antreiben. Dazu kommt das architektonische Interesse der Vernunft, das nach einem geschlossenen System verlangt. Denn der Dogmatismus gibt auf jede Frage eine Antwort mit einem Schlußpunkt, während der «Empirismus rastlos vom Bedingten zur Bedingung aufsteigt, von jedem Anfang zu einem früheren, von jedem Teil zu einem kleineren, ohne irgendwo Haltung und Stütze zu bekommen. Dieses immer mit einem Fuß in der Luft stehen ist wiederum der Gemächlichkeit des gemeinen ver-ftandes zuwider, der etwas haben will, wovon er zuversichtlich an-fangen könne. Denn die Schwierigkeit, die erste Voraussetzung zu be= greifen, kommt ihm, der nicht weiß, was begreifen heißt, ja doch nicht in den Sinn.

Das populäre Interesse ist gänzlich auffeiten des Dogmatismus, itlan sollte zwar glauben, der gemeine verstand werde einen Entwurf begierig aufnehmen, der verspricht, ihn durch nichts als Erfahrungs­erkenntnisse zu befriedigen, während die transzendentale Dogmatik

ihn nötigt, zu Begriffen hinaufzusteigen, die selbst die Einsicht der geübtesten Denker weit übersteigen. Aber eben dies reizt ihn. Denn er befindet sich dann in einem Zustand, in welchem sich auch der Ge-

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§ 25. Dom Interesse der Vernunft. *05

lehrteste über ihn nichts herausnehmen kann, anstatt daß er der Natur-forschung gegenüber ganz verstummen und seine Unwissenheit einge-stehen müßte. Gemächlichkeit und Eitelkeit sind also schon eine parke Empfehlung dieser Grundsätze, und darum wird sich der Ernpiris-mus bei der großen Masse niemals Gunst erwerben*). Dagegen aber bietet er dem spekulativen Interesse der Vernunft sehr verlockende Vorteile an. Der verstand bleibt da jederzeit auf dem ihm eigentümlichen Boden, dem Felde von lauter möglichen Lr-fahrungen. Niemals hat er nötig, die Kette der Naturursachen zu verlassen, um sich an Ideen zu hängen, deren Gegenstände er nicht kennt, niemals kann und darf er in ein Gebiet übergehen, wo er anstatt zu beobachten und zu forschen nur denken und dichten muß, — sicher, daß er nicht durch Tatsachen widerlegt werden könne.

Könnte sich aber ein Mensch von allem Interesse lossagen, und die Behauptungen der Vernunft, gleichgültig gegen alle Folgen bloß aus dem Gehalt ihrer Gründe in Betracht ziehen, so würde er in einem unaufhörlich schwankenden Zustande sein, Heute kommt es ihm überzeugend vor — der menschliche tDille sei frei, — morgen, wenn er die unlösliche Naturkette bedenkt, hält er dafür, die Freiheit sei nichts als Selbsttäuschung und alles sei bloß Natur. ZVetm es aber zum Tun und handeln kommt, so verschwindet dieses Spiel der bloß spekulativen Vernunft wie Schattenbilder eines Traums, und er wählt

seine Prinzipien bloß nach dem praktischen Interesse.

§ 26.

Das Interesse als „wunderliche Bedingtheit des Menschen".

Was also ist der Inhalt dieses Kapitels „ Dom In­teresse"? Line erschütternde Weisheit: die Menschen glauben sich durch Gründe leiten zu lassen, wo sie durch

*) Hierin irrt Kant!

Page 122: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Wie ist Polemik möglich?

Folgen bestimmt sind, die Menschen meinen, daß ihre Logik sie einen bestimmten N?eg meist, während in Wirklichkeit völlig andere Motive, Frömmigkeit, Moralität, Gemächlichkeit, Eitelkeit, Mssenschaftsstolz, Freude am System, Besorgnisse, Hoffnungen ihnen die Richtung gaben. 3e nach der Gesinnung, je nach den halb «n-eingestandenen Wünschen der Seele kann man zweierlei Logik haben, und die Logik ist Sache des „Interesses". Diese Erkenntnis ist überwältigend. Und daß sie un-anfechtbar richtig ist, ganz unabhängig von dem speziellen Fall, um den eben der Streit geht — darüber belehrt den, dem nur erst die Augen dafür eröffnet sind, jede politische Schlacht, jede gelehrte Kontroverse.

Daß sie auch auf Goethe einen tiefen und nach-haltigen Eindruck gemacht hat, dafür sehe ich einen Beweis in dem ZVort, das uns (A ^58 a) Boisseree hinterbringt: die „Antinomie der Vorstellungsart" sei schuld daran, daß wir mit den Menschen nie aufs reine kommen können. Dieser Ausspruch ist sogar guten Kanifermem rätselhaft. Man schwankt bloß, ob das Mißverständnis Goethe oder Boisseree zuzuschieben sei. Die seltsame Grammatik des Satzes dürfte freilich auf das Konto des Referenten kommen, der Gedanke aber ist echt goethisch. Die Menschen sind in ihrer Vorstellungsart so vielfach bedingt, daß keiner aus seiner Haut heraus kann. Daher stehen sich allüberall fanatisch Einseitige gegenüber, die sich nicht verständigen können. Das hat Kant mit seinen Antinomien ganz richtig ausgedrückt.

Page 123: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 26. Das Interesse als „wunderliche Bedingtheit". 105

So etwa denke ich mir Goethe sprechend. Und daß man bisher seine Worte so dunkel fand, das liegt nicht nur an ihrer verballhornung durch den Referenten, sondern auch daran, daß man die Antinomienlehre nur rein erkenntnistheoretisch zu betrachten pflegt und die von Kant selbst angegliederte psychologische Behandlung nicht beachtet.

Das „Interesse der Vernunft" und die „wunderliche Bedingtheit des Menschen" sind weitgehend identifizier-bar. Wie sich bei der Antinomie der reinen Vernunft die Menschen aus unrationalen Motiven auf die eine oder auf die andere Seite stellen, so tun sie es auch in naturwissenschaftlichen Kontroversen — mag es sich um Vulkanismus und Neptunismus, um Mechanismus und Vitalismus oder um irgend eine jener Alternativen handeln, die auf längere oder kürzere Zeit zum Zank-Zentrum werden. Immer verteilt sich das „doppelte widerstreitende Interesse" auf verschiedene Menschen-gruppen, die dann hoffnungslos an einander vorbei-reden.

In der Abhandlung über den Gebrauch teleol. Prinzipien (\188) konstatiert Kant in eigener Sache, wie schwer es allemal hält,

sich in Prinzipien zu einigen, wo die Vernunft ein doppeltes Interesse hat. Ja es ist sogar schwer, sich über Prinzipien dieser Art auch nur zu verstehen, weil die einander widerstreitenden Ansprüche der Vernunft den Gesichtspunkt zweideutig machen, aus dem man seinen Gegenstand zu betrachten hat.

Page 124: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

J06 ZVie ist Polemik möglich?

Dem allgemeinen Thema „widerstreitendes Interesse" unterordnet Kant auch die Fanatiker der Einheit in der Natur und ihre Gegner, die die Mannigfaltigkeit eigensinnig allein gelten lassen wollen.

§ 27.

über Einheit und Mannigfaltigkeit in der Natur.

3rt dem Kapitel vom regulativen Gebrauch der )deen entwickelt Kant folgende Gedankengänge:

Der Mensch empfindet ein unbezwingbares Bedürfnis, überall nach Einheit, nach versteckten Identitäten zu suchen. Alle Kräfte sucht er auf eine Grundkraft, alle Stoffe auf einen Grundstoff zurückzuführen, — Und selbst, wenn alle Versuche, diese Einheitlichkeit zu entdecken,

mißlingen, so setzt man doch voraus, sie müßte sich finden und wird nicht müde, danach zu forschen.

Diesem logischen Prinzip, das man als Prinzip der Homogenität bezeichnen kann (von genus gleich Gattung) steht ein gerade entgegen­gesetztes gegenüber, das Prinzip der Spezifikation (von species gleich

Art), Ls macht dem verstand zur Vorschrift, auf die Unterschiede auf-merksam zu fein. Jede Gattung fordert Arten, jede Art Unterarten; feine sann die unterste fein. Denn der Begriff einer Art enthält immer noch Merkmale, die verschiedenen Dingen gemein sind, und kann nie unmittelbar auf das Individuum bezogen werden.

Auch dieser Grundsatz wird nicht aus der (Erfahrung geschöpft, sondern in die Erfahrung hineingetragen und geht weit über sie hinaus. Die empirische Beobachtung der Unterschiede bleibt bald stehen, wenn sie nicht durch ein Prinzip geleitet wird, Unterschiede zu suchen.

Die Vernunft zeigt also hier ein doppeltes widerstreitendes Interesse: das des Umfangs, der Allgemeinheit, wobei der verstand unter seinen Begriffen vieles denkt, und das des Inhalts, der Be-

Page 125: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 27. Einheit und Mannigfaltigkeit, 107

stimmtheit, wobei er desto mehr in seinen Begriffen denkt. Wenn ich von der Gattung anhebend zum Mannigfaltigen Herabfteige, so strebe ich dem System Ausbreitung zu verschaffen, wenn ich von der Art zur Gattung hinaufsteige, suche ich ihm Einfalt zu geben.

Um aber die systematische Einheit zu vollenden, fügt die Vernunft noch ein drittes Prinzip hinzu, das der Kontinuität. Dieses entspringt eigentlich aus der Vereinigung der beiden anderen, denn wenn ich im Aufsteigen zu höheren Gattungen und im Absteigen zu niederen Arten den systematischen Zusammenhang in der Idee vollendet habe, dann sind alle Mannigfaltigkeiten unter einander verwandt, weil sie ins-gesamt von einer obersten Gattung abstammen. Es ist, als ob alle Seitenzweige aus einem Stamme entsprossen wären. Aber alle diese

Prinzipien sind bloße Zdeen. Nicht nur daß sie nicht aus der Erfahrung entlehnt sind, sie gehen überall viel weiter als die Erfahrung jemals reichen kann. Das merkwürdige ist, daß sie transzendental zu sein scheinen, daß jedermann mit Sicherheit voraussetzt, diese systematische Einheit hänge den (Objekten selber an.

Die Frage nun, ob die besprochenen Prinzipien wirklich transzendental find, oder wieso es kommt, daß die Natur sich ihnen so wohl zu fügen scheint, läßt Kant offen. 3n prolegomena § 60 kommt er auf die Er­örterungen der Vernunftkritik zurück und stellt fest:

Diese Aufgabe habe ich in der Schrift selbst zwar als wichtig hinge-stellt, aber ihre Auslösung nicht versucht. Sie mag von denen weiter erwogen werden, die dem Wesen der Vernunft auch außerhalb ihres metaphysischen Gebrauchs nachspüren und es in den allgemeinen Prinzipien auffinden wollen, die eine Naturgeschichte systematisch machen.

Ohne mich in dieses Gestrüpp weiter zu verlieren, gehe ich zu den methodischen Betrachtungen über, die uns für den vergleich mit Goethe allein interessieren.

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*08 lüie ist Polemik möglich?

§ 28 .

Kant über die Einseitigkeit der Naturforscher.

Karti hat festgestellt, daß die Vernunft ein doppeltes widerstreitendes Interesse in der Naturforschung hat, das der Einheit und das der Mannigfaltigkeit, und nun fährt er fort:

Auch äußert sich dies an der sehr verschiedenen Denkungsart der Naturforscher. Die einen, vorzüglich spekulativ, der Ungleich-artigkeit gleichsam feind, sehen immer nur auf die Einheit der Gattung hinaus. Die andern vorzüglich empirische Köpfe, suchen unaufhörlich die Natur in soviel Mannigfaltigkeit zu spalten, daß man beinahe die Hoffnung aufgeben müßte, ihre Erscheinungen nach allgemeinen Prinzipien zu beurteilen. Leichtsinniger Witz auf der einen Seite, scharfsinniges Unterscheidungsvermögen auf der andern schränken einander gegenseitig ein.

Ich nenne alle subjektiven Grundsätze, die nicht von der Be-schaffenheit des Objekts, sondern von dem Interesse der Vernunft hergenommen sind, Maximen.

Wenn regulative Grundsätze als konstitutiv betrachtet werden, so können sie als objektive Prinzipien widerstreitend sein; betrachtet man sie aber bloß als Maximen, so ist kein wahrer Widerstreit, sondern bloß ein verschiedenes Interesse der Vernunft, welches die Trennung der Denkungsart verursacht. In der Tat hat die Vernunft nur ein einiges Interesse und der Streit ihrer Maximen ist nur eine Verschiedenheit und wechselseitige Einschränkung der Methoden, diesem Interesse ein Genüge zu tun.

Auf solche Weise vermag bei diesem Vernunftler mehr das Interesse der Mannigfaltigkeit, bei jenem das Interesse der Einheit. Ein jeder glaubt sein Urteil aus Einsicht in das ©bjctt ,u haben und gründet es doch lediglich auf seine größere oder kleinere Anhänglichkeit an einen von diesen beiden Grundsätzen, deren keiner

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§ 28. Über die Einseitigkeit der Naturforscher. ,109

auf objektiven Gründen beruht, und die daher besser Maximen als Prinzipien zu nennen wären. Wenn ich einsehende Männer mit-einander wegen der Charakteristik der Menschen, der Tiere oderpflanzen, ja selbst der Körper des Mineralreiches in Streit sehe, da die einen z.B. besondere und in der Abstammung gegründete Volkscharaktere oder auch entschiedene und erbliche Unterschiede der Familien, Rassen usw. annehmen, andere dagegen ihren Sinn darauf setzen, daß die Natur in diesem Stücke ganz und gar einerlei Anlagen gemacht habe und aller Unterschied nur auf äußeren Zufälligkeiten beruhe, so darf ich nur die Beschaffenheit des Gegenstandes in Betracht ziehen, um zu be­greifen, daß er für beide viel zu tief verborgen liege, als daß sie aus Einsicht in die Natur des Gbjekts sprechen könnten. (Es ist nichts anderes als das zwiefache Interesse der Vernunft, davon dieser Teil das eine, jener das andere zu Kerzen nimmt ober auch affektiert, mithin die Verschiedenheit der Maximen, welche sich gar wohl vereinigen lassen, aber solange sie für objektive Einsichten gehalten werden, nicht allein Streit, sondern auch Hindernisse veranlassen, welche die Wahrheit lange aufhalten, bis ein Mittel gefunden wird, das streitige Interesse zu vereinigen und die Vernunft zufrieden zu stellen.

§ 29-

Goethe über das gleiche Thema.

Mit diesem Exkurs vergleiche man den unter A 2 \ 5 teilweise abgedruckten Aufsatz „Principes de philosophie zoologique". <£t klingt wie eine Variante auf das kantische Thema. Alle Motive kehren darin wieder. In dem französischen Akademiestreit offenbart sich „der immer-fort währende Konflikt zwischen zwei Denkweisen, die sich in dem menschlichen Geschlecht meist getrennt finden". Kants,, spekulativem Kopf", der „der Ungleichartigkeit

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UO Wie ist Polemik möglich?

gleichsam feirtb, immer auf die Einheit der Gattung hinaussieht", entspricht bei Goethe „der um die Analogien der Geschöpfe Bemühte, der von der )dee ausgeht". Kants „empirischem Kopf, der die Natur in soviel Mcknnig-faltigkeit zu spalten sucht, daß man die Hoffnung auf-geben müßte, sie nach allgemeinen Prinzipien zu be-urteilen", korrespondiert bei Goethe „der Unterscheidende, das vorliegende genau Beschreibende, der mit Scharf-sichtigkeit und ununterbrochener Aufmerksamkeit ins Kleinste dringend die Abweichungen bemerkt".

Der Spezifizierende verschafft nach Kant dem System Ausbreitung, nach Goethe gewinnt er sich die Herr­schaft über eine unermeßliche Breite. Der Spekulative gibt nach Kant dem System (Einfalt, nach Goethe hegt er, was nicht so wörtlich, aber doch dem Sinne nach das gleiche ist, das Ganze im innern Sinn, und hofft, das Einzelne daraus zu entwickeln. Wenn Kant sagt:

(Ein jeder glaubt fein Urteil aus «Ansicht in das Gbjekt zu haben und gründet es doch lediglich auf seine größere oder kleinere Anhänglich-feit an einen von diesen beiden Grundsätzen,

so echot Goethe: . . . I v i r s e h e n h ö c h s t b e d e u t e n d e M ä n n e r , w e l c h e n i c h t d u r c h

den Gegenstand, sondern durch die Art, ihn anzusehen bis zu feindseligem Widerstand hingerissen gegeneinander auftreten.

Und wenn Kant das Fazit zieht, daß diese Maximen nichts als Streit und Hindernisse veranlassen, während sie sich doch gar wohl vereinigen ließen, so drückt das Goethe so aus, es werde um so besser für die Wissenschaft

Page 129: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 50. Das Schaukelsystem,

gesorgt fein, je lebendiger sich Sondern und verknüpfen wie Aus- und Einatmen zusammen verhalten.*)

Für Goethe sind (Seoffroy de 5t. Hilaire und Luvier Vertreter der beiden Typen. )ch finde freilich, daß Luvier gewaltig Unrecht geschieht, wenn man ihn als den „bloß Unterscheidenden, das vorliegende genau Beschreibenden"charakterisiert,und ich finde,daßGeoffroy recht hat, wenn er die Behauptung: der eine sehe nur die Ähnlichkeiten, der andere nur die Unterschiede, als für ihn und für «Luvier gleich beleidigend, empört zurück-weist (vgl. A 225 a).

§ 30.

Das Schaukelsystem. Line wundersam anregende Notiz aus Goethes

Nachlaß (W. A. II, \3, S. 76) besagt: Methode de Bascule

Schaukelsystem Denn wie ich, wenn ich schaukle, gerade nicht aus beut Gleich­

gewicht komme, sondern es erst recht betätige ...

so darf ich — können wir ergänzen — auch in der Wissen-schaft nirgends stecken bleiben, sondern muß mit Schwung die Richtung wechseln, um mich im Gleichgewicht zu bewahren.

*) Hieher gehört auch Goethes Urteil (Hecker *275): „wenn zwei Meister derselben Kunst in ihrem vortrag von einander differieren, so liegt wahrscheinlicherweise das unauflösliche Problem in der Mitte zwischen beiden." Kant sagt, der Gegenstand liege für beide zu tief verborgen.

Page 130: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

N?ie ist Polemik möglich?

Zu verschiedenenmalen ( A . 2 \ , A u. z) kündigt Goethe seine Absicht an, sich der Vorstellungsarten der Lvolutionisten wie der entgegengesetzten der Lpigenesisten nach Bedarf zu bedienen. Die Stelle A 2\ bereitet mir Kopfzerbrechen, weil sie so völlig kantisch klingt und doch möglicherweise schon vor der Bekanntschaft mit Kant geschrieben sein könnte. Die Handschrift weist nach Professor lvahles Schätzung in die Zeit vor der italienischen Reise. Trifft diese Vermutung zu, dann haben wir hier ein Beispiel mehr dafür, wie sehr Goethe „aus eigener Natur einen ähnlichen Weg ging" wie Kant.

Denn wenn Goethe von zwei entgegengesetzten Vorstellungsarten sagt, daß sie

im Grunde kompatible sind, ob es gleich schwerer ist, mit beiden als Mittel die Natur zu erkennen, in seinem Geist zu wirtschaften und bald diesen, bald jenen Standpunkt zu wählen, als beschränkt und eigen-

sinnig stehen zu bleiben,

so ist die Übereinstimmung mit dem Satze Kants über die Maximen, welche sich gar wohl vereinigen lassen, aber solange man sie für objektive Einsichten hält, nur Widerstreit und Hindernisse bilden, eine vollkommene. Goethe hat die „Notwendigkeit, alle Vorstellungsarten zusammenzunehmen", theoretisch stets vertreten, wenn es ihm auch praktisch nicht immer gelingen konnte. In dem französischen Akademiestreit gelang es ihm in einem Punkt. Geoffroy behauptete hartnäckig, nur die ana­tomischen (Elemente und die Art ihrer Verbindung seien geeignete Objekte, um daran die Gnheit aller

Page 131: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 30. Das Schaukelsystem.

Organisation nachzuweisen. Cuoier dagegen dachte physiologisch und legte auf die Funktion der Organe den größeren N?ert. Da schreibt denn Goethe in dem Entwurf A 225 b:

Hier müssen wir uns zwischen die Parteien hinstellen, indem wir alle drei Rücksichten z» unseren lebendigen Untersuchungen nötig haben.

Und tatsächlich hat er die anatomische und die physiologische Methode musterhaft zu kombinieren per-standen. In A 226 c nimmt er sich vor, die atomistische und dynamische Vorstellungsart gleichermaßen gelten zu lassen, und hier folgt die Ausführung jenes reizvollen Gedankenfragments:

Der Naturforscher als Philosoph darf sich nicht schämen, sich in diesem Schaukelsvstem hin und her zu bewegen und da, wo die

wissenschaftliche Welt sich nicht versteht, sich selbst zu verständigen.

)n der Diskussion über Erfahrung und Wissenschaft schreibt Goethe (A joj) an Schiller:

Mir scheint es, als wenn der rationelle Empirismus auf seinem höchsten Punkte auch nur kritisch werden könnte. (Er muß gewisse vor-stellungsarten neben einander stehen lassen, ohne daß er sich untersteht, eine auszuschließen oder eine über das Gebiet der andern auszubreiten.

IDie unkantisch ist doch hier wieder der Ausdruck „kritisch" gebraucht! höre ich manchen Leser ausrufen. Darum beeile ich mich, Kant dazu sprechen zu lassen: (UKr. § 74.)

Wir verfahren mit einem Begriff kritisch, wenn wir ihn nur in Beziehung auf unser «Erkenntnisvermögen, mithin auf die subjektiven Bedingungen, ihn zu denken, betrachten, ohne es zu unternehmen, über sein (Objekt etwas zu entscheiden. Das dogmatische Verfahren ist

8

Page 132: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Me ist Polemik möglich?

für die bestimmende, das kritische für die reflektierende Urteilskraft

gesetzmäßig.

Nun ist es aber das lüefett der reflektierenden Urteilskraft, daß sie „verschiedene Vorstellungsarten nebeneinander stehn lassen muß", darauf beruht z. B. die Lösung der teleologischen Antinomie (vgl. § \oo).

(Eine Erweiterung dieses Gedankens ist die Notiz aus Goethes Tagebuch *8*7 (A *65), offenbar eine Frucht seiner damaligen erneuten Kantlektüre. Der Ausdruck „als gegenständlich konstituiert" ist nur stilistisch an­greifbar; dem Sinne nach soll er nichts anderes bedeuten, als was Kant immer so ausdrückt: man glaubt, konstitutive Prinzipien vor sich zu haben, also solche, die „den Gegenstand konstituieren", und hat doch bloß regulative, das heißt also solche, die unverbindlich neben einander gebraucht werden können, zwischen denen man sich schaukeln darf.

Kant hat das Schaukelsystem systematisch und mit Virtuosität betrieben. Gn besonders drastisches Beispiel für abrupten Richtungswechsel bilden die Träume eines Geistersehers. Und das Kapitel vom regulativen Gebrauch der Ideen wirkt geradezu aufregend durch den be-ständigen Wechsel zwischen Ja und Nein in Antwort auf die Frage: sind die Prinzipien der Homogenität und der Spezifikation transzendental oder nicht? (Es gehören überhaupt starke Nerven dazu, diese Schaukelmethode mitzumachen. Man darf keine Sehnsucht nach Ruhe, nach einem festen Ziel verspüren, die Bewegung als solche

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§ 3V Über Toleranz und Selbstkritik. \J5

muß einen reizen. Die ungeheure anregende Wirkung, die von Kant ausgeht, und die sich ganz gewiß noch auf Generationen hinaus nicht erschöpfen wird, beruht darauf, daß er den Geist tüchtig in Bewegung bringt und ihn dauernd darin erhält. VOet eine Kantische Theorie als ein Ruhekissen betrachtet, auf dem sich zeitlebens sanft schlummern ließe, von dem kann man annehmen, daß er sie aus kehtbüchern oder Vorlesungen, aber nicht aus dem Urtext geschöpft hat.

wenn der Leser Kants denkt: dieser Punkt ist doch längst bewiesen und abgetan, ist der Verfasser immer noch nicht zufrieden. Immer fängt er wieder wie von vorne an und immer von einer neuen Seite. So operiert Kant mit Gedanken-Lxperimenten wie Goethe mit den physikalischen.

§ 3V

über Toleranz und Selbstkritik.

vielleicht darf ich hoffen, aus dem bisher Gesagten sei bereits ohne weiteres die Deutung der Worte zu entnehmen, die Goethe zu Victor Cousin sprach (A *66). Da aber dieser Ausspruch von anderer Seite eine mir unverständliche Interpretation gefunden hat, will ich hier noch ausführlicher auf ihn selbst und in § 32 auf diese Interpretation eingehen.

Wenn Goethe die kantische Methode mit den Worten charakterisiert: II saut distinguer le moi qui juge de

8*

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ZPie ist Polemik möglich?

la chose jugee, so schwebt ihm gewiß der Satz vor: (Ein jeder glaubt, aus der (Einsicht ins Objekt zu urteilen, und es ist doch nur feine subjektive Maxime, die ihn leitet, ©der der andere: Wenn ich einsehende Männer usw. (5. *09) )st das nicht, wie Goethe es ausdrückt, ein Prinzip der Toleranz und Humanität? fjeifjt das nicht mit andern Worten: Schlagt euch doch nicht gegenseitig die Köpfe ein. Ihr habt alle beide ein bischen recht. 3Hr müßt nur erst einen höheren Standpunkt finden, eure eigenen (Einseiligfetten einsehen lernen, dann werdet ihr euch vertragen.

3n diesem Sinn könnte man sagen, was erkenntnis-theoretisch „Kritik" heißt, heißt auf psychologisch Toleranz.

So strebt auch die Darmstädter „Schule der Weisheit" danach, einen allgemeinen Überblick über die möglichen Denkweisen zu geben, nicht damit man ratlos zwischen ihnen umhertaumle, sondern damit man seinen eigenen Platz im geistigen Kosmos schärfer erkennen lerne. (Ein jeder muß — um in dem treffenden Keyserlingschen Bilde zu bleiben, das sich übrigens nach Koch bereits bei piotin findet — in dem Weltorchester die ihm vorgezeichnete Stimme spielen, er muß wissen, daß die andern Stimmen der feinen gleichberechtigt sind und daß nur alle zusammen die Symphonie aufführen können.

Ahnlich lesen wir in Kants Anthropologie § 57:

Durch die große Verschiedenheit der Köpfe in der Art, wie sie eben dieselben Gegenstände, im gleichen sich untereinander ansehen, bewirkt die Natur ein sehenswürdiges Schauspiel auf der Bühne der Beobachter

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§ 3 V Über Toleranz und Selbstkritik. \17

und Denker von unendlich verschiedener Art. Für die Klaffe der Denker können folgende Maximen, die zur Weisheit führen, zu unwandel-baren Geboten gemacht werden: v Selbst denken, 2. sich in die Stelle jedes Anderen denken, z. mit sich selbst einstimmig denken.

lvenn man die beiden von Boisseree und von Cousirt referierten Goethe-ZVorte zusammentut, so erhellen sie sich gegenseitig. Goethe hat aus dem Antinomienkapitel mit Recht herausgelesen, daß die „wunderliche Bedingt-heit der Menschen" sie hindert, die gleichen Gedanken-gänge als beweisend zu empfinden. Nun prüft er sich selbst, ob nicht viele feiner Überzeugungen auch bloß einem „Interesse" entspringen. Resultat:

Mir muß es mit Gewalt abgenötigt werden, wenn ich etwas für

vulkanisch halten soll. Zch kann nicht aus dem Neptunismus heraus.

Oder in „Bedeutende Fördernis": Zwar vermag ich auf kurze Zeit mich auf jenen Standpunkt zu

versetzen, aber ich muß doch immer, wenn es mir einigermaßen be­haglich (!) werden soll, zu meiner alten Denkweise wieder zurückkehre«.

Da ist das )ch und die Sache unterschieden. Am (Ende ist es gar nicht Einsicht in die Beschaffenheit des Objekts, die mein Urteil bestimmt? Mir ist nur das Gedonner und Gepolter zuwider.

Bei Betrachtung der Natur hab' ich unausgesetzt die Frage gestellt: Ist es der Gegenstand oder bist du es, der sich hier ausspricht? Wecker 593.)

Line echt kantische Frage. Die „kritische Philosophie" ist das Produkt von Kants angeborener Gewohnheit, kritisch gegen sich selbst zu sein. Schon in seiner ersten Veröffentlichung, aus der ich in § 23 ein paar

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Züie ist Polemik möglich?

allgemeine Weisheiten ausgezogen, sehen wir diese Tendenz:

Mich beucht, ich habe nichts Gewisseres und Unwidersprechlicheres sagen können als dies. Vhngeachtet die ganze tDelt auf gleiche weise denkt, so fand doch £?err Bemouilli in dem Gegensatz ich weiß nicht was vor ein Helles Licht, worauf er eine unüberwindliche Zuversicht gründete-

Und sofort folgt die kritische Moral: Lasset uns diesen Zufall der menschlichen Vernunft in der Person

eines so großen Mannes nicht mit Gleichgültigkeit ansehn, sondern daraus lernen, auch in unsere größte Überzeugung ein weises Miß-trauen zu setzen, und allemal vermuten, daß wir selbst da nicht außer Gefahr feiert, uns selbst zu hintergehe«.

Mit welcher fupremen Vorsicht er bet sich selbst Herz und Nieren prüfte, das mag der folgende Auszug aus dem „Geisterseher" (4. £?. 5t.) belegen:

Die Trüglichkeit einer lVage wird entdeckt, wenn man Ware und Gewicht ihre Schalen vertauschen läßt, und die Parteilichkeit der ver-

standeswage offenbart sich durch eben denselben Kunstgriff. Sonst be-trachtete ich ;den allgemeinen menschlichen verstand bloß aus dem Standpunkte des meinigen; jetzt setze ich mich an die Stelle einer fremden und äußeren Vernunft und beobachte meine Urteile samt ihren ge-heimsten Anlässen aus dem Gesichtspunkte anderer. Die Ver-gleichung beider Beobachtungen gibt zwar starke Parallaxen, aber sie ist auch das einzige Mittel, den optischen Betrug zu verhüten. Zch habe meine Seele von Vorurteilen gereinigt, ich habe eine jede blinde Ergebenheit vertilgt. Ich finde nicht, daß irgend eine Anhänglichkeit oder sonst eine vor der Prüfung eingeschlichene Neigung meinem Ge­müte die kenksamkeit nach Gründen benehme, — eine einzige aus­

genommen. Die Verstandeswage ist doch nicht ganz unparteiisch. Ein Arm derselben, der die Aufschrift führt: „Hoffnung der Zukunft"

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§ 32. Die „Subjektivität des Lrkennens". \

hat einen mechanischen Vorteil, welcher macht, daß auch leichte Gründe, welche in die ihm gehörige Schale fallen, die Spekulationen von an sich größerem Gewicht auf der andern Seite in die l?öhe ziehn. Dieses ist •die einzige Unrichtigkeit, die ich nicht wohl heben kann, und die ich in der Tat auch nicht heben will.

Die gleiche unbarmherzige Selbstkritik finden wir in Goethes Brief an Zelter (A 209):

3ch habe bemerkt, daß ich den Gedanken für wahr halte, der mir fruchtbar ist, mich fördert; einen andern wird dieser Gedanke vielleicht Hirtbern, und so wird er ihn für falsch halten. Ist man hiervon gründlich überzeugt, so wird man nie kontrovertieren. (Ein jeder, der bei seiner Meinung verharrt, versichert uns nur, daß er sie nicht entbehren könne. Aller dialektische Selbstbetrug wird uns dadurch deutlich.

Wenn wir alle die Gewohnheit hätten, solche Selbst-Prüfungen vorzunehmen, dann wäre Polemik, wenn schon nicht unmöglich, so doch wenigstens nicht so häßlich.

Z w e i t e s K a p i t e l .

Subjeft und Gbjekt.

§ 32.

Die „Subjektivität des Lrkennens" ein unkantifcher Ausdruck.

Der vorhin zitierte Ausspruch A n,66 scheint für manche Kantianer einer besonderen „Deutung" zu bedürfen. Vorländer schreibt darüber:

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X 20 Subjekt und (Dbjeft.

Die letzte Wendung, daß die Methode Haitis ein Prinzip der Toleranz und Humanität sei, deutet 3- «Lohn wohl mit Recht dahin, daß nach Goethe die Toleranz gegen fremde Meinungen die praktische Folgerung der theoretischen Lehre von der Subjektivität des menschlichen Lrkennens ist.

Ich gestehe, daß ich diesen Satz nicht begreife, und ich möchte die Gelegenheit benutzen, um mich allgemein mit dem Begriff „Subjektivität des Lrkennens", der ja so häufig auf Kant angewendet wird, auseinander­zusetzen.

3ch knüpfe an eine eigentümliche Anmerkung Caros an:

„Ich bin immer objektiv vorgegangen", lvenn wir auch diese Wendung Goethes, die er Kant entlehnt hat, nicht seht billigen, so können wir trotzdem nicht die extremen Skrupel des Übersetzers Deletot teilen, der aus Übermaß an literarischem puritanismus sie unterdrückt.

Wenn es sich um deutsche Philosophie handelt, muß man schon ein wenig deutsch reden.

Ob wirklich Goethe das tDort „objektiv" Kant ent­lehnt hat, weiß ich nicht, aber was ich richtig finde, ist dieses: wenn es sich um kantische Philosophie handelt, muß man schon auch ein wenig kantisch reden. „Kants Tehre von der Subjektivität des Erkennen?" — das ist aber nicht kantisch gesprochen.

Wenn man diesen Ausdruck gebraucht, dann meint man damit, daß nach Kant alles Erkennen nur ver­mittels der dem Subjekt eigentümlichen Kategorien und Anschauungsformen erfolgt und das (Objekt „an sich" ihm verschlossen ist. Aber gerade dieses (Erkennen be­

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§ 52. Die „Subjektivität des Lrkennens".

zeichnet Kant als das objektive, denn eben diese Formen selber schaffen, erzeugen ja erst das Objekt. Dem ZVort „objektiv" legt er mit Bewußtsein und Absicht eine doppelte Bedeutung bei: erstens „gegenständlich", zweitens „allgemeingültig". Die beiden Bedeutungen fallen aber für ihn zusammen. «Line Vorstellung, die auf den Gegenstand bezogen wird, ist eben für alle Menschen die gleiche. Wird die Vorstellung dagegen auf das Individuum bezogen, dann heißt sie subjektiv und verschaff t keine Erkenntnis vom Objekt (vgl . § \ \ 5 ) .

Subjektivität und Erkenntnis sind für Kant strikte Gegensätze, also Subjektivität des Erkennens eine contra» dictio in adjecto.

An der wichtigen Stelle, wo Kant das Resultat aus der „Deduktion der Verstandesbegriffe" zusammenfaßt, (Rv. § 27), da sagt er uns selbst, was er unter Sub-jektivität des Erkennen? verstehen würde.

Gälte für die reine Vernunft eine Art von Präformationssystem derart, daß die Kategorien subjektive, uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen zum Denken wären, von unserem Urheber so eingerichtet, daß ihr Gebrauch zu den Gesetzen der Natur genau stimmte, dann würde den Kategorien gerade das fehlen, was wesentlich zu ihrem Begriff gehört, — die Notwendigkeit. Ich würde z. B. nicht sagen können: die Wirkung ist mit der Ursache im Gbj«kt«, also notwendig verbunden, sondern ich müßte sagen: ich bin so eingerichtet, daß ich diese Vorstellungen nicht anders als so verknüpft denken karrn. Das aber ist es gerade, was der Skeptiker am meisten wünscht- Denn aisbann ist alle unsere «Einsicht durch vermeintlich objektiv gültige Urteile nichts als lauter Schein, und es würde auch an Leuten nicht fehlen, welche eine subjektiv! Notwendigkeit, die gefühlt werden muß, von sich nicht gestehen

Page 140: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

\22 Subjekt und Vbjekt,

würden. Zum wenigsten könnte man mit niemanden über dasjenige

hadern, was bloß auf der Art beruht, wie sein Subjekt organisiert ist.

Ganz verständlich ist mir der Gedankengang nicht. Denn wenn in allen Menschen die Anlagen durch den Schöpfer so eingerichtet wären, daß das Denken mit den Naturgesetzen übereinstimmt, dann wäre doch, scheint mir, diese Übereinstimmung auch „notwendig".

Außerordentlich interessant ist in Rv. § 2? das biologische Gleichnis: nicht das Präformations-fYftem gilt für die Kategorien, sondern das System der Lpigenesis. Sie sind also nicht feste, vorgebildete Gefäße, um die Erfahrung aufzunehmen, sondern sie sind Vorgänge, Funktionen, die die Erfahrung immer wieder neu bilden. Ich finde, man könnte aus diesem Gleichnis sogar ableiten, daß die kategortale (Erkenntnis nicht ein für allemal die selbe bleiben müsse. Aber das nur nebenbei (vgl. dazu § 69). Subjektiv sind für Kant die Maximen und Ideen der Vernunft, objektiv die Gesetze des Verstandes. Datum gibt es Antinomien für Vernunft und Urteilskraft, nicht aber für den ver­stand. Umgekehrt gibt es Erkenntnis nur für den verstand. £Do überhaupt erkannt wird, wird objektiv erkannt, das Subjektive leitet höchstens zur Erkenntnis hin.

versteht man unter „Subjektivität des Erkennen?" die Lehre, daß das „Subjekt überhaupt" die Dinge formt und sie nur in dieser Form zu erkennen vermag, so kann

Niemals Toleranz und Humanität als „praktische Folgerung" aus dieser Lehre fließen. Denn nur insoweit

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§ 35. Der versuch als Vermittler. >25

als man individuelle Abweichungen als gleichberechtigt gelten läßt, kann man tolerant und human sein. Die Toleranz fängt also dort an, wo die Erkenntnis aufhört, tm Reich der Maximen und Ideen. von der Art, wie Kant seine Lehre hier ins Praktische überträgt, kann man sich etwa in dem Abschnitt „über die Disziplin der reinen Vernunft im polemischen Gebrauch" in den Ausführungen über X?ume und j)riestley (Ht>. 773) überzeugen.

§ 33.

Der versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt.

(Es ist auf den ersten Blick nicht ganz durchsichtig, was. Goethe meint, wenn er (A 200) zu Lckermann äußert:

Die Unterscheidung des Subjekts vom Gbjekt, und ferner die An-

ficht, daß jedes Geschöpf um sein selbst willen existiert und nicht etwa der Korfbaum gewachsen ist, damit wir unsere Flaschen pfropfen können, hatte Kant mit mir gemein, und ich freute mich ihm hierin zu begegnen. Später schrieb ich die Lehre vom versuch, welche als Kritik von Subjekt und Gbjekt und als Vermittlung von Beiden anzusehen ist.

Angenommen, daß der Wortlaut authentisch ist, soll dieses „später" bedeuten, daß die )dee des Aufsatzes irgendwie in Beziehung zu Kant stehe? )ch will probe­weise so tun, als ob dies die Meinung wäre, und sehen, wie weit ich damit komme. Anklänge an Kant zeigt ja der Aufsatz zur Genüge.

Da ist zuerst jene Unterscheidung von „Nutzbarkeit" und innerer Zweckmäßigkeit, die den Inhalt von § 63 UKr.

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Subjekt und Vbjekt,

ausmacht, wo zwar nicht eben vom Rorkbaum die Rede ist, dafür aber von den Vögeln und (gfeln gesagt wird, sie seien nicht nur gewachsen, damit wir putsch muck und Reittiere haben.

Dann ist da der zweite Absatz, der fast wörtlich mit der (Einleitung zur vernunftkritik übereinstimmt.

Daß die Erfahrung somit in allem, was der Mensch unternimmt, so auch in der Naturlehre den größten (Einfluß habe und haben solle, wird niemand leugnen, so wenig als man den Seelenkräften, in welchen diese Erfahrungen aufgefaßt, zusammengenommen, ge-ordnet und ausgebildet werden, ihre hohe gleichsam schöpferisch unabhängige Kraft absprechen wird.

Bei Kant hieß es: Daß alle unsere (Erkenntnis mit der «Erfahrung anfange, daran

ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren, und die teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Derstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu ver-gleichen, sie zu verknüpfen und zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher (Eindrücke zu einer (Erkenntnis der Gegenstände zu ver-arbeiten, die (Erfahrung heißt.

Der Zeit nach geht also feine (Erkenntnis vor der (Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an.

Wenn aber gleich alle unsere (Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der (Erfahrung. Denn es sonnte wohl fein, daß selbst unsere (Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes sei aus dem, was wir durch Eindrücke empfangen und dem, was unser eigenes «Erkenntnisvermögen aus sich selbst hergibt, daß wir aber diesen Zusatz von jenem Grundstoff nicht unter­scheiden sönnen, ehe uns nicht lange Übung darauf aufmerksam und zu

seiner Absonderung geschickt gemacht hat.

Page 143: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 35. Der Versuch als Vermittler. 1(25

Diesen Zusatz bezeichnet Kant als die Spontaneität des Geistes, Goethe übersetzt das ganz richtig und ganz übereinstimmen5) mit Kants älteren Schriften als die „schöpferisch unabhängige Kraft der Seele". <2s ist jene Funktion des „Gemüts", welche dem rohen Erfahrungs-stoff durch verknüpfen und Ordnen seine Form verleiht.

Das Wort „Erfahrung" gebraucht Kant in doppeltem Sinn. Das einemal soll es die noch ungeordnete Materie bedeuten, das anderemal die bereits durch den Geist verarbeiteten Eindrücke. Diese jedenfalls beabsichtigte Zweideutigkeit hat Goethe unübertrefflich in das Epigramm zugespitzt:

Die, welche immer die Erfahrung preisen, sollten doch bedenken, daß die Erfahrung nur die fjcilfte der Erfahrung fei.

)n den Notizen, die er vermutlich in der Zeit seiner ersten Aantlektüre zu Papier brachte, taucht ein ähnlicher Gedanke in der Gestalt eines Gnwands auf:

Mir kommt vorerst gefährlich vor, daß Kant das, was unsere Seele den (Erkenntnissen gleichsam entgegenbringt, worin sie die Erkennt­nisse aufnimmt, wieder Erkenntnis nennt.

Dieser Einwand ist sehr berechtigt, aber amüsant ist es, daß Goethe im gleichen Atem, da er Kant diesen Fehler vorwirft, den dazu symmetrischen selbst begeht, indem et das bloß „Aufgenommene" als Erkenntnis be­zeichnet, während doch erst aus dem Aufgenommenen und dem Entgegengebrachten zusammen Erkenntnis wird.

Page 144: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

H26 Subjekt und Gbjekt.

An dieser Stelle macht Goethe noch einen zweiten Einwand, von dem ich nicht genau weiß, was er damit meint. <Lr urteilt nämlich, daß

Kant den Punkt, wo sich Subjekt und Objekt scheidet, zwar scharf, aber nicht ganz richtig sondert (A 25 b).

3« A *68 hören wir, wie „die alte Hauptfrage, wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserem geistigen Dasein beitrage", in den Gesprächen an der Tagesordnung war, wie Goethe sich gern auf die Seite stellen mochte, die demMenschen am meisten «Ehre macht und somit allen Freunden vollen Beifall gab, die

mit Kant behaupten, wenn gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung angehe, so entspringe sie doch nicht eben alle aus der <Lr-fahrung.

Hier ist also schon eine sehr deutliche Brücke von Kants Theorie der Erfahrung zu dem Aufsatz über den versuch. <Es schließt sich nun in diesem Aufsatz vieles an, was unter dem Motto zusammengefaßt werden konnte: man muß das Ich, welches urteilt, von der beurteilten Sache unterscheiden — mancherlei Warnungen vor dieser Verwechslung.

Alle Übeln (Eigenschaften des Menschen „lauern wie an einem Passe, um ihn zu überfallen" und ihn zu vor-eiligen Schlüssen zu verleiten, wenn er die (subjektive) «Erfahrung in (objektives) Urteil verwandeln will. Der Mensch erfreut sich an einer Sache nur, sofern sie in seine Sinnesart paßt, er bringt die Gegenstände in ein ver-

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§ 33. Der versuch als Vermittler. \27

hältnis, das sie untereinander nicht haben, und die Theorien, Systeme und Terminologien „entspringen notwendig aus der (Organisation seines Wesens".

Das sind im großen Ganzen „kritische" Gedanken, wie sie im vorigen Kapitel besprochen wurden.

Man kann den Aufsatz aber weiters als Goethes ersten versuch werten, sich mit dem durch Schiller ihm aufgedrungenen Problem auseinanderzusetzen, wie sich Idee und Erfahrung zu einander verhalten (vgl. §§ \2 u. 66). Der Titel könnte auch lauten: Der Versuch als Vermittler zwischen Idee und Erfahrung.

Schließlich gibt es noch eine dritte Brücke zwischen Goethes Aufsatz und der vcrnunftkritik. Auf diese führte mich die freilich erst 20 )ahre später geschriebene Reminiszenz A ^2:

Jene Vorstellungsart (Subjekt, Gbjekt und Vermittlung) wurde auf die Physik angewandt, das Subjekt in genauer Erwägung seiner auffassenden und erkennenden (Organe, das Gbjekt als ein allenfalls Erkennbares gegenüber, die Erscheinung, durch versuche wiederholt und vermannigfacht, in der Mitte... Es entstand, was man schon längst «ine Anfrage an die Natur genannt hat, wie denn alles Lr-finden als eine weife Antwort auf eine vernünftige Frage angesehen werden kann.

Die Wendung von der „Anfrage an die Natur" er-innerte mich an die Vorrede der Vernunftkritik, von der ja Goethe berichtet, daß sie ihm gleich gefiel, und als ich den betreffenden Passus aufmerksam las, fand ich, daß da Kant eigentlich selber den versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Gbjekt anpreist.

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Subjekt und Gbjekt.

Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien in der einen Band, und mit dem Experiment in der andern au die Natur herangehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der (Qualität eines Schülers, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Kragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.

Freilich, Kants Erfindung ist die „Frage an die Natur" nicht. Ich glaube, die töenbung stammt schon von Bacon.

Auf alle Fälle zeigen die Betrachtungen dieses Paragraphen, daß Eckermann schon recht berichtet, wenn er dem Aufsatz über den Versuch mit Kant in Zusammenhang bringt.

)n der oben angezogenen Annalenstelle (A 542) steht dem Subjekt „das Objekt als ein allenfalls Er-kennbares" gegenüber, vielleicht glaubt hierin jemand einen Gegensatz zu Kant erblicken zu müssen, der die Unerkennbarkeit des Objekts lehrt. Diesem Miß-Verständnis vorzubeugen, sei betont, daß das Gbjekt der Sinne auch für Kant durchaus erkennbar ist. (Es ist die — freilich unendliche — Aufgabe der Wissenschaft, es zu erkennen. Erst wenn man das Gbjekt der sinnlichen (Eigenschaften entkleiden und es so haben möchte, wie es „an sich selbst" ist, erst dann hört es auf, erkennbar zu sein. Das heißt, physische Erkenntnis ist immer möglich, nur eben metaphysische nicht. Ähnlich verhält es sich mit jener Unterscheidung zwischen dem urteilenden )ch und der beurteilten Sache. )m Gebiet der gewöhnlichen Alltagswissenschaft kennt man sowohl das 3* als die

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§ ZH, Die Sinne trügen nicht- {2$

Sache. Die Kenntnis der Sache bezeichnet man als Physik, die des )chs als Physiologie oder Psychologie. Sobald man sich aber in die höhere Region der Er­kenntnistheorie begibt, so wird die sonst so gut gekannte Sache zu einer großen Unbekannten, zum Problem. Hat man sich diese Schichtung nicht klar gemacht, so können die Ausdrücke Subjekt, Gbjekt, (Erfahrung, Er­kenntnis, Phänomen usw. tausenderlei Verwirrung stiften, lvir kommen noch in den folgenden Paragraphen darauf zurück. Auch Kant selbst ist erst allmählich zur Klarheit vorgedrungen. )n seiner Dissertation von V70 formt er den Satz:

Die Sinne stellen uns die Gegenstände dar, wie sie erscheinen, der verstand aber, wie sie sind.

Zehn Jahre später, in Rv. kommentiert er: Wenn wir sagen, die Sinne stellen uns ufm. — so ist das nicht in

transzendentaler, sondern in empirischer Bedeutung zu nehmen-

Von der transzendentalen Beziehung zwischen Er-scheinen und Sein handelt das dritte Kapitel. )n diesem hier reden wir von der empirischen.

§ 3*.

„Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt", ein kantischer Satz.

„ Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt."

Das ist bekanntlich ein Spruch von Goethe. Und es fehlt nicht an Menschen, die ihn dazu gebrauchen, die

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130 Subjekt und Gbjekt,

unüberbrückbaren Klüfte zwischen der Weltanschauung Goethes und der Kants in Helles Licht zu setzen. Da habt ihr es — der heitere Grieche, der frohe Sinnenmensch, er protestiert gegen den nüchternen Rationalismus Kants, er wehrt sich gegen eine Weltanschauung, die die ganze bunte Farbenwelt zur trügerischen Erscheinung Herabdrücken möchte. So habe ich es da und dort gelesen und gehört. Die Gesichter der Herrschaften, die so denken, möchte ich gerne sehen, wenn sie nun erfahren, daß dieser Satz fast wörtlich in RV. zu finden ist und daß ihn auch Goethe, wie sein Bleistiftstrich bekundet, dort gefunden hat.

Ich will nicht behaupten, daß Goethe ihn nur dort gefunden haben kann. Der Gedanke ist nicht so originell, nicht so fernliegend, daß er nicht schon vielen Denkern gekommen wäre. )ch glaube mich zu erinnern, daß er mir sogar bei dem ausgepichten Skeptiker Sextus Empiricus einmal auffiel. Und Goethe konnte ihn auch dem Giordano Bruno entnommen haben, denn dieser sagt (Brunhofer, Goethe-Jahrbuch \88$):

Non ideo visus mentitur, Nam sibi quantum Possibile est, aequis radiis monstrare, reportat Defectus rationis erit.

©b Kant Giordano Bruno gelesen hat, ist mit nicht bekannt. Aber derartige Gedanken machen durch alle Denkergenerationen ihren Weg. Die vielberühmte Zu­sammenstellung des Sternenhimmels und des moralischen Gesetzes stammt von Seneca, der zu Kants kieblings-autoren gehörte. Den gleichen plötzlichen Übergang von

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§ 3$. Die Sinne trügen nicht.

den Bahnen der Planeten zum selbständigen Gewissen findet man aber auch in dein Gedicht „Vermächtnis", und in der nächsten Strophe folgt der hier einschlägige Satz:

Den Sinnen hast du bann zu trauen,

Nichts falsches lassen sie dich schauen, Wenn dein verstand dich wach erhält.

Das „Vermächtnis" ist übrigens *829 entstanden, stammt also nicht aus der Zeit, wo Goethe (A sich Mühe gab,

das gediegene Gold und Silber aus der Masse jener so ungleich begabten Lrzgänge (des Jordanus Brunus) auszuscheiden und unter den Kammer zu bringen.

Ich weiß nicht, wen Goethe damit meint, wenn er dem Spruch einmal die Worte zusetzt „hat man längst gesagt". 3ch weiß nur, daß er sich den Satz in dem Kapitel „vom transzendentalen Schein" angestrichen hat und daß er somit nicht zu den Menschen gehört haben kann, die in dieser Sentenz einen Gegensatz zu Kotnt erblicken*).

Der Gedankengang in Rv. ist folgender: Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, sofern er an­

geschaut wird, sondern im Urteil übet ihn, sofern er gedacht wird. Man kann also zwar richtig sagen, daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen.

*) Zusatz bei der Korrektur: Ich habe inzwischen doch einen Anhaltepunkt dafür gefunden,

daß Goethes Spruch sich unmittelbar auf Kant zu beziehen scheint. €r steht nämlich nach Hecker S. 385 f auf dem gleichen Blatt wie die Äußerungen über die Kritik der Sinne und des Menschenverstandes, die Kant ausdrücklich mit Namen nennen, und alle diese Aussprüche

stammen aus dem gleichen Jahr H.829-

9*

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\32 Subjekt und Objekt.

Aber auch der verstand für sich allein würde nicht irren können, denn wenn er bloß nach seinen eigenen Gesetzen handelt, so muß auch das Resultat, das Urteil, mit diesen Gesetzen übereinstimmen, und das eben ist es, was wir formal als Wahrheit bezeichnen.

Der Irrtum kann nur dadurch zustande kommen, daß die Sinnlich-keit unbemerkt auf den Verstand einwirkt, lvie ein bewegter Körper

unter dem Einfluß zweier Kräfte eine krumme Bahn beschreiben mag, so ist auch das irrige Urteil die Resultierende aus zwei verschieden ge-richteten Komponenten: verstand und Sinnlichkeit. Aufgabe der Kritik ist es, diese zusammengesetzte Wirkung aufzulösen und jeder Vorstellung ihre Stelle in der ihr angemessenen «Erfenntnisfraft anzu­weisen.

)n protegomerta § \3, Anmerkung III kommt Kant auf die Frage zurück und gibt ein spezielles Beispiel.

Den Gang der Planeten stellen uns die Sinne bald rechtläufig bald rückläufig vor, und hierin ist weder Falschheit noch Wahrheit, so lange man sich bescheidet, das bloß als (subjektive) Erscheinung zu nehmen, ohne über die objektive Beschaffenheit der Bewegung zu urteilen, lvird aber das Subjektive für objektiv gehalten, bann entsteht das falsche Urteil. Aus diesem Grunde sagt man „die platteten scheinen zurückzugehen". Allein der Schein kommt nicht auf Rechnung der Sinne, sondern des Verstandes, dem es allein zukommt, aus der angeschauten Erscheinung ein objektives Urteil zu fällen.

Kants System kämpft gegen jene Erkenntnistheorie, die den Sinnen nur eine „verworrene Erkenntnis" zubilligen, das ZVesen der Verstandesvorstellungen in der Deutlichkeit, das der sinnlichen in dem Mangel an Deutlichkeit sehen wollte. Anstelle dieses bloß formalen Unterschiedes will Kant einen realen setzen. Disees ist der Sinn der von fjamanti und feinen Nachfolgern so gründlich mißverstandenen Zwei-

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§ 35. Kants Apologie der Sinnlichkeit. \33

teilung in Verstand und Sinnlichkeit. Nach Kant ist die Sinnlichkeit nicht bloß eine rohe verworrene Vorstufe für den verstand, sondern sie ist von eigenem Geschlecht. Und auf die Frage: wozu die gewaltsame Trennung? könnte Kant antworten: damit die Sinnlichkeit zu ihrem Recht kommt. 3n einem Werk, welches Goethe nach-weislich gelesen hat, in der Anthropologie, hat er geradezu eine ausführliche „Apologie der Sinnlichkeit" geliefert. Ls ist jammerschade, daß Goethe das Buch nur ausgeliehen hatte, sonst würde es von Bleistiftstrichen wimmeln. Wir wissen nur (aus A mo), daß er neben vielem, was ihn abstieß, allerlei „Vortreffliches, Scharf-sinniges, Köstliches, worin unser alter Lehrer sich immer gleich bleibt", in dem ZVerk gefunden hat. Die formelle Verteidigung der Sinnlichkeit gegen drei verleumderische Anklagen gehört gewiß zu dem Köstlichsten.

§ 35.

Kants Apologie der Sinnlichkeit.

Dem verstände bezeigt jedermann alle Achtung, wie auch seine Benennung als „oberes Erkenntnisvermögen" es schon anzeigt. ZVer ihn lobpreisen wollte, würde mit dem Spott jenes das Lob der Tugend erhebenden Redners abgefertigt werden: stulte! quis unquam vitu-

peravit! Aber die Sinnlichkeit ist in üblem Ruf. Man sagt ihr viel Schlimmes nach, z. 23.:

V daß sie die Vorstellungskraft verwirre,

2. daß sie das große Wort führe und als Herrscherin, da sie doch nur die Dienerin des Verstandes sein sollte, halsstarrig und schwer zu bändigen sei,

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Subjekt und (Dbjeft.

5. daß sie sogar betrüge und man in Ansehung ihrer nicht genug

auf seiner £?ut sein könne.

Anderseits aber fehlt es ihr auch nicht an Lobrednern, vornehmlich

unter Dichtern und Leuten von Geschmack, welche die versinnlichung

der Verstandesbegriffe als Verdienst Hochpreisen, Wir brauchen hier keine panegyristen, wohl aber Advokaten gegen die Ankläger.

Das passive in der Sinnlichkeit ist eigentlich die Ursache alles des

fibels, welches man ihr nachsagt. Die innere Vollkommenheit des

Menschen besteht darin, daß er den Gebrauch aller seiner vermögen

in seiner Gewalt habe, um ihn seinem freien Willen zu unterwerfen.

Dazu aber wird erfordert, daß der verstand herrsche, nicht die Sinnlich-

feit, die ja doch bloß Pöbel ist, weil sie nicht denkt.

Rechtfertigung der Sinnlichkeit gegen die erste Anklage.

Die Sinne verwirren nicht.

Dem, der ein gegebenes Mannigfaltiges zwar aufgefaßt, aber noch

nicht geordnet hat, kann man nicht nachsagen, daß er es verwirre. (Erst

der verstand, der die Wahrnehmungen der Sinne unter einer Denkregel

verbindet, bringt Ordnung in das Mannigfaltige, macht daraus Lr-

fahrung. (Es liegt also an dem seine (Obliegenheiten vernachlässigenden

verstände, wenn er keck urteilt, ohne zuvor die Sinnesvorstellung nach

Begriffen geordnet zu haben, und sich nachher über die Verwirrung

beschwert, die angeblich die sinnlich geartete Natur des Menschen an-

gerichtet haben müsse. Die sinnlichen Vorstellungen kommen freilich

denen des Verstandes zuvor, drängen sich massenweise herzu, und da

bringen sie oft den verstand in Verlegenheit, wenn er sich in Rede-

kunst und Dichtkunst einer Masse von fertigen Geistesprodukten gegen-

übersieht und sich nun alle Akte der Reflexion deutlich machen und aus­

einanderlegen soll, die er sonst nur im Dunkeln anstellt. Aber darin

liegt keine Schuld, sondern vielmehr ein Verdienst der Sinnlichkeit, daß

sie dem verstand so reichhaltigen Stoff darbiete.

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§ 55. Kants Apologie der Sinnlichkeit. *35

Rechtfertigung der Sinnlichkeit gegen die zweite Anklage.

Die Sinne gebieten nicht über den verstand.

Sie bieten sich vielmehr nur dem verstände an, er möge über ihren Dienst disponieren. Daß sie ihre Wichtigkeit nicht verkannt wissen wollen, die ihnen vornehmlich in dem zukommt, was man den gemeinen Menschensinn (sensus communis) nennt, das kann ihnen nicht als An-maßung, über den verstand herrschen zu wollen, zugerechnet werden. Zwar pflegt man unter Sinnsprüchen solche zu verstehen, die man nicht förmlich vor den Richterstuhl des Verstandes zieht, die daher un-mittelbar durch den Sinn diktiert zu sein scheinen. Dahin gehören auch orakelmäßige Anwandlungen wie die, die Sokrates feinem Genius zuschrieb. Ls wird dabei vorausgesetzt, daß das erste Urteil darüber, was in einem bestimmten Lall zu tun recht und weise ist, gemeiniglich auch das richtige sei und es durch Nachgrübeln erst verkünstelt werde Aber tatsächlich kommen solche (Drakel gar nicht aus den Sinnen, sondern aus dunkeln Überlegungen des Verstandes. Die Sinne machen darauf keinen Anspruch. Sie sind wie das gemeine Volk, welches — wenn es nicht Pöbel (ignobile vulgus) ist — zwar gehört werden will, aber sich feinem ©betn, dem verstände doch gern unterwirft.

Rechtfertigung der Sinnlichkeit gegen die dritte Anklage.

Die Sinne betrügen nicht.

Dieser Satz ist die Ablehnung des wichtigsten, aber genau genommen auch nichtigsten Vorwurfs, den man den Sinnen macht, und zwar nicht darum, weil die Sinne immer richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen, weshalb der Irrtum immer nur dem verstand zur Tast fällt.

Diesem vorwurf freilich gereicht der Sinnenfchein zwar nicht zur Recht­fertigung, aber doch zur Entschuldigung. Der Mensch kommt öfters in den Fall, das Subjektive seiner Vorstellungsart für das (Objektive zu halten. Den entfernten Turm, an dem er keine (Ecken sieht, nimmt er

für rund, das Meer, dessen entfernter Teil ihm durch höhere Licht­strahlen ins Auge fällt, nimmt er für höher als das Ufer, — und so

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*36 Subjekt und Gbjekt.

wird Erscheinung für Erfahrung gehalten, aber dieser Irrtum ist ein Kehler des Verstandes, nicht der Sinne.

Ein Tadel, den die Logik der Sinnlichkeit entgegenhält, ist der, daß man ihrem Erkenntnis Leichtigkeit vorwirft, Individualität, Ein-schränkung auf das Einzelne. Dafür aber trifft wieder den verstand, der aufs Allgemeine geht und sich eben darum zu Abstraktionen be-quemen muß, der Vorwurf der Trockenheit. Die ästhetische Be-Handlung, die vor allem populär sein soll, schlägt den lvea ein, auf dem beiden Fehlern cmsgewichen werden kann.

Man sieht, Kant hat sich wirklich ungewöhnlich große HTühe gegeben, zu beweisen, daß die Sinne nicht trügen.

Unter Goethes Glossen zu seiner Kant-Lektüre findet sich auch eine (Ä25 b), die sich gegen RV. p. u richtet, wo Katti definiert:

Zvenn ich sage, alle Körper sind ausgedehnt, so ist das ein ana­lytisches Urteil, denn ich brauche nicht über den Begriff, den ich mit dem Wort Körper verbinde, hinauszugehen. Dagegen wenn ich sage: alle Körper sind schwer, so ist das Prädikat etwas ganz anderes als was ich im Begriff eines Körpers überhaupt denke. Das ist also ein synthetisches erweiterndes Urteil.

Diese Behauptung erregt ziemlich allgemeinen Protest, und auch Goethe stutzt. Eigentlich gehören doch, meint er, Ausdehnung und Schwere gleich notwendig zum Körper, nur werde die Ausdehnung früher erkannt, weil das Auge früher ist als das Gefühl.

Diese Betrachtung findet nun wieder ein Schrift­steller charakteristisch für Goethes „Sinnlichkeit". Aber die Aufklärung, die Kant gibt, ist nicht um ein Haar weniger „sinnlich". (Er sagt nämlich in lN. A. (Anm. zu

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§ 56. Erscheinung und Schein. \37

Lehrsatz 5 der Dynamik), u>o er von der Abstoßung auf die Anziehung übergeht:

Bet diesem Übergang von einer Eigenschaft der Materie zu einer

andern, die zum Begriff der Materie ebensowohl gehört, obgleich in

ihm nicht enthalten ist, muß das Verhalten unseres Verstandes in nähere Erwägung gezogen werden, lvenn Anziehungskraft zur Mög-

lichkeit der Materie erfordert wird, warum bedienen wir utts ihrer nicht

ebensowohl als der Undurchdringlichkeit als Kennzeichen? warum

wird die letztere unmittelbar mit dem Begriff einer Materie gegeben,

die erstere aber mir durch Schlüsse hinzugefügt? Daß unsere Sinne uns

die Anziehung nicht so unmittelbar wahrnehmen lassen wie den Wider-

stand, genügt nicht. Wenn wir auch ein solches Vermögen hätten,

würde unser Verstand trotzdem die Raumerfüllung oder Solidität als

Kennzeichen wählen. Denn die Anziehung würde uns nichts offenbaren^

als nur unser Bestreben, sich dem Mittelpunkt des Körpers zu nähern.

Dadurch aber bekommen wir keinen bestimmten Begriff von irgend

einem Gbjekt im Raum, da weder Gestalt noch Größe, ja nicht einmal

der genaue ®rt, wo es sich befände, in unsere Sinne fallen kann. Darum

wird die Raumerfüllung, welche vermittels des Gefühlssinnes uns

den Begriff von etwas Ausgedehntem verschafft, allem übrigen zu-gründe gelegt.

Man sieht also, die Frage, was in einem Begriff enthalten ist und was bloß zu ihm gehört, wird bei Rant genau so physiologisch oder psychologisch behandelt wie in dem Goetheschen Gnwurf.

§ 36.

Erscheinung und Schein.

Bei Aant steht die Auslegung des Satzes „Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt" in innigem und unlösbarem

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H38 Subjekt und ©bjeft.

Aonnex mit der Unterscheidung von Erscheinung und Schein, die ihm sehr am Herzen lag, weil er sich beständig gegen die Unterstellung zu wehren hatte, als ob durch die Idealität von Raum und Zeit die ganze Sinnenwelt in lauter Schein verwandelt werde.

Wenn ich sage: ich erkenne mich durch innere Erfahrung nur wie ich mir erscheine, so wird dieser Latz oft böswillig so verdreht, als ob er sagen wolle: es scheine mir nur, daß ich gewisse Vorstellungen habe, ja überhaupt daß ich existiere. Anthropologie § ?.

3n HO. § 8 sagt Kant:

W h unterscheiden sonst wohl unter Erscheinungen das, was ihrer Anschauung wesentlich anhängt und für jeden menschlichen Sinn überhaupt gilt, von dem, was ihr nur zufälligerweise zukommt, indem es nur für eine besondere Stellung oder für eine besondere (Organisation dieses ober jenes Sinns gültig ist. Und da nennt man denn die erste Erkenntnis eine solche, die den Gegenstand an sich selbst darstellt, und die zweite deffen Erscheinung. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß diese empirischen „Dinge an sich" ihrerseits auch Er­scheinungen sind, und daß wir es in der gesamten Sinnenwelt bis zu ihrer tiefsten Erforschung nie mit etwas anderem zu tun haben. So sönnen wir bei einem Sonnenregen den Regenbogen eine bloße Er­

scheinung und den Regen eine Sache an sich selbst nennen. Das ist richtig, solange wir diesen Begriff nur physisch verstehen, als das, was in der allgemeinen Erfahrung unter allen verschiedenen Tagen zu den Sinnen doch in der Anschauung so und nicht anders bestimmt ist. Fragen wir aber, ob das Empirische, abgesehen von der Übereinstimmung mit jedem Menschensinn, überhaupt einen Gegenstand an sich vorstelle, so werden nicht allein die Regentropfen bloße Erscheinungen, sondern auch ihre runde Gestalt, ja sogar der Raum, in welchem sie fallen, sind nichts an sich selbst, sondern bloße Modifikationen unserer sinnlichen Anschauung.

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§ 36. Erscheinung und Schein. 159

Kant arbeitet hier mit erfreulicher Klarheit den Unter-schied der beiden „Ansichs", des physischen und des meta» physischen heraus. Wie wenig überflüssig das ist, wie leicht der populäre Gebrauch des lvortes „an sich" zu einer Lalle für unklare Köpfe wird, dafür liefert ein sehr ergötzliches Beispiel Rudolf Steiner in seinem Kürschner-Goethe. Goethes Aufsatz A 30 fängt mit der Betrachtung an, daß der Mensch in der Regel die Gegenstände mit bezug auf sich betrachte, ob sie ihm nutzen oder schaden.

<2ht weit schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren Lrkenntnistrieb die Gegenstände an sich selbst und in ihren verhält-nifsen untereinander zu betrachten strebt.

hierzu macht der philosophische Herausgeber die tief-sinnige Anmerkung:

Hier zeigt sich, wie Goethes Weltanschauung gerade der ent-gegengesetzte pol der Rantischen ist. Für Kant gibt es überhaupt keine Ansicht über die Dinge, wie sie an sich selbst sind, sondern nur, wie sie inbezug auf uns erscheinen.

Besonders komisch ist das «ZZuidproquo darum, weil die Stelle in UKr. § 63, an die Goethe hier anknüpft, die „Zweckmäßigkeit der Dinge an sich selbst" von der bloß relativen in bezug auf andere Lebewesen unter-scheidet, demnach auch Kant mit sich selber in polaren Gegensatz gerät, (vgl. § 94..)

Kant fahrt nun in Rv. § 8 weiter fort: 3« der Erscheinung werden alle (Objekte und alle Beschaffen­

heiten, die wir ihnen beilegen, als etwas wirklich Gegebenes ange-sehen. Ich sage nicht: die Körper scheinen außer mit, meine Seele

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Subjekt und Vbjekt.

scheint mir im Selbstbewußtsein gegeben zu fein. Es wäre meine eigene Schuld, wenn ich aus der Erscheinung bloßen Schein machte. Was jederzeit im Verhältnis des Vbjekts zum Subjekt anzutreffen ist, das ist (Erscheinung, und so werden die Prädikate des Raumes und der Zeit mit Recht den Gegenständen der Sinne als solchen beigelegt, und hierin ist kein Schein. Die rote Farbe der Rose ober ihr Geruch sind Erscheinung. Schein aber entsteht erst dann, wenn ich das, was dem Verhältnis nur mit Bezug auf unseren Sinn zukommt, ihm selbst als unabhängig von meinem Sinn beilege. Wenn ich dem Saturn zwei Henkel, der Rose an sich Farbe und Geruch oder allen äußeren Gegen-ständen an sich die Ausdehnung beilege, ohne auf ihr Verhältnis zum Subjekt zu sehen und das Urteil darauf einzuschränken, dann erst ent­springt der Schein.

Noch energischer verteidigt sich Kant in prol. § [3, Anm. III:

Zuvörderst hat man alles damit verdorben, daß man sagte: wir kennen mit den Sinnen die Dinge zwar so, wie sie an sich sind, aber nur verworren. Ich habe bewiesen, daß die Sinneserkenntnis sich nicht durch diesen logischen Unterschied der Klarheit ober Dunkelheit vom verstand unterscheidet, sondern genetisch durch ihren Ursprung, daß aber durch sie nicht die Sachen selbst, sondern bloß Erscheinungen dem verstand zur Reflexion übergeben werden. Der Einwurf: dann wäre ja alles in der Sinnenwelt lauter Schein l ist eine unverzeihliche, und beinahe vorsätzliche Mißdeutung. Wenn uns eine (Erscheinung gegeben ist, so steht es uns noch ganz frei, wie wir sie beurteilen wollen. Der Unterschied zwischen Wahrheit und Traum liegt nicht in der Beschaffen-heit der Vorstellungen, sondern darin, ob sie in einer (Erfahrung mit­sammen bestehen können ober nicht. Ihre Verknüpfung in Raum und Zeit nach den Regeln der Erfahrung geht bloß den Gebrauch der Sinnenvorstellungen an, über ihren Ursprung brauchen wir dabei

gar nicht nachzudenken. Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Schein hat also mit meiner speziellen kehre gar nichts zu tun ... Auch die Sätze der Geometrie müssen gelten, ob ich nun den Raum als eine

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§ 37. Das empirische und das reine Phänomen. im

bloße Form der Sinnlichkeit ansehe oder als etwas den Gbjekten selbst

Anhaftendes. lvage ich es aber, mit meinen Begriffen von Raum und Zeit über

alle mögliche Erfahrung hinauszugehen, dann freilich kann ein wichtiger Irrtum entspringen, der auf einem Schein beruht, indem ich, was bloß für mein Subjekt gilt, für unabhängig von, Subjekt gültig ausgebe.

(Es folgt bann ein geharnischter Protest gegen die, welche, am Buchstaben hängend, immer gern einen alten Namen haben wollen, und ihm darum „Idealismus" vorwerfen, — d. h. feinen „transzendentalen Idealis­mus" mit dem empirischen des Des Cartes oder gar mit dem mystisch-schwärmerischen des Berkeley zusammen-werfen, während doch gerade die Kritik gegen alle solche Hirngespinste und gegen jeden Zweifel an der Realität der Außenwelt das eigentliche Gegenmittel enthalte. Daß Sachen existieren, das habe er niemals bezweifelt, er behaupte bloß, daß die Erscheinungen nicht diese Sachen selbst sind, sondern bloße Vorstellungsarten.

§ 37.

Das empirische und das reine Phänomen.

Mr haben in den letzten Paragraphen beständig mit einer zwiefachen Schichtung von Begriffen zu tun gehabt.

Die Erfahrung ist nur die Hälfte der Erfahrung, die (Erkenntnis die Hälfte der Erkenntnis; was von einem Gesichtspunkt „subjektiv" genannt wird, ist vom anderen objektiv, das empirische „an sich" ist transzendental Erscheinung, und so muß man also auch zweierlei Er­

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Subjekt und (Dbjeft.

scheinungen oder Phänomene befmieten, die einen bent empirischen Ansich, dem wissenschaftlichen Gegen­stand gegenübergestellt, die andern dem metaphysischen Ansich, dem „transzendentalen Gegenstand".

Kant hat an dem Beispiel vom Regenbogen den Unterschied präzis herausgearbeitet, hält ihn aber leider praktisch nicht immer auseinander, sondern gebraucht das Wort „(Erscheinung" bald im empirischen, bald im trans-szendentalen Sinn. So könnte man das Zitat über die Planetenbewegung leicht mißdeuten.

Goethe hat über die Stufenfolge der Phänomene einen eigenen kleinen Aufsatz geschrieben (A 93). <Er unterscheidet:

V das empirische Phänomen, das jeder Mensch in der Natur gewahr wird, das von der Geistesstimmung, von der Stimmung des Organs im Augenblick abhängt. Dieses entspricht genau dem, was man nach Kant „sonst wohl unter «Erscheinungen versteht", d. h. „was der Anschauung nur zufälligerweise für eine besondere Stellung, eine besondere Organisation zukommt". (S. \5S.)

2. Das wissenschaftliche Phänomen, das Resultat von versuchen, ist eine hier bedeutungslose Zwischenform.

3. Das reine Phänomen, welches zuletzt als Resultat aller «Erfahrungen und versuche dasteht, und sich in einer stetigen Folge der (Erscheinungen zeigt, entspricht der objektiven (Erscheinung bei Kant, deren Wahrheit sich durch den „Zusammenhang in einer «Erfahrung"

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§ 37. Das empirische und das reine Phänomen, i q.3

dokumentiert. Sehr bemerkenswert, nämlich überraschend kantisch ist der folgende Satz:

Ijiet wäre, wenn der Mensch sich zu bescheiden wüßte, vielleicht das letzte Ziel unserer Kräfte. Denn hier wird nicht nach Ursachen gefragt, sondern nach Bedingungen, unter welchen die Phänomene erscheinen, es wird ihre konsequente £olge, ihr ewiges Wiederkehren unter tausenderlei Umständen angeschaut.

Kant schreibt an Herz *773: Ich suche mehr Phänomene und ihre Gesetze als die ersten

Gründe, wodurch überhaupt eine Modifikation der menschlichen Natur möglich sei. Daher die subtile und in meinen Augen ewig verg ebliche Untersuchung über die Art, wie die Organe des Körpers mit de n Ge­danken in Verbindung stehen, ganz wegfällt.

)n A 7*,2 betont Goethe die Notwendigkeit, alle Vorstellungsarten zusammenzunehmen, keines-

roegs, um die Dinge und ihr Wesen zu ergründen, sondern von den

Phänomenen nur einigermaßen Rechenschaft zu geben.

Die rückläufige Planetenbewegung ist das empirische Phänomen, die elliptische das reine. Schein entsteht auf zweierlei Art: entweder wenn das empirische Phänomen für das reine, oder wenn das reine Phänomen für das Ding „an sich" genommen wird. Das erste ist der ge­wöhnliche Sinnenschein, das zweite der transzendentale Schein.

Und damit verlassen wir die untere Schicht, das Gebiet des empirischen Ansich, und erklimmen die höhere Stufe, wo der ganzen erscheinenden EDelt das trans­cendentale Ansich gegenübergestellt wird, wo das Ringen um die Dinge und ihr Wesen sich abspielt.

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w

Drittes Kapitel.

Die Dinge an sich.

§ 38.

Goethe über die Grenzen der Erkenntnis.

Goethe hat viel und mancherlei gesagt, diese und jene Privatmeinung mag man durch Berufung auf die Autorität seiner Worte zu stützen versuchen. Aber das Kunststück hat noch keiner zustandegebracht, einen Aus-spruch von Goethe aufzutreiben, der sich als Protest gegen die kantischen Lrkenntnisgrenzen interpretieren ließe. Wenn trotzdem dieser Protest dem Dichter gelegent­lich nachgesagt wird, so geschieht das in striktem Wider-sprach mit allen Dokumenten.

Paulus, der Theologe, erzählt (A 23t), Goethe habe oft „wünschend und hoffend" geäußert:

3e mehr matt sich um das Spekulieren über das Übermenschliche trotz aller Warnungen Kants vergeblich abgemüht haben wird, desto vielseitiger wird dereinst der Philosoph zuletzt auf das Mensch-liche, auf das geistig und körperlich Erkennbare der Natur gerichtet, und dadurch eine wahrhaft so zu benennende Naturphilosophie erfaßt werden.

Merket auf! (Eine wahrhaft so zu benennende Natur-Philosophie wird es erst geben, wenn man die Warnungen Kants berücksichtigen wird. Dieser Ausspruch steht nicht vereinzelt. <Ls ergänzt ihn A ^6:

matt solle ein Unerforschliches voraussetzen und zugeben

und A 20V

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§ 38. Goethe über die Grenzen der Erkenntnis. J[$5

<Es gibt in der Natur ein Zugängliches und ein Unzugängliches.

lver die Lrkenntnisgrenzen ablehnt, kann eine solche grundsätzliche Unterscheidung niemals zulassen. Wenn A 200 im Verfolg versichert, man könne, im Zugang-lichen nach allen Seiten gehend, doch hoffen, auch dem Unzugänglichen etwas abzugewinnen, so erinnere ich mich daran, daß auch Kant in UKr. von lvinken der Natur redet, von Ahnungen, erregt durch ihre Schönheit und Zweckmäßigkeit, als ob man auf dem N)eg über diese <Lr-scheinungen doch am Ende ins Übersinnliche vordringen könne. Aber wie Kant muß Goethe doch „zuletzt gestehen, daß die Natur immer etwas problematisches hinter sich behalte". Ulan könnte sagen, Goethe habe sich der These von der Unerkennbarkeit der Welt gegenüber so verhalten, wie ein Kranker, dem der Arzt eine Speise verbietet. Zuzeiten sieht er das verbot ein und fügt sich drein mit Resignation oder mit Heiterkeit. Zu andern Zeiten denkt er: EDer weiß? Vielleicht irrt der Arzt. Unfehlbar ist er auch nicht. Ein kleines bißchen naschen darf ich am Ende doch. Daß Goethes Einteilung der Welt in ein Zugängliches und ein Unzugängliches direkt auf Kant zurückgeht, beweist A 20s: von allen philo-fophen habe Kant

unstreitig am meisten genutzt, da er die Grenzen zog, wie weit

der menschliche Geist zu dringen fähig sei.

Also in Kants Theorie der Grenzen sieht Goethe sogar ein besonderes Verdienst des Philosophen. Ganz kantisch klingt der Brief an Boisser6e A 232:

10

Page 164: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Die Dinge an sich.

3ch habe immer gesucht das möglichst Erkennbare, Zvißbare, Anwendbare zu ergreifen. .., hierdurch bin ich für mich an die Grenz e gelangt, dergestalt, daß ich da anfange zu glauben, wo andere ver­zweifeln, und zwar diejenigen, die vom Erkennen zuviel verlangen, und wenn sie nur ein gewisses dem ItlenschcnSefchiedenes erreichen können, die größten Schätze der Menschheit für nichts achten.

Wiederholt hat Goethe in KP. Stellen angestrichen, die Ahnliches ausdrücken, wo Kant einerseits davor warnt, dem tt>ahn und Blendwerk unerreichbarer Erkenntnisse nachzulaufen, anderseits aber ebenso stark davor warnt, sich der Verzweiflung des Skeptizismus zu überlassen, der „das gewisse dem Menschen Beschiedene" auch noch in Frage stellen möchte. Ich lasse einige dieser von Goethe beachteten Stellen folgen.

Phaenomena und Noumena RV. 297 stellt fest: daß der bloß mit seinem empirischen Gebrauch beschäftigte ver­

stand eines gar nicht leisten könne, nämlich sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen und zu wissen, was innerhalb ober außerhalb seiner Sphäre liegen mag. Kann er aber nicht unterscheiden, ob gewisse Fragen in feinem Horizont liegen ober nicht, so ist er niemals feiner

Ansprüche und feines Besitzes sicher, sondern darf sich nur auf vielfache beschämende Zurechtweisungen Rechnung machen, wenn er die Grenzen feines Gebietes unaufhörlich überschreitet und sich in tüahn und Blend­werke verirrt.

Oder zu Beginn der „Transzendentalen Methoden-lehre" RV. 735:

(Es fand sich, baß, ob wir zwar einen Turm im Sinne hatten, der bis in den Himmel reichen sollte, der Vorrat der Materialien doch nur zu einem Züohnhaus zureichte, welches nur eben geräumig und hoch genug war, um unsere Geschäfte auf der «Ebene der Erfahrung

zu übersehen.

Page 165: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 38. Goethe über die Grenzen der Erkenntnis.

Jetzt ist es uns um den plan zu einem Gebäude zu tun, das dem Vorrat, der uns gegeben und zugleich unserem Bedürfnisse ange-

messen ist.

<2tn Abschnitt heißt: von der Unmöglichkeit einer skeptischen Befriedigung der Vernunft. Darin hat Goethe den Schlußsatz angestrichen:

So ist der Skeptiker der Zuchtmeister des dogmatischen ver-nünftlers und zwingt ihn zu einer gefunden Kritik des Verstandes und der Vernunft selbst, Wenn er dahin gelangt ist, so hat er weiter keine Anfechtungen zu fürchte«; denn er unterscheidet alsdann seinen Besitz von dem, was gänzlich außerhalb desselben liegt, worauf er feine Ansprüche macht und worüber er auch nicht in Streitigkeit verwickelt werden kann. So ist das skeptische Verfahren zwar an sich selbst für die Vernunftfragen nicht befriedigend, aber doch vorubend, um Vorsicht zu erwecken und auf gründliche Mittel zu weisen, die die

Vernunft in ihrem rechtmäßigen Besitz sichern können.

Und im Kanon der reinen Vernunft Rv. 823f.: Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der

reinen Vernunft ist nur negativ, da sie nämlich nicht als ©rgattort zur Erweiterung, sondern nur als Disziplin zur Grenzbestimmung dient, und anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irr­tümer zu verhüten. Indessen muß es doch irgendwo einen (Quell von positiven Erkenntnissen geben, welche in das Gebiet der reinen Vernunft

gehören. Welcher Ursache sollte sonst wohl die nicht zu dämpfende Be-gierde, durchaus über die Grenze der «Erfahrung hinaus irgendwo

festen £uß zu fassen, zuzuschreiben fein? Sie ahnt Gegenstände, die ein großes Interesse für sie haben. Sie tritt den tDeg der bloßen Spekulation an, am sich ihnen zu nähern, aber diese fliehen vor ihr. vermutlich wird auf dem einzigen Wege, der ihr noch übrig ist, den des praktischen

Gebrauchs besseres Glück für sie zu hoffen sein.

Das heißt ungefähr, in kantischer Sprache gesprochen, dort glauben, wo andere verzweifeln.

10*

Page 166: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

XHe Dinge an sich.

Noch ein letztes Zitat zum vergleich mit dem oben zitierten Brief A 232.

Lin völliger Überschlag seines ganzen Vermögens und die daraus entspringende Überzeugung der Gewißheit eines kleinen Besitzes, bei der Eitelkeit höherer Ansprüche, hebt allen Streit auf und bewegt (den Menschen), sich an einem eingeschränkten, aber inv strittigen (Eigentum friedfertig zu begnügen. <RV. ?ys).

Die Gesinnung, die dieser letzte kantische Satz aus-spricht, ist geradezu charakteristisch für —Goethe. Mit Recht betont (Ernst BartI)eis*) Goethes Überzeugung von dem beschränkten, aber ausreichenden Wert der menschlichen Erkenntnis. Aber völlig unverständlich ist es, wie der gleiche Schriftsteller unmittelbar danach fortfahren kann:

3« Goethes intuitiver Denkart spricht sich eine gewisse Ablehnung der Kantischen Lehre von den Lrkenntnisgrenzen aus.

Wo hätte Goethe sich je gerühmt, daß er einen direkten Zugang zum „Wesen der Dinge" habe?

Kants unermüdliche kehre und predigt, daß mit den Sinnen alle Wissenschaft anfange, aber mit den Sinnen auch alle Wissenschaft aufhöre, konnte dem Manne keine Pein bereiten, der schon in der )ugend ge­schrieben hatte:

„3ch bin auch aus der Wahrheit, aber aus der Wahrheit der fünf Sinne."

Kants Überzeugung, daß die Welt unseres Wissens zusammenfalle mit der Welt der Phänomene, formte dem Mann nicht widerwärtig sein, der geschrieben hat:

*) Goethes Xüiffenfchaftslehre.

Page 167: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 39- Grenzen und Schranken.

daß wir innerhalb der abgeleiteten Erscheinungen leben und nicht wissen, wie wir zur Urfrage kommen sollen (Wecker \208), daß wir das Wahre, das Göttliche nie direkt erkennen können, sondern nur imAbglanz, daß man alle Vorstellungsarten zusammennehmen müsse, nicht etwa, um die Dinge und ihr !vesen zu ergründen, sondern um sich von den Phänomenen nur einigermaßen Rechen­schaft abzulegen, daß die Phänomene selbst die Lehre sind und man hinter ihnen nichts suchen solle, daß ein Unerforschliches zugegeben und vorausgesetzt werden müsse.

Und nimmt man zu diesen an sich selbst schon genügend starken Dokumenten noch hinzu, daß Goethe ausdrücklich Kant darum preist, weil er die Grenzen zog, bis wohin der menschliche Geist zu dringen fähig ist, so weiß ich nicht, woher man noch Mut und Möglichkeit nehmen will, in diesem Punkt einen Gegensatz zu konstruieren.

§ 59.

Grenzen und Schranken.

Ich sagte schon, daß Kant sich die größte Mühe gibt, in dem nach Erkenntnis Suchenden eine skeptische und pessimistische Stimmung nicht auskommen zu lassen. Der berühmte Brief des jungen Kleist und andere weniger erschütternde Zeugnisse würden mich freilich widerlegen, wenn ich behaupten wollte, daß ihm sein vorhaben ge­lungen sei. Aber ich spreche jetzt von dem, was er wollte.

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150 Die Dinge an sich.

Gelegentlich vergleicht er seine Leistung mit betn Beweis von der Unmöglichkeit der Quadratur des Zirkels. )st die grundsätzliche Unlösbarkeit einer Aufgabe erkannt, dann ist kein Raum mehr für Verzweiflung. So taugt es nichts, wenn wir

über die engen Schranken unserer Vernunft Klagen erheben, wenn wir mit dem Scheine einer demutsvollen Selbsterkenntnis be-kennen, es sei über unsere Vernunft auszumachen, ob die Erde von Ewigkeit her sei usw " (HD. S. 509.)

Denn es handelt sich nicht um Schranken, sondern um Grenzen. (HD. 78? u. 790.)

Wenn ich mir die Erdfläche als einen Teller vorstelle, so kann ich nicht wissen, wie weit sie sich erstrecke. Aber das lehrt mich die Erfahrung, daß wohin ich nur komme, ich immer einen Raum um mich sehe, wo ich weiter fortgehen könnte. Mithin erkenne ich Schranken meiner jedesmal wirklichen Erdkunde, aber nicht die Grenze aller möglichen Erdbeschreibung.

Unsere Vernunft ist nicht eine unbestimmbar weit ausgebreitete Ebene, beten Schranken man nur so überhaupt erkennt, sondern sie muß mit einer Sphäre verglichen werden, bei der aus der Krümmung des Bogens auf der Oberfläche der Halbmesser, daraus aber auch Inhalt und Begrenzung berechnet werden kann. Außerhalb dieser Sphäre, dem Leide der Erfahrung ist nichts für uns Gbjekt, ja selbst Fragen über dergleichen vermeintliche Gegenstände betreffen nur subjektive Prinzipien.

(Ein Goethe-Strich begleitet diese Betrachtung. )hr Schluß erinnert an den Spruch (Hecker \208):

lvir leben innerhalb der abgeleiteten Erscheinungen und wissen, keineswegs, wie mir zur Urfrage kommen sollen.

)n prol. § 57 lesen wir:

Page 169: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ zy> Grenzen und Schranken. H 5 t

Grenzen bei ausgedehnten Wesen setzen immer einen Raum voraus, der außerhalb einem bestimmten Platze liegt und ihn ein-schließt; Schranken bedürfen dergleichen nicht, sondern sind bloße ver-nevmmgen der Vollständigkeit.

3n der Mathematik und Naturwissenschaft erkennt die menschliche Vernunft zwar Schranken, aber keine Grenzen, das heißt sie kann nicht erkennen, daß sie in ihrem Fortgang irgendwo vollendet sein werbe. Die Erweiterung der (Einsichten geht hier ins Unendliche.

Dem „berühmten David £}ume, 5cm geistreichsten

unter allen Skeptikern" wirft Kant vor (KP. 792), er sei

einer jener Geographen der menschlichen Vernunft, welcher gewisse Fragen außerhalb ihres Horizonts verwies, ohne aber doch diesen Horizont genau bestimmen zu können, welcher also unseren verstand bloß einschränkte, ohne ihn zu begrenzen und dadurch ein allgemeines Mißtrauen, aber keine bestimmte Kenntnis bet unvermeidlichen Unwissenheit zustande brachte.

Diese Unterscheidung hat sich bei Goethe in dem

Spruch (Wecker 577) niedergeschlagen:

lvenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornierten Individuums.

Man steht hier deutlich, daß das Urphänomen — ab­

gesehen von seinem Gefühlsgehalt — ein Begriff ist, der

sich leicht dem Kantischen System einfügen läßt.

Soweit die Phänomene reichen, gibt es nur Schranken,

wo die Phänomene aufhören, liegen die Grenzen der

Menschheit, lvas hinter ihnen steht, das ist „das Göttliche",

das heißt ein für unsere wissenschaftliche Methodik nicht

mehr Erreichbares.

Page 170: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

*52 Die Dinge an sich.

§ *0.

Goethes Brief an Christian Schlosser.

Ls gibt zwei einander diametral entgegengesetzte

Standpunkte, von denen aus man das Bestehen eines

unerkennbaren Ansich leugnen kann, einen meta­

physischen und einen antimetaphysischen.

Den letzteren vertritt zum Beispiel Mach. Er sagt: ZVas uns allein interessieren kann, ist die funktionale Abhängigkeit

(im mathematischen 5hm) der (Elemente voneinander. Man mag diesen Zusammenhang der Elemente immerhin ein Ding nennen, er ist aber kein unerkennbares Ding. Mit jeder Naturbeobachtung, mit jedem naturwissenschaftlichen Satz schreitet die Erkenntnis dieses Dinges vor.

Gewiß, wir werden das von Kant demnächst hören: Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung

der Erscheinungen und kein Mensch kann wissen, wie weit dieses noch gehen werde. (Rv. 33<.)

Aber was sind die Machischen „(Elemente" ? <£s sind neutrale, indifferente, gleichartige Bestandteile, die an sich weder

physisch noch psychisch sind, und erst durch die besondere Art der Ab-Hängigkeit, die wir in Betracht ziehen, das eine oder das andere werden.

Ls ist bezeichnend, daß Mach es nicht vermeiden

kann, hier das lvort „an sich" zu gebrauchen, womit

bereits zugegeben ist, daß das, was wir erkennen, nämlich

das physische oder psychische, nicht jenes Ansich ist. Die

andere Front gegen die Unerkennbarkeit der Welt an sich

bilden diejenigen, die dem Menschen ein besonderes Organ

zuschreiben, wodurch er unmittelbar mit den Untergründen

der Erscheinungen in Kontakt steht. Diese Klasse von Anti-

Page 171: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ HO. Goethes Schlosserbrief. \55

kantianern beruft sich gerne auf Goethe als ihren Schutz-

patron. Darum ist es ein besonders glücklicher Zufall,

daß einer von dessen Korrespondenten, Dr. Christian

Schlosser, eine Ähnliche Theorie vertreten zu haben

scheint, so daß Goethe sich aufgerufen fühlt, sie in aller

Form abzulehnen. Dieses „Glaubensbekenntnis" (A ^57)

ist weniger bekannt geworden, als es verdient. €s beginnt

mit einer Variante des Spruchs „Alles was im Subjekt

ist". Das Wichtige aber ist die Interpretation, die Goethe

selbst dazu liefert. a in der Natur ist alles, was im Subjekt ist y und etwas darüber, b im Subjekt ist alles, was in der Natur ist z und etwas darüber, b kann a erkennen, aber y nur durch z geahndet werden.

Das Wesen, das in höchster Wahrheit alle vier zusammenfaßte, haben alle Völker von jeher Gott genannt. Ihre Stellung, mein Freund, gegen die vier Buchstaben, scheint mir folgende 311 sein: Sie geben s, zu und hoffen es durch b zu erkennen. Sie leugnen aber das y, indem Sie es durch eine geheime Operation in das z verstecken, wo es sich dann bei einiger Untersuchung auch wieder herausfinden läßt. Die Notwendigkeit der Totalität erkennen wir beide, aber der Träger dieser Totalität muß uns beiden ganz ver­schieden vorkommen.

<Ls ist äußerst interessant und eine klare Absage an alle

Theosophie, daß Goethe nur einem einzigen Wesen die

Fähigkeit zuspricht, alles, was in der Natur und im

Subjekt ist, zu erkennen, und daß er dieses Wesen Gott

nennt. Das „y durch eine geheime Operation in das z

zu verstecken, wo es sich dann bei einiger Untersuchung

auch wieder herausfinden läßt", das ist gar keine üble

Charakteristik der anthroposophischen Methode.

Page 172: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Die Dinge an sich.

Einem Aufsatz von Nikolai ^artmann (Kantftudien

5924) entnehme ich eine Betrachtung, die Kant völlig im

Sinn von Goethes Vier-Buchstaben-Formel interpretiert:

Den kantischen Fundamentalsatz:

„die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung,

deutet nämlich fjartmcmn so:

das heißt die Erkenntnisprinzipien sind zugleich Gegen-ftandsprinzipten. Die Formel gibt in knappen Worten das allein Notwendige und Zureichende, nicht mehr und nicht weniger.

Das gewöhnliche Schicksal der philosophischen Jdentitätsthesen ist, daß sie übers Ziel schießen, zuviel identisch setzen. Bewußtsein und Außenwelt (Gegenstand) sind und bleiben verschieden, bleiben einander transzendent, unaufhebbar gegenüber, Wer Subjekt und Objekt, beide als Ganze genommen identisch setzt, der behält für die Erkenntnis-relation überhaupt keinen Spielraum mehr...

Der Grundsatz ist so gefaßt, daß er von Kants eigenen System­voraussetzungen unabhängig dasteht. Er ist überstandpunktlich, diesseits von Realismus und Idealismus .. . Diese bilden ihm gegenüber nur Auffassungsweisen, deren Unterschied zu seinem Inhalt indifferent steht. Idealistische Auffassung ordnet das Subjekt dem Objekt über, realistische das Gbjekt dem Subjekt.

Die Symmetrie gegenüber Idealismus und Realis-

mus, die Hartmann in Kants Formel entdeckt, ist auch

der Goethes eigen. Das zeigt ganz besonders deutlich die

Lesart A *57, 2:

Verloren geborgen.

Dem Gbjekt die Macht zugestehen und auf unser + zu verzichten.

Das Subjekt mit seinem + zu erhöhen und jenes -f nicht aner­kennen.

Page 173: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 4U. Das Unerforschliche hat keinen praktischen Nutzen. 155

Verloren sind wir sicherlich beim extremen Idealismus

wie Realismus. Aber auch geborgen? Sollte Goethe

meinen, daß die einseitige Auffassung wie jede „Unent-

wegtheit" die bequemere ist?

3it dieses Kapitel gehört auch der Spruch:

€s ist etwas unbekanntes Gesetzliches im Subjekt, was betn unbekannten Gesetzlichen im Vbjekt entspricht.

Dieses „Entsprechen" spielt in der Kritik der Urteils-

kraft eine Rolle, (vgl. 3. H. St.) Hier betone ich bloß,

daß Goethe ein unbekanntes und unerkennbares y in

der Natur voraussetzt und den Versuch, durch das z

an das y heranzukommen, entschieden zurückweist.

§ <k\>

Das Unerforschliche hat keinen praktischen Nutzen.

Einer von Goethes Lieblingsausdrücken ist „das Un-

erforschkiche". Dieser Ausdruck klingt so wenig kantisch,

daß ich selbst überrascht war, ihn bei ihm zu finden. (Er

steht Rv. 6Wf.

Viele Kräfte der Natur, die ihr Dasein durch gewisse Wirkungen äußern, bleiben für uns unerf erschlich; denn wir können ihnen durch Beobachtung nicht weit genug nachspüren.

Das den Erscheinungen zugrundeliegende transzendentale Gbjekt und damit auch der Grund, warum unsere Sinnlichkeit diese und nicht andere oberste Bedingungen habe, sind und bleiben für uns nner-forfchlich.

Einen mir sehr unsympathischen Gedankengang ent-

wickelt Kant in dem Abschnitt „vom letzten Zweck

Page 174: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

*56 Die Dinge an sich.

des vernunstgebrauchs" (RV. 825 ff). Ihn hat Goethe

oben mit einem großen Kreuz ausgezeichnet und hat

dann noch besonders die folgenden Sätze durch <An-

klammerung hervorgehoben:

Die Lndabsicht, worauf die Spekulation der reinen Vernunft zuletzt hinausläuft, betrifft drei Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein »Lottes. Aber für alle drei ist das bloß spekulative Interesse sehr gering, und um seinetwillen würde schwerlich eine ermüdende, mit unaufhörlichen Hindernissen ringende Arbeit übernommen werden. Denn von allen Entdeckungen, die da zu machen sein möchten, könnte man doch keinen Gebrauch machen, der in concreto, d. i. in der Naturforschung seinen Nutzen bewiese.

Der Wille mag auch frei sein, so geht das doch nur die intelligible Ursache unseres lvollens an. Die Phänomene, durch die es sich äußert, d. h. die Handlungen dürfen doch wie alle übrigen (Erscheinungen der Natur niemals anders als nach beten unwandelbaren Gesetzen erklärt werden. Ahnliches gilt für die Unsterblichkeit der Seele.

Und wenn drittens das Dasein einer höchsten Intelligenz bewiesen wäre, so würden wir uns zwar daraus ganz im allgemeinen die Ordnung und Zweckmäßigkeit in der Welt begreiflich machen, aber doch nicht befugt sein, irgend etwas Bestimmtes daraus abzuleiten, denn eine notwendige Regel verbietet, an den Natururs achen vorbeizugehen und das, wovon wir uns durch Erfahrung belehren sönnen, aufzugeben, um etwas, was wir kennen, von dem abzuleiten, was alle unsere Kenntnisse übersteigt. Mit einem Wort, diese drei Sätze bleiben für die spekulative Vernunft stets transzendent, haben gar keinen im-maneniett, d. i. für Gegenstände der Erfahrung zulässigen, mithin für uns irgendwie nützlichen Gebrauch, sondern sind an sich be­trachtet ganz müssige und dabei noch äußerst schwere Anstrengungen unserer Vernunft.

Page 175: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 42. Das Innere der Natur.

Diese saure Trauben-Philosophie scheint Goethe nicht

so unsympathisch gefunden zu haben wie ich. Vielmehr be-

kennt er sich ebenfalls zu ihr:

je mehr man die Erfahrung zu nutzen weiß, desto mehr sieht man, daß das Unerforschliche keinen praktischen Nutzen hat.

Natürlich ist das lvort „praktisch" hier in populärer,

nicht in kantischer Bedeutung genommen. Denn praktischen

Nutzen im kantischen Sinn hat das Unerforschliche freilich

in besonders hohem Maße.

Ein andermal behauptet Kant:

„Ihr würdet die Erscheinungen eines Körpers nicht im mindesten besser oder auch nur anders erklären können, ob ihr annehmt, er be-stehe aus einfachen oder durchgehend? immer aus zusammengesetzten Teilen, denn es kann euch eine einfache Erscheinung ebensowenig wie eine unendliche Zusammensetzung je in der Erfahrung vorkommen. Die Erscheinungen verlangen nur erklärt zu werden, so weit ihre Er-klärungsbedingungen in der Wahrnehmung gegeben sind.

Das erinnert an Goethe:

I?iet wäre, wenn der Mensch sich zu bescheiden wüßte, vielleicht das letzte Ziel unserer Kräfte. Denn hier wird nicht nach Ursachen gefragt, sondern nach Bedingungen, unter denen die Phänomene er-scheinen.

§ *2.

Das „Innere der Natur".

Als Iacobi in seinem Spinoza-Buch Goethes j)rome-

theus-Monolog widerrechtlich publik machte und so in

die philosophische Diskussion hineinzerrte, soll Goethe

ärgerlich abweisend geäußert haben, das Stück „gehöre

Page 176: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Die Dinge an sich.

doch ganz eigentlich der Poesie an". Und als die Natur-

forscher in goldenen Lettern über ihre versammlungs-

räume meißelten:

„Denn alles muß zu nichts zerfallen, wenn es im

Sein beharren will"; setzte er sich schleunigst hin und

dichtete das Gegenteil: „Kein Wesen kann zu nichts

zerfallen", damit die „dummen Verse" ausgelöscht seien.

lvie ich Goethe kenne, würde er ganz gewiß zu

jedem Gedicht, das in wirkliche oder gedachte goldene

Lettern gemeißelt wird, flugs ein Gegengedicht bauen.

Also: von selber wäre ich nicht darauf verfallen, die

bekannte Persiflage auf Wallers Poesie (A \76a)

einer Analyse zu unterwerfen. Verse sind nicht dazu da,

um wissenschaftliche Überzeugungen auszudrücken. Da

aber dieses „heitere Reimstück" häufig in den Dienst der

fixen Idee gestellt wird: „Seht da den extremen Gegen-

satz zu Kant", so darf ich nicht stillschweigend an ihm vor­übergehen.

Zuvörderst: von Kern und Schale pflegen die zu

sprechen, so sich einer intellektuellen Anschauung rühmen.

Die äußeren Sinne erkennen die Schale, der innere höhere

Sinn den Kern der Natur.

Kant gebraucht diese Ausdrücke nicht. Aber über die

Antithese „Inneres und Äußeres der Natur" läßt er sich an

einer Stelle von Rv*). weitläufig heraus, für die Goethe

durch einen Doppelstrich sein Interesse bekundet hat.

*) Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe.

Page 177: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ <*2. Das Innere der Natur. *59

Laßt uns also zusehen, wie die Gedanken, die in A

in Vers und Prosa ausgesprochen sind, sich zu denen

Kants verhalten.

Goethes „Freundlicher Zuruf" konstatiert erfreut

einen glücklichen (Einklang mit nahen und fernen Forschern.

Sie

gestehen und behaupten, man solle ein Unersorschliches voraus-setzen und zugeben, alsdann aber dem Forscher selbst keine Grenzlinie ziehen. Liege die lvelt ansang- und endelos vor uns, unbegrenzt sei die Lerne, undurchdringlich die Nähe, aber wie weit und wie tief der Menschengeist in seine und ihre Geheimnisse zu dringen ver-möchte, werde nie bestimmt noch abgeschlossen.

Die durch Goethes Doppelstrich ausgezeichnete Stelle

aber lautet:

Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit noch gehen werde.

Sollte also unter den „fernen Forschern", mit denen

Goethe sich in so glücklichem Einklang findet, etwa Kant

gemeint sein? frören wir weiter. Das „Heitere Reimstück"

verkündet: (Dtt für Ort sind mir im Innern. Kant aber

erklärt an derselben Stelle:

Die Materie ist substantia phaenomenon. lüas ihr innerlich zukomme, suche ich in allen Teilen des Raumes, den sie einnimmt, und in allen Wirkungen, die sie ausübt, und die freilich nur immer Erscheinungen äußerer Sinne sein können. Zch habe also zwar nichts Schlechthin-Jnnerliches, sondern nur lauter Romparativ-Znnerliches, das selber wieder nur aus äußeren Verhältnissen besteht. Allein das schlechthin, dem reinen Verstände nach Innerliche der Materie ist auch eine bloße Grille: denn die Materie ist überhaupt kein Gegen­

Page 178: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

X60 Die Dinge an sich.

stand für den reinen verstand. Und das transzendentale Gbjekt, das der Grund der Materie sein mag, ist ein bloßes Stroas, wovon wir nicht einmal verstehen würden, was es sei, wenn es uns auch jemand sagen sonnte. Denn wir können nichts verstehen, als wenn den Worten etwas Anschauliches korrespondiert, Wenn die Klagen: wir sehen das Innere der Dinge gar nicht ein, soviel bedeuten sollen, als: w«r begreifen nicht durch den reinen Verstand, was die Dinge, die uns erscheinen, an sich sein mögen, so sind sie ganz unbillig und unver­nünftig; denn sie wollen, daß man ohne Sinne doch Dinge erkennen, mithin anschauen könne, folglich daß wir ein von dem menschlichen nicht bloß dem Grade, sondern sogar der Art nach gänzlich ver­schiedenes Erkenntnisvermögen haben, also nicht Menschen, sondern Wesen sein sollen, von denen wir selbst nicht einmal angeben können, ob sie einmal möglich, viel weniger wie sie beschaffen sind.

Soweit könnte man darüber zweifelhaft fein, ob

Goethes Gedankengang sich mit dem Kants decke oder

nicht. Das folgende aber zeigt eine ganz merkwürdige

auffallende Parallelität. Zunächst folgt der bereits zitierte

Passus: )ns Innere der Natur, und dann heißt es weiter:

Jene transzendentalen Fragen aber, die über die Natur hinaus-gehen, würden wir niemals beantworten können, auch wenn uns die ganze Natur aufgedeckt wäre, da es uns nicht einmal gegeben ist, unser eigenes Gemüt mit einer anderen Anschauung als der unseres inneren Sinns zu beobachten. )n ihm aber liegt das Geheim­nis des Ursprungs unserer Sinnlichkeit.

Die Art, wie sich die Sinnlichkeit auf ein Bbjekt bezieht und der transzendentale Grund ihrer «Einheit liegt ohne Zweifel zu tief ver­borgen als daß wir, die wir sogar uns selbst nur durch inneren Sinn, mithin als (Erscheinung kennen, ein so unschickliches Werkzeug unserer Nachforschung dazu brauchen könnten, etwas anderes als immer wiederum Erscheinungen aufzufinden, deren nichtfinnliche Ursache wir doch gern erforschen wollten.

Page 179: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ H2. Das Innere der Natur, \6\

Bei Goethe lesen wir:

Muß ich mich denn nicht selbst zugeben und voraussetzen, ohne jemals zu wissen, wie es eigentlich mit mir beschaffen sei?

und bei Kant:

die wir sogar uns selbst nur durch innern Sinn, mithin nur als Lr-scheinung lernten.

<Äne seltsame Art zu argumentieren: Kammern rvir

nicht, daß rvir von der Welt nicht alles wissen, da wir ja

uns selber auch nicht kennen. Bei Kant ist sie dadurch

motiviert, daß in uns selbst der Grund der Erscheinung

liegt. Wüßten wir also, „wie es mit uns eigentlich be­

schaffen ist", so hätten wir auch den Schlüssel zur Außen­

welt. Bei Goethe scheint dieser Gedanke ein wenig ver­

flacht zu einer bloßen Analogie. IVenn aber der „ Freund­

liche Zuruf" mit dem darauf folgenden Gedicht nicht in

krassem Widerspruch stehen soll, so muß der Gesamtsinn

sein: Zwar sind wir ©rt für ©rt im Innern der Natur,

aber diesem Innern stehen wir so gegenüber wie unserem

eigenen Innern, das heißt wir erkennen es nicht. Beiden

Itfegt das „transzendentale ©bjekt" als ein Unerforscht

liches zugrunde. Hat man dieses „vorausgesetzt und zu-

gegeben", dann soll man dem Forscher keine Grenzlinie

ziehen, denn: „Ins Innere der Natur dringt Beobachtung

usw."

Sehr aufklarend ist Kants (Erläuterung, warum er es

so finnlos findet, an der Materie ein Inneres zu suchen:

Rein begrifflich muß freilich jedem Äußeren ein Inneres ent-sprechen, aber es ist ein Mißverständnis, diese logische Antithese bort

11

Page 180: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

H62 Die Dinge an sich.

anzuwenden, wo man es mit nichts als lauter Anschauung zu tun hat. ZVas wir an der Materie kennen, sind lauter Verhältnisse, lvas wir an ihr innere Bestimmungen nennen, ist nur komparativ innerlich. Unter den Verhältnissen, die wir beobachten, gibt es nämlich solche, die selbständig und beharrlich sind.

Wenn ich von diesen Verhältnissen abstrahiere, so bleibt mir über-Haupt nichts übrig. Freilich macht es stutzig, zu hören, daß ein Ding ganz und gar aus Verhältnissen bestehen solle, aber dafür ist ja das Ding eben kein absolutes, in sich Bestehendes, sondern nur Erscheinung. <2s besteht selbst in dem bloßen Verhältnis von Etwas zu den Sinnen.

Auf der „Amphibolie" (d. h. Verwechslung), daß

man die Erscheinungen so behandelt, als ob sie Dinge an

sich wären, beruht es, daß man in ihnen nach einem

Innern sucht. Indessen heißen die Dinge nur darum

„äußere" weil sie durch den äußeren Sinn, den Raum-

sinn, erzeugtsind. Und ihr Gegenstück sind also die Produkte

des „innern Sinns", die seelischen (Erscheinungen. Das

Ding an sich dagegen ein Inneres zu nennen, das geht

nicht an, weil ein so sinnlicher Ausdruck nicht anwendbar

ist, wo alle Sinnlichkeit aufhört. Für das „übersinnliche

Substrat der Natur" fehlen alle Begriffe und alle ZVorte.

§ 43.

Nochmals Inneres und Äußeres. Kant kontra Dubois-Reymond.

lvie ist es denkbar, daß aus Materie Bewußtsein,

aus räumlichen Schwingungen die Empfindung des

Lichtes oder des Schalles entstehe? Diese Frage hat

Page 181: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ HZ. Kant kontra Dubois-Reymond. *63

Dubois-Reymond durch das schmetternde Ignorabimus,

das er ihr entgegenhielt, zum Grundsymbol der mensch-

lichen Unwissenheit erhoben. Die Anthroposoxhen tun sich

viel darauf zugut, daß sie Dubois-Reymond „über-

wunden" haben. Das hat aberKantschonzum voraus getan,

und zwar in der weniger bekannten ^.Auflage von RV.

unter dem Titel „Betrachtungen über die Summe der

reinen Seelenlehre". Er sagt:

Zch behaupte, daß alle Schwieigkeiten, die man in dem Problem der Gemeinschaft zwischen Seele und Körper finden will, auf einem bloßen Blendwerk beruhen, indem man nämlich das, was bloß in Gedanken existiert, hypostasiert und in derselben (Qualität als einen äußeren Gegenstand annimmt. Die Materie, deren Gemeinschaft mit der Seele so großes Bedenken erregt, ist aber doch gewiß nicht in derselben (Qualität als Materie außer uns. Unsere äußeren Vor­stellungen gehören genau so gut zum denkenden Subjekt wie die inneren, und es liegt nichts Widersinnisches darin, daß der äußere und der innere Sinn mit einander in Gemeinschaft stehen. Wenn wir aber die äußeren (Erscheinungen Hypostasieren und von der Seele losgelöst betrachten, so haben wir außer uns nichts als Bewegungen und ©rtsoerhältnisfe, in uns aber als Wirkungen unräumliche Gedanken. Da verlieren wir den Leitfaden der Ursachen gänzlich. Es ist indes nicht so, daß die Bewegung der Materie in uns Vorstellungen wirkt, sondern sie selbst, die Materie, mitsamt ihrer Bewegung ist nichts als bloße Vorstellung.

§ 44.

Die Dinge an sich oder Nsumena.

Dinge gibt es nur in Zeit und Raum, und unter

den Kategorien stehend. Das „Ansich" ist dadurch

ii1

Page 182: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Die Dinge an sich.

charakterisiert, daß es jenseits von Raum und Zeit und

kategorialer Struktur gedacht werden muß. Das Ansich

ist also gewiß kein „Ding".

Man darf die Frage aufwerfen, was die „Dinge"

„an sich sein mögen", aber nicht die, was die „Dinge an sich" sein mögen.

Dieser falsche !vortgebrauch hat dazu geführt, daß

Viele Aant vorwerfen, er suche „hinter" den Dingen

noch eine zweite Art von Dingen und über diese Vor-

stellung ist leicht spotten.

So sagt Schelling (Ideen zur Naturphilosophie):

Es ist in der Tat kaum glaublich, daß solch eine widersinnige Zu-sammensetzung von Dingen, die aller sinnlichen Bestimmungen beraubt, dennoch als sinnliche Dinge wirken sollen, je in eines Menschen Kopf gekommen sei.

Aber das ist ein Mißverständnis. Das Ansich soll eben

nicht als ein sinnliches Ding wirken. Schelling sagt weiters:

Diese Philosophie läßt alle Begriffe von Ursache und Wirkung nur in unserem Gemüt, in unseren Vorstellungen entstehen, und doch die Vorstellungen selbst wieder, nach dem Gesetz der Kausalität durch äußere Dinge in uns bewirken. Dies haben gleich anfangs scharfsinnige Männer der kantischen Philosophie entgegengehalten. Man wollte es damals nicht hören, wird es aber nun doch hören müssen.

Dieser Vorwurf kehrt in der Literatur immer wieder

lväre er berechtigt, dann stünde es wirklich so um die

kantische Philosophie, wie Schelling glauben machen will:

Dieses System bedarf keiner Widerlegung. (Es darstellen heißt es von Grund auf umstürzen.

Page 183: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ qz. Die Dinge an sich oder ZToumena. *65

Gewiß trägt an dieser Mißauffassung zum Teil Kants

ungeklärte Terminologie die Schuld. Gewiß ist es ärgerlich,

wenn er für eine Beziehung, die seiner klar ausge­

sprochenen Meinung zufolge keine kausale sein soll —

weil sie zeitlos ist, während alle Kausalverbindung nach

der Ordnung der Zeit erfolgt — immer wieder Aus­

drücke gebraucht, wie Kausalität, Ursache usw. Sobald

man aber versucht, es besser zu machen, da merkt man

bald die übergroße Schwierigkeit—daß nämlich wo Begriffe

fehlen, sich leider auch das ZVort nicht einstellen will.

Gelegentlich spricht Kant von einem X oder „Ltwas"

oder auch vom Noumenon, alles ist besser als das

„Ding an sich". Will man ein Bild davon gewinnen, wie sich das

große X zur Erscheinung verhält, so muß man drei

Grundabteilungen unterscheiden: die anorganische, die

organische und die s i t t l i che Welt . Den Schlüssel zu Kants Lehre findet man am besten,

wenn man bei der dritten beginnt.

£}tet ist alles Positive, was er über ZToumena zu

sagen weiß, konzentriert, denn: Der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich durch die Sinne

kennt, erkennt sich selbst in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er nicht zum Lindruck der Sinne zählen kann, und so ist er sich selbst, wenn auch zu einem Teil Phänomen, doch zum anderen Teil, in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand.

N)ir beginnen also mit dem

Noumenon in der sittlichen ZVelt.

Page 184: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

J66 Die Dinge an sich.

§ 45.

Die doppelte Kausalität.

Der wesentliche Wert von Kants Ethik liegt nicht in

der Ethik. (Er liegt vielmehr darin, daß Kant anläßlich

der Ethik jene große, auch heute noch nicht klar erfaßte,

nur dunkel geahnte Offenbarung aufging, daß das

Verhältnis zwischen dem Noumenon und der Er-

scheinung kein Kausalverhältnis ist. Diese Lnt-

deckung ist der Kern seiner Freiheitslehre. Sie ist eine

jener großen Intuitionen Kants, wie sie nur dem

naturnahen Genius in den Schoß fallen. Und so wenig

es ihm auch gelang, sie wissenschaftlich auszubauen, so

verdankt er ihr doch die Möglichkeit, sich über den Natur-

Mechanismus zu erheben. Darum ist für Kant die Ethik

das einzige Tor oder besser gesagt das Schlüsselloch zum

Tor ins übersinnliche. Fehlt auch der Schlüssel, so

genügt doch schon der Blick durch? Schlüsselloch, um in der Ahnung der geistigen N)elt die materielle mit helleren

Augen zu betrachten.

Nun ist es freilich verwirrend und störend, daß Kant,

anstatt von kausaler und nichtkausaler Verknüpfung zu

sprechen, zweierlei Arten von Kausalität unterscheidet,

die eine nach dem Naturmechanismus, die andere durch

Freiheit. Alles was nach der Kausalität in der Zeit erfolgt, kann man als

Naturmechanismus bezeichnen, ob man gleich darunter nicht versteht, daß Dinge, die ihm unterworfen sind, materielle Naschinen sein müssen, (pr. v> Krit. Bel> d. Anal. d. praft. Dem.)

Page 185: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ HS, Die doppelte Kausalität. *67

Diese Definition wird vielfach nicht beachtet und darum

der häufige Gebrauch des Wortes „Naturmechanismus"

bei Kant mißdeutet.

Die „Kausalität durch Freiheit" erfolgt nicht in der

Zeit. Darauf beruht die Lösung der Freiheitsantinomie,

lväre der Mensch nichts weiter als das empirische, in der

Zeit lebende Subjekt, so „müßte die Freiheit als ein

nichtiger und unmöglicher Begriff verworfen werden".

Einen „elenden Behelf" nennt es Kant, das frei zu

nennen, was nicht von außen geschoben, sondern durch

innere Gründe bewegt wird. Denn nicht darauf kommt

es an, ob die Gründe i m Subjekt oder außer ihm liegen,

sondern einzig und allein darauf, ob sie in der Zeit

wirken.

Sobald jeder Zustand durch den vorhergehenden unabänderlich bestimmt ist, mögen die Bestirnrnungsgründe psychologisch oder mechanisch fein, — es bleibt kein Raum für transzendentale Freiheit, lväre die Freiheit des lvillens keine andere als die psychologische, dann wäre sie um nichts besser als die Freiheit des Bratenwenders, der auch, wenn er einmal aufgezogen ist, seine Bewegungen von selbst verrichtet. Denn wenn man die Reihe der Gründe in der Zeit zurück-verfolgt, so erscheint jeder unentrinnbar durch den vorhergehenden bestimmt, und so kommt man auf den unerträglichen Gedanken, daß von Uranfang der lüelt an alles vorbestimmt sei. Woher kommt also die Rettung? Daher, daß eben dasselbe Subjekt, welches als causa phaenomenon in die Naturkette eingeschmiedet ist, zugleich als causa noumenon außerhalb dieser Reihe steht, lväre es nicht möglich, fragt Kant, daß diese ganze empirische Kausalität, so wie sie ist und unan-tastet bleiben soll, ihrerseits die Folge einer anderen, nicht empirischen, sondern intelligibeln sei?

Page 186: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Die Dinge an sich.

§ 46.

Das Houtnetton in der sittlichen tvelt.

Der intelligible Charakter.

Aller Erscheinung legen wir etwas unter, das in ihr

„erscheint", und so ist auch der empirische Charakter des

Menschen nur die Erscheinung, das „sinnliche Zeichen"

für den intelligibeln. Das sinnliche Zeichen! Me die

Züge des Gesichts oder der Handschrift Zeichen des

Geistes sind. Nur an einer einzigen Stelle in Ztü*) hat

Kant diesen bisher besten Terminus für jenes eigen-

artige Verhältnis, das kein Kausalverhältnis ist, gefunden. Die Wirkungen in der Sinnenwelt folgen in der Zeit auf andere

ihrer Art, aber sie erfolgen nicht allein aus diesen, sie sind mitbestimmt durch den intelligibeln Charafter. Dieser beginnt Handlungen in der Sinnenwelt, aber in ihm beginnen sie nicht. In ihm entsteht nichts und vergeht nichts, vor dem Zustand, in dem die Vernunft den Willen bestimmt, muß nicht ein anderer voraufgegangen sein, wodurch dieser Zustand selbst bestimmt worden.

Unter dem Kennwort „Sinn und Ausdruck" hat

Graf Keyserling diese nichtkausale Wirkung des Geistes

sozusagen populär gemacht. Durch ihn sind wir besonders

nachdrücklich darauf hingewiesen worden, wie das reine

Sein sich auswirkt. Wunderbar kündet es ein altes

chinesisches Wort:

Kaiser Shun saß da — das Gesicht nach Süden

gewandt — und der Lrdkreis war in Ordnung.

So ist die lvirkung des intelligibeln Charakters. Lr

tut nichts, und doch verändert er den Lauf des Ge-

*) Erläuterung der so5m. )dee d. Freiheit Rv. 57<*.

Page 187: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ HS, Der intclligible Charakter.

schehens. <Lr ist bloß da, das genügt. <£r stört die natür­

liche Kausalreihe nicht, der der empirische Charakter

unterworfen ist — er bedient sich ihrer.

lvie Kant sich das Verhältnis zwischen dein Zeit-

haften und dem ihm ganz ungleichartigen Unzeithaften

vorstellt, zeigen am besten seine (Erörterungen über Reue

und Wiedergeburt.

ad v pt. V. (Ktit. Bei. b. Analytik).

Prieftley als konsequenter Fatalist, erklärt die Reue mit Recht für ungereimt, denn Geschehenes kann sie doch nicht ungeschehen machen. Und doch ist sie ein rechtmäßiger Schmerz. Denn die Vernunft erkennt keinen Zeitunterschied an, sobald es auf das Gesetz unserer intelligibeln Existenz ankommt, und ihr gegenüber erscheint das gesamte Sinnenleben als eine einzige unteilbare Einheit, für die ein früher oder später keine Bedeutung hat. <£s kommt also gar nicht darauf an, wann die Tat geschehen ist, sondern nur, ob sie mir als meine Tat zugerechnet werden kann.

ad 2. philof. Rel., (II, \ c.) Ebenso aber macht es auch, wenn ein Mensch den Hang zum

Bösen in sich überwindet und seine Gesinnung die eines beständigen Forschreitens zum Guten wird, nichts aus, ob empirisch der Fortschritt langsam ober schnell, stetig ober mit Unterbrechungen erfolgt. Denn vor bem „Herzenskündiger", bet über alle Menschen richtet, kommt es nicht auf ben einzelnen zeitlichen Schritt an, er sieht bie Wandlung als ein vollendetes Ganzes.

So kann in jedem Augenblick, unbekümmert um bie ganze ver­flossene Zeit unb was in ihr geschehen ist, eine neue Kausalreihe be­gonnen werben.

Ls wird also einerseits das Intelligible als etwas

Seiendes und das Leben von der Geburt bis zum Tod

als ein bloßes Auseinanderfalten dieses Seienden durch

Page 188: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

\70 Die Dinge cm fidj.

„den innern Sinn" angesehen — etwa wie wenn man

einen Akkord in Einzeltöne zerlegt, wo es denn auch nicht

darauf ankommt, welchen man früher und welchen man

später anschlägt. Anderseits aber sind in diesem Seienden

doch auch Veränderungen möglich, denn die Vernunft

soll ja Maximen annehmen und ablegen, die Gesinnung

sich wandeln können.

Das sind freilich recht harte Nüsse, und Kant betont

unermüdlich, es sei durchaus nicht einzusehen, wie das

ZVirken in der intelligibeln UMt und das Eingreifen in

die Sinnenwelt vor sich gehe — man müßte denn die

intellektuelle Anschauung haben. Aber Unbegreiflichkeit

ist nicht Unmöglichkeit, und ganz falsch, meine ich, kann

die Theorie nicht sein — dazu hat sie doch zu viele

Berührungspunkte mit der Wirklichkeit.

Für Kant ist das Moralgesetz das große Licht gewesen,

an dem sich ihm das Verständnis für die Doppelgesetz-

lichfeit des Lebens entzündete. So wird das Moralgesetz

ihm gleichsam zum Symbol für das Verhältnis zwischen

Noumenon und phaenomenon überhaupt. Einen

sittlichen Imperativ, ein Sollen könnte es nicht geben,

wäre die lvelt nichts anderes als Natur. Im Naturlauf

ist jeder Bestimmungsgrund eine Erscheinung, im

Moralgesetz folgt die Vernunft einer eigenen Ordnung

nach Ideen. In der natura archetypa, der urbildlichen Natur

ist das Moralgesetz Naturgesetz, es sagt nicht, was

geschehen soll, nein, was wirklich geschieht. Da existiert

Page 189: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ H7, Das Urbild.

kein Widerspruch zwischen Sein und Sollen. Uns aber

schreibt das Moralgesetz vor, die übersinnliche Natur-

Ordnung in der sinnlichen Welt zu realisieren. Dieses ist

das „Faktum der Vernunft", das jeder in der Forin

des Gewissens in sich spürt und wodurch er sich seines Daseins in der intelligibeln Ordnung bewußt wird.

Freiheit ist Unabhängigkeit vom Naturgesetz, aber darum nicht gesetzlos. Das Sittengesetz entspringt aus unserem Willen als Intelligenz,

mithin aus unserem eigentlichen Selbst (Grundlegung). Die praktische unbedingte Notwendigkeit des kategorischen Zm-

perativs begreifen wir nicht, aber wir begreifen wenigstens feine Unbegreiflichkeit, und das ist billigermaßen alles, was man von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft strebt, erwarten kann.

Goethes feierliche Dornburger Rede (Av^) beweist,

daß er sich diesen Grundzug der kantischen Philosophie,

die Bürgerschaft des Menschen in „zwei Welten", die

Auffassung des Sittengesetzes als geheimnisvolle Mit-

gäbe aus jener überirdischen Welt, gern zu eigen

gemacht hat.

§ 17.

Das Noumenon in der organischen Natur.

Das Urbild.

Die Zugehörigkeit zu der Welt der Noumena wird

bei Kant explizit nur dem Menschen zugebilligt. Lr

sagt ausdrücklich: Bei der leblosen oder bloß tierisch belebten Natur finden wir

keinen Grund, uns irgend eines ihrer vermögen anders als bloß sinnlich bedingt zu denken.

Page 190: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

\72 Die Dinge an sich.

Und er beantwortet die berühmte Apostrophe an

die Pflicht: Welches ist der deiner würdige Ursprung? Wo findet man die

Wurzel deiner edlen Abkunft? mit den Worten:

Ls kann nichts anderes sein als das, was den Menschen über die ganze Sinnenwelt erhebt und ihn an eine (Ordnung knüpft, die nur der verstand denken kann. (Es ist die Persönlichkeit, wodurch die Person zur intelligibeln Welt gehört.

Trotz alledem meine ich,nicht nur in der Sache, sondern

auch in Kants Wett — nämlich in der später geschriebenen

Kritik der Urteilskraft — Anhaltspunkte zu finden, die

die Übertragung des hier gewonnenen Begriffs des

Noumenon auf die gesamte organische tPelt nicht schwer

machen.

Ursprünglich war llants Meinung die: der spekulativen

Vernunft dränge sich zwar der Begriff eines Noumenon

auf, aber als leere Theorie. (Erst die praktische Vernunft

gebe ihm positiven Inhalt.

Nur der einzige Begriff der Freiheit ist es von allen Ideen der spekulativen Vernunft, der uns eine Erweiterung im Felde des Über­sinnlichen verschafft.

Aber später konstatiert er ganz ähnlich in UAr. § 77,

die Idee eines Naturzwecks habe etwas „von allen andern

Ideen Unterscheidendes", und es sei eine gewisse Ahnung unserer Vernunft, oder ein uns von der

Natur gleichsam gegebener Wink, daß wir vermittels des Begriffs von Endursachen über die Natur hinausgelangen könnten, wenn wir ver-suchen, worauf uns denn dieser Fremdling in der Naturwissen­schaft, der Begriff der Zwecke, führe.

Page 191: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ $7. Das Urbild. H73

Noch deutlicher wird die Analogie mit der Freiheit

durch eine Wendung, die Kant in UKr. § 78 gebraucht.

Zu der Mechanik der Naturursachen muß noch eine Spontaneität hinzukommen, — etwas was der bloß rezeptiven Materie für sich nicht zukommen kann.

Diese Spontaneität weist auf einen noumenalen

Untergrund hin. Und noch weiter geht die Analogie. Dem

tDiderspruch zwischen Kausalität und Freiheit auf sitt-

lichem Gebiet entspricht in der Lehre vom Leben der

zwischen Kausalität und Finalität. Auch hier ergibt

sich eine Antinomie, und wenn die Lösung auch formal

ein bißchen anders klingt, sachlich besteht sie doch darin, daß den Lebewesen ein intelligibles, der Zeitreihe ent-

zogenes Substrat untergelegt wird. Für dieses hat das

Früher und Später so wenig Bedeutung wie für den

intelligibeln Charakter, und so kann uns auch das Spätere

als Ursache des Früheren erscheinen.

Ahnliches mag vielleicht auch Goethe im Sinn ge­

legen haben, wenn er in A 25 alles Lebendige unter

dem Gleichnis eines freien Menschen sieht.

!vas sich Kant unter diesem Substrat vorstellt, das

wird — so ängstlich er es auch vermeidet, etwas positives

darüber zu sagen — blitzartig erhellt durch die ZDahl

eines Ausdrucks. Der intuitive Verstand verwandelt

sich plötzlich ohne jede Motivierung in einen urbildlichen

Verstand, einen intellectus archetypus. Er erschaut das

übersinnliche Substrat, während unser verstand, der

intellectus ectypus, „der Bilder bedürftig ist". Kant

Page 192: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Die Dinge an sich.

sagt dazu, es sei nicht nötig zu beweisen, daß ein solcher verstand auch möglich sei. vielleicht nicht. Aber zum mindesten ist es nötig zu beweisen, wieso Kant überhaupt auf diesen Ausdruck verfiel. Und da erinnern wir uns einer merkwürdigen Stelle in RV>, wo von den platonischen )deen die Rede ist.

Nicht bloß in dem, wo die menschliche Vernunft wahrhafte Katifa* lität zeigt und Ideen wirkende Ursachen werden, nämlich im Sittlichen, — sondern auch in der Natur selbst sieht plato mit Recht deutliche Beweise ihres Ursprungs aus Ideen. Sin Gewächs, ein Tier zeigen deutlich, daß sie nur nach Ideen möglich sind, daß zwar kein einzelnes Geschöpf unter den einzelnen Bedingungen seines Daseins, mit der Idee des vollkommensten seiner Art kongruiere, sowenig wie der Mensch mit der Zdee der Menschheit kongruiert, die er als Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt, daß aber gleichwohl jene Zdeen im höchsten verstände einzeln, unveränderlich, durchgehend bestimmt und die ursprünglichen Ursachen der Dinge sind, wenn auch nur einzig und allein das Ganze ihrer Verbindung im Weltall der Idee adäquat sein kann.

Ferner gehört noch hierher eine ebenfalls sehr charakteristische Äußerung aus § x? UKr., wo von einem Bild die Rede ist, welches

„gleichsam absichtlich der Technik der Natur zum Grunde gelegen hat, dem nur die Gattung im Ganzen, aber kein Einzelnes abgesondert adäquat ist."

Wir sehen also, wie in Kants Phantasie diese platonischen Urbilder offenbar immer gegenwärtig sind. Seine Philosophie wird nicht müde zu versichern, daß solche Ideen nur im Geist des Beurteilers leben, aber sie

Page 193: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ $8. Das Noumenon in der anorganischen lüelt.

wiederholt dies nur darum so hartnäckig, weil seine

Phantasie nicht von ihnen lassen kann.

So gewinnt also der angeblich leere und unbestimmte

Begriff des Noumenon in der organischen lvelt die

immerhin etwas bestimmtere Gestalt des platonischen

Urbilds, und die Kritik der ideologischen Urteilskraft

erscheint sofern als eine direkte Fortsetzung und Lr-

Weiterung der Freiheitslehre.

§ *8*) .

Das Noumenon in der anorganischen lvelt.

Ganz anders wird die Situation, wenn man zu der

anorganischen Materie herabsteigt.

Gewiß leuchtet es ein, wenn Kant in prol. Anm. II

zu § *3 so argumentiert:

Daß matt unbeschadet der wirklichen Existenz äußerer Dinge von einer Menge ihrer Prädikate wie Wärme, Farbe, Geschmack usw. sagen könne, sie hätten außer unserer Vorstellung keine Existenz, das ist längst zugestanden. Daß ich nun die übrigen Qualitäten der Körper, die man die primären nennt, Ausdehnung, Gestalt, Undurchdringlich­keit usw. mit zu bett bloßen Erscheinungen zähle, dawider kann matt nicht den mindesten Grund der Unzulässigkeit anführen.

Aber so entsteht eben nur der negative Begriff des

Noumenon als etwas, was nicht Erscheinung ist. Und

es gibt keinen Übergang zu dem positiven, wo ein be-

stimmtet: Anlaß fehlt, eine zeitlose Existenz anzunehmen,

*) § 48 und <t9 können ohne Schaden überschlagen werden.

Page 194: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

3(76 Die Dinge an sich.

mit andern Worten, wo Geist, Sittlichkeit und Leben

fehlen.

Darumsind die Äußerungen Kants über die Nouinena

in Rv. besonders unbestimmt und schwankend, um

jo mehr, weil drei Fragen ihm beständig durcheinander-

schwirren. Unversehens gerät er von der einen in die

andere.

«Erstens: Gibt es etwas, was das Ansich der iDelt

bildet, entspricht der Erscheinung etwas, was da er­

scheint?

Zweitens: Haben die Kategorien für dieses (Etwas

Bedeutung?

Drittens: Gibt es eine Art verstand oder Anschauung,

Hie dieses Etwas zu erkennen vermag?

Die zweite Frage ist mir eigentlich unverständlich.

Denn wenn ich höre, daß Raum, Zeit und Kategorien

die Lrfcheinungswelt aufbauen, so muß ich zugleich

denken, daß die Welt an sich von diesen menschlichen

Formen frei sei. Auf diesen Standpunkt stellt sich auch

Kant wiederholt, daneben aber kann er den Gedanken,

mit feinen geliebten Kategorien ins Übersinnliche zu

wandern, doch nicht fahren lassen, es ist sein höchster

Herzenswunsch, ihnen in dem Felde, wo sie keine Be-

beutung haben, eine neue zu verschaffen, und mit

-Genugtuung verzeichnet er, daß die praktische Vernunft

wenigstens seinem besonderen Liebling, der Kausalität,

den Obertritt ins Übersinnliche ermöglicht habe.

Page 195: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ $9- Noumena in positiver und negativer Bedeutung. \77

Uns, die wir den Anschluß an Goethe suchen, geht

dieses ganze Problem gliuflicherweise nichts an. Die

Frage Nr. 3 wird ausführlich im nächsten Kapitel be­

handelt, hier aber möchte ich noch einige von den Am-

Worten auf die erste Frage zusammenstellen, sofern sie

den Begriff des Noumenon von verschiedenen Seiten

beleuchten.

§ 49-

Noumena in positiver und negativer Bedeutung.

<£s liegt schon in unserem Begriff, wenn wir gewisse Gegenstände als ptjänomena bezeichnen, daß wir ihnen etwas gegenüberstellen, was wir Noumena nernten. Das mögen nun entweder dieselben Gegenstände nach ihrer wahren Beschaffenheit sein oder andere mögliche Dinge, die überhaupt nicht Gbjekt unserer Sinne sind.

Sin Noumenon in negativem verstände ist das, was ich mir als Korrelat zur Erscheinung denke, indem ich bloß von der sinnlichen An-schauung abstrahiere. Zn dieser Eigenschaft ist der Begriff nicht bloß zulässig, sondern unvermeidlich, als Grenzbegriff, um die An-maßungen der Sinnlichkeit einzuschränken. <£r sagt, daß weil die sinn-liche Anschauung nicht auf alle Dinge geht, für mehr und andere Gegen-stände Platz bleibe, diese also nicht schlechthin abgeleugnet werden können.

Indessen:

Der Begriff des Noumenon ist kein positiver Begriff, der eine bestimmte Erkenntnis von irgendeinem Dinge bedeuten würde. Denn dazu wäre es nicht genug, daß ich meine Gedanken von aller sinnlichen Anschauung befreie, ich müßte noch einen Grund haben, eine andere Anschauung als die sinnliche ist, anzunehmen, der ein solcher Gegen­

12

Page 196: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Die Dinge an sich.

stand gegeben werden könne. Sonst ist mein Begriff, wenn auch wider-fpruchslos, so doch leer.

Der verstand denkt sich einen Gegenstand, der die Ursache der Er-scheinung, also nicht selbst Erscheinung ist. Dieser kann mithin weder als Größe noch als Realität noch als Substanz usw. gedacht werden, weil alle diese Begriffe sinnliche Formen erfordern.

Es ist also völlig unbekannt, ob so etwas in uns oder auch außer uns anzutreffen sei, ob es mit der Sinnlichkeit zugleich auf-gehoben oder, wenn wir jene wegnehmen, noch übrigbleiben würde.

Alle unsere Vorstellungen werden durch den verstand auf ein (Objekt bezogen. Dieses bedeutet aber ein Etwas gleich X.

Es läßt sich gar nicht von den sinnlichen Dativs absondern, weil alsdann nichts übrig bleibt, wodurch es gedacht würde. Das Objekt, worauf ich die Erscheinung beziehe, ist der gänzlich un-bestimmte Gedanke von „Etwas überhaupt". Dieser kann nicht das Ztoumenon heißen, denn ich weiß von ihm nicht, was er an sich selbst sei und habe gar keinen Begriff von ihm als bloß von dem Gegenstand einer sinnlichen Anschauung überhaupt, der also für alle Er-scheinungen einerlei ist.

Der oben zitierte Satz: „Das X läßt sich gar nicht

von den sinnlichen Datis absondern, weil alsdann nichts

übrig bleibt, wodurch es gedacht würde", wird häufig

von den Gegnern der „Dinge an sich" vorgebracht.

Nimmt man von einem Ding sämtliche (Eigenschaften weg,

dann bleibt nicht noch ein besonderer Träger zurück,

denn das Ding ist nichts als die Summe seiner Ggen-

schaften. So sagt etwa Mach. Das gilt — solange man

im Gebiet der Erscheinungen bleibt. Aus dem Zu-

sammenwirken von Etwas und mir entstehen die Merk-

male eines Objekts, und anders als über die Brücke der

Page 197: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 50. Goethe über die Dinge an sich. \7<)

„Merkmale" kann ich zu dem (Dbjeft nicht gelangen. Aber

es ist kein logischer lviderspruch, daß das Ding für mich

nichts sei als die Summe seiner Eigenschaften und daß

trotzdem „an sich" etwas da sei, das diese Eigenschaften

hat, das heißt sich durch sie gegen mich ausspricht. Line

ungeschriebene ©per im Kopf des Komponisten kann

niemand erkennen, und doch existiert sie. Habt ihr aber

die ©per gehört und denkt dann alle Worte, Noten,

Bilder weg, so bleibt nichts übrig — dann dürft ihr

sagen: es gibt nicht noch einen besonderen Träger dieser

Noten, Worte Bilder — die ©per ist nichts als ihre

Gesamtheit.

§ 50.

Goethe über die Dinge an sich.

<2s gibt nicht sehr viele Aussprüche Goethes, die

direkt die „Dinge an sich" betreffen. Daß er im großen

Ganzen die Kantische Theorie mitmacht, ergibt sich aus

seiner Stellung zu den Erkenntnisgrenzen und zu dem

Gedanken der Apriorität. lvas in §§ 38 und <$o über

das Unerforschliche und über das y in der Natur gesagt

wurde, wäre hier zu wiederholen, und dazu treten

ergänzend die beiden einzigen mir bekannten Stellen, wo

geradezu von einem Ding an sich oder einem Gegenstand

an sich die Rede ist. )n der Schweiz macht Goethe die

„äußerst merkwürdige Entdeckung" (A 88), daß auch in

der Kunst

12»

Page 198: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

*80 Die Dinge änlich.

alles auf die Erörterung der Frage ankäme, die die Philosophen so sehr beschäftigt: inwiefern wir nämlich einen Gegenstand, der uns durch die Erfahrung gegeben wird, als einen Gegenstand an sich ansehen dürfen oder ihn als unser Werk und Eigentum ansehen müssen ,. . Es wird nur die Frage fein, wie wir in unserem Falle, in welchem wir wo nicht eine Erschaffung, doch eine Metamorphose der Gegenstände annehmen, uns deutlich ausdrücken.

Drei ITConate später erklärt Goethe wiederum (in

feinem Brief über 5(Helling A 90):

Ich gebe gern zu, daß es nicht die Natur ist, die wir erkennen, sondern daß sie nur nach gewissen Formen und Fähigkeiten unseres Geistes von uns aufgenommen wird.

Und wenn es nach dieser Einleitung am Schlüsse des

Briefes heißt:

Ebenso mag sich der Idealist gegen die Dinge an sich wehren, wie er will, — er stößt, doch ehe er sich? versieht, an die Dinge außer ihm, und wie mir scheint, sie kommen ihm immer beim ersten Begegnen so in die Quere wie dem Chinesen die Glutpfanne.

so sehen wir darin ein glattes, eindeutiges, unmiß-

verständliches Bekenntnis zu Kant und gegen Schelling,

ein Bekenntnis zum kritischen Idealismus und gegen den

sogenannten „transzendenteren", der sich ja, wie schon

erwähnt, gegen die Dinge an sich wehrt.

Daß Schellmgs Werk Goethe damals recht wenig

imponierte, geht besonders deutlich aus dem eine Woche

später (A 92) gefällten Urteil hervor:

Ich glaube wieder bei Gelegenheit des Schellingschen Buches zu bemerken, daß von den neueren Philosophen wenig Hilfe zu hoffen ist.

Page 199: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 5V

„Sie gelangen nicht zu den Körpern."

Interessant ist in Goethes Brief noch die Überlegung

daß die eine Partei von außen hinein den Geist niemals erreichen wird, die andere von innen heraus wohl schwerlich zu den Körper« gelangen wird,

ein Kommentar zu dem in § 40 zitierten Spruch: „Auf

doppelte Art sind wir verloren".

)n diesem Zusammenhang dürfte Goethe nur

Schelling unter denen gemeint haben, die nicht zu den

Körpern gelangen, viel später, in A 223, bezieht er

auch die kritische Philosophie in den Vorwurf ein, sie

gelange nie zum Gbjekt. Wenn dieses Bedenken schon

älteren Datums sein sollte, so könnte vielleicht auch der

in § 3$ zitierte (Einwand, daß „Kant den Punkt, wo sich

Subjekt und Gbjekt scheidet, zwar scharf, aber nicht ganz

richtig sondere", dazu in Beziehung gebracht werden.

Meines (Erachten? ficht den kritischen Idealismus

das Dilemma „außen hinein", „innen heraus" nichts

an. (Er geht von den Körpern aus und zeigt, wie

das „außen und innen" das heißt Geist und lvelt darin

in unlöslicher Synthese vereinigt sind. Lustig ist es, wie

Kant in seinem mephistophelischen Meisterstück, den

Träumen eines Geistersehers, den damaligen Ra-

tionalisten den gleichen Vorwurf macht: daß sie nie

zu den Körpern kommen, auf geradem lvege wenigstens

nicht.

Page 200: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

*82 Der intuitive verstand.

Man muß wissen, daß die Erkenntnis zwei Enden habe, eines a priori, eines a posteriori. Bei dem letzteren anfangen möchte nicht unklug gehandelt sein, ist indessen bei weitem nicht gelehrt und philosophisch genug. ZVill man aber am obern Ende anfangen, dann findet sich eine neue Beschwerlichkeit, nämlich daß man nie weiß, wo man eigentlich hinkommt und daß der Fortgang der Gründe nicht auf die Erfahrung treffen will. Ja es scheint, eher würden die Atome des Epikur einmal von ungefähr zusammenstoßen, um eine lvelt zu bilden, als diese allgemeinen Begriffe, um sie zu erklären. Da also die Philosophen wohl sehen, daß ihre vernunftgründe einerseits und die wirkliche Erfahrung anderseits ins Unendliche nebeneinander hinlaufen würden, wie Parallellinien, ohne jemals zusammenzutreffen, so fängt jeder an, wo er will, verfolgt aber dann seine Schlüsse nicht in geraden Linien weiter, sondern — immer verstohlen nach dem Ziel, der Erfahrung hinschielend, — gibt er den Beweisgründen eine unmerkliche Neigung und lenkt die Vernunft so, daß sie gerade dahin treffen muß, wo der treuherzige Schüler sie nie vermutet hätte, daß sie nämlich das beweist, was man vorher wußte, daß es. sollte bewiesen werden.

v i e r t e s K a p i t e l .

Der intuitive Verstand.

§ 52.

Gibt es ein Erkenntnisvermögen für Noumena?

Die Existenz eines Dinges kann niemals bloß daraus bewiesen werden, daß sein Begriff sich nicht widerspricht, sondern bloß dadurch, daß man ihn durch eine korrespondierende Anschauung belegt. Die Vorstellung eines „Dinges überhaupt" ohne eine zugehörige An-

Page 201: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 52. Gibt es ein Erkenntnisvermögen für Zloumena? \83

schauung ist widerstreitend. Entweder ich muß wie in der Logik von allem Gegenstand abstrahieren, ober wenn ich mir überhaupt einen Gegenstand denken will, muß ich mir eine entsprechende sinnliche ober intellektuelle Anschauung mitdenken.

Dies ist der Gedankengang, auf Grund dessen Kant

sich so intensiv mit der intellektuellen Anschauung be-

schäftigt. Das Houmenon wäre nur dann kein bloßer

Grenzbegrisf, sondern ein wirklicher Gegenstand, wenn

es auch eine Anschauung gäbe, für die es ein Gegen­

stand ist.

3n UKr. sagt Kant, so wie er in Rv. eine nicht

sinnliche Anschauung eingeführt habe, so müsse er jetzt einen intuitiven verstand einführen. )n Wirk-

lichkeit hatte er aber schon in RV. beide Begriffe Wechsel-weise verwendet, und ob sie das Gleiche oder ver-

schiedenes bedeuten, bleibt unklar. )m allgemeinen kann

man sich eine nichtsinnliche Anschauung immer noch

leichter vorstellen als einen nicht begrifflichen Verstand,

weil wir gewohnt sind, das tüort Anschauung im über­

tragenen Sinn zu gebrauchen. Auch eine Theorie ist

schließlich nichts anderes als eine intellektuelle An-

schauung. Denkt man an die Kantifchen Definitionen:

„verstand ist das vermögen der Begriffe, An-

schauung das Produkt unserer Sinnlichkeit", dann

werden freilich nichtsinnliche Anschauung und nicht-

begrifflicher verstand nicht bloß problematische, sondern

widerspruchsvolle und daher unsinnige Begriffe. Aber

es gibt bei Kant noch eine andere Definition, wonach

Page 202: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

Der intuitive Verstand.

verstand soviel bedeutet wie Spontaneität, Anschauung

soviel wie Rezeptivität, und diese Einteilung ist es

wohl, die Kant ins übersinnliche überträgt. Konsequent

durchgeführt ist aber auch sie nicht. Ich habe mir eine

große Zahl von Stellen aus Kants Schriften zusammen­

gestellt, von denen fast jede an die beiden in Rede

stehenden Begriffe andere Forderungen stellt. )ch ver-

zichte darauf, diese Mate hier vorzuführen und damit

die Verwirrung und Verzweiflung, in der ich mich selbst

befinde, auf meine Leser zu übertragen, ich erwähne

sie nur, um eine Frage daran zu knüpfen: ob die vielen

Menschen, die so frisch und frank behaupten, Goethe

habe jenen intuitiven Verstand besessen, den Kant uns

abstreitet, ob sie es wohl wissen, was Kant eigentlich

da bestreitet?

§ 53.

Die Kritik der reinen Vernunft über den intuitiven

verstand.

Zn Rv. handeln von der Funktion des intuitiven

Verstandes die von Goethe besonders reich bestrichten

§§ *6 und \7. €s wird dort gesagt:

§ \6-Unser verstand ist so konstruiert, daß er das ihm anschaulich Ge-

gebene verbindet, ja er ist gar nichts anderes als das Vermögen, a priori zu verbinden. Der verstand denkt, und die Vorstellung „Ich denke", die alle übrigen Vorstellungen begleitet, bewirkt die Einheit

Page 203: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 53. Die Vernunftkritik über den intuitiven verstand. ^85

des Selbstbewußtseins, bewirkt, daß ich sagen kann: dieses alles sind meine Vorstellungen. Lin verstand, in welchem durch das Selbst-bewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen, der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen.

§ V-

Das, worauf man verschiedene Vorstellungen gemeinschaftlich bezieht, ist ein Gbjekt, es entsteht durch die Synthesis. tvürde ich die Vorstellungen nicht in meinem Bewußtsein vereinigen, so hätte ich nur Mannigfaltiges, aber kein Gbjekt. Da verstand das vermögen der Erkenntnisse ist und Erkenntnis eben diese Beziehung aller vor-stellungen auf ein Objekt, so kann man sagen, daß auf der ursprüng-liehen Synthesis der Apperzeption sogar die Möglichkeit des Verstandes beruht. Aber dieser Grundsatz ist doch nicht ein Prinzip für jeden über-Haupt möglichen verstand, sondern nur für den, durch dessen reine Apperzeption in der Vorstellung Zch bin noch nichts Mannigfaltiges gegeben ist. Derjenige verstand, durch dessen Selbstbewußtsein zugleich das Mannigfaltige der Anschauung gegeben würde, durch dessen Vorstellung zugleich die Gbjekte dieser Vorstellung existierten, würde jenen besonderen Akt der Synthesis nicht bedürfen. Indessen von einem anderen möglichen Verstand, sei es ein solcher, der selbst anschaute, sei es einer, der zwar eine sinnliche Anschauung, aber eine andere als die in Raum und Zeit besäße, kann sich der Mensch auch nicht den mindesten Begriff machen.

Möchten alle, die sich eines intuitiven Verstandes rühmen und auf Kant herabsehen, weil er in seiner armseligen Abstraktheit nur diskursiv zu denken ver-mochte, mit sich zu Rate gehen, ob bei ihnen durch das bloße Selbstbewußtsein, durch die bloße Vorstellung „3ch bin" schon alles Mannigfaltige existiert. Goethe meint, Kant scheine da auf einen göttlichen verstand

Page 204: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

*86 Der intuitive verstand.

anzuspielen*), aber es will mich bebünfert, daß nicht einmal jeder Gott dieser Forderung genügen kann. Soviel mir bekannt ist, bedürfen manche Götter noch eines besonderen ZVillensaktes oder zumindest einer Vorstellung der Gegenstände, damit diese zur Existenz gelangen. In 2tV. § 2\ wird der göttliche Verstand bei Namen genannt, aber gerade dort auf die anspruchsvolle Forderung verzichtet, daß schon durch das bloße Selbstbewußtsein die Gegenstände gegeben werden müßten.

Wollte ich mir einen verstand denken, der selbst anschaute, etwa «inen göttlichen, der nicht von außen gegebene Gegenstände sich vor­stellte, sondern durch dessen Vorstellung die Gegenstände zugleich gegeben ober hervorgebracht würden, so würden in Ansehung eines solchen Erkenntnisses die Kategorien gar feine Bedeutung haben. Sie find nur Regeln für einen verstand, der für sich allein nichts erkennt, sondern nur den gegebenen Stoff zur (Erkenntnis verbindet und ordnet.

*) Daß Kant bei allem, was er über einen nichtdiskursiven verstand phantasiert, einen göttlichen int Sinn habe, das ist nicht zweifelhaft. In der „Nova dilutidatio" von 1755 wird uns versichert, „daß Gott keine Beweisführung braucht, da seiner Anschauung alles auf das Klarste offen liegt und ein und derselbe Akt des vor-stellen? feinem Geiste darlegt, was übereinstimmt oder nicht. Lr bedarf deshalb keiner Zergliederung, wie sie die Nacht, welche unsern Geist verdunkelt, notwendig erfordert."

Und in der Dissertation von vm Die Anschauung unseres Geistes ist immer passiv und deshalb nur soweit möglich als unsere Sinne etwas affizieren kann. Die Göttliche Anschauung aber, die nicht aus den Dingen entspringt, sondern aus der vielmehr die Dinge entspringen, ist, da sie unabhängig ist, das Urbild (archetvpus) und darum eine vollkommen untellektuelle.

Page 205: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

\87

§ 54.

von der Konstruktion der Begriffe.

Dem naiv Lesenden ist es völlig unfaßbar, warum

jemand, der etwas anschaun will, es gleich selber

hervorbringen muß. Diese Chimäre kommt wohl

dadurch zustande, daß die Anschauung, die sonst Re-

zeptivität ist, wenn sie auf den Verstand übergeht, de-

finitionsgemäß Spontaneität werden soll. Für einen

göttlichen Verstand soll Denken, Schauen und Schaffen

dasselbe sein. Indessen glaube ich einen Übergang auch

noch von einer anderen Seite her zu finden, nämlich von

Kants Begriff der Anschauung a priori, der mathe­

matischen Anschauung. Diese ist ja ebenfalls von äußerer

Erfahrung unabhängig, vom Menschen selbst hervor-

gebracht, töenn man ein Dreieck in Gedanken kon­

struiert hat, dann existiert es. Wiederholt betont Kant

den Unterschied „zwischen dem diskursiven Vernunft-

gebrauch nach Begriffen und dem intuitiven durch die

Konstruktion der Begriffe". Dieser letztere ist der einzige

intuitive vernunftgebrauch, den er anerkennt, und so

schwebt ihm, wenn er das Wort intuitiv auf Nicht-

sinnliches zu übertragen sucht, wohl unwillkürlich ein

Konstruieren dabei vor. (Es kann daraus freilich anstatt

einer realen Welt nur eine solche von idealer Existenz

gleich der mathematischen resultieren. Und es ist be­

merkenswert, daß auch Schelling zu diesem Anlehnen

an die Welt der Mathematik getrieben wird. Es scheint

Page 206: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

*88 Der intuitive verstand.

in der Tat, daß wenn man die Fiktion eines intuitiven

Verstandes, wie sie Kant an dieser Stelle formuliert,

ihres fiktiven Charakters entkleidet, man sich bereits

mitten im absoluten Idealismus befinde.

fjier könnte vielleicht eine grundsätzliche Scheidung

zwischen intuitivem Verstand und intellektueller An-

schauung einsetzen. Der erstere als Spontaneität führt

zum absoluten Idealismus, die zweite schaut bloß re­

zeptiv dos Noumenon, schafft es aber nicht selbst, ist also

noch mit dem kritischen Idealismus verträglich.

§ 55.

Die Kritik der Urteilskraft über den intuitiven verstand.

lvenn man in bezug auf Goethe vom intuitiven

Verstand redet, denkt man wohl im tüesentlichen an die

§§ 76 und 77 UAr.

§ 76.

Für unsere Vernunft ist es eine unerläßliche Forderung, sich irgend etwas, einen Urgrund, als unbedingt notwendig vorzustellen, so daß Möglichkeit und Wirklichkeit daran gar nicht zu unterscheiden sind. Unser verstand aber kann hier, wie auch sonst in manchen Lallen, mit der Vernunft nicht Schritt halten und keine Art ausfindig machen, wie er sich etwas unbedingt Notwendiges vorstellen soll. Denn wenn er etwas denkt, er mag es denken, wie er will, so ist es bloß möglich, wenn ihm aber etwas anschaulich gegeben ist, dann ist es wirklich. Nun muß ich aber nicht für jedes erkennende lvefen Denken und An-

Page 207: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 55. UKr. über den intuitiven verstand. 18<)

schauung als getrennt voraussetzen. Ein verstand, für den diese Trennung nicht gilt, würde sagen: alle Vbjekte, die ich denke, existieren. Und die Möglichkeit von Objekten, die nicht existieren, die also, wenn sie existierten, zufällig wären, würde in die Vorstellung eines solchen Wesens gar nicht kommen.

§ 77.

Unser verstand vereinigt Dinge, die in einem gemeinsamen Merkmal übereinkommen, in einem Begriff. Unsere Urteilskraft subsumiert die Einzelfälle, die ihr die Erfahrung liefert, unter diesen Begriff, lvie vielerlei und welche subsumierbaren Dinge ihr unter-kommen, das ist zufällig, aus dem Begriff nicht ableitbar, von den allgemeinen Naturgesetzen abgesehen, kann also der verstand über die Natur nichts bestimmen, sondern bloß über sie reflektieren. Wenn nun, wie es bei den Lebewesen der Fall ist, eine gesetzliche Einheit vor-Handen zu sein scheint, die sich aus feinem allgemeinen Gesetz ableiten läßt und die darum als zufällig empfunden wird, dann spricht der Mensch von Zweckmäßigkeit und stellt sich einen quasi intelligenten Erzeuger vor, der nach der Zdee eines Zwecks vorgegangen wäre. Aber es liegt nur an unserem Verstand, daß wir das so denken müssen. Und wir merken diese seine Eigentümlichkeit an, um uns daran bewußt zu werden, daß auch ein ganz anders gearteter verstand möglich wäie. verstand in der allgemeinsten Bedeutung wäre eine vollständige Spontaneität der Anschauung, wie wir in Rv. eine andere mögliche Anschauung in Gedanken haben mußten, um die unsrige, die nur auf Erscheinungen geht, als eine Besonderheit zu empfinden, so müssen wir hier die )dee von einem anderen möglichen verstand einführen, um einzusehen, daß es nur an uns liegt, wenn wir uns die Natur-Produkte nicht anders als absichtlich nach Zwecken erzeugt begreiflich inachen können, von diesem anderen höheren Verstand dürfen wir voraussetzen, daß er vielleicht die Naturprodukte auch rein kausal er-klären könnte.

Unser Verstand geht vom Analytisch-Allgemeinen, d. i. von Begriffen zum Besonderen, der gegebenen Anschauung. Dabei

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H90 Der intuitive Verstand >

kann er a priori nichts bestimmen, sondern muß der Erfahrung alles überlassen. Der intuitive verstand dagegen würde vom Synthetisch-Allgemeinen, d. h. der Anschauung eines Ganzen als solchen an-fangen und von da zum Besonderen gehen, das ist vom Ganzen zu den Teilen. Für ihn würde die Verbindung der Teile nicht jene Zu-fälligkeit haben wie für uns. Unser verstand geht von den Teilen zu den daraus möglichen Formen über wie vom Grund zur Folge, und ein reales Ganzes der Natur ist fü< ihn nur als Wirkung der kon-kurrierenden Kräfte der Teile faßbar. Wollen wir also versuchen, uns nicht das Ganze von den Teilen abhängig zu denken, sondern wie es dem intuitiven (urbildlichen) verstände gemäß wäre, die Teile abhängig vom Ganzen, so kann dies, so wie unser Verstand nun einmal beschaffen ist, nicht anders geschehen, als daß die Vorstellung des Ganzen den Grund für die Verknüpfung der Teile und die daraus entspringende Form enthalte. Danach ist das Ganze ein Produkt, für welches eine Vorstellung als Ursache angesehen wird, und dies nennt man einen Zweck. Der urbildliche verstand brauchte eine solche Zweck­vorstellung nicht, sondern könnte unmittelbar das Ganze als Grund für die Beschaffenheit, Verknüpfung und Wirkungsweise der Teile durchschauen. <£s ist garnicht nötig zu beweisen, daß ein solcher intel-lectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß seine Idee keinen lviderspruch enthalte und daß wir auf diese Idee geführt werden, wenn wir die Eigentümlichkeit unseres diskursiven, der Bilder be-dürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und das Zufällige dieser Beschaffenheit erwägen.

lveil wir die mechanische Erzeugung eines Organismus nicht be-greifen können, darum ist nicht gesagt, daß sie ein in sich Widerspruchs-voller Begriff, also für jeden Verstand undenkbar wäre. Denken wir uns die materielle lvelt bloß als Erscheinung, der eine töelt an sich als Substrat unterliegt, denken wir uns ihr korrespondierend eine intel-lektuelle Anschauung, so wäre wohl möglich, daß diese den Real-gründ im übersinnlichen erkennt, der das scheinbar Zweckmäßige mit Notwendigkeit hervorbringt.

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m

§ 56.

Zur Deutung.

Hier haben wir glücklich drei verschiedene Ausdrücke

unmittelbar nebeneinander: intellektuelle Anschauung,

intuitiver Verstand und urbildlicher verstand.*)

Die intellektuelle Anschauung bedeutet hier deutlich

das rezeptive Auffassen des übersinnlichen Substrats.

Die beiden verstände, der anschauende und der ur-

bildliche, sind ohne weitere Entschuldigung als Synonyme

gebraucht, woraus, wie schon gesagt, hervorgeht, daß

Kant die Grundlage der Erscheinung in der Form von

Urbildern vorgestellt haben muß.

Der „intellectus archetypus" kommt auch in RV. 723

vor, und zwar wird dort gesagt,

unserer Vernunft sei die Idee der größten systematischen und zweckmäßigen Einheit gesetzgebend, und so sei es sehr natürlich, auch eine ihr korrespondierende gesetzgebende Vernunft, einen intellectus archetypus anzunehmen, von dem alle systematische Einheit der Natur abzuleiten sei.

*) Erheiternd wirkt es, wenn Kant in einem Entwurf zu prol. (Phil. Bibl., Bd. III) sich auf seine Sparsamkeit etwas zugute tut: „Berkeley mußte noch eine andere Anschauung suchen, nämlich die (intellektuelle) mystische der göttlichen Ideen, sowie einen zwiefachen verstand, einen, der die Erscheinungen in Erfahrungen verknüpft und einen anderen, der die Dinge an sich selbst erkennt. Zch brauche nur eine Sinnlich feit und einen verstand.

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*92 Der intuitive verstand.

Als Erläuterung mag vielleicht noch URr. Ein-Zeitung IV dienen:

Die allgemeinen Naturgesetze haben ihren Grund in unserem verstand, der sie der Natur, obzwar nur nach dem allgemeinen Begriff von ihr als Natur vorschreibt, lvas dadurch unbestimmt gelassen ist, das erscheint unserer Verstandeseinsicht als zufällig. ZVenn nun die empirischen Gesetze überhaupt Gesetze heißen sollen, so müssen wir uns vorstellen, daß auch sie aus einem, wenn gleich uns unbekannten Einheitsprinzip fließen. Wir müssen sie also so betrachten, als ob gleichfalls ein verstand, wenn gleich nicht der unsrige, sie so gegeben hätte, damit wir ein System der Erfahrung aufbauen können. Nicht als ob wirklich ein solcher Verstand angenommen werden müßte, es ist nur eine Zdee, die der reflektierenden Urteilskraft zum Prinzip dient, und diese gibt sich dadurch nur selbst und nicht der Natur ein Gesetz.

Aus dein allen kurz das Fazit gezogen:

Unser verstand verhält sich so gesetzgebend, „schaffend"

zur sinnlichen Erscheinung wie der intuitive zu ihrem

übersinnlichen Substrat, dem Urbild. Dem urbildlichen

Verstand verdanken die Gegenstände ihre Existenz,

dem diskursiven ihre Form.

Die Tätigkeit des „innern und äußern Sinns" be­

steht im Auseinanderziehen, im Aneinanderreihen, so

entsteht das Zeiträumliche. Der verstand betätigt seine

Spontaneität, indem er das Gegebene auf seine Weise

verbindet. Der intuitive verstand bringt alles selbst

hervor, nicht durch Sinnlichkeit zerteilt, er braucht also

nichts zu verbinden.

Page 211: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

195

§ 57*).

Das Analytisch-Allgemeine und das Synthetisch-Allgemeine.

Unter einem „synthetischen Geist" pflegt man — im

Widerspruch zu der von der Chemie hergenommenen

Bedeutung des Wortes Synthese — einen solchen zu

verstehen, der nicht vom (Einzelnen ausgehend das Ganze

zusammensetzt, sondern der umgekehrt vom Ganzen ins

Einzelne geht. Ebenso scheint auch das „Synthetisch-

Allgemeine" in dem eben zitierten Passus UKr. § 77

zunächst mit einer Zusammensetzung nicht das min-

deste zu tun zu haben. Außerdem fällt dort besonders

die Wendung auf, der intuitive Verstand gehe „vom

Synthetisch-Allgemeinen zum Besondern, das ist vom

Ganzen zu den Teilen". Aus ihr glaubte f?«ns Driesch

schließen zu müssen, daß Kant die Begriffspaare „Ganzes-

Teil" und „Allgemeines-Besonderes" verwechsle. (Kant-

studien 1,92).) )osef Spindler versuchte (Kantstudien

H925) Kant gegen diesen Vorwurf in Schutz zu nehmen,

aber seine Interpretation des fdntifchen Textes er­

scheint — mir wenigstens — noch dunkler als dieser

Text selber. Die folgende Erklärung der umstrittenen

Stelle hat sich mir aufgedrängt, als ich Kants gesammelte

Werfe daraufhin studierte, in welchem Sinn er die

Ausdrücke Analyse und Synthese sonst zu gebrauchen

*) Auch dieser Paragraph gehört nicht unmittelbar zum Thema und kann ausgelassen werden.

13

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Der intuitive Verstand.

pflegt. ZU meiner Freude hatte Herr Geheimrat Driesch

die Güte, mir brieflich zu bestätigen, daß auch.ihm diese

Lösung befriedigend erscheint.

3rt Kants Logik, Abschnitt VIII, finden wir folgende

Definition der Begriffe „diskursiv" und „intuitiv".

„Die menschliche Erkenntnis ist vonseiten des Verstandes dis-kursiv, i>. h. sie geschiebt durch Vorstellungen, die das, was mehreren Dingen gemein ist, zum Erkenntnisgrunde machen, mithin durch Merkmale als solche. Wir erkennen also Dinge nur durch Merkmale."

„Analytische Merkmale sind Teilbegriffe eines wirklichen Begriffs, die ich darin schon denke. Synthetische Merkmale sind Teilbegrisfe eines bloß möglichen ganzen Begriffs, der also durch eine Synthesis mehrerer Teile erst werden soll."

„<£s ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Sätzen: einen deutlichen Begriff machen und: einen Begriff deutlich machen, lvenn ich „einen deutlichen Begriff mache", so fange ich von den Teilen an und gehe von diesen zum Ganzen fort. Dieses syntheti­schen Verfahrens bedient (ich der Mathematiker und auch der Natur-philofoph. Alle Deutlichkeit ihrer Begriffe beruht auf einer Er-Weiterung derselben durch Synthefis der Merkmale, lvenn ich aber „einen Begriff deutlich mache", so ist das eine bloße Zergliederung meiner Erkenntnis, ich lerne nur besser unterscheiden oder mit klarerem Bewußtsein erkennen, was in dem Begriffe schon lag. Durch diese Analysis, womit sich die Logik beschäftigt, wird die Erkenntnis so wenig vermehrt, wie eine Karte durch Illuminieren inhaltsreicher wird. Zur Synthefis gehört die Deutlichmachung der (Objekte, zur Analysis die Deutlichmachung der Begriffe."

lvas kann nun auf dieser Grundlage das Analytisch-

Allgemeine und das Synthetisch-Allgemeine bedeuten?

Das Analytisch-Allgemeine ist ein Begriff, aus Merk­

malen zusammengesetzt, die mehreren Dingen gemein

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§ 57. Analytisch-Allgemeines und Synthetisch-Allgemeines H95

sind. Das Synthetisch-Allgemeine aber ist identisch mit

dem Objekt. Dieses wäre — nach dem zweiten Zitat —

ein möglicher ganzer Begriff, der durch Synthesis erst

werden soll, vom Objekt habe ich als Mensch niemals

den ganzen Begriff parat, es ist für mich eine unendliche

Aufgabe, Merkmal an Merkmal zu reihen.

Das Analytisch-Allgemeine kann auf beliebiger Stufe

als vollständig angesehen werden. Allgemein ist es,

weil seine einzelnen Merkmale mehreren Dingen zu-

gehören, und eben diese Dinge sind ihm gegenüber das

Besondere. Das Synthetisch-Allgemeine dagegen ist

darum allgemein, weil es alle Merkmale des Objekts

enthält, und ihm gegenüber bedeutet ein Teilkomplex

d i e s e r M e r k m a l e d a s B e s o n d e r e .

So und nur so kann ich mir die Wendung begreiflich

machen: der intuitive verstand gehe vom Synthetisch-

Allgemeinen zum Besonderen, das ist vom Ganzen

zu den Teilen.

Das Analytisch-Besondere ist identisch mit dem

Synthetsch-Allgemeinen. Indessen: in seiner Eigenschaft

als analytisch Besonderes ist es nur teilweise bekannt,

während es als synthetisch Allgemeines vollständig be­

kannt sein muß — bloß für einen andern Verstand.

Warum aber soll ein verstand, der imstande ist, das

synthetisch Allgemeine zu erkennen, gerade ein intellectus

a r c h e t y p u s s e i n , a l s o e i n s o l c h e r , d e r v o m U r b i l d

ausgeht?

13*

Page 214: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

(G)6 Der intuitive Verstand.

£?ter muß man sich erinnern, daß die Beziehung

zwischen Urbild und Nachbild eine ganz eigentümliche

rst. Das Urbild ist ja kein Begriff, keine Abstraktion,

gewonnen durch ZVegl<issung des Individuellen — im

Gegenteil, es soll auf irgend eine geheimnisvolle Weise

sämtliche Nachbilder voll in sich enthalten. Nur alle

konkreten Gegebenheiten zusammen entsprechen der

)dee. Darum steht das Besondere, etwa ein einzelnes

Tier, dem Allgemeinen, dem Urbild des Tieres, so

gegenüber wie der Teil dem Ganzen. Dagegen ist im

Begriff Tier das (Einzeltier nicht ganz enthalten und

daher von ihm aus nicht voraussehbar.

vom inteilt gibein Charakter sagt Kant, daß an ihm

gemessen das ganze empirische Leben des Menschen nur

ein einziges einheitliches Phänomen sei, in dem das

Früher und Später feine Bedeutung habe. Weil nun für

das Noumenon in der organischen Natur, d. h. das

Urbild, das gleiche gilt, so würde für einen „urbildlichen

verstand" der Begriff der „Endursachen" verschwinden.

ll?eil aber ebenso wie die zeitliche Aufeinanderfolge auch

das räumliche Nebeneinander nur ein Werk unserer

„Sinnlichkeit" ist, so dürfte es eigentlich Teile im üblichen

räumlichen Sinn für den intuitiven verstand gar nicht

geben. Und so mündet man freilich bei dem alles Denken

abschneidenden Ausspruch Kants, daß „das Noumenon

im Grunde für alle Dinge einerlei ist" und bei dem

parallelen Wort Goethes: „Die )dee ist ewig und einzig;

daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohl getan".

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§ 57. Analytisch-Mgemeines und Synthetisch-Allgemeines ^97

Mas Siber die Zweideutigkeit der Ausdrücke „Synthese

und Analyse" anbelangt, so ist sie glücklicherweise schon

Konti selbst aufgefallen, und in der Dissertation von v?o e r k l ä r t e r u n s , d a ß d i e s e A u s d r ü c k e e i n m a l q y g l i t a t i ?

und einmal quantitativ gebraucht werden.

„dZualitatjv ist Ana^se ein Zurückgeben von der Folge zum Oruud, Synthese ein Fortschreiten vom Grund zur Folge.

Quantitativ ist Analyse ein Rückschreiten von einem

gegebenen Ganzen zu den Teilen und den Teilen der

Teile, Synthese ein fortschreiten von einem gegebenen

Teil durch dessen Ergänzungen zum Ganzen."

In diesem Sinn stellt auch Goethe der synthetischen

BeHandlungsweise des Geoffroy die analytische des

Cuoier entgegen, und dieser Sinn ist es, in dem man wohl

sonst die Ausdrücke „synthetischer und analytischer Geist*

gebraucht.

)n Prolegomena § 5 bemerkt Kant, es sei unmöglich,

wenn die Erkenntnis nach und nach vorrückt, immer

Verwechslungen zu verhüten, indem gewisse, aus dem

Kindheitsalter der Wissenschaft stammende, aber schon

klassisch gewordene Ausdrücke fortgeschleppt werden.

„Analytische Methode, sofern sie der synthetischen entgegen-gesetzt ist, ist etwas ganz anderes als ein Inbegriff analytischer Sätze. In dieser Cehratt bedient man sich öfters lauter synthetischer Sätze, und sie könnte besser die regressive Lehrart zum Unterschied von der synthetische^ oder progressiven heißen."

Diese Begriffe decken sich wohl auch mit dem, was

wir induktiv und deduktiv nennen.

Page 216: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

*98 Der intuitive Verstand.

Wie aber die beiden Begriffspaare bei Kant doch

miteinander zusammenhängen, zeigt ein Satz aus der

„Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze"

von H760: es sei weit schwerer, durch Zergliederung

gegebene verwickelte Erkenntnis aufzulösen, als durch

Synthesis einfache Erkenntnisse zu verknüpfen und so

a u f F o l g e r u n g e n z u k o m m e n .

)n der Mathematik entstehen die Begriffe durch Syntbesis, in der Philosophie durch Analysis.

3n der Mathematik ist also das Fortschreiten vom

Einfachen zum Zusammengesetzten identisch mit dem

Fortschreiten vom Grund zur Folge.

Daneben aber macht Kant noch einen sehr in-

teressanten Unterschied, der uns wieder zu der Deutung

des „Synthetisch-Allgemeinen" zurückführt.

Ich kann zu dem Begriff „tVelt" auf zweierlei Art gelangen. Entweder ich denke rein abstrakt: die lvclt ist der Inbegriff alles dessen, was es gibt. (Oder ich setze, gleichsam wie wenn ich eine Addition zu leisten hätte, einen Teil zum anderen sukzessive hinzufügend, die anschauliche Vorstellung „lvelt" zusammen.

Diese Art Erzeugung bedarf der Zeit als Bedingung.

Nur wenn alle Teile zusammengesetzt worden sind,

entsteht der Begriff eines Ganzen, und diesen nennt

dann Kant den synthetischen Begriff der U?elt. Hier

haben wir also schon die Zuordnung: Analyse-Begriff,

Synthese-Anschauung, die an der besprochenen Stelle

der Kritik der Urteilskraft so verwirrend wirkt.

Page 217: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

199

§ 58.

Goethes „anschauende Urteilskraft"*) (A \69).

Da es hauptsächlich dieser Aufsatz ist, auf den man

sich beruft, wenn matt Goethe im Gegensatz zu Kant

den Besitz eines anschauenden Verstandes zuspricht, so

muß sein Inhalt genau analysiert werden.

Wie glänzend Kant durch die Worte charakterisiert

wird, der köstliche Mann deute schalkhaft ironisch über

die selbst gezogenen Grenzen immer wieder hinaus,

darauf wies ich schon in § 5 hin. Goethe zitiert Kants „liberale Äußerung", daß die Idee eines intellectus

archetypus feinen Widerspruch enthalte, und daß wir

sogar notwendig auf sie geführt werden. Soweit ist

alles bloß Referat. Nur ganz wenige Zeilen enthalten

Goethes eigene Meinung:

Zwar scheint der Verfasser auf eilten göttlichen verstand beuten z u w o l l e n , a l l e i n . .

Matt erwartet einen Widerspruch nach diesem „allein".

<£t bleibt aus.

es dürste doch fein, daß wir uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten.

3ft das alles? Nun, von hier bis zum intuitiven

verstand, durch dessen bloßes Selbstbewußtsein die

Dinge existieren, ist noch ein weiter Weg. Wann und wo

hätte Kant geleugnet, daß wir uns der geistigen Teil­

*) Dieser Ausdruck scheint Goethes Erfindung zu sein.

Page 218: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

200 Der intuitive verstand.

nähme an den Produktionen der Natur würdig machen

könnten?

Die Bedeutung des letzten Satzes von A also

den sachlichen Zusammenhang zwischen Typus, Meta­morphose und Abenteuer der Vernunft bloßzulegen,

erfordert viele Worte. <Ls geschieht in den einschlägigen

Paragraphen, fjiet möchte ich mehr auf den Ton

Gewicht legen: üjati ich erst schon unbewußt ..., so konnte

mich nun nichts mehr hindern. Das heißt also, Goethe

sieht sich durch die vielen verlockenden Schilderungen, die

Aant von einem andern möglichen Verstand entwirft,

befeuert, ermutigt, gefördert.

Vas er in Italien empfunden hatte:

lim die Urpflanze soll mich die Natur selbst beneiden! Mit diesem Modell kann man pflanzen ins Unendliche erfinden, die wenn sie nicht existieren, so doch existieren könnten,

das klingt in der Tat stark an die Spontaneität des in-

tuitiven Verstandes an. Es ist zwar nicht der göttliche

verstand selber, aber es ist eine menschliche An­

näherung an ihn, gleich der damit in Analogie gebrachten

„Annäherung an das erste Niesen durch Glauben an

Tugend, Gott und Unsterblichkeit". Darum:

Intuitiver Verstand (Kants) auf Metamorphose der Pflanzen bezüglich (A \65)

und Leidenschaftlich aufgeregt ging ich meinen lveg weiter fort.

Aber — das alles ist eine historische Erzählung im

Imperfekt. Der Goethe von (8*7 erinnert sich, daß es

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§ 58. Go«thes „Anschauende Urteilskraft". 20^

in dem Kant lesenden Goethe von V90 selig jubelte:

Ich, ich hab ihn, diesen schauenden verstand. Nichts spricht dafür, daß er dieses Glaubens auch im Jahre *8V noch gewesen sei. Längst vorbei ist die Zeit, wo er gemeint hatte, Urbilder mit Augen zu sehen, längst ist die sinnlich-übersinnliche Urpflanze in die Idee der Pflanze übergegangen, der Typus zu einer Abstraktion geworden (vgl. § 67). Und will man ganz nachfühlen,

mit welch wehmütiger Überlegenheit der alte Goethe auf jene schöne, aber längst überwundene (Epoche naiver

Überheblichkeit zurückblickt, so muß man den Brief A <9? an Zelter lesen, wo das Gedicht „lveltseele" kommentiert wird.

Das £teb ist seine guten dreißig Jahre alt und schreibt sich ans der Zeit her, wo ein reicher jugendlicher Mut sich noch mit dem Universum identifizierte, ja es in seinen Teilen wieder hervorzubringen glaubte, lvie weit wir auch im philosophischen Erkennen vorge-drungen sein mögen, so war es doch in der Zeit von Bedeutung.

Sehr charakteristisch dieses „wieder hervorbringen", in die Augen springend die AnaloKe mit „Kants in­tuitivem verstand". Tempi passati!

Aber wie lange sind sie denn vorüber, diese glücklichen

Zeiten? Goethes „gut dreißig Jahre" hält man für eine Überschätzung, denn da ein Buch von Schelling eben-falls Weltseele heißt, zweifelt niemand an dem Zu-

sammenhang dieses Gedichtes mit Schelling, und so verlegt man es in die Gegend des Jahres tsoo.

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202 Der intuitive verstand.

Das ist aber eine offensichtlich falsche Datierung, denn im Jahre *800 lebte kein Goethe mehr, der einen

reichen jugendlichen Mut besaß und der Lust gehabt hätte, ein Universum hervorzubringen. Damals lebte der Goethe der Farbenlehre und der recht langweiligen

j?ropyläenauffätze.

Tatsächlich belehrt die flüchtigste Durchsicht des Schellingschen Werkes darüber, daß zwischen ihm und dem Gedicht keinerlei Bezug obwaltet. Sogar die ver-

wandtschaft des Titels besteht nicht zu Hecht, denn das

Gedicht hieß ursprünglich „Weltschöpfung", behandelt auch wirklich die (Entstehung der Welt und muß offenbar um die mitte der Achtzigerjahre entstanden sein, auf dem

Höhepunkt der Freundschaft mit Herder. Denn von dieser Zeit berichtet Goethe:

Unser tägliches Gespräch beschäftigte sich mit den Uranfängen der Wassererde und der darauf von altersber sich entwickelnden organischen Geschöpfe.

§ 59-

Zwischenstück.

Goethes Gedicht „tveltseele".

Die „Uranfänge der Wasser-Erde" sind das Thema des Gedichts. Die ersten Strophen haben einige Ähnlich­keit mit Kants Himmelstheorie. Herder liebte diese

Schrift sehr und knüpft auch in den „)deen" an sie an. Bei Kant heißt es:

Page 221: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 59- Goethes „ZVeltseele", 205

Das ist aber was Wichtiges und der größten Aufmerksamkeit würdig, daß die Schöpfung oder vielmehr die Ausbildung der Natur bei diesem Mittelpunkt zuerst anfängt und mit stetiger Fort-schreitung nach und nach in alle fernere Weiten ausgebreitet wird, tarn den unendlichen Raum in dem Fortgang der Ewigkeit mit lvelten und Ordnungen zu erfüllen. Lasset uns dieser Vorstellung einen Augen-blick mit stillem Vergnügen nachhängen. Ich finde nichts, das den Geist des Menschen zu einem edleren Erstaunen erheben kann, als diesen Teil der Theorie, der die sukzessive Vollendung der Schöpfung betrifft- -.

)ch könnte mir gut vorstellen, daß dieser Gedanke die Verse geboren habe:

verteilet euch nach allen Regionen von diesem heil'gen Schmaus Begeistert reißt euch durch die nächsten Zonen 3ns All und füllt es aus.

Auch Kant wird, schätze ich, dieser Vorstellung mit etwas mehr als bloß „stillem Vergnügen" nachgehangen haben. Zu der Zeit, als er sie hegte, glaubte auch sein reicher jugendlicher Mut ein Universum hervorzu-zaubern. „Gebt mir Materie, und ich will eine tvelt daraus bauen".

Kants Schrift selbst ist ein begeisterter Hymnus auf die Natur, häufig so in Pathos getaucht, daß bloß die Zeileneinteilung fehlt, um Verse daraus zu machen.

Mr sehen es, lvie der unendliche Raum der göttlichen Gegenwart 3« einer stillen Nacht begraben, voll von Materie Den künftigen lvelten zum Stoffe zu dienen, von Triebfedern voll,

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20* Der intuitive verstand.

Sie in Bewegung zu bringen, Womit die Unermetzlichkeit der Öden Räum« Dereinst noch soll belebet werben.. . .

(II. Teü, 7 . Hauptstück.)

Die Theorie besagt weiter:

lvie die Erzeugung und Bildung der lvelt von dem Zentro zuerst angefangen, so auch breitet sich das verderben und die Zerstörung nach und nach in die weiteren (Entfernungen aus, um alle lvelt, welche ihre Periode zurückgelegt hat, durch allmählichen verfall ihrer Be-wegungen zuletzt in einem einzigen Chaos zu begraben. Indem die Natur an der einen Seite neben dem Mittelpunkt veraltet, ist sie an der anderen jung und an neuen Zeugungen fruchtbar. Die aus­gebildete UOeli liegt zwischen den Ruinen der zerstörten und dem Chaos der noch nicht gebildeten mitten inne.

!venn wir diesem Phönix der Natur, der sich nur verbrennet, um aus seiner Asche verjünget aufzuleben, durch alle Unendlichkeit der Zeiten und Räume hindurch folgen, wenn wir sehen, wie sie mit stetigen Schritten fortschreitet, um die Ewigkeit sowohl als alle Räume mit Wundern zu füllen, so versenket sich der Geist in ein tiefes Erstaunen.

Die geheimnisvollen „Ihr" Goethes aber, die be-lebenden Kräfte, schweben bald in ungemessenen fernen

und leuchten neu im lichtbesäten Raum, treiben sich als gewaltige Kometen, das Labyrinth der Sonnen und

Planeten durchschneidend, weiter hinaus, greifen nach ungeformten Erden und beleben sie in abgemessenem

Schwung, um am Ende wieder zu verlöschen und vom All ins All zurück zu sinken. So weit die Analogie mit der Himmelstheorie. Die s. und ?. Strophe klingen

leise an Herder an, denn der sagt z. B.:

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§ 59- Goethes „tveltfeele". 205

So wuchs die Schöpfung in immer feineren (Organisationen stufenweise heran, bis endlich der Mensch da steht (ein Mann und ein n?2ib,),bas feinste Kunstgebilbe der (Elohim, der Schöpfung vollendete Krone.

)ch schätze, daß das Gedicht ungefähr aus der gleichen Zeit stammen dürfte wie die Betrachtungen über den Granit. )n späterer Zeit vermied es Goethe geftissent-

lich, über die „Uranfänge" nachzudenken und hielt sich gern „in der Mitte".

lvenn Goethe jemals die Meinung gehabt haben sollte, einen intuitiven verstand zu besitzen — ganz ernst wird es ihm wohl nie damit gewesen sein — so sind jedenfalls die Äußerungen von ihm aus späterer

Zeit sämtlich historisch zu nehmen und atmen sämtlich den Ton einer wohlwollend auf )ugendtorheiten zu-

rückschauenden Besonnenheit. Auch hätte er ganz gewiß nicht mit so innigem Vergnügen den Aufsatz über die

„vornehmen" (A 77 u. 79) begrüßt, wenn er sich selber zu

jenen mit intellektueller Anschauung Gesegneten ge-zählt hätte, die darin verspottet werden.

Zu diesem Aufsatz wurde Kant durch Schlossers Über­setzung der Briefe platos veranlaßt. gleichen Jahr (*796) wurde Goethe durch eine andere plato-

überfetzung angeregt, einer Betrachtung unter dem

Titel „piato als Mtgenosse einer christlichen Offen-barung" (HX A. 5. V69), worin er — ohne diesen

Ausdruck wörtlich zu gebrauchen — die „Vornehmen",

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206 Per intuitive verstand.

die sich besonderer Offenbarungen rühmen, leicht ironisiert

und wünscht, piato mochte doch einmal kritisch bearbeitet'

werden — das sei wichtiger als „sich dunkel an ihm zu erbauen", wofür ein geringerer Schriftsteller auch genüge.

§ 60.

Kants Intuition.

Sehen wir von der Art ab, wie Kant den intuitiven

Verstand definiert, nehmen wir das Wort „Intuition" im populären Sinn, dann freilich hat Goethe diese Gabe

besessen, aber Kant nicht um ein Iota weniger. Über die Tatsache, daß Kant im Wesentlichen ein in­

tuitiver Geist war, herrscht auch, soviel ich sehe, Einigkeit unter den Forschern.

Adickes, der Verfasser eines großen Werkes über

„Kant als Naturforscher" ist gegen seinen Helden ein wenig voreingenommen. Ulan kann ihm das nicht ver­denken, da ihm die Herkulesarbeit zufiel, das Opus posthumum Herauszugeben. N)er da dutzendemale in

allen Variationen abschreiben muß: „)st nicht die „Transzendentalphilosophie selbst ein Galvanismus? töas man (Saloanism nennt, ist eigentlich die Tr. pH.", dem

ist eine gewisse Rachsucht nicht zu verübeln. Aber neben vielen überscharfen Urteilen spricht, Adickes doch auch dieses aus, daß Kant die dem Genie eigentümliche

Tätigkeit vollzog: Zusammenschauen des scheinbar Hete­

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§ 60. Kants Intuition. 207

rogenen in höherer (Einheit, intuitives Erfassen der

Gesetzmäßigkeiten. In den Naturwissenschaften sei Kant nur ein Dilettant gewesen, er habe sich ihrer beiden wichtigsten Hilfmittel nie zu bedienen gewußt, des Experiments und der Mathematik, und wenn er

trotzdem zu wertvollen Ergebnissen kam, so seien diese nur seiner seltenen Divinationsgabe und seiner genialen

Intuition zuzuschreiben. Seltsamerweise deutet Adickes mit keinem tüort an,

wie sich dieses intuitive Denken des Menschen Kant zu dem abgeleugneten intuitiven verstand des Philosophen Kant verhalten mag. Der wesentliche Unterschied ist wohl der, daß alles Zusammenschauen des produktiven Menschen seine Elemente mittelbar oder unmittelbar aus der Sinnlichkeit holt, die unbewußt innerlich ver-

arbeitet werden, bis schließlich unversehens das an die Oberfläche spritzt, was Goethe ein Aper?u, ein plötzliches Gewahrwerden nennt. Solche blitzartige, nicht sofort

wissenschaftlich verwertbare „Einfälle" waren Kant wohl vertraut. In seinen Reflexionen redet er gelegentlich davon. Im System fällt wohl alles derartige unter die Begriffe „Synthesis" und „produktive Einbildungskraft". Nach Kant (Rv. § 56) ist ja Verbindung die Grundlage alles Denkens, ob sie bewußt oder unbewußt, langsam oder schnell, in Gleichmut oder Begeisterung erfolgt — das alles gehört noch zum diskursiven verstand. Der intuitive aber verbindet nicht, weil ihm gar nichts von

außen gegeben ist, er zeugt eine Welt aus sich heraus.

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208 Der intuitive Verstand.

§ 6 V

Intellektuelle Anschauung und Traumbewußtsein.

Die Frage, ob es nicht trotz Kant eine Möglichkeit gibt, sich mit der N?elt an sich in Kontaft zu setzen, fommt

nie zur Ruhe. Ein interessantes Buch von R. Bücke, „Cosmic consciousness" schildert Zustände eines solchen vermuteten Kontakts bei einer Reihe bekannter Persön­

lichkeiten wie ZValt tOhitman, Balzac, Pascal usw.

Edward Carpenter beschreibt ihn:

Das individuelle Bewußtsein nimmt die Form des Gedankens an, flüssig und beweglich wie (Quecksilber, fortgesetzt in Wechsel und Unruhe, beladen mit Schmerz und Anstrengung, — das andere Be-wußtsein ist nicht in der Form des Gedankens. (Es berührt, hört, sieht und ist die Dinge, welche es wahrnimmt, — ohne Bewegung, ohne Veränderung, ohne Anstrengung, ohne Unterscheidung von Subjekt und Gbjekt, aber mit einer unbegrenzten und unbeschreibbaren Freude.

Bücke selber schildert ein eigenes Erleben so:

einen Augenblick lang dachte ich an Feuer, bann entdeckte ich, daß das Sicht in mir selbst war. Übet mich kam ein Gefühl des Triumphs, einer unendlichen, unermeßlichen Freudigkeit, begleitet von einer unbeschreibbaren intellektuellen Erleuchtung. In mein Gehirn strömte einen Augenblick lang ein Blitz von dem Glanz des Brahman, auf mein ßerz fiel ein Tropfen feiner überirdischen Seligkeit, und ließ mir von da für alle Zeiten einen Nachgeschmack des Himmels. Ich .glaubte nicht etwa, — nein ich sah und wußte, daß die tvelt keine tote Materie ist, sondern lebendige Gegenwart und die Seele unsterblich, daß die Dinge nicht von ungefähr zum Woble Aller zusammenwirken, daß das Grundprinzip der lvelt die kiebe ist und das Glück jedes Einzelnen früher oder später gewiß.

Page 227: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 6V Intuitiver verstand nnb Unterbewußtsein, 209

<Ls sei mir gestattet, Verse anzufügen, die sich mir

selbst als Folge eines derartigen Zustandes gestaltet

haben.

Göttlicher Zeus, Befruchter der lvelt, Der du in tausend Gestalten herabsteigst zur Lrde, — Dank dir, Demütiger Dank, Daß du auch mich erwählt hast, Auch mit erschienen bist, Die in Sehnsucht nach dir sich verzehrte-

Einmal durft ich die ZPelt So schauen wie du sie siehst, Einfach ihr Plan, Klar ihr Gesetz, wissend, wie alle- ward und wie e; werden muß.

Einen Augenblick lang Warst du in mir, Göttlicher Geist Nur einen Hetzschlag lang, Aber Jahrzehnte hab' ich den Menschen zu künden von deinem Glanz und Reichtum Und von dem Wissen, das du mit gabst-

Der Schluß ist leider nicht wahr geworden, außer diesen Versen besitze ich keinerlei Erinnerung an das Erlebnis.

Selbstverständlich würde Kant — und mit Recht —

von solchen Erleuchtungen nicht viel halten, lveiß man doch nie, was daran sogenannte „Einbildung" ist. )n-

14

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2*0 Der intuitive Verstand.

dessen—das wenige,was man heute vomUnterbewußtsein

kennt, scheint doch dafür zu sprechen, daß etwas im Menschen sitzt, was weder Anschauung noch verstand ist, aber vielleicht beider verborgene Wurzel, aus der sie

sich entwickelt haben und beständig Nahrung saugen. Sin „Erkenntnisvermögen" sollte man es nicht nennen, dieses Wort muß für das bewußte Denken reserviert bleiben — aber der unbewußte Apparat verleiht ein unmittelbares

„Kennen", ein „Wissen", das sich durch starke subjektive Lvidenz auszeichnet. Lr denkt nicht diskursiv, nicht in Begriffen. Die Sätze der Togik scheinen für ihn nicht zu gelten. Man kann im Traum oder im Mythus gleich­zeitig ein Mensch und ein Papagei sein. Auch der Unter-

schied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit existiert nicht. Was man denkt, ist sofort wirklich und so objektiv „ge-geben", daß man es als Unbeteiligter studieren kann. Das sind alles merkwürdige Ähnlichkeiten mit der

Schilderung,die Kant von seinem'„intuitiven verstand"gibt. Gelegentlich kann man auch hören: das räumliche

und zeitliche fernsehen beweise, daß das Unterbewußtsein wirklich die „Dinge an sich" in all ihrer Zeit- und Raum--losigkeit liefere. So bestechend der Gedanke wäre, er ist zu kühn, vorläufig kann man nur sagen, daß da eine andere Form von Äaum und Zeit herrsche als die gewohnte.

Daß aber, um einen Ausdruck Paul Dahlkes zu gebrauchen, die Intelligenz „nur Sonderfall des Wissens ist, nur eine dünne Schicht über einer unergründlichen

Page 229: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 6 V Intuitiver verstand und Unterbewußtsem. 2 ̂

Tiefe", das war Kant nicht fremd. Einmal protestiert er sogar dagegen, daß man die Gedanken des tiefen Schlafs

„dunkle Gedanken" nenne. Daß man sich nach dem Aufwachen ihrer nicht erinnere, beweise nicht, daß sie dunkel gewesen seien, sonden nur, daß man ein anderes Bewußtsein eingeschaltet gehabt habe. Und jene „liberalen Äußerungen" über den intutiven Verstand, über den er,

beständig versichernd, daß man nichts von ihm wisse, doch soviel positives zu sagen weiß — legen nicht den Verdacht nahe, daß er ähnlicher Gaben sich selbst bewußt war?

Bekanntlich behaupten die Anthroposophen, daß sie einen höheren Sinn besitzen, der ihnen die Erkenntnis des Ansich vermittelt. Manche vermeinen, ihnen diese

Fähigkeit a priori absprechen zu dürfen, weil doch Kant „bewiesen" habe, daß es nichts dergleichen gibt. Aber erstens hat Kant das gar nicht bewiesen — im Gegenteil,

er betont wiederholt und nachdrücklich, es lasse sich

nicht beweisen. Zweitens und hauptsächlich: hätte Kant bewiesen, daß eine intellektuelle Anschauung unmöglich

sei, so müßte dieser Beweis in Staub zerfallen, sobald

ein Wesen auftauchte, das ihre Realität demonstriert. Denn vor der Wirklichkeit wird auch der schönste Beweis

zuschanden. Schlimmer ist es, daß alle die Erleuchtungen, die man

von einem Geist erwarten müßte, welcher sowohl die

Erscheinung als ihr intelligibles Substrat durchschaut, welcher zudem die philosophischen Probleme kennt,

14*

Page 230: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

2\2 Zdee und 3öealismus.

dem also ihre Lösung angelegen sein müßte, bisher aus-

geblieben sind. Wie es zugeht, daß sich das Ansich in

Erscheinung umsetzt wie in der organischen Natur Zweck-Mäßigkeit und Kausalität verkoppelt sind, wie in der sittlichen lvelt Freiheit in den Naturmechanismus ein-greift, über alle diese Probleme habe ich in unzähligen

vorträgen und Schriften der Anthroposophen ke'n

aufklärendes iVort gehört. Freilich mögen sie sich

auf Kants Aussxruch berufen, daß „selbst wenn uns je-mand über die Dinge an sich etwas erzählen würde, wir es nicht einmal verstehen könnten", aber irgendwie müßte

man doch das Gefühl bekommen: hier redet ein Wissender, irgendwie müßte auf die uns geläufigen Probleme von dieser geheimen Kunde her ein Licht fallen. Und danach

habe ich in andauerndem gewissenhaftem Hören und

Lesen vergeblich gelechzt. Darum habe ich persönlich keinen Anlaß, an die Existenz eines besonderen Organs bei Rudolf Steinet und den Seinen zu glauben.

F ü n f t e s K a p i t e l .

Idee und Idealismus:

§ 62.

Kants Zdeenlehre.

Das Zdeenproblem ist eines jener Gebiete, auf denen

man am stärksten den Gegensatz Kant-Goethe zu spüren meint. Ich habe zwar schon mehrmals ange-

Page 231: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 62. Kants Ideenlehre. 2*3

beutet, wieviel Goethe gerade hier von Kant gelernt hat,

aber damit dies ganz deutlich werde, ist es notwendig, Kants 3&eenlehre im Zusammenhang wiederzugeben.

Rv. Von den )deen überhaupt:

IVetm matt nach einem Ausdruck für einen Begriff sucht, so tut man am besten, sich in einer loten Sprache danach umzusehen, ob nicht ein ähnlicher Begriff samt dem passenden Ausdruck bort schon vorhanden war, und wenn fein Gebrauch schwankend geworden sein sollte, befestige man ihn und behalte ihn sorgfältig für nur eine Be­deutung auf. Ich will mich in keine literarische Untersuchung darüber einlassen, welchen Sinn plato mit seinem Ausdruck Idee verband. £s ist nichts Ungewöhnliches, daß man durch vergleichung der Ge­danken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn besser verstehen könne, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte und dadurch bisweilen seiner eigenen Ab-ficht zuwider redete ober auch dachte.

Eine für Kantforscher sehr erfreuliche Feststellung.

plato bediente sich des Ausdrucks Idee so, daß man sieht, er habe darunter etwas verstanden, was nicht allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, sondern sogar die Begriffe des Verstandes weit übersteigt, indem in der Erfahrung nichts Kongruierendes angetroffen wird. Die Zdeen sind bei ihm Urbilder der Dinge selbst und nicht bloß Schlüssel zur möglichen (Erfahrung wie die Kategorien. Nach feiner Meinung stoßen sie aus der höchsten Vernunft aus und wurden von da der menschlichen zuteil. Diese aber hat Mühe, die alten, jetzt sehr verdunkelten Ideen durch «Erinnerung, die Philosophie heißt, zurückzurufen. In dieser mystischen Deduktion der Zdeen kann ich ihm nicht folgen, auch nicht in den Übertreibungen, wodurch er sie Hypo­stasie! te; indes ist die hohe Sprache, deren er sich in diesem Felde be­diente, einet milderen und der Natur der Dinge angemeffereren Aus­legung fähig.

Page 232: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

3bee und Idealismus.

plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, daß unsere Vernunft sich natür-licherweise zu Erkenntnissen aufschwinge, die weit übet jede mögliche Erfahrung hinausgehen, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keineswegs bloße Hirngespinste sind.

pluto fand feine Ideen vorzüglich in allem, was praktisch ist, d. h, was aus Freiheit beruht. IPet die Begriffe der Tugend aus der Erfahrung schöpfen, wer das, was allenfalls als ein Beispiel zur unvollkommenen Erläuterung dienen kann, zum Muster machen wollte, der würde aus der Tugend ein nach Zeit und Umständen wandelbares, zu keiner Regel brauchbares Unding machen. Jeder fühlt, wenn ihm ein Muster der Tugend vorgeführt wird, daß er das wahre Original doch in feinem Kopfe habe. Mit ihm vergleicht er, nach ihm schätzt er es. Und dieses ist die Idee der Tugend. Daß niemals ein Mensch demjenigen adäquat handeln werde, was die Idee der Tugend verlangt, das beweist nicht, daß in dem (gebanten etwas Chimärisches liege. Denn alles Urteil über moralischen wert, jede Annäherung an moralische Vollkommenheit ist nur durch sie möglich.

lvenn man eine Idee nennt, so sagt man bem Objekt nach sehr viel, in Ansehung ihrer Wirklichkeit unter empirischen Bedingungen indes sehr wenig, da die Idee als der Begriff eines Maximum in concreto niemals gegeben fein kann, iveil nun aber im theoretischen vernunftgebrauch alles auf bas konkret Gegebene abzielt, und die An­näherung an einen niemals zu erreichenden Begriff soviel gilt, als wäre der Begriff ganz und gar verfehlt, so heißt es von ihm: „er ist ntir eine Idee". So würde man sagen können: das absolute Ganze aller Erscheinungen ist nur eine Idee. Denn da wir es im Bilde nie entwerfen können, bleibt es ein probiern ohne alle Auflösung. Im praktischen vernunftgebrauch dagegen kann die Idee wirklich, wenn auch nur teilweise, in concreto gegeben werben. Sie ist höchst fruchtbar unb unumgänglich notwendig, um wirkliche Handlungen hervorzu­bringen. So mangelhaft ihre Ausführung immer sei, — die Grenzen

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§ 62. Kants Zdeenlehre 2^5

sind nicht bestimmbar und der Begriff der absoluten Vollkommenheit gibt immer die Richtung. Hier hat also die Idee der Vernunft echte Kausalität, sie erzeugt das, was ihr Begriff enthält. Daher Farm man von der Weisheit nicht sagen: sie ist mir eine Zdee. Die platonische Republik wird als Beispiel einer Utopie, wie sie nuc im Gehirn eines müßigen Denkers ihren Sitz haben kann, verspottet. Unter dem elenden und schädlichen verwände, daß er unausführbar sei, setzt man diesen Gedanken beiseite. Aber eine Verfassung, die bewirkt, daß eines jeden Freiheit mit der der Anderen bestehen kann, ist eine notwendige Idee, die man allen Verfassungen zugrundelegen muß, — dabei ganz abstrahierend von den gegenwärtigen Hindernissen, die vielleicht nur daraus entspringen, daß man bei der Gesetzgebung die echten Zdeen vernachlässigte. Nichts Schädlicheres und eines Philosophen Un­würdigeres samt gefunden werden als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende (Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn man alle Anstalten den Ideen entsprechend getroffen hätte, anstatt aus der Erfahrung geschöpfte und eben darum rohe Be­griffe zugrundezulegen, die alle gute Absicht vereiteln mußten.

welches der höchste Grad sein mag, bei dem die Menschheit stehen bleiben müsse, wie groß also die Kluft sein möge, die zwischen der Idee und ihrer Ausführung notwendig übrig bleibt, —das kann und soll niemand bestimmen, weil hier Freiheit wirkt, die jede angegebene Grenze übersteigen kann.

Aber nicht bloß dort, wo Ideen wirkende Ursachen werden, nämlich im Sittlichen, — nein auch in der Natur selbst sieht Plato Mit Recht deutliche Beweise ihres Ursprungs aus Ideen. (Ein Gewächs, ein Tier, die regelmäßige Anordnung des Züeltbaus, die ganze Naturordnung zeigen deutlich, daß sie nur nach Ideen möglich sind, daß zwar kein einzelnes Geschöpf unter den einzelnen Bedingungen feines Daseins mit der )dee des vollkommensten feiner Act kongruiere, so wenig wie der Mensch mit der Idee der Menschheit kongruiert, die er als Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt, — daß aber

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2\6 Idee und Idealismus.

gleichwohl jene Ideen im höchsten verstände einzeln, unveränderlich, durchgängig bestimmt und die ursprünglichen Ursachen der Dinge sind, wenn auch nur einzig und allein das Ganze ihrer Verbindung, im Weltall der Idee adäquat sein kann.

Wenn man das Übertriebene des Ausdrucks absondert, so ist der Geistesschwung, wodurch der Philosoph von der kopielichen Betrachtung des physischen der lveltordnung zu ihrer architektonischen Verknüpfung nach Ideen hinaufsteigt, eine Bemühung, die Achtung und Nachfolge verdient. €in besonderes Verdienst kommt ihr im Sittlichen zu. Denn bet Betrachtung der Natur gibt uns Erfahrung die Regel an die Hand und ist der (Quell aller Wahrheit. In bezug auf die sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider!) die Nutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von dem hernehmen zu wollen, was getan wird.

Selbst die transzendentalen vernunftbegriffe, wenn wir auch von ihnen im Gegensatz zu den praktischen sagen müssen: „sie sind nur Ideen", sind keineswegs überflüssig und nichtig. Kann auch durch sie kein Gbjekt bestimmt werden, so dienen sie doch dem verstände unbemerkt als Kanon, indem sie ihm die Richtung auf eine Einheit vorschreiben, die darauf hinausgeht, alle Verstandeshandlungen in ein absolutes Ganzes zusammenfassen. Davon zu geschweigen, daß sie vielleicht von den Naturbegriffen zu den praktischen einen Obergang möglich machen und so den moralischen Ideen selbst Haltung und Fu-sanlmenhang mit den spekulativen Erkenntnissen der Vernunft ver­

schaffen können.

lvas Kant damit meint, sagt u. a. das Kapitel „Dom

Ideal des höchsten Guts" ziemlich am Lnde von HD.

Die Welt muß als aus einer Idee entsprungen vorgestellt werden, wenn sie mit dem moralischen Vernunft gebrauch zusammenstimmen soll. Dadurch bekommt alle Naturforschung eine Richtung nach einem System der Zwecke.

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§ 62. Kants Ideenleere. 2\7

von zwei Seiten kommt Kant zu dieser Überzeugung,

daß die lvelt aus einer Idee entsprungen „vorgestellt werden" muß, von der einen Seite führt ihn die Re­flexion bei Bewunderung der Natur und ihrer inneren

Gesetzmäßigkeit darauf, von der andern der Glaube bei Betrachtung der moralischen Welt. tPenn also Kant

an piato den „Geistesschwung" rühmt, der ihn von der kopielichen Betrachtung der Weltordnung zu ihrer

architektonischen Verknüpfung nach Ideen erhebt, wenn et dieser Bemühung Achtung und Nachfolge wünscht, so ist das in seinem Mund kein leeres kob. Diese Ver­knüpfung ist das Ziel seines Lebens.

Obgleich jener unheimliche Satz, der Goethe so un-glücklich machte, hier bereits überall durchklang — in

natura erscheint er erst in dem Kapitel „von der Un-Möglichkeit des physikotheologischen Beweises".

lveder der ontologische Beweis, der von „Dingen überhaupt" seinen Ausgang nahm, noch der fosmologifche, der an die Erfahrung von einem „Dasein" anknüpft, konnte leisten, was gefordert wird. Fragt sich nun, ob nicht eine bestimmte Erfahrung, nämlich die über die Dinge unserer lvelt, ihre Beschaffenheit und Anordnung, besser 311m Ziel führt. Der Bescheid kann leicht und bündig geliefert werden.

Denn wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte? Darin besteht eben das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne.

Die Idee von einem notwendigen Wesen ist so überschwenglich groß, daß man in der Erfahrung niemals Stoff genug anftreiben kann, um einen solchen Begriff 311 füllen.

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2^8 Idee und Idealismus.

§ 65.

Zur Deutung dieser Ideenlehre.

ZVenn wir nun zusammenfassen und begreifen wollen,

was Kant mit seinen Ideen meint oder nicht meint, so müssen wir folgende Behauptungen einander gegen-

überstellen:

V Allgemeine Definition der Idee: Eine Idee ist ein notwendiger vernunftbegriff, dem niemals eine Erfahrung kongruent gegeben werden kann.

2. Unsere Vernunft erhebt sich natürlicherweise zu Erkenntnissen, die weit über jede mögliche Erfahrung

hinausgehen, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität

haben und keineswegs bloße Hirngespinste sind.

3. Nicht bloß im Sittlichen, wo Ideen wirkende Ur-fachen werden, auch in der Natur sieht piato „mit Hecht" deutliche Beweise ihres Ursprungs aus Ideen.

$. Während aber im praktischen die Ideen konstitutiv sind und wirkliche Kausalität haben, sind sie in der Naturwissenschaft nur regulativ.

5. VOet meint, einen Begriff nicht voll erreichen,

heiße ihn verfehlen, jagt verächtlich „das absolute Ganze der Erscheinungen usw. ist nur eine Idee". Aber auch die transzendentalen Ideen sind keineswegs nichtig und

überflüssig, da sie immer dem verstand die Richtung auf das Ganze geben.

Page 237: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 63. Zur Deutung von Kants )deenlebre, 219

6. Auch moralische Erwägungen führen dazu, daß die Welt ans Ideen entsprungen fei.

7. Ideen sind bloße Gedankendinge, die ausschließlich in der Vernunft ihren Ätz haben.

8. (Aus UKr.): Das übersinnliche ist ein Feld, das wir zum Behuf des theoretischen sowohl als des praktischen

Vernunftgebrauchs mit Ideen besetzen müssen. Was fängt man nun mit all diesen Versicherungen an?

Gibt es Ideen in der Natur außerhalb des Menschen,

oder gibt es sie nicht? Wenn man mit einer derartigen Frage an Kant

herantritt, so antwortet er ähnlich wie Buddha: „Weder

gibt es sie, noch gibt es sie nicht".*) Oder auch: „Weder

weiß ich, daß es sie gibt, noch weiß ich, daß es sie nicht gibt".

Ideen sind für uns zunächst Begriffe der Vernunft, und ob der eigentliche Urgrund der Welt unseren

vernunftbegriffen entspricht oder nicht —darüber wäre es vermessen, irgend eine Aussage zu machen.

Wenn Kant die Gottesbeweise widerlegt und sagt:

Gott ist nur eine Idee des Menschengeistes, so heißt das

*) Brief an iVtarcus Herz vom 2\. Februar \712:

Zch sann nicht sagen, die Erscheinung verändere sich, denn wodurch wollte ich diese Veränderung beobachten, wenn sie meinem inneren Sinn nicht erschiene? Wollte man daraus folgern, alles in der tVelt sei unveränderlich, so würde ich antworten: weder ver-änberlich noch unveränderlich . . . Aber, es scheint, man findet fein Gehör bei bloß negativen Sätzen...

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220 Idee und Idealismus.

ja nicht etwa: Gott existiert nicht. <Ls heißt nur: Mit meiner Vernunft kann ich nicht beweisen, ob er existiert oder nicht — so fest ich auch subjektiv davon überzeugt bin. Genau ebenso aber verhält es sich mit allen übrigen Ideen. „Ideen existieren nur im Kopf des Menschen" kann, so sehr der Wortlaut dies nahezulegen scheint, im Rahmen des kantischen Systems nicht heißen „sie existieren sonst nicht". Sondern es kann nur heißen: „ich weiß nicht, ob sie auch außerhalb meines Kopfes existieren". Ich habe kein Recht, so damit zu rechnen, so davon zu reden, als ob ich es wüßte. Ich darf nur sagen: ich mit meiner Menschenvernunft, wie ich nun einmal organisiert bin, kann mir die EDelt nicht anders zustandegekommen denken als nach Ideen. Ich habe keine Möglichkeit, mir begreiflich zu machen, wie ein Tier, eine pflanze in ihrer wunderbaren Vollkommen­heit anders zustande gekommen fein sollte als nach Ideen. Aber das kann an mir liegen. (Es kann sein, daß der mir unbekannte und unerreichbare übersinnliche Grund der Natur, von dessen inneren Möglichkeiten ich mir auch nicht die leiseste Vorstellung machen kann, so eingerichtet ist, daß auch ohne Ideen, notwendig, nach kausalen, mechanischen Gesetzen, derartige Wunderdinge hervorgebracht werden müssen. Wenn also Kant bei jeder Gelegenheit betont, daß die Ideen bloße Ge-dankendinge sind, so ist das nichts weiter als eine Vor­sichtsmaßregel, die gegen die Vorurteile des Anthro-pomorphismus schützen soll, ^at man dies nicht begriffen,

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§ 65. Zur Deutung von 'Kants Zdeenlehre, 221

so kommt man aus den Widersprüchen bei ihm nicht heraus.

Denn es ist ferne feste subjektive Überzeugung, daß allem in der Welt Ideen zugrundeliegen, Wäre das nicht, die Welt wäre sinnlos, und das darf sie um keinen preis sein. (Er findet Ideen in der Natur, Ideen sogar in der Geschichte der Menschheit, so verzweifelt die Situation hier auch aussieht. So töricht, so sinnlos, so erfolglos alles auch sein mag, was die Menschen unter--nehmen — die Natur hat doch einen geheimen Plan dabei, den sie uns allen zum Trotz durchführt. Aber — ist dann immer der Refrain,—so fest wir auch von der-artigem überzeugt sein mögen, werden wir keine Dogmatiker, sagen wir nicht: es ist so, denn das können wir nicht wissen, sondern sagen wir immer nur: ich bin fest überzeugt, daß es so ist. „Nicht die Sache hat sich geändert, sondern der Ton".

Kant richtet einen Appell an „alle diejenigen, denen Philosophie am Herzen liegt, welches mehr gesagt ist, als man gemeiniglich antrifft", von jetzt ab den Ausdruck Idee in seiner ursprünglichen Bedeutung in Schutz zu nehmen, damit nicht durch sorglose Unordnung die Wissenschaft einbüße. Ls scheint mir freilich als ob auch er selbst den Ausdruckin doppelter Bedeutung gebrauche, aber ich kann nur unklar andeuten, was ich meine.

Einerseits setzt er die Idee als identisch mit Zweck, zielstrebigem Gedanken, Vorstellung eines Endresultats, anderseits gibt es Ideen, deren Idealität nur darin

Page 240: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

222 Idee und Idealismus.

besteht, daß sie durch Erfahrung gegebene Reihen quantitativ über die (Erfahrung hinaus fortsetzen. Die Totalität auf jedem beliebigen Gebiet ist für Kant eine derartige Idee. Da aber der Begriff des Zwecks bei Kant mit dem der Vollkommenheit und dieser wiederum mit dem der Totalität zusammenfließt, so läßt sich keine scharfe Trennung durchführen.

In UKr.*) versucht Kant selbst eine ähnliche Unter­scheidung zwischen Ideen, die schon der Art nach un­darstellbar sind, tote die )dee vom übersinnlichen Substrat der Natur und solchen, die es nur dem Grade nach find, wie die Idee der Tugend. Aber dabei hat es fein Be­wenden. Weitere Folgerungen zieht er daraus nicht.

§ -6$.

Die Normalidee und das Zdeal.

über das Ideal wird in HD. folgendes gesagt: Ideen sind weiter von der objektiven Realität entfernt wie Kaie»

gorien, weil sie in concreto nicht dargestellt werden können, — aber noch weiter davon entfernt scheint das zu fein, was ich das Ideal nenne und worunter ich die Idee nicht bloß in concreto, sondern sogar in individuo verstehe**). Tugend und menschliche Weisheit sind Ideen, aber „der Ifeife", ein Mensch, der mit der Idee der Weisheit völlig kongruiert, ist ein Ideal, somit etwas, was nur in Gedanken existieren kann.

*) Anmerkung I zu. § 5 7 .

**) IVa5 uns ein Ideal ist, war dem plato eine Idee des gött­lichen Verstandes. (Kant.)

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§ 6). Die Normalidee und das Ideal. 223

Das Zdeal ist der Vernunft das Urbild (Prototypen) aller Dinge, welche insgesamt als mangelhafte Kopien («Eftypa) den Stoff zu ihrer Möglichkeit daher nehmen, und, indem sie ihm mehr oder weniger nahe kommen, doch unendlich weit daran fehlen, es zu erreichen. Diese Ideale, ob man ihnen gleich nicht Existenz zugestehen möchte, sind doch um dessenwillen nicht für Hirngespinste anzusehen, denn die Vernunft bedarf eines Begriffs des vollkommensten, um die Mängel des Unvollkommenen danach zu schätzen und zu messen, lvic haben kein anderes Richtmaß unserer Handlungen als das Verhalten des göttlichen Menschen in uns. Das Ideal aber in einem Beispiel, etwa den Weisen in einem Roman realisieren zu wollen, das ist wider-sinnig und wenig erbaulich, denn die natürlichen Schranken, welche der Vollkommenheit kontinuierlich Abbruch tun, stören alle Illusion und machen so das Gute, das in der Zdee liegt, verdächtig, auch bloß Lr-dichtnng zu sein. Das Ideal der Vernunft, ob es nun als Regel zur Befolgung oder als Urbild zur Beurteilung dient, beruht auf durch-gängig bestimmten Begriffen. Anders verhält es sich mit jenen Ge-schöpfen der Einbildungskraft, über die sich niemand erklären und von denen niemand einen verständlichen Begriff geben kann, gleichsam Monogrammen, die nur einzelne, nach keiner angebbaren Regel bestimmte Züge sind, mehr eine im Mittel verschiedener Erfahrungen gleichsam schwebende Zeichnung als ein bestimmtes Bild. Maler und phyfiognomen geben vor, dergleichen in ihrem Kopfe zu haben, und es soll ein nicht mitzuteilendes Schattenbild ihrer Produkte oder auch Beurteilungen sein. Diese Bilder können, obzwar nur uneigentlich, Ideale der Sinnlichkeit genannt werden.

Für diesen Gedanken hat sich Goethe interessiert, besonders für das „nicht mitzuteilende Schattenbild". Kant scheint sich allmä hlich den Gedanken der „Künstler und pijYftogitomen" begreiflich gemacht und damit angeeignet zu haben. Denn m. <£. hat sich das „Monogramm" in UKr. in die „Normalidee" verwandelt, die ebenfalls in

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22-5 Idee und Idealismus.

Zusammenhang mit dem )deal, und zwar hier speziell mi t dem )dea l der Schönhe i t behande l t wird . ( l lKr . § \ 7 ) .

Zun, Ideal gehören zwei Stücke: die ästhetische Normalidee und die Petnimftidee.

Die Normalidee ist eine einzelne Anschauung der Einbildungs-kraft, die da- Richtinaß zur Beurteilung des Menschen als Glied einer besonderen Tierspezies abgibt. Die Vernunftidee macht die an sich nicht sinnlich vorstellbaren Zwecke der Menschheit zum Prinzip der Beurteilung der menschlichen Gestalt, sofern die Gestalt die Wirkung jener Zwecke ist, durch die sie sich in der Erscheinung offenbaren.

Die Normalidee muß ihre Elemente zur Gestalt eines Tieres irgend einer Gattung aas der Erfahrung nehmen. Aber ihre Kon-struktion in größter Vollkommenheit, wie sie zum Richtmaß für die ästhetische Beurteilung des Einzeltiers tauglich ist, das Bild, das gleich-sam absichtlich der Technik der Natur zugrunde gelegen hat, dem nur die Gattung im Ganzen, aber kein Einzelnes abgesondert adäquat ist, — dieses liegt doch bloß in der )dee des Beurteilenden. Freilich kann diese Idee, da sie eine ästhetische ist, in einem Musterbilde völlig in concreto dargestellt werden. Um einigermaßen begreiflich zu machen wie dieses zugehe, — denn wer kann der Natur ihr Geheimnis gänzlich ablocken? — wollen wir eine psychologische Erklärung versuchen.

Mit dem folgenden Gedanken eilt Kant wieder einmal um hundert Jahre seiner Epoche voraus und denkt jene Durschchnittsphotographien vor, die man seit einigen )ahr-zehnten mit so überraschend gutemErfolg ausführt. Ersagt:

Die Einbildungskraft ist auf eine uns gänzlich unbegreifliche Art imstande, nicht allein die Zeichen für Begriffe selbst von langer Zeit her zurückzurufen, nicht allein Bild und Gestalt eines Gegenstandes aus einer unaussprechlichen Zahl ähnlicher zu reproduzieren, sondern sogar, wenn das Gemüt es aufs Vergleichen anlegt, unbewußt ein Bild aufs andere fallen zu lassen, und so ein mittleres herauszu-bekommen, welches allen als gemeinschaftliches Maß dient. Jemand

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§ 6$. Die Normalidee und das Ideal. 225

hat 1000 erwachsene Mannspersonen gesehen, will er nun über die Normalgröße urteilen, so läßt meiner Meinung nach die Linbildnngs-kraft eine große Zahl der Bilder, vielleicht alle tausend, aufeinander fallen, und — wenn es mir erlaubt ist, die Analogie der optischen Dar-stellung anzuwenden: in dem Raum, wo die meisten Bilder vereinigt sind, innerhalb des Umrisses, wo der Platz mit der am stärksten auf-getragenen Farbe illuminiert ist, da wird die mittlere Größe kenntlich, die sowohl der £?öhe als der Breite nach von den äußersten Grenzen der größten und kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist. Und dies ist die Statur für einen schönen Mann. Man könnte eben dasselbe mechanisch Heiausbekommen, wenn man alle tausend mäße, ihre Höhen unter sich, Breiten und Dicken für sich addierte und die Summen durch iooo dividierte. Allein die Einbildungskraft tut eben dieses durch einen dynamischen (Effekt, wenn mm ähnlich für diesen mittleren Mann der mittlere Kopf, für diesen die mittlere Nase gesucht wird, so liegt diese Gestalt der Normalidee des schönen Mannes in dem Tande, wo der vergleich angestellt wurde, zugrunde. Darum muß ein Neger oder ein Chinese eine andere Normalidee von Schönheit haben als ein Weißer. Mit dem Muster eines schönen Pferdes oder Hundes von gewisser Rasse würde es ebenso gehen. Die Normalidee ist das zwischen allen einzelnen verschiedenen Anschauungen schwebende Bild für die ganze Gattung, welche die Natur zum Urbilde ihrer Erzeugungen in der betreffenden Spezies unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig rreicht zu haben scheint. Sie ist zum Urbild der Schönheit keineswegs hinreichend, aber die notwendige Voraussetzung dafür, denn sie ge-währleistet die Richtigkeit in der Darstellung der Gattung. Sie ist, wie man Polyklets berühmten Doryphorus nannte, die Regel. (Ebenso konnte auch tl!y rons Kuh für ihre Gattung gebraucht werden. Sie kann darum nichts Spezifisch-Charakteristisches enthalten, sonst wäre sie nicht Normalidee für die Gattung. Ihre Darstellung gefällt nicht durch Schönheit, sie ist bloß schulgerecht.

Für die Ästhetik hat Goethe sich im „Sammler" an diese Darstellung angelehnt. (§ 120.) Aber auch in seine

15

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226 Idee und Idealismus.

Naturwissenschaft sind wesentliche Teile aus ihr über-gangen, und zwar in den Begriff des Typus (§ 6?).

In dein Kapitel „Die Architektonik der reinen Ver­nunft", für welches Goethe sein Interesse durch eine

große Zahl graphischer Zeichen kundgegeben hat, macht Kant eine außerordentlich hübsche und geistreiche An-wendung des Urbildgedankens, nämlich auf die Philo­

sophie selbst. Auch sie ist ein Organismus, für den es wie für alle übrigen Lebewesen ein Urbild gibt, die

Idee von einer möglichen Wissenschaft, der man sich auf mancherlei Wegen zu nähern sucht, die zur Beurteilung aller Philosophierversuche dienen muß, von der wir aber bislang empirisch nichts als verfehlte Nachbilder kennen, lvenn dieses Urbild der wahren Philosophie einmal er-reicht werden sollte, dann würde man Philosophie lernen können, so wie man Mathematik lernen kann. Aber vor-

läufig kann man nur philosophieren lernen, das heißt, sich das Recht vorbehalten, alles was es an Philo-sophie bisher gibt, zu bestätigen oder zu verwerfen.

Alle diese Bemerkungen hat Goethe vielfach an-

gestrichen. Sie haben ihm gewiß Freude bereitet.

Die Idee bei Goethe.

§ 65.

Die Urpflauze.

3ch bitte, unter A 3 d Goethes Mitteilungen aus

Italien nachzulesen, lvarum bezeichnet er den Ge-

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§ 65. Die Urpflanze. 227

danken, die Urpflanze zu entdecken, als eine alte Grille? Das deutet darauf, daß es Zeiten gab, wo er ihn bereits

als unvernünftig beiseite geschoben hatte. Und wirklich, das vorhergehende Zitat verrät eine ganz andere Ein-

stellung. Ob man sich nicht alle pflanzen aus einer entwickeln könne. Das wäre eine bessere Art, sie zu bestimmen. Am 57. Mai ist wieder nicht die Rede

davon, die Urpflanze in der Natur zu finden. )etzt ist sie Goethes Werk, seine Schöpfung. Gleichzeitig aber ist ihm ein neues Licht aufgegangen:

daß in demjenigen Orgart, welches wir als Blatt gewöhnlich an-511 sprechen pflegen, ein wahrer protens verborgen liege.

Ls waren eigentlich drei Gedanken, die damals in den glücklichen Jahren des ersten „Gewahrwerdens" in Goethe unklar durcheinanderwogten:

V Die Idee der Urpflanze als einer Norm, auf die

alle pflanzen zur besseren Übersicht bezogen werden können;

2. die Hoffnung, eine solche Musterpflanze wirklich zu finden, und

3. die )dee der Metamorphose als gesetzliche Um-bildung von der ZVurzel bis zum Samen.

Zunächst hat nach der Rückkehr aus Italien die neue Entdeckung der sukzessiv en Metamorphose alles übrige verdrängt. )n dem Aussatz von \790 kommt weder das

Wort noch der Begriff der Urpflanze vor. Hier ist aus­schließlich von der allmählichen Umbildung einer und derselben pflanze die Rede. Aber die beiden anderen

15»

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228 Idee und Idealismus.

Gedanken waren keineswegs tot, und die „alte Grille",

die reelle Urpflanze, muß wohl auch am 30. (Oktober *790

Schiller ihr Liedchen vorgezirpt haben.

Goethe nennt nachträglich (A 570) die Pflanze, die er vor Schillers Augen erstehen ließ, eine symbolische. Damals dürfte er sie kaum so taxiert haben, sonst wäre der anschließende berühmte Dialog grundlos. Schiller

schüttelt den Kopf: Das ist keine Erfahrung, das ist eine 3dee. Goethe versetzt ärgerlich: <2s kann mir lieb fein,

wenn ich 3deen habe, ohne es zu wissen und sie sogar mit Augen sehe. Aus feinem hartnäckigen Realis­

mus entsteht Anlaß zu lebhaftem Widerspruch, und Schillers TDaffe, der kantische Satz: lvie kann jemals usw. verletzt ihn tief. Der Zank bricht unausgeglichen ab, und nun sitzt Goethe das probiern im Nacken:

tVenu Schiller das für eine Idee hält, was ich als Erfahrung ausspreche, so muß zwischen beiden etwos vermittelndes obwalten.

Dies ist die Ausgabe, die ihm durch das Gespräch mit Schiller gestellt worden ist.

lvie er sie löste, soll zuerst im Allgemeinen und dann erst in § 67 an dem speziellen Problem der Urpflanze gezeigt werden.

§ 66.

Idee und Erfahrung. Idealismus und Realismus.

Das „Vermittelnde", wonach Goethe suchte, ist dieses: daß ein Urbild für die Pflanzen wohl existiert, daß es

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§ 66. Zdee und Erfahrung. 229

aber nicht die Existenzform der Materie hat, sondern eine

ganz besondere Existenzform, die der Idee. Goethe hatte offenbar — so muß man auf Grund seiner Selbstzeugnisse schließen—bislang nurdasfür real gehalten, was materiell

in der Erscheinung aufzuweisen ist. Idee war ihm soviel wie Einbildung, Täuschung, N?ahn. Darum ist es ihm eine Beleidigung, ein Schimpf, wenn Schiller seine Urpflanze

zur Idee stempelt, darum raisonniert Schiller auf seiner

Seite (A \s): „Goethes Philosophie ist mir zu sinnlich". Daß Ideen keine „bloßen Hirngespinste" sind, daß

das Ideelle in der geistigen und natürlichen Welt eine

wertvolle Funktion erfüllt — das lernt er erst allmählich begreifen, und wie stolz ist er, als er sich diese Erkenntnis errungen hat. V96 schreibt er an Iacobi (A 76):

Du würdest mich nicht mehr als einen so steifen Realisten finden

und nach dem Brief von nsoo (A m,?) scheint es, daß das Ideelle, „das, was sich in der Erscheinung nicht rein

zeigen kann", ihm vorher auf den verschiedensten Gebieten zuwider gewesen sei.

Seit wir uns nicht unmittelbar berührt Haben, habe ich manche Vorteile geistiger Bildung genoffen. Sonst machte mich mein ent­schiedener Haß gegen Schwärmerei, Heuchelei und Anmaßung auch gegen das wahre ideale Gute im Menschen, das sich in der <Lr-fahrtmg nicht wohl ganz rein zeigen tarnt, ungerecht. Seit der Zeit ist mit jedes ideale Streben wert und lieb.

Und dann wiederum *808 anläßlich des Besuches

von Zacharias Werner: lvir haben das Ideelle schätzen gelernt, es mag sich auch in den

wunderlichsten formen darstellen.

Page 248: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

230 Idee und Idealismus,

Diese Erkenntnis von dem Wert der )dee verdankte

Goethe Kant in der Tat auf dem Umweg über Schiller. Und weil gerade diese Problemstellung, die paradoxität

des Verhältnisses zwischen Idee und Erfahrung ihn so faszinierte, daß er 40 Zahre lang daran zu grübeln, zu raten, zu rütteln und zu deuten hatte — darum kam es

daß seine Darstellung so klingt, als sei er überhaupt nur durch Schillers Interpretation an Kant herangekommen (vgl. z. B. A *58 b.)

Am 5 . April H8H7, da Goethe beginnt, seine philo-

sophische Geschichte zu erzählen, notiert er in sein Tage-buch, das sonst nur mit Schlagworten abgespeist wird, in vol ler Ausführl ichkei t : „Kants Behauptung: Wie kann jemals.usw. (Etwas später, {820, mündet alles Denken, Auflehnen, Zerren an dem Kantschen Wort in

Ergebung. Der Aufsatz (A *65) scheint an die Lektüre des Antinomienkapitels anzuknüpfen, denn er geht aus von der Betrachtung „des Weltgebäudes in seiner weitesten Ausdehnung" (Kants erste Antinomie), „in seiner letzten Teilbarkeit" (zweite Antinomie).

tDir erdreisten uns und wagen Ideen, wir bescheiden uns und bilden Begriffe. Dabei tritt uns nicht immer klar ins Bewußtsein, daß zwischen Zdee und Erfahrung eine gewisse Kluft befestigt scheint, die zu überschreiten unsere ganze Kraft sich vergeblich bemüht. Dessen ungeachtet bleibt unser ewiges Bestreben, diesen Hiatus mit Vernunft, verstand usw., und wenn wir sonst nichts vermögen, mit Albernheit zu überwinden. Endlich finden wir, bei redlich fortgesetztein Be­mühen, daß der Philosoph wohl möchte recht haben, welcher behauptet, daß keine Erfahrung der Idee völlig kongruiere.

Page 249: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 66, )dee und Erfahrung,

<£s folgt ein Kommentar, warum die Verbindung

unmöglich ist.

Die )dee ist unabhängig von Raum und Zeit, die Naturforschung in Raum und Zeit beschränkt. Daher ist in der Idee Simultanes und Sukzessives innig verbunden, auf dem Standpunkt der Erfahrung immer getrennt, und eine Naturwirkung, die wir der Idee gemäß als simultan und sukzessiv zugleich denken sollen, scheint uns in eine Art Wahnsinn zu versetzen.

Z?ier kehren die Gedanken aus UAr. § 11 wieder,

und es steht nicht so aus, als ob Goethe der Meinung wäre, daß <Et höchstpersönlich vermöge seiner „an-schauenden Urteilskraft" diese Schwierigkeiten des dis-kursiven Verstandes überwinden könne.

Der verstand kann nicht vereinigt denken, was die Sinnlichkeit ihm gesondert überliefert, und so bleibt der Widerstreit zwischen Auf­gefaßtem und Jdeiertem immer unaufgelöst,

Fazit: Flucht aus der Wissenschaft in die Sphäre der Dichtkunst:

So schauet mit bescheidnem Blick Der ew'gen Weberin Meisterstück

1822 sagt A X82:

Die Zdee ist in der Erfahrung nicht darzustellen, kaum nach-zuweisen, wer sie nicht besitzt, wird sie nirgends gewahr, . ,

und die Reflexion Hecker U38 geht sogar so weit zu

behaupten, daß die )dee der sinnlichen Erfahrung oft widerspricht. Aber in einer Betrachtung, die ich an das Lnde von Goethes keben stellen möchte, weil sie

mir mit dem Casus (Luvier-Geoffroy in Beziehung zu

stehen scheint, ist auch dieser Standpunkt überwunden.

Page 250: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

232 Idee und Idealismus.

A 226 a.

ZVir fühlen uns täglich mehr angeregt, die beiden todten, denen wir angehören, die obere und die untere, als verbunden zu be-trachten, das Ideelle int Reellen anzuerkennen und unser je-weiliges Mißbehagen mit dein (Endlichen durch Erhebung ins Un­endliche zu beschwichtigen. Nachdem wir uns zu dieser Einsicht erhoben, sind wir nicht mehr in dem Falle, bei Behandlung der Naturwissen-schaften der Erfahrung die Idee entgegenzusetzen, wir gewöhnen uns vielmehr, die Idee in der Erfahrung aufzusuchen, überzeugt, daß die Natur nach Ideen verfahre, im gleichen daß der UTenfch bei allem, was er beginnt, eine Idee verfolgt.

Diese Betrachtung stimmt — fast möchte man sagen „wörtlich" — mit Kants Gedankengängen überein. Jetzt

erst ist Goethe ganz in sie hineingewachsen. Denn ein

Widerspruch zwischen Idee und (Erfahrung ist Kants Meinung nicht. Die Inkongruenz besteht nur darin, daß die Idee immer größer, weiter ist als alles, was Sinne

und verstand uns zeigen können. Aber alle (Erfahrung ist von der Idee beherrscht, fei es im Sinne einer echten „Kausalität", (indem der ITCenfch bei allem, was er beginnt, eine Idee verfolgt), sei es als regulatives

Prinzip, indem wir „überzeugt find, daß auch die Natur

nach Ideen »erfahre".

Auf die «Entwicklung Goethes vom Realisten zum Idealisten wies auch Vorländer schon hin, legt aber dabei besonderes Gewicht auf das „Glaubensbekenntnis" A 92. Günther Jacoby wendet ein:

Den sogenannten Realismus und die stockende Objektivität hatte «Soethc schon 1(792 vor der Freundschaft mit Schiller überwunden.

Page 251: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 66. Idealismus und Realismus. 235

)n der Tat hatte, wie ich in § \2 nachzuweisen

versuchte, der Prozeß schon vor *792 begonnen. Die Papiere, bei deren Durchmusterung Goethe

seinen inneren Fortschritt gewahr wird, müssen weiter zurückliegen.

Ein anderer Schriftsteller verweist, gegen Vorländer

polemisierend, darauf, daß sich Goethe noch im gleichen Zahr V98 einen Stockrealisten nennt. )awohl, das tut er (A tos). Man lese dieses Dokument nach.

Schiller hat von Iffland übel geredet, Goethe nimmt

ihn in Schutz, denn: als beschauender Mensch Stockrealist, bin ich von allen Dingen,

die sich mir darstellen, nichts davon und nichts dazu zu wünschen im-stände.

Wer durchaus diesen Scherz ernst nehmen will, der muß aber auch die zweite Hälfte des Satzes mit gleichem (Ernst beehren:

Dagegen bin ich bei aller Art von Tätigkeit vollkomme» idealistisch. 3ch frage nach den Gegenständen gar nicht, sondern fordere, daß sich alles nach meinen Vorstellungen bequemen soll.

3ch erinnere an die Kantzitate: Sei Betrachtung der Natur gibt Erfahrung die Regel an die

Hand und ist der (Quell aller Vahrheit,- im Praktischen dagegen ist die Zdee konstitutiv und höchst fruchtbar, und es kann nichts eines Philosophen Unwürdigeres geben als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich roibet streitende Erfahrung.

Bei Betrachtung der Natur scheint also auch Kant Stockrealist zu sein und nur im praktischen, d. h. bei aller Art von Tätigkeit Idealist.

Page 252: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

23* Idee und Idealismus

Andere wieder holen Goethes Bemerkung in A 78

heran: lvir Empiriker und Realisten . Aber hier

ist der Realist genau soviel und so wenig der Gegensatz zu einem Idealisten, wie eine Realschule der Gegensatz

zu einer Idealschule ist. Dem Philosophen in „der Sammler und die Seinen"

wird entgegengehalten:

Ls ist freilich bequemer, die lvelt nach der Idee zn formen, als feine Vorstellungen den Dingen zu unterwerfen.

In dieser Formel scheint sich für Goethe wie für Schiller der kritische Idealismus komprimiert zu haben.

So schreibt Schiller an Humboldt in einem seiner letzten Briefe (8. April *805):

Und am Ende sind wir doch beide Idealisten und würden UNS

schämen, uns nachsagen zu lassen, daß die Dinge uns formen und nicht wir die Dinge.

Der Spruch Hecker 262:

In der Idee leben heißt das Unmögliche behandeln, als ob es möglich wäre

enthält eine Forderung, die Kant grundsätzlich auf­stellt und ganz in diesem Kart tischen Sinn äußert Goethe (A t83) zu Müller:

Fast alle Gesetze sind Synthesen des Unmöglichen, z. B. das Institut der (Ehe. Und doch ist es gut, daß dem so ist. (Es wird dadurch das Möglichste erstrebt, daß man das Unmögliche postuliert.

So also hat Goethe allmählich „das Ideelle schätzen gelernt". Lr selbst gesteht freilich (A ^68),

daß ein fast Unmögliches unternommen werde, wenn man die Übergänge aus der behaglichen Sicherheit des einem gefunden Menschen

Page 253: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 67. Idealismus und Realismus. 235

angeborenen Verstandes, der weder an den Gegenständen und ihrem Bezug noch an der eigenen Befugnis, sie zu erlernten, zweifelt, in einen geläuterten freieren selbstbewußteren Zustand zu schildern unternimmt, von Bildungsstufen kann nicht die Rede sein, wohl aber von Zrr-, Schleif- und Schleichwegen und sodann von unbeabsichtigtem Aufsprung zu einer höheren Kultur.

Aber wenn auch die einzelnen Bildungsstufen schwer nachweisbar sein mögen, so ist doch soviel klar, daß Goethe selbst seine Entwicklung vom Realismus zum

Idealismus als ein „Aufsprung", als ein Höhersteigen empfunden hat, und man sieht, was von jenen Goethe-

Biographen zu halten ist, die etwa imstande sind zu sagen:

Der Gegensatz zwischen (Erfahrung und Idee bestand für ihn praktisch nicht, da . .. sein Denken sich nicht von den Gegenständen trennte.

Diese unterste primitivste Stufe, die Goethe stolz ist, allmählich überwunden zu haben, wird als für ihn

charakteristisch hingestellt!

§ 67.

Kants Normalidee und Goethes Typus.

lvas Goethe in den Aufsätzen von V95 und V96 über den Typus sagt, das stimmt so auffallend mit Kants Erläuterung der Normalidee überein, daß an dem

inneren Zusammenhang überhaupt nicht zu zweifeln ist. V95 (A 72):

Es geschieht hier ein Vorschlag zu einem anatomischen Typus, zu einem allgemeinen Bilde, worin die Gestalten sämtlicher Tiere,

Page 254: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

236 Idee und Idealismus.

der Möglichkeit nach enthalten wären und wonach man jedes Tier in einer gewissen Ordnung beschreibe. Schon aus der allgemeinen Idee eines Typus folgt, daß kein einzelnes Tier als ein solcher ver-gleichungskanon aufgestellt werden könne; kein Einzelnes kann Muster des Ganzen sein.

Um den Fortschritt, der in diesem Satz liegt, voll zu

ermessen, halte man sich vor Augen, daß Goethe in Italien eben dieses gewollt hat: ein Einzelnes finden, welches ITCufter des Ganzen wäre.

Die Erfahrung muß uns vorerst die Teile lehren, die allen Tieren gemein sind, und worin diese Teile verschieden sind. Die Idee muß über dem Ganzen walten, und auf eine genetische tüeife das allgemeine Bild abziehen. Man kann auch einen besonderen Teil (bei Kant: den mittleren Kopf, die mittlere Aase) durch alle Hauptgattungen durch beschreiben, wodurch eine belehrende ver-gleichung vollkommen bewirkt wird. . . . Doch müßte man vorerst über ein allgemeines Schema sich verständigen, worauf das Mechanische der Arbeit durch eine Tabelle befördert werden könnte, welche jeder bei seiner Arbeit zugrunde legte.

3m Goethe-Archiv liegt eine solche Tabelle, wo Goethe genau angegeben hat, wie man die einzelnen

Teile messen nnd dann dem Typus Durchschnittsmasse zugrundelegen muß. Genau wie Kant die mechanische

Herstellung der Normalidee lehrt. In Abteilung VII A heißt es von A 72 dann weiter:

Indem wir jenen Typus aufstellen und als eine allgemeine Norm denken, wonach wir die Knochen der sämtlichen Säugetiere zu be-schreiben und zu beurteilen*) hoben, setzen wir in der Natur eine

*) Auch dieser hier gar nicht passende Ausdruck kann nur eine Reminiszenz an die Kantlekture sein.

Page 255: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 67. Kants Normalidee und Goethes Typus. 231

gewisse Konsequenz voraus, wir trauen ihr zu, daß sie in allen ein-zelnen Fällen nach einer gewissen Regel verfahren werde. Und jeder flüchtige Blick auf das Tierreich bestärkt uns in der Überzeugung, daß ein gewisses Allgemeines Bild allen diesen einzelnen Gestalten zugrunde liege.

Bei Kant hieß es: „das Bild, was gleichsam ab-sichtlich der Technik der Natur zugrunde gelegen hat".

Dann aus dem Entwurf von 1,796:

Sollte es denn unmöglich sein, da wir einmal anerkennen, daß die schaffende Gewalt nach einem allgemeinen Schema die voll­kommeneren organischen Naturen erzeugt und entwickelt, dieses Urbild wo nicht den Sinnen, doch dem Geiste darzustellen, nach ihm als nach einer Norm unsere Beschreibungen auszuarbeiten, und indem solche von der Gestalt der verschiedenen Tiere abgezogen wäre, die ver-schiedensten Gestalten wieder auf sie zurückzuführen? tiat man aber die Zdee von diesem Typus gefaßt, so wird man erst recht einsehen, wie unmöglich es fei, eine einzelne Gattung als Kanon auszustellen. Das Einzelne kann kein Muster vom Ganzen sein, und so dürfen wir das Muster für alle nicht im Einzelnen suchen. Die Klaffen, Gattungen, Arten und Individuen verhalten sich wie die Fälle zum Gesetz; sie sind darin enthalten, aber sie enthalten und geben es nicht.

„Wie nun aber ein solcher Typus aufzufinden, zeigt uns der Begriff desselben schon an, die Erfahrung muß uns die Teile lehren, . . . alsdann tritt die Abstraktion ein, sie zu ordnen und ein allge-meines Bild aufzustellen.

Gewiß hat Goethe das alles bereits vorgeschwebt,

als er *786 aus Italien schrieb, daß man sich alle j)flanzen-gestalten vielleicht aus einer entwickeln sönne. „Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes

Urbildliche Typische rastlos gedrungen". Nur hatte er, wie er sich in A *68 ausdrückt, „für das alles feine

Page 256: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

238 Idee nnb Idealismus.

Worte". Jetzt aber hat er die Worte: „die (Erfahrung muß uns die Teile lehren, alsdann tritt die Abstraktion ein, sie zu ordnen und ein allgemeines Bild aufzustellen", von einem Schauen dieses Urbildes, von einem

intuitiven verstand selbst im mildesten Sinn ist jetzt

nicht mehr die Rede.

Später in historischer Rückschau sagt er:

hierbei fühlte ich bald die Notwendigkeit, einen Typus aufzu-stellen, an welchem alle Säugetiere nach Übereinstimmung und Ver­schiedenheit zu prüfen wären, und wie ich früher die Urpflanze auf-gesucht, so trachtete ich nunmehr, das Urtier zu finden, das heißt denn doch zuletzt: den Begriff, die Idee des Tiers.

Ferner: die Forderung, alle pflanzen unter einen

Begriff zu sammeln,

schwebt« mir damals unter der sinnlichen Form einer über­sinnlichen Urpflanze vor. (A 22t.)

3n dem Schema dazu (A 224a):

3n Sizilien erhob ich mich von dem beschränkten Begriff einer Urpflanze zum Begriff und wenn man will, zur Idee einer gesetz-lichen, gleichmäßigen Bildung und Umbildung des Pflanzenlebens von der Wurzel bis zum Samen.

Und weiterhin:

Erhebung zur der Ahnung, die Pflanzenwelt muffe ein inneres Gesetz haben, worauf sich die Erscheinungen zurückführen lassen. Noch immer konkret genug aufgefaßt unter der Form der Urpflanze.

Man merke aus all diese verächtlichen Beiwörter,

„kindliche", „beschränkt", „konkret genug", „sinnliche

Form einer übersinnlichen Pflanze". Das „Ideen mit

Augen sehen" ist also nicht charakteristisch für Goethes

Page 257: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 68. Goethe über den regulativen Gebrauch der Ideen. 23<>

gesamte Weltanschauung, wie es manche darstellen

möchten, sondern bloß charakteristisch für sein vorwissen-schaftliches Stadium.

§ 68.

Goethe über den regulativen Gebrauch der Ideen.

3ch gebe nur noch eine Nachlese. Die auf Seite \ 2 7

zitierte Betrachtung schließt so:

„Hier befinden wir uns in der Region, wo Metaphysik und Natur-Wissenschaft ineinander greifen, wo der ernste treue Forscher am liebsten verweilt, denn hier wird er durch den Zudrang grenzenloser Einzelheiten nicht mehr geängstigt, weil er den hohen Einfluß der einfachsten Idee schätzen lernt, welche Klarheit und Ordnung dem vielfältigsten zu verleihen geeignet ist."

Sollte das „ Vielfältigste" in Anlehnung an Kants „Mannigfaltiges" entstanden sein? Die Idee als re­gulatives Prinzip, die dem Verstand „die Leitung gibt,

Ordnung und Einheit in der Erfahrung aufzusuchen" hat Goethe sehr eingeleuchtet. )n einer Notiz aus dem Nachlaß lesen wir zum Beispiel:

„inwiefern der Begriff der Metamorphose leitend ist."

oder:

„es kann der Fall kommen, daß jenes proteische Vrgan sich der-gestalt verbirgt, daß es nicht zu erkennen ist. lveil aber alles als fertig gebildet beschrieben werden muß, so sieht man wohl, daß jene erste Idee, auf die wir so viel lvert legten, zwar als leitend zum Auf-finden gar wohl zu betrachten ist, in den einzelnen Fällen aber zur Bestimmung nicht helfen könne, ja derselben hinderlich sein müsse."

Page 258: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

2*0 Zdeen und Idealismus.

Das klingt nun wieder wie ein Aantzitat — dank dem

sprachlichen ZVitz, daß das lvort „Bestimmung" für Pflegen einen besonderen konkreten Sinn hat. Andern-falls hätte es Goethe vielleicht nicht gebraucht. Aber es ist sogar ganz heilsam, wenn man mit Kants allgemeinem

„Bestimmen" keinen Sinn zu verbinden weiß, an das Bestimmen von pflanzen zu denken.

Das Bestimmen eines Begriffes ganz allgemein

besteht ja darin, daß man ihm von je zwei möglichen entgegengesetzten Prädikaten eines zuteilt. Und das ist

gerade die Art, wie man nach dem „Schlüssel" pflanzen bestimmt.

«Lcht kantisch ist schließlich die Betrachtung: lvir würden unser Wissen nicht für Stückwerk basten, wenn wir

nicht die Idee von einem Ganzen hätten.

Die Vernunft will durchaus überall „das Ganze" und weist den verstand an, danach zu suchen. (Er aber

kann mit seinen Begriffen ihren Bedürfnissen nicht nachkommen — daher das Gefühl des Stückwerks. Die „Idee von einem Ganzen", die Idee der Totalität, das ist die Idee der Ideen, die Idee kar s£oxy]v.

§ 69.

Goethes Verhältnis zum kritischen Idealismus.

IPie sich Goethe zum kritischen Idealismus im engeren Sinn verhielt, davon ist an vielen Stellen dieses Buches

Page 259: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 6y, Goethes Verhältnis zum kritischen Idealismus.

die Rede. Aber das da und dort verstreute muß an

einem Ort zusammengefaßt und entsprechend ergänzt werden.

Zur Rekapitulation ein paar Hauptgedanken:

Die Erfahrung ist nur die Hälfte der Erfahrung. Die Seelen-fräste beweisen ihre schöpferisch unabhängige Kraft im Auffassen und Ordnen der Erfahrung. )ch gebe zu, daß es nicht die Natur ist, was wir erkennen, sondern daß sie nur nach gewissen Formen und Fähig-feiten unseres Geistes von uns aufgenommen wird.

Besonders wertvoll ist der lvink aus der Schweiz,

daß auch in der Kunst alles auf die Frage ankommt, inwiefern wir den Erfahrungsgegenstand als einen Gegenstand an sich ansehen dürfen oder ihn als unser ZPerf und Eigentum ansehen müssen,

wertvoll darum, weil diese Anwendung des kritischen Grundgedankens auf die Kirnst in den Propyläen* Aufsätzen wiederholt vorkommt und dieser Brief den

Beweis liefert, daß sie Goethes und nicht Schillers Werk

und Ggentum ist.

Es gibt keine Erfahrung, die nicht produziert, hervorgebracht, erschaffen wird. Besonder- gilt das von dem Künstler. Kein Portrait kann etwas taugen, wenn es nicht der Maler im eigentlichsten Sinn

erschafft.

So spricht der Philosoph in A U2 e.

Gegenüber den hier und dort geäußerten Zweifel, ob

denn Goethe den kritischen Hauptgedanken überhaupt verstanden habe, ist die lehrreichste Widerlegung das Studium der „Striche" in Rv, die teilweise im zweiten

Band wiedergegeben sind. Besonders entscheidend ist in § v die Stelle, daß ich der synthetischen Einheit des

16

Page 260: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

2$2 Idee und Idealismus,

Bewußtseins nicht bloß bedarf, um ein Gbjekt zu er-kennen, sondern daß jede Anschauung unter dieser

Bedingung stehen muß, um ein Gbjekt für mich zu werden. Da Goethe hier das Wort „werden" unter-

strichen hat, hat er die Bedeutung dieser Wendung

gewiß nicht übersehen. Ebenso Seite 2<h:

Zu aller Erfahrung und deren Möglichkeit gehört verstand und das erste, was er dazu tut, ist nicht, daß er die Vorstellung der Gegenstände deutlich macht, sondern daß er die Vorstellung über-Haupt möglich macht.

Ferner hat er wiederholt die Aussagen über die

Kategorien und ihre beschränkte Anwendungsmöglich-

keit (nicht über die Erfahrung hinaus) angestrichen, auch daß sie „Gedankenformen ohne objektive Realität"

seien. Die §§ 26 und 27, die die wichtigsten Sätze über das

Wesen der Kategorien enthalten, sind in interessanter

Weise ausgezeichnet.

Kategorien sind Begrisse, welche den Erscheinungen, mithin der Natur als dem Inbegriff aller Erscheinungen Gesetze a priori vorschreiben, und nun fragt es sich, wie es zu begreifen sei, daß die Natur sich nach ihnen richten müsse, fjier ist die Auflösung des Rätsels.

Es ist um nichts befremdlicher, daß die Gesetze der Erscheinungen mit dem verstände und seiner Art zu verbinden, übereinstimmen, als daß die Erscheinungen selbst mit der Form der sinnlichen Anschauung übereinstimmen. Denn Gesetze existieren genau ebenso nur relativ auf das Subjekt, sofern es verstand hat, wie Erscheinungen nur in bezug auf dasselbe Wesen existieren, sofern es Sinne hat.

Diese Sätze sind im Original bedeutend länger, und

Goethe hat durch seine Striche das Zusammengehörige

Page 261: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 69- Goethes Verhältnis zum kritischen Idealismus. 2^5

verständlichzusammengefaßt. )nRV. § ^7 ist außer vielem anderen unterstrichen, daß die Erkenntnis zwar bloß auf

Erfahrungsgegenstände eingeschränkt, aber doch nicht von ihnen entlehnt sei und daß eine notwendige Über-ehtstimmung zwischen (Erfahrung und den Begriffen davon nur auf zwei Wegen gedacht werden kann: ent-

weder die Erfahrung macht diese Begriffe oder diese Begriffe inachen die Erfahrung möglich, daß aber de facto nur das zweite in Betracht kommt, gleich­

sam ein System der Epigenesis der reinen Vernunft, daß nämlich die Kategorien vonfeiten des Verstandes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten.

(Doppelstrich.)

)m Abschnitt vom „Schematismus" hat Goethe unter--strichen, daß das Schema des Triangels nirgend anderswo als in Gedanken existieren kann, und dann den folgenden bedeutsamen Satz:

Der Begriff vom Ounb bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines gewissen vierfüßigen Tiers allgemein vorzeichnen kann, ohne auf eine besondere Gestalt eingeschränkt zu fein.

Dieser Schematismus unseres Verstandes ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten werden. Soviel können wir nur sagen: das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven (Einbildungskraft, das Schema ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder erst möglich werden. Die Bilder müssen mit dem Begriffe immer vermittels des Schemas verknüpft werden und kon-gruieren an sich demselben nicht völlig. Dagegen ist das Schema des

16

Page 262: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

2HH Idee und Idealismus.

reinen Verstandesbegriffs etwas, was in fein Bild gebracht werden kann, usw.

Ferner interessierten Goethe die „Antizipationen der

Wahrnehmung":

Man kann alle Erkenntnisse, wodurch ich dasjenige, was zur (Erkenntnis gehört, a priori bestimmen kann, eine Antizipation nennen.

Echo: Hätte ich nicht die Welt durch Antizipation bereits in mir getragen,

ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben.

wobei allerdings Goethe anderes meint, nämlich eine

Antizipation der qualitativen (Elemente, wie z. B. der Farben, die Kant für unmöglich erklärt. 5. 250 ist an­

gestrichen: Diese Kausalität fuhrt auf den Begriff der Handlung, diese auf

den Begriff der Kraft und dadurch auf den Begriff der Substanz. . . VOo Handlung, mithin Tätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz, und in dieser allein muß der Sitz jener fruchtbaren Quelle der Er­scheinungen gesucht werden

5. 275 der Lehrsatz, den Goethe gelegentlich ver-wendet:

Das bloße, aber empirisch bestimmte Bewußtsein meines eigenen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände int Harnn außer mir.

ferner 278, daß das Bewußtsein meiner selbst in der Vorstellung )ch eine bloß intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts ist, wobei nebenbei bemerkt wieder einmal die phil. Bibl. irre­

führenderweise nicht wie Goethe „Selbsttätigkeit", sondern „intellektuelle" gesperrt hat.

Page 263: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ sy, Goethes Verhältnis zum kritischen Idealismus. 215

Angestrichen ist auch: lvir sagen nur, daß wir etwas durch Vernunft erkennen, wenn

wir uns bewußt sind, daß wir es hätten wissen können, wenn es uns nicht so in der Erfahrung vorgekommen wäre. Mithin ist Vernunft-crkenntnis und Erkenntnis a priori einerlei.

Entsprechend in UKr. § 68:

Nur soviel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zustande bringen kann. Die Organisation aber über-steigt alles derartige vermögen.

Goethe ist auch niemals in das sonst so beliebte Mißverständnis verfallen, als ob das „a priori", das

„vor aller Erfahrung" im zeitlichen Sinn zu verstehen fei.

E r h a t i m m e r g e w u ß t , d a ß e s s i c h n u r u m d i e F o r m handelt, die der Verstand der Erfahrung gibt. Schon damit hat er vor seht vielen, die den kritischen Idealismus kritisieren, einen Vorsprung.

3ch hätte gerne sämtliche Anstreichungen Goethes in HD. und UKr. faksimilieren lassen, doch hätten sie

allein 1,6 Bogen ausgemacht, und ich wußte nicht, ob das Interesse des Publikums lebhaft genug sein würde, um diese große Ausgabe zu rechtfertigen.

Der vergleich zwischen Kunst und Erkenntnis, den

Goethe hier zieht, liegt nahe,*) ist aber von ungemeiner Fruchtbarkeit, wenn man ihn in umgekehrter Richtung verfolgt. Beim Betrachten einer historischen Kunst­

*) vgl. auch Kecker \07?:

wir wissen von keiner Welt als in bezug auf den Menschen^ wir wollen keine Kunst als die ein Abdruck dieses Bezugs ist.

Page 264: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

2-56 )dee und Idealismus.

ausstellung, einer )ahrhundertschau sommert einem dann seltsame Gedanken. Man sieht, wie von 20 zu 20 Jahren „die Natur" eine völlig andere wird. )eder Maler, jede Zeit glaubt, allein die Natur so zu sehen, „wie sie ist". Ein Wilhelm Leibl war gewiß fest über-zeugt, die leibhaftige Natur auf seine Leinwand gebannt zu haben. Der nächsten Generation erschienen .seine Werke als Atelierbilder, und nur in lichten Farbenklexen erblickte man die Natur, „wie sie ist". Weil nun die Stile

rasch abwechseln, ist es nicht schwer zu erkennen, daß sie alle nur Formen sind, in die die Natur gepreßt wird, man könnte sagen die Kategorien des Malers. Wäre der Wechsel weniger auffallend, so würde das naive Gemüt nie auf den Gedanken verfallen, daß es nicht

„die Natur selbst" sei, die im Bilde festgehalten wird, sondern eine vom Künstler erzeugte Natur — genau so wie das naive Gemüt auf diese „kopernikanische Wendung" in der Erkenntnistheorie niemals verfällt. Aber wie denn? Sollte der vergleich noch tiefer führen? Sollte wirklich nur das Tempo der Stilwandlung im Formen der Erfahrung ein langsameres fein? )n einem anregenden kleinen Büchlein „Relativitätstheorie und

Erkenntnis a priori" vertritt Hans Reichenbach tat-

sächlich die Ansicht, die apriorischen Prinzipien der Er-fahrung seien mit der Zeit variabel, auch das Kausalitäts-prinzip werde nicht ewig herrschen. Reichenbach hätte sich dabei auf die merkwürdige Phrase bei Kernt berufen können, daß es kein j)räformationssystein, sondern ein

Page 265: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

§ 6y, Goethes Verhältnis zum kritischen Idealismus. 2)7

System der Lpigenesis fei, nach welchem die Kategorien wirken •— denn zum Wesen der Lpigenesis gehört es,

daß sie Neubildung ermöglicht. Noch ein Wort und ein Bekenntnis über die berühmte

„kopernikanische Wendung". )ch kann nicht finden, daß die Sicherheit der Wissenschaft dadurch irgend verbürgt würde. Denn das, was durch die sogenannten „all-

gemeinen Naturgesetze", dieses Wort im kantischen Sinn genommen, a priori festgelegt wird, ist so allgemein, so

leer, daß es an die Aufgaben der Wissenschaft überhaupt

noch nicht heranreicht. Auch Kant selbst ist nur in der vorrede so führt. )m weiteren verlauf muß er ja immer wieder betonen, daß alle bestimmten Naturgesetze der

Erfahrung überlassen bleiben müssen, und es scheint mir, daß er sich durch den triumphierenden Posaunen-stoß in der vorrede erheblich geschadet habe, da seine Gegner es allzuleicht hatten, ihm Verachtung der Er­fahrung und apriorisch willkürliche Konstruktionen vor-zuwerfen. Aber auch zu dieser Gruppe von Urteilern

gehörte Goethe nicht, denn er hat sich jene Stellen wiederholt ausgehoben, wo Kant versichert, daß alle besonderen Naturgesetze nie anders als empirisch ge­funden werden können.

Im Grunde ist es nicht gar viel, worin sich „die Dinge nach uns richten".

Page 266: Gabriele Rabel - Goethe und Kant - Erster Band

2H8

S e c h s t e s K a p i t e l .

Analyse und Synthese. § ?0.

Analyse und Synthese in der Vernunftkritik.

Der Bericht „Einwirkung der neueren Philosophie"

(A ^68) ist gewiß kein Muster an denkerischer Klarheit. Goethe schrieb aus stark verblaßter (Erinnerung, nur die

markantesten Gefühle sind ihm haften geblieben. Die Gedanken springen, dem Leser bleibt es überlassen, die Tücken zu ergänzen. Und gerade was über unser gegen­

wärtiges Thema darin besagt ist, scheint in höchstem Maße fragwürdig.

Die Erkenntnisse a priori ließ ich mir gefallen, sowie die fvn= thetischen Urteile a priori, hatte ich doch in meinem ganzen Leben dichtend und beobachtend, synthetisch und dann wieder analytisch ver-fahren; die Systole und Diastole des menschlichen Geistes war wie ein zweites Atemholen, niemals getrennt, immer pulsierend. Für alles dieses hatte ich keine lvorte, — nun aber schien zum erstenmal eine Theorie mich anzulächeln.

Mir entging nicht, die Natur beobachte stets analytisches ver-fahren, die Entwicklung aus einem lebendigen Ganzen, und dann schien sie wieder synthetisch zu handeln, indem völlig frei scheinende ver-Hältnisse rerfniipft wurden. Aber und abermals kehrte ich daher (!) zur Rantischen kehre zurück. ..

tPenn jemand sagt: von alledem steht in der ver-

nunftkritik kein Wort, kann man es ihm nicht verargen.

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§ 70. Analyse und Synthese in der vernunstkritit. 2)9

Gewiß — wie die Sätze da stehen, wirken sie wie ein

ungeheures Mißverständnis, und damit mag man sich

beruhigen. Reizvoller aber ist es, der Frage nachzugehen, was meint denn Goethe eigentlich? Hat er doch in seinen Referaten über andere große Geister nie so völlig daneben gegriffen. Nur wer gewohnheitsmäßig halb und seicht denkt, nur der mag das Törichteste aus einem

Buch herauslesen, ohne daß ihn ein Dämon am Ohr zupft. <Es ist zu erwarten, daß Goethe einen Anlaß hatte, die seltsame Gedankenverbindung, die wir in seinem

Bericht finden, vorzunehmen. Das Dunkel lichtet sich, wenn wir genau betrachten, was Goethe in den Kapiteln der Vernunftkritik angestrichen^ hat, die von der Der»

bindung handeln.

Der ganze Abschnitt führt den Titel „Von den Kategorien", und ich zweifle nicht daran, daß Goethe wußte, welche Art von Synthesis hier gemeint ist. Aber w a s t u t d a s ? K o n n t e e r n i c h t d e n G e d a n k e n w e i t e r

denken? Konnte er sich nicht sagen: so wie hier schon auf dieser Urstufe aller Erkenntnis keine Analysis ohne vorausgehende Synthesis möglich ist, wie dann aber wiederum die Synthesis der Analysis bedarf, weil die (Erkenntnis zuerst roh und verworren ist, so ergänzen sich allüberall diese beiden Funktionen wie Systole und

Diastole? Ja und sogar, daß er dichtend so verfahren war, konnte er herauslesen. )st doch, nach Kant (Rt). § \o)

die Synthesis die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die

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250 Analyse und Synthese,

wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber nur selten einmal bewußt sind.

Die gesperrten Worte hat Goethe unterstrichen und

wir verstehen danach mühelos, warum er diese Gedanken mit Kant in Zusammenhang bringt.

§ 7V

Goethes Fortbildung dieser Gedanken.

ZlTatt wird leicht gewahr, daß die Analysis, die das Gegenteil der Synthesis zu sein scheint, diese doch jederzeit voraussetze, denn wo der Verstand nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen.

Das fand Goethe in Rv. §H5, und wie er diesen Satz zu übertragen und zu erweitern wußte, zeigen die Aphorismen über Analyse und Synthese von *829.*) (A 210.)

Die Hauptsache, woran man bei ausschließlicher Anwendung der Analyse nicht zu denken scheint, ist, daß jede Analyse eine Syn­thesevoraussetzt, (Ein Sandhaufen läßt sich nicht analysieren; bestünde er aber aus Sand und Gold, so ist das lvaschen eilte Analyse, So beruht die Chemie darauf, zu trennen, was die Natur vereinigt hatte. Und was haben wir uns mit Anatomie, Physiologie und Psychologie zu quälen, als um uns von dem Komplex einen Begriff zu machen, bet sich immerfort herstellt, wir mögen ihn in noch soviel Teile zer-fleischt haben.

*) Da der Spruch: „Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt" sowie die Bemerkungen über die Kritik der Sinne und des Menschen­verstandes ebenfalls von 1(829 stammen, so scheint es, wenn dieses Faktum auch nicht ausdrücklich im Tagebuch verzeichnet ist, daß Goethe damals die Kritik der reinen Vernunft wieder studiert habe.

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§ <v Goethe über Analyse und Synthese. 25 ̂

Ohne Schwierigkeit läßt sich die Man tische Exposition als Symbol für alle diese Vorgänge betrachten. Unbewußt, blind schafft die Seele in uns jene Synthesen, die der verstand dann zu zergliedern die größte Nlühe hat. Unser ganzes Denken ist voll von solchen geheimnisvollen Synthesen, genau so wie auch sonst die Natur ohne unser Zutun für Synthesen sorgt und unsere ganze be-wußte Kunst nötig ist, sie auseinanderzureißen. Da müßte man arg ledern und pedantisch sein, um die Verwandtschaft der beiden Gedankengange nicht zu bemerken und sich darauf zu versteifen: Goethe hat Kant nicht verstanden!

Auch auf das in § 28 Gesagte muß zurückgegriffen werden. (Es war dort die Rede von dem doppelten widerstreitenden Interesse der Vernunft, dem der (Einheit und dem der Mannigfaltigkeit; die Naturforscher, hieß es, anstatt darüber zu streiten, welches das höhere Prinzip fei, sollten einsehen, daß beide nur in gegen­seitiger (Ergänzung zur (Erkenntnis führen, und Goethe übersetzte diese Kantische Weisheit in die Worte:

daß Sondern und verknüpfen zwei unzertrennliche Lebensakte sind, und je lebendiger diese Funktionen sich wie Aus- und (Einatmen zu einander verhalten, umso besser wird für die Wissenschaft gesorgt sein. (A. 228.)

Also nicht nur in den ersten Paragraphen von Rv, sondern auch im Kapitel „vom regulativen Gebrauch der Ideen" konnte er die Lehre von dem untrennbar verbundenen Zwillingspaar der Analyse und Synthese in und zwischen den Zeilen entdecken.

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252 Analyse und Synthese.

§ 72 .

Goethes Apologie des Jergliederns und Sonderns.

tüer will was Lebendiges erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist herauszutreiben, Dann hat er die Teile in seiner £)anb, Fehlt leider nur das geistige Band. Encheiresis naturae nennts die Chemie, Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.

Man beruft sich auf Goethe, wenn erneut das Zer­gliedern unsympathisch ist, und dann zitiert man diesen Spruch. Aber ich habe schon mehrfach in diesem Buch Anlaß gefunden, gegen die wissenschaftliche Verwertung von Versen Protest zu erheben. Weiß man doch nie, ob der Dichter mit seiner Person dahinter steckt. )n diesem Fall nun wissen wir es durch Ldmund v. kipp-mann (Goethe-Jahrbuch 1882); der Spruch ist ein Zitat. <£t ist dem Inventar des Dr. med. et phil. Spielmann, Professor der Poesie, Chemie, Botanik und anderer Hilfswissenschaften der Medizin in Straßburg und kehrer Goethes, entnommen. Spielmann spricht in seinen „Institution.es chemiae" von dem „Band", das die Teile in der Substanz zusammenhält, er spricht davon, wie beim Zerlegen der pflanzlichen und tierischen Stoffe ihr Geist herausgetrieben wird, wobei „die Teile zurück-bleiben" — er spricht von der Absurdität und Lächerlich-feit, der jeder Chemiker anheimfällt, wenn er aus den

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§ 72. Goethes Apologie des Zergliedern? u. Sondern? 255

Teilen die Ausgangsstoffe wieder zusammenzusetzen unternimmt, denn: die Lncheiresen der Natur in der Verbindung sind mannigfaltige, und teils kennen wir sie nicht, teils vermögen wir sie nicht nachzuahmen.

!Ver den <Lncheiresen-vers rezitiert, pflegt eine überlegen spöttische Miene aufzusetzen; ich gestehe, daß ich nie recht begreifen konnte, wo der lvitz liegt — zuerst, weil ich nicht wußte, was das griechische lvort bedeutet, jetzt, weil ich es weiß. Encheiresis naturae heißt Handgriff der Natur, und inwiefern spottet die Chemie ihrer selbst, wenn sie zugibt, daß die Natur über Handgriffe verfügt, die kein menschlicher Vorwitz ihr abgucken kann? Aber das sagt ja auch nur Mephisto! der Geist, der stets verneint, jedenfalls hat der alte Goethe darin nichts Spottwürdiges erblickt, denn er schreibt an den Chemiker lvackenroder (A 250): wir müßten schon der Natur ihre geheimen «Lncheiresen zugeben. Und was das Zerlegen in Teile anbelangt, so hat er es Zeit seines Lebens gepriesen und mit Be­geisterung gehandhabt. <£r versichert, daß nur auf diesem A?ege ein Fortschritt der Wissenschaft schnell zu hoffen ist, er hebt hervor (in A 7^,6), „wie viel man dem Chemiker, der Gestalt und Struktur aufhebt, schuldig fei", und wie man hoffen dürfe, durch die neueren Ent­deckungen,

die die feinsten Trennungen und Verbindungen erlauben, sich den unendlich zarten Arbeiten eines lebendigen organischen Körpers zu nähern.

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25$ Analyse und Synthese.

Nachher heißt es, daß diese trennende Art nicht allen Menschen genug tut, deren manche die Tendenz haben

von einer (Einheit auszugehen.

Mit diesen „manchen" ist in dem speziellen Fall ver­mutlich (Erasmus Darwin gemeint, dessen „Ioonomia" nun wohlwollend, aber kühl besprochen wird. Besonders wichtig ist A 8\, wo das Zergliedern in aller Form in Schutz genommen wird gegen

diejenigen, die nicht damit vertraut sind und für die es eher ein widerliches als anlockendes Ansehen hat. Man denkt sich dabei nur Messer, Zerstückelung, Fäulnis und eilten ekelhaften Anblick auf ewig getrennter organischer Teile. Doch so verkennt man beide Be­schäftigungen.

Diejenigen, die so denken, das find dieselben, die so gerne jenen Mephistovers im Munde führen. Auch einen anderen Vers zitieren sie übrigens gern, nämlich: „So geht es dir, Jergliedrer deiner Freuden", denn sie meinen in ihrer Unschuld, diese Moral hätte jemand ziehen können, der nicht selbst berufsmäßiger Zer­gliederer seiner Freuden war. Aber das nur nebenbei.

Goethe versichert den verkennern der Zergliederung,

daß gerade diese Trennung dem menschlichen Geist Gelegenheit gibt, das Tote mit dem Lebenden, das Zerstörte mit dem Werdenden zu vergleichen und uns so die Tiefen der Natur mehr als jede andere Bemühung und Betrachtung eröffnet.

<Es folgt nun eine sehr natürliche (Ergänzung: ein Hinweis aus den (Kantischen) Begriff des Organismus, in dem alle Teile auf einen Teil und jeder auf alle feinen «Einfluß ausübt (2. Hauptstück § 95).

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§ 72. Goethes Apologie des Jergliederns it. Sondern?. 255

Schiller klagt einmal (A 75) , daß Herder, weil er immer aufs verbinden ausgeht, mehr zerstörend als ordnend auf ihn wirke, und es ist sehr hübsch und er-freulich, wie er sodann (in A 96) Goethe apostrophiert.

Sie und wir andern rechtlichen Leute, wir wissen doch auch, daß der Mensch immer als ein verbundenes Wesen handelt und daß die Natur überall synthetisch verfährt. Deswegen wird uns doch niemals einfallen, die Unterscheidung und Analysis, worauf alles forschen beruht, in der Philosophie zu verkennen, so wenig wir dem Chemiker den Krieg darüber machen, daß er die Synthesen der Natur künstlich

aufhebt.

Die Antwort Goethes (A 97) schließt mit dem Bekenntnis:

Die Philosophie wird mir immer werter, weil sie mich täglich mehr lehrt, mich von mir selbst zu scheiden, das ich ttmfomehr tun kann, da meine Natur wie getrennte ÜZuecksilberkugeln sich so leicht und schnell wieder vereinigt.

Dreißig )ahre später (in dem schon vorhin zitierten Stück A 21(0) verallgemeinert er diese persönliche <Lr-fahrung, und es ist auch wahrhaftig nicht nur Goethes Natur, sondern jede Natur, die sich von selbst wieder herstellt, wir mögen sie zerfleischen, soviel wir wollen. Schiller hat also recht, wenn er seinen Korrespondenten den rechtlichen Leuten zuzählt, denen es „niemals ein-fallen würde", der Analyse den Krieg zu machen. Und es ist wohl kein Zufall, daß Goethe (eben in A 2\o) gerade die Worte gebraucht, die das Schlachtgeschrei aller Anti-Kantianer seit fjamann bilden:

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256 Analyse und Synthese.

So beruht die neuere Chemie hauptsächlich darauf, das zu trennen was die Natur vereinigt hatte. Wir heben die Synthesen der Natur auf, um sie in getrennten Elementen kennen zu lernen.

N?ir! sagt Goethe. So identisch fühlt er sich mit diesen Vandalen.

Aber womöglich noch entscheidender als alle diese Zitate ist das Bekenntnis A 89:

daß man nur deswegen so streng sondern müsse, um sich nachher wieder durch Aufnahme fremdartiger Teile etwas erlauben zu sönnen. Ganz anders arbeitet matt aus Grundsätzen als aus Instinkt, und eine Abweichung, von deren Notwendigkeit man überzeugt ist, kann nicht zum Fehler werden.

VOex diesen Satz schreiben konnte, der hält den Schlüssel zu Kants sämtlichen „Sonderungen" in fänden. Man vergleiche damit die folgende Notiz aus Kants Nachlaß (<£rdmann Nr. 497):

Die vehikula des reinen Willens sind Ehre, Geselligkeit und Sym­pathie. Er muß ohne fremden Zusatz erstlich allein gekostet werden, dann die Zusätze bekommen. Wer ihn immer nur in der Ver­mischung kennt, t miedrigt die Sittlichkeit und gibt ihr nur den gemeinen Wert.

ZVie öfter eine Skizze aus der Ejant> eines Künstlers die fertigen Gemälde mit anderen Augen sehen lehrt, so erleuchtet e mir diese Reflexion blitzartig Kants kebenswerk. Erst der reine lville ohne Zusatz — dann darf er Zusätze bekommen.

<Ls gibt ein „glänzendes" physikalisches Symbol für diesen Vorgang. )ch meine die Lrdalkali-Phosphore. Sie bestehen aus einer nüchternen soliden Grundmasse,

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§ 72. Goethes Apologie des Zergliedern? u. Sondern?. 257

die, solange sie rein ist, keineswegs leuchtet. Erst die die Verunreinigung durch spurenweise Zusätze gibt ihr Leuchtkraft und damit lvert. Das Attribut „rein" ist kein Werturteil — auch bei Kant in vielen Lallen nicht. Zum Beispiel ist ihm reine Schönheit nicht etwa höchste Schönheit. (Erst irrt Ideal, verunreinigt durch sittliche Ideen (siehe § U9) erhält sie Wert, erst so leuchtet sie.

Trotzdem muß man die Phosphore und die Schönheit und den Willen zum Guten erst rein darstellen, damit man Herr über die Zusätze sei.

Herder war es ganz und gar unmöglich, diesen Gedanken zu begreifen. <£s ist köstlich, wie er auf Kants Sonderung des Schönen, des Guten und des Angenehmen erwiedert:

Möge die Kritik in drei spezifischen Vorstellungsarten siebenfach unterscheiden, böse für sie, wenn ihr Schönes nicht angenehm, und ihr Gutes nicht schön ist. Umso schlimmer für sie, wenn was sie vergnügt, ihr nicht gefällt, wenn was ihr gefällt und sie vergnügt, von ihr nicht geschätzt wird, und wenn, was sie schätzt, weder vergnügt, noch auch bloß gefallen kann.

<2in ideales Musterbeispiel von Herderismus!

> Rv. sagt Kant: Der Begriff der völligen Reinheit ist nicht aus der Natur ge-

schöpft, sondern hat in der Vernunft seinen Ursprung. Man gesteht, daß sich schwerlich reine Erde, reines Wasser, reine tust ic. finde. Gleichwohl hat man die Begriffe davon nötig, um den Anteil, den jede dieser Naturursachen an der Erscheinung hat, gehörig zu bestimmen.

3ch hätte nicht erwartet, daß irgend jemand, am wenigstens ein Philosoph und am allerwenigsten ein

17

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258 Analyse und Synthese,

Rantforscher diesen Satz bestreiten würde. Indessen hat mir ein angesehener Gelehrter diese Überraschung be-reitet. (Er schreibt:

<£s bedarf kaum eines Hinweises darauf, daß diese Ansichten Kants sich keineswegs in der Richtung bewegen, in der die Fortschritte der Chemie erzielt worden sind. Die Voraussetzung für diese war gerade, daß von dem Begriff Element alles Metaphysische, vag-Philo-sophische abgestreift wurde, was ihm von seiner Abstammung her an-haftete, oder m. a.lv., daß er aus einer Vernunftidee zu einem em­pirischen Begriff wurde, der zur Zusammenfassung einer Reihe experi-mentell festgestellter Tatsachen dient.

Und dazu studiert man Kant dreißig Jahre, dazu hat man dickleibige Folianten über ihn verfaßt, um dann einen apriorischen vernunftbegriff wie den der Rein-heit als etwas „Metaphysisches, v ag- j?hiloso phisches" zu denunzieren!

Zur Erwiderung fei nur soviel gesagt: man wäre nie darauf verfallen, reine (Elemente darstellen zu wollen, was zwar nicht absolut, aber doch mit steigender Annäherung gelingt, man hätte nie einen empirischen Begriff des (Elementes aufstellen können, wenn nicht der Vernunftbegriff der Reinheit voraufgegangen wäre.

§ 73 .

über die Architektonik der Wissenschaft.

(Es gibt zweierlei (Einheit: erstens die (Einheit des Chaos, Nebel über den tDaffetn, kein ficht, kein festes Land, kein ©zean, alles ein einziges großes Gewoge,

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§ 73. Die Architektonik der Wissenschaft. 259

Symbol fjamann und sein Stil. Zweitens die Einheit des Organismus, bis ins feinste ausgebildete, streng differenzierte Glieder, die einander ergänzend und unterstützend zusammenarbeiten. Die zweite ist es, die Kant für sein Werk anstrebt.

Wer nur ein besonderes Seelenvermögen nach Quelle«, Inhalt und Grenzen bestimmen will, der mag von den Teilen anfangen. Dann aber muß man doch aus philosophischem und architektonischem Interesse die Idee des Ganzen richtig fassen und zu dem, was anfangs analytisch gegeben worden, synthetisch wieder-kehren, (pr. v.)

lvenn Goethe gegen eine Philosophie, die „bloß trennend" ist, ablehnende ZDorte sprach, die Kants hat er damit bestimmt nicht gemeint.

)n UKr. hat ihm ja gerade die Nebeneinander­stellung und Verbindung sonst so getrennter Fächer wie Biologie und Ästhetik herzliche Freude bereitet. Und in Rv. zeigen seine Anstreichungen deutlich, daß ihm die Grundtendenz des Kantischen lverks, eine gewaltige geistige Einheit zu schaffen, nicht verborgen blieb. Zu Beginn der „Transzendentalen Analytik" hat er die Worte unterstrichen: >.)dee des Ganzen", „Zusammen­hang in einem System", „unter einer )dee zu be­fassendes System", ferner auf Seite 90 und 92 durch feine Unterstreichungen den Gedanken scharf heraus-gehoben, daß die Zergliederung des Verstandesver-mögens selbst, dadurch daß sie alle Begriffe im verstände als ihrem Geburtsort aufsucht, zu einer systematischen

17*

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260 Analyse und Synthese,

Gnheit darum führen muß, weil der verstand selbst eine absolute Einheit ist, daß es also möglich fern muß, jedem Begriff seine Stelle anzuweisen. (<2s ist ge­wissermaßen „das natürliche System der Begriffe", das Kant aufzusuchen unternimmt). Auch von den ent--sprechenden Winken am Schlüsse des Bandes in der „Architektonik der reinen Vernunft" ist keiner Goethe entgangen.

Architektonik ist das, was aus einem bloßen Aggregat ein System, also gemeine Erkenntnis erst zur Wissenschaft macht.. > Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, d. i. die Einheit der mannig-faltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Allen Teilen ist ihre Stelle untereinander und zum Ganzen bestimmt- Das Ganze ist also ge-gliedert und nicht gehäuft. Es kann zwar innerlich (per intussus-ceptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem) wachsen, — wie ein tierischer Körper, dessen Wachstum kein Glied hinzusetzt, sondern ohne Veränderung der Proportion ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht.

Niemand versucht es, eine Wissenschaft zustande zu bringen, ohne daß ihm eine Zdee zugrundeläge. Aber diese liegt wie ein Keim in der Vernunft, noch sehr eingewickelt, kaum der mikroskopischen Beob-achtung kennbar. Die Ausarbeitung, ja sogar die Definition, die der Autor von seiner Wissenschaft gibt, entspricht ihr oft nicht. Nicht danach darf man sie also erklären und bestimmen, sondern aus den Teilen, die er zusammengebracht hat, muß man die in der Vernunft selbst gegründete Einheit der Zdee erkennen. Denn der Urheber und seine Nachfolger irren oft um eine Idee herum, die sie sich selbst nicht haben deutlich machen können. Die Systeme scheinen wie Gewürme durch eine generatio aequivoca aus dem bloßen Zusammenfluß von auf-gesammelten Begriffen gebildet worden zu fein. Aber alle insgesamt hatten sie ihren Keim in der sich bloß auswickelnden Vernunft, und

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§ 79- Die Architektonik der Wissenschaft. 26\

darum sind sie nicht allein jedes für sich nach einer Idee gegliedert, sondern alle untereinander in einem System menschlicher Erkenntnis als Glieder eines Ganzen zweckmäßig vereinigt. Dieses System darf nicht auf Ähnlichkeit, es muß auf Verwandtschaft gegründet sein.

Diese Häufung von biologischen Gleichnissen ist kein Zufall, sie ist tief in Kants geistigem Wesen be­gründet und erklärt die (Eigenart seines gesamten Werkes. So wie er mit aller Schärfe die jenseits des nur rne-chanischen Verständnisses liegende Einheit der or-ganisierten Wesen, die unzerreißbare Bezogenheit aller Teile auf einander und auf das Ganze als Voraussetzung für alle Biologie verlangt, so ist ihm auch der menschliche Geist eine organische (Einheit, ein wohlgegliedertes Ganzes, welches in feine natürlichen Teile aufzulösen die Aufgabe der Kritik bildet.

Sowenig es Zufall ist, daß Kant allüberall biologische Gleichnisse gebraucht, so wenig ist es Zufall, daß Goethe sie überall anstreicht. €r erkannte tiefer als so mancher Kantianer die biologische Färbung von Kants Denken. Und wenn er in A 2^0 den Kantischen Satz, daß alle Analyse eine Synthese voraussetzt, auf Chemie, Biologie und Psychologie anwendet und versichert, daß die zu-grundeliegende (Einheit sich doch immer wieder her­stellt, so zeigen vielleicht die eben gebrachten Zitate, wie bis ins Letzte hinein Kantisch diese Betrachtung ist.

Höchst interessant ist der Brief, den Kant an Reinhold schrieb, als er die Prinzipien für die Urteilskraft ge­funden hatte:

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262 Analyse und Synthese.

Die vermögen des Gemüts sind drei: Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust, Begehrungsvermögen. Für das erste habe ich in der Kritik der theoretischen, für das dritte in der Kritik der prakti-schert Vernunft Prinzipien a priori gefunden. Ich suchte sie auch für das zweite, und ob ich es zwar sonst für unmöglich hielt, dergleichen zu finden, so brachte das Systematische, das die Zergliederung der vorher betrachteten Vermögen mich im menschlichen Gemüt hatte entdecken lassen, und welches zu bewundern und womöglich zu ergründen mir noch Stoff genug für den Überrest meines Lebens geben wird, mich doch auf diesen Weg."

Mutate mutanda, setzet zum Beispiel anstatt Gemüt Skelett, anstatt Prinzip a priori Iwischenknochen, so könnte Goethe so sprechen, von einem unerkannten und ungeklärten Ganzen durch mühsame Zergliederung zum Einzelnen, dann wieder zurück zu einem artikulierten, übersehbaren, geordneten Ganzen — das ist der Weg, den Kant und Goethe in ihrer lvissenschaftslehre ge-gangen sind.

§ 7 5 .

Die Trennung der Wissenschaften.

Sollen die Linzelrvissenschaften wohldifferenzierte Glieder eines unter einer )dee zu befassenden Ganzen sein, so müssen sie, darin sind Kant und Goethe einig, getrennt ihren N?eg gehen.

„(ES ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der tDissenschaften, wenn man ihre Grenzen ineinander laufen läßt", sagt Kant. Und so fordert auch Goethe von der anatomischen und von der chemischen Physiologie (A?t,6),

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§ 73. Die Trennung der Wissenschaften, 263

„sie möchten immer so fortschreiten, als ob jede allein das ganze Geschäft vollenden sollte". Geradezu glänzend und absolut AantischenGeistes ist, was er (A 78) Sörnrnering zu bedenken gibt: er hätte seine Schrift „ Dom (Drgan der Seele" lieber benennen sollen „von den Kirnenden der Nerven" und die Philosophie völlig außer Spiel lassen. So habe er ein unklares Gemenge aus Physiologie und Philosophie geliefert, mit dem er sich keine der beiden Parteien gewinnen werde. Der Empiriker soll zwar „hinhorchen", wenn „jene Herren (die Philosophen) die Gemütskräfte kritisieren, mit welchen wir die Gegen­stände zu ergreifen genötigt sind", aber er soll selber in feinem Kreis bleiben und wirken. Kant selbst hatte sich im gleichen Sinn über die Sömmeringsche Schrift geäußert, was freilich Goethe nicht unbekannt war, da der Verfasser des Philosophen Gutachten mit abdrucken ließ.

)ede Wissenschaft bildet ihre eigene Methodik, ihr eigenes Begriffssystem aus, und wenn die Begriffe der einen in der anderen (anders als gleichnisweise) ver-wendet werden, so schafft das stets nur Unheil. <£in Physiker bezeichnete einst eine von ihm beobachtete Er­scheinung als Vererbung. <Lin Biologe protestierte gegen die Verwendung dieses biologischen Ausdrucks, der in der Physik ja doch ganz anderes bedeute. Ein Jurist aber entriß dem Biologen die Streitaxt und das Wort, indem er es für seine Wissenschaft allein re­klamierte.

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26-5 Analyse und Synthese.

In früheren Zeiten hat man es mit solchen Über­tragungen leicht genommen, daher die endlosen Zwei-dentigkeiten und Mißverständnisse, freute geht die Tendenz dahin, jedem Ausdruck feine präzise wohl-definierte Bedeutung zu reservieren, nur muß diese Tendenz sich erst allgemein durchsetzen. Welchen Wert soll es z. B. haben, den in der PHyfiE klar definierten Ausdruck „Freiheitsgrad" in die Psychologie zu über­tragen, wie es ein angesehener Physiker kürzlich tat? Die Psychologie gewinnt nichts dabei, und die Physik verliert — nämlich einen scharfen, nicht mißzuverstehenden Ausdruck.

So hat sich auch Goethe (A 23) dagegen gewehrt, daß man oberflächlich ähnliche (Erscheinungen in der tierischen und in der pflanzlichen Entwicklung mit gleichen Worten bezeichne oder daß man in der pflanze Muskeln, Adern, lymphatische Gefäße, Eingeweide, Mark u. dgl. finden wollte. Und er fügt hinzu:

Es ist hier wohl am platz, anderer Gleichnisse zu gedenken, da matt nicht sowohl die Naturreiche unter sich, sondern mit Gegenständen der übrigen Xüelt vergleicht, wodurch man durch eine witzige Ausweichung der Physiologie großen Schaden tut.

Sogar für die Kunstgattungen fordert Goethe strengste Isolierung.

Die Künste sind untereinander verwandt, ja sie haben eine gewisse Neigung, sich ineinander zu verlieren, aber eben darin besteht das Verdienst, die Pflicht, die tDürde des echten Künstlers, daß er das Kunstfach, in dem et arbeitet, von anderen abzusondern, jede Kunstart auf sich selbst zu stellen und sie möglichst zu isolieren wisse. (A U2a.)

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§ 75. Über Spezialisierung. 265

3rt UKr. § 62, in der von Goethe so reich bemalten Stelle (Abt. B, 5. U u. \2) hatte Kant bemerkt, daß die Verbindung mehrerer Künste in einem Produkt die schöne Kunst zwar „noch künstlicher" mache, ob aber auch noch schöner, das könne bezweifelt werden.

§ 75 .

über Spezialisierung.

Während die Klage über die logische Scheidung der geistigen Funktionen wohl nur von fjerderisten zu vernehmen ist, vereinigen sich auch andere Menschen mit ihnen in dem Bedauern darüber, daß durch einseitige llbung dieser oder jener Fähigkeit eine reale Scheidung angestrebt und zum Teil erreicht wird. Hypertrophie des einen Organs, ersauft durch Atrophie des andern. Denn nach Goethes „Budget-Gesetz" muß ja die Natur immer, wenn sie auf der einen Seite etwas geben will, es auf der andern nehmen. Zu diesem Punkt „Nutzen und Schaden der Spezialisierung" erteile ich Herrn Professor Schiller das lvort (Ast. Briefe, t<). Brief).

Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein Mittel, als sie einander entgegenzusetzen. Dieser Antagonismus der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aber auch nur das Zn-strument. Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar das Individuum unausbleiblich in Zrrtum, aber die Gattung zur Wahrheit. So gewiß es ist, daß alle menschlichen Individuen zusammengenommen nie dahin gekommen wären, einen Trabanten des Jupiter auszuspähen, den das Teleskop dem Astronomen entdeckt, ebenso ausgemacht ist es,

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266 Analyse und Synthese,

daß die menschliche Denkkraft niemals eine Analyse des Unendlichen oder eine Kritik der reinen Vernunft würde aufgestellt haben, wenn nicht in einzelnen, dazu berufenen Subjekten die Vernunft sich ver-einzelt und durch die angestrengteste Abstraktion ihren Blick ins Un­bedingte bewaffnet hätte. Wieviel aber auch für das Ganze der lvelt burch diese getrennte Ausbildung der Kräfte gewonnen werden mag, so ist nicht zu leugnen, daß die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluche dieses Weltzwecks leiden.

Akkurat im gleichen Sinn äußert sich Goethe (A ^89). <£s ist dies die einzige Stelle, wo man auch bei ihm die „Trennung dessen, was Gott in feiner Natur vereint hervorgebracht" finden kann. Aber sie wirkt hier nur wie eine Wiederholung von Kants Theorie des „Gliederbaus der reinen Vernunft". Die Lehre von den unteren und oberen Seelenkräften ist ihm zuwider,*) denn

im menschlichen Geiste fordert alles gleiche Rechte an einen ge­meinsamen Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das harmonische Verhältnis aller Teile zu ihm manifestiert."

Nun folgt der ominöse Satz, „Alle Streitigkeiten folgen aus der Trennung usw.", aber dann versichert Goethe, er wisse recht gut, daß eine Fähigkeit im Menschen ge­wöhnlich das Übergewicht hat und daraus Einseitig­

*) Kant hat die Bezeichnungen „oberes und unteres Seelen-vermögen" stets mit einer gewissen Ironie behandelt.

vornehmer ist freilich der verstand, als die Sinnlichkeit, mit der sich auch die verstandlosen Tiere notdürftig behelfen können, wie ein Volk ohne (Oberhaupt, ein (Oberhaupt ohne Volk vermag aber gar nichts. Ls ist also zwischen beiden kein Rangstreit, wenn auch der (Eine als Oberer und der Andere als Unterer betitelt wird. Anthr. § 38.

(5. auch § 35 dieses Buches )

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§ i b . Übet Spezialisierung. 267

feiten notwendig entspringen müssen. Nur übertreiben die Menschen diese Einseitigkeit, indem sie das ihnen verliehene „an die Spitze stellen", ihnen fehlende Gaben herabwürdigen, sich so in einer unerfreulichen Be-schränktheit abquälen und nie begreifen, warum sie so hartnäckige Gegner haben. Es gelte dagegen, alle Gaben, welche auch bei dem Einzelnen vorwalten möge, zu einer entschiedenen Einheit auszubilden.

Dagegen ist so wenig wie gegen Schillers Exkurs etwas einzuwenden. Man muß bloß sich nicht blind da-gegSn machen, daß „Gott in seiner Natur" beides gewollt hat, die Einheit und die Verschiedenheit. All-überall im Tierreich ist Spezialisierung zu sehen, mitsamt ihrem Segen und ihrem Fluch — das ist keine verruchte Perversität des Menschen.

So stehen auch hier, wie es Walter Hu eck*) geistreich und temperamentvoll für viele Tendenzen nachwies, zwei gleichwertige Ideale einander feindlich gegen­über. Angenommen, es wäre uns möglich, unsere geistigen Funktionen: verstand, Phantasie, Vernunft, lvollen, Fühlen, streng spezialistisch auszubilden und nach Bedarf zu isolieren — wäre das nicht auch ein Ideal? Was ist da zu tun?

Keyserling hat in anderem Zusammenhang ein gutes Wort gesagt: „es kommt nicht nur darauf an, daß man harmonisch ist, sondern auf welcher Stufe man

*) Die Philosophie des Sowohl-als-auch, 1923.

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268 Analyse und Synthese.

harmonisch ist". Und da Höherbildung nur durch Znten-sität im Einseitigen zu erreichen ist, so muß im allgemeinen —für den Einzelnen wie für die Zeitalter—Huecks „ j)endel-° rythmus" gelten. Jeder Periode der Spezialisierung folgt eine der Zusammenfassung und umgekehrt. Auch das Goethische Bild von Diastole und Systole drängt sich hier auf. Bei uns ist man vor einiger Zeit der Spezialisierung müde geworden. Heute sind auf dem Markt einheitliche Weltanschauungen das Dutzend um einen Kreuzer zu haben. Vor der Phrasenhaftigkeit dieser Epoche gibt es keine Rettung als wieder aufs neue sich in Sachlichkeit stürzen, ins Einzelne vertiefen. Diese Reaktion wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.

)m Prinzip sollte sich jede neue Synthese auf höhere Stufe vollziehen als die vorhergehende. Faktisch scheint diese Regel allerdings nur für den einzelnen reifenden Menschen gültig zu sein, für die Völker als Ganzes da-gegen nicht.

lvie dem auch sei, Ziel der Kultur kann niemals chaotische Einheit im Stile fjamcmrts sein, sondern n u r g e g l i e d e r t e E i n h e i t i m S i n n e K a n t s u n d G o e t h e s .

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269

Zweites Hauptstück.

Naturwissenschaft

E r s t e s K a p i t e l .

Entwicklungslehre.

§ 7 6 .

Kant über Naturbeschreibung und Naturgeschichte.

wir nehmen die Benennungen Naturbeschreibung und Natur-gefchichte gemeiniglich in einerlei Sinne. Allein es ist klar, daß die Kenntnis der Naturdinge, wie sie jetzt sind, noch die Erkenntnis des-jenigen zu wünschen lasse, was sie ehemals gewesen und durch welche Reihe von Veränderungen sie durchgegangen, um an jedem Vrt in ihren gegenwärtigen Zustand zu gelangen. Die Naturgeschichte, woran es uns noch fast gänzlich fehlt, würde uns die Veränderungen der (Erbgestalt, im gleichen die der Lrdgeschöpfe, die sie durch natürliche Wanderungen erlitten haben, und ihre daraus entsprungenen Abartungen von dem Bilde der Stammgattung lehren. Sie würde vermutlich eine große Menge scheinbar verschiedener Arten zu Rassen der gleichen Gattung zurückführen und das jetzt so weitläufige Schulsystem in ein physisches System verwandeln.

So schreibt Kant \ 775 in seiner ersten Abhandlung über die verschiedenen Rassen der Menschen.

j.788 verteidigt er seine Einteilung gegen Forster, welcher behauptet, die Naturgeschichte würde nur eine

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270 Entwicklungslehre.

Wissenschaft für Götter sein, die bei allem dabei waren, lvas er, Kant, unter Naturgeschichte verstehe, das sei dieses:

den Zusammenhang gewisser jetziger Beschaffenheiten der Natur-dinge mit ihren Ursachen in der älteren Zeit zurückverfolgen, und zwar nach lvirkungsgesetzen, die wir nicht erdichten, sondern aus den jetzt beobachtbaren Kräften der Natur ableiten und nur soweit, els die Analogie es erlaubt- Das ist auch gar nichts Neues, sondern von gründ-lichen Naturforschern, 3. B- Sinne, häufig genug versucht worden, sie mögen viel oder wenig damit ausgerichtet haben. Auch Herrn Forsters Mutmaßung über den ersten Ursprung des Negers gehört gewiß nicht zur Naturbeschreibung. Zwei so heterogene Geschäfte müssen von einander gesondert werden. Und wenn auch die Natur-geschichte nichts als Bruchstücke und wankende Hypothesen aufzeigen kann, und wenn sie auch vielleicht niemals mehr sein wird als ein Schattenriß, worin für die meisten Fragen ein vakat angezeichnet werden muß, so ist doch wenigstens das erreicht, daß Ungleichartiges geschieden ist.

Man muß mir diese Peinlichkeit zugute halten, da ich in anderen Fällen so manches Unheil aus der Sorglosigkeit, die Grenzen der Wissen-schaften ineinander laufen zu lassen, erfahren und überdem überzeugt bin, daß oft durch die bloße Scheidung eines solchen Gemenges den Wissenschaften ein ganz neues Sicht aufgeht.

vor allem müssen schon die Bezeichnungen aus-einander gehalten werden.

Im Tierreich gründet sich die Natureinteilung auf das gemein-schaftliche Gesetz der Fortpflanzung, die Einheit der Gattung ist nichts anderes als die Einheit der zeugenden Kraft. Daher bedeutet die Buffonsche Regel, wonach Tiere, die miteinander fruchtbare Jungen zeugen, wie verschieden ihre Gestalt auch sein möge, doch zur selben Gattung gehören, eigentlich nur die Definition einer Natur-gattung, zum Unterschied von den Schulgattungen. Die Schul-

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§ 77. Naturbeschreibung und Naturgeschichte. 27 {

Einteilung teilt die Tiere nach der Ähnlichkeit in Klaffen, die Natur­einteilung nach der Verwandtschaft in Stämme. Jene verschafft ein Schulsystem für das Gedächtnis, diese ein Natursystem für den verstand; die erstere hat nur zur Absicht, die Geschöpfe unter Titel, d i e zwe i t e abe r , s i e un t e r Gese t z e zu b r i ngen ( \ 7 7 5 ) .

Späterhin, in den biologischen Abhandlungen von V85 und J788 wird dieser Unterschied weiter ausgebaut.

Anfänglich, solange man bloß auf Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit sieht, erhält man Klaffen von Geschöpfen unter einer Gattung. Sieht man aber weiter auf die Abstammung, so muß sich zeigen, ob diese Klaffen ebensoviel« verschiedene Arten oder nur Rassen seien. Wolf, 5»chs und Haushund sind zunächst Klaffen. Nimmt mdn an, daß j.de eine besonder« Abstammung bedurft habe, so sind es Arten; räumt man ein, daß sie von einem Stamme haben entspringen können, so sind es nur Rassen. ZVas beschreibend Art heißt, muß in der Naturgeschichte öfter Rasse genannt werden. Dagegen gilt der Unterschied von Art und Gattung bloß für die Naturbeschreibung; in der Naturgeschichte, wo es nur um die Erzeugung und den Abstamm zu tun ist, sind genus und species das gleiche.

Die Naturbeschreibung liefert Nom in algattungen, die Natur-geschichte Realgattungen. (;?85.)

Die Bezeichnungen classes und ordines drücken unzweideutig eine bloß logische Sonderung aus, die die Vernunft unter ihren Begriffen zum Behuf der bloßen Vergleichung macht; genera und species da­gegen können die physische Sonderung bedeuten, die die Natur selbst u n t e r i h r e n G e s c h ö p f e n i n A n s e h u n g d e r E r z e u g u n g m a c h t . ( \ 7 S 8 . )

§ 7 7 >

Die Fruchtbarkeit dieses Gedankens.

Kants Anregung ist wirkungslos verhallt, fjeuie noch wird der charakteristische Ausdruck „Naturgeschichte",

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272 Entwicklungslehre.

der sich so herrlich dazu eignen würde, um theoriefrei alles zusammenzufassen, was man von der Vergangenheit der Erde und ihrer Geschöpfe feststellen kann, auf bloße Naturbeschreibung vergeudet und ein Florist als „Natur-Historiker" bezeichnet, fjeute noch haben wir eine S^ste-matik, die ein „Gemenge von Ungleichartigem" ist, in der Begriffe rein logischer Natur mit solchen, die reale Beziehungen ausdrücken, untermischt verwendet werden. 3ch erinnere an die in § 27 besprochenen drei Prinzipien, die sich auf jede beliebige Reihe von Gegenständen oder Begriffen anwenden lassen:

das Prinzip der Gattungen oder der Homogenität, welches anleitet, in allen Verschiedenheiten versteckte Identitäten zu vermuten, das Prinzip der Arten oder der Spezifikation, welches dem verstand auferlegt, im Gleichartigen nach Unterschieden zu suchen, und schließlich das Prinzip der Kontinuität, welches aus der Vereinigung beider •entspringt, denn wenn man im Aufsteigen zu höheren Gattungen und im Herabsteigen zu niederen Arten den systematischen Zusammenhang in der Idee vollendet hat, so sind alle Mannigfaltigkeiten untereinander verwandt,weil sie insgesamtvon einer obersten Gattung abstammen.

Da führt uns Kant ein „abstammen" und eine „Der-wandtschaft" vor, die rein logischer Natur sind. (Es hat keine Gefahr, diese Ausdrücke zu verwenden, solange man es mit geometrischen Gebilden oder Runststilen zu tun hat. Sobald man sie aber auf lebendige Wesen an-wendet, sind sie eine unerschöpfliche (Quelle von Un­klarheiten und Zweideutigkeit. Die später folgenden Erörterungen über die Deszendenztheorie werden es zeigen. Ejier müßte also im Sinne Kants zwischen der

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§ 37. Naturbeschreibung und Naturgeschichte. 275

Nominalverwandtfchaft, die, rein auf Ähnlichkeit ge-gründet, zu „Schulgattungen" führt, und der realen oder Blutsverwandtschaft, auf der die „Naturgattungen" beruhen, scharf geschieden und diese Unterscheidung bis in die letzte (Einzelheit durchgeführt werden. )ch würde z. B. vorschlagen, Ausdrücke wie Geschlecht, Rasse, Familie, Stamm, Sippe, die unserem sozialen Usus nach Blutsverwandtschaft bedeuten, dem genetischen System zu reservieren und im deskriptiven System ausschließlich von Klaffen, Ordnungen, Gattungen, Arten, Unter-arten, Sektionen u. dgl. zu sprechen.

Häufig kommt es auch vor, daß in rein beschreibenden Werken Formen als „Varietäten" bezeichnet werden oder daß von ihnen gesagt wird, „sie gehen ineinander über", oder „sie ändern ab". Der naive Leser muß glauben, ein solches )neinanderübergehen sei realiter beobachtet worden. Der Schreiber dagegen hat bloß sagen wollen, daß den beiden Gruppen Formen angehören, die einander ähnlich sehen.

§ ?ö.

Die Definition der Art.

An der Definition der Art möchte ich eingehender zeigen, wie nützlich es wäre, die Kantische Trennung grundsätzlich festzuhalten.

Luvier definiert folgendermaßen: Die Art umfaßt diejenigen Individuen, die entweder von einander

oder von gemeinsamen Vorfahren abstammen und diejenigen, die ihnen soweit gleichen als sie einander gleichen.

18

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27-* Entwicklungslehre-

Der erste Teil ist genetisch gedacht, der zweite deskriptiv. Und da sämtliche modernen Definitionsver-suche so ähnlich klingen, so hat man überhaupt keine Definition der Art. Zum Zeugnis dessen rufe ich zwei lebende Autoriäten an, einen Botaniker und einen Zoologen.

Wettstein (Handbuch der systematischen Botanik) schreibt:

Man sollte erwarten, daß es nicht schwer ist zu erklären, was eine Art, die letzte Einheit des Systemes, ist, und doch sind die Schwierig-leiten nicht klein; sie sind dadurch hervorgerufen, daß die Arten etwas veränderliches sind, daß fortwährend aus Arten neue entstehen. Mährend entwicklungsgeschichtlich ältere Arten durch leicht erkennbare Merkmale voneinander verschieden sind, werden die Unterschiede bei jüngeren Arten schon kleiner sein und wird der Beginn einer Art-Bildung vielfach morphologisch kaum angedeutet sein. Die Möglichkeit des Erkennen? dieser verschiedenen Abstufungen hängt aber in erster kinie von der Befähigung oder Gründlichkeit des Beobachters ab, und darum ist die Festsetzung bessert, was als letzte Einheit des Systems, als Art, anzusehen ist, etwas rein Subjektives, je nach der Person und der Zeit schwankendes.

Man wird daher als Art die Gesamtheit der Individuen be-zeichnen können, welche in allen, dem Beobachter wesentlich er-scheinenden Merkmalen untereinander und mit ihren Nachkommen übereinstimmen.

Hier wäre zu sagen, daß es keineswegs notwendig ist, eine „letzte (Einheit" zu finden. )m genetischen System ist die letzte Einheit das Individuum, deskriptiv gibt es kein Letztes. )ede Art fordert, wie Kant sagt, Unterarten, jede Unterart weitere, das Prinzip der Spezifikation

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§ 78. Die Definition der Art, 275

kommt nirgend zur Ruhe. Anderseits ist das llberein-stimmen der Merkmale ein ausschließlich im deskriptiven System brauchbares Kriterium. Weil die genetisch zu-sammengehöngen Individuen in Wirklichkeit nicht in den Merkmalen übereinstimmen, schränkt Weitstem feinen Begriff der Art auf die „dem Beobachter wesentlich erscheinenden" Merkmale ein, gibt aber selbst zu, daß damit die Umgrenzung eine völlig schwankende wird. Sollte man nicht sagen können: eine Art ist nichts weiter als eine Gruppe von Merkmalen; wo immer die bei­sammen sind, ist ein Vertreter der Art da — unabhängig von Vorfahren und Nachkommen? Umgekehrt wäre etwa eine Sippe eine genetische Gruppe, und sie bliebe eine Sippe, ob die Nachkommen des gleichen Lltempaares nun miteinander in den Merkmalen übereinstimmen oder nicht. Fragen wir jetz den Zoologen um seine Artdefini-tion. <2r antwortet: (Dürfen, Allgemeine Abstammungs­lehre.)

Zu einer Art rechnen wir im allgemeinen diejenigen Individuen, welche völlige Übereinstimmung des Körperbaues zeigen und mit-einander fruchtbare Nachkommen zeugen sönnen. Aber man erkennt sehr leicht, daß dadurch keine scharfe Umgrenzung des Artenbegriffs gegeben ist, denn die Übereinstimmung im Körperbau ist überhaupt niemals eine vollkommene, sondern alle Individuen, selbst diejenigen, welche wir aus guten Gründen zu einer und derselben Art rechnen müssen, zeigen im einzelnen Abweichungen voneinander. Das weiß jeder schon aus der Betrachtung der menschlichen Familie. Aus diesem Grunde unterscheidet man innerhalb der Arten wieder Varietäten und Rassen, die sich nur durch geringe körperliche Verschiedenheiten voneinander abheben und miteinander fortpflanzungsfähig find. Aber

IS«

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2 76 Entwicklungslehre.

es erhebt sich die schwierige Krage: wie groß müssen die Unterschiede sein, damit wir nicht mehr Rassen, sondern verschiedene Arten vor uns haben? ZVann sind zwei Tiere noch der gleichen Art, wann ver-schiedenett Arten zuzuteilen? Die Natur kennt eben nicht die scharfe Artgrenze, die der Systematiker braucht. Die Art ist nicht als etwas fest Geschlossenes in der Natur gegeben, sondern der Artbegriff ist erst vom Menschen in die Natur hineingetragen, und die Abgrenzung behält immer etwas Künstliches und Willkürliches.

Das sind goldene Worte, aber man muß dieses Gold auch auszumünzen wagen. Möchten doch die Biologen die Überzeugung, daß der Artbegriff erst vom Menschen in die Natur hineingetragen ist, konsequent festhalten und sich nicht darüber grämen, daß er künstlich und will-kürlich ist. Möchten sie sich klar machen, daß die Einteilung der Geschöpfe in Arten und Unterarten nicht von tieferer Bedeutung ist als die Einteilung einer lvaffensammlung oder eines Bibliothekskatalogs. Es handelt sich aus-schließlich darum, das zu finden, was man sucht und sich mit den Fachgenossen verständigen zu können.

Öfter wird darüber diskutiert, welche Nachkommen des gleichen Llternpaars man um ihrer Unähnlichkeit willen als verschiedene Arten benamsen soll, und es liegt ja sogar im Wesen der deszendenztheoretischen Auf-fassung, daß Geschwister Stammväter verschiedener Arten werden können. Damit aber ist der Begriff „Art" bereits aus den verwandschaftsbeziehungen herausgelöst.

Sei eine „Sippe" oder wie man es sonst nennen will, eine Gruppe von Individuen gleicher Abstammung, die vielerlei Arten umfassen kann, eine Art aber ist nicht

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§ 78. Die Definition der Art. 277

eine Gruppe von Individuen, sondern eine Gruppe von Merkmalen*). Nur wenn man das festhält, kann man sinnvoll den Satz aussprechen:

„Die Arten sind jünger als die Gattungen, die Gattungen jünger als die Ordnungen usw."

Sind es doch die gleichen Individuen, die den Arten, Gattungen und Ordnungen zugehören. Sie müßten also gleichzeitig jung und alt sein. Gemeint ist: diejenigen Merkmale, durch welche wir die Arten unterscheiden, sind später entstanden als die, die wir als Gattungsmerkmale aufzählen.

Auch das berüchtigte Problem der „Entstehung der Arten" krankt an dieser Unklarheit. Die Individuen entstehen durch Geburt, die große Frage ist nur: wie entstehen die Merkmale? Und es können gleiche Merk-mafe bei genetisch verschiedenen Gruppen entstehen. Führt man die Trennung so durch, dann ist die Frage nach der „(Entstehung der Arten", durchaus nicht das probiern der Deszendenztheorie, sie kann höchstens mittelbar bei der Aufdeckung der Verwandtschaftsverhältnisse behilflich sein, das probiern der Deszendenztheorie aber ist:

Wie verhalten sich die genetischen Gruppen zu den deskriptiven? Damit man technisch in der Lage sei, auf diese Frage zu antworten, müssen die beiden Systeme

*) yti weiche hier von der Rantischen Terminologie ab. Für ihn ist Art gleich Gattung (NB. Naturgattung) ein genetischer Begriff und Klaffe der bloß deskriptive.

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278 Entwicklungslehre.

unabhängig von einander gehalten werden. Das de-skrixtive System darf nicht zum Schauplatz des Kampfes zwischen deszendenztheoretischen Privatmeinungen ge-macht werden, sondern es muß ein festes Koordinaten-netz bilden, auf welches die wechselnden Auffassungen des genetischen Systems bezogen werden können.

In gewissem Grad erkennt auch tVettftein*) diese Forderung an. Lr scheidet „die natürlichen Systeme in morphologische und phylogenetische" und erhebt die Frage, ob die beiden Ziele der Systematik: einerseits Ordnung und Übersicht, anderseits Einsicht in die ent-wicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge, miteinander ganz vereinbar sind. )m allgemeinen entscheidet er sich für ein Kompromiß, bei dem sowohl die Systematik als die phylogenetische Forschung Gpfer bringen müssen, gesteht aber dann zu, daß t

es heute schon Fälle gibt, in welchen die beiden Aufgaben unver-einbar sind, und in solchen Fällen wird es im Interesse beider liegen, auch keinen versuch einer Vereinigung zu machen... Line sicher zum Ziel führende, rein praktische Bestimmungstabelle ist besser als ein Bestimmungsbuch, das aus Gründen des wissenschaftlichen Anstandes ein bestimmtes System einzuhalten strebt.

Aber nur für solche Linzelfälle will mein verehrter Lehrer und Freund die Trennung gelten lassen. )hm erscheint es als Ziel und )deal, allmählich das morpho-logische System völlig in dem phylogenetischen aufgehen

*) System der pflanzen in Kultur der Gegenwart, Teil III, Abt. IV.

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§ 78. Die Definition der Art. 279

ZU lassen, ober, wie er es ausdrückt, die phylogenetischen Ergebnisse in das morphologische System hineinzu­arbeiten, er gibt aber zu, daß das System immer un­übersichtlicher wird, je „natürlicher" es ist.

N o r d e n s k j ö l d i n s e i n e r „ G e s c h i c h t e d e r B i o l o g i e " *925 lenkt, ohne es zu wissen, in Kants Fahrwasser ein.

Die moderne Vererbungsforschung hat die von der alten morpho-logischen Systematik gezogenen "Kreise gründlich zerstört. £inrt6s und später auch Darwins Artbegriff waren rein genetisch. Aber dieser Artbegriff beruht auf der Voraussetzung, daß man aus der Ähn­lichkeit unbedingt auf Verwandtschaft schließen könne. Diese Grundlage hat die moderne Vererbungsforschung zerstört, denn sie hat bewiesen, daß große morphologische Ähnlichkeit auf verschiedenen Ursachen be-ruhen könne, und daß nicht die äußere Ähnlichkeit, sond ern die Über-einstimmung der Erbfaktoren eine wirkliche Verwandtschaft beweise.

Da es nun für den Floristen, Pflanzengeographen usw. unmöglich sei, in jedem Fall die Verwandtschaft zu untersuchen, so werde in systematischen Werken nur der phänotYpus, nicht der Genotypus beschreiben.

Die Notwendigkeit des Verzichts auf den genetischen Artbegriff ist von vielen eingesehen worden. Der Artbegriff wird rein morpho-logisch, „die systematische Art ein phylogenetisches Konglomerat", aber man hat ja für die genetischen Arten die Bezeichnungen Genotyp und reine Linie.

Ebenso erklärt Ab el (Lehrbuch derpaläozoologie *924), daß ein Kompromiß zwischen Stammesgeschichte und Systematik ein zwar erstrebenswertes, aber kaum er-reichbares Ziel darstelle.

Unsere Systeme verlangen scharfe Grenzen, auch dann, wenn solche die sichergestellten genetischen Verbindungen durchreißen.

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280 Entwicklungslehre,

Diese Zitate sollen nur zeigen, daß die Biologie heute beginnt, sich zu dem Standpunkt durchzuringen, auf dem Kant bereits im Jahre *775 stand.

§ ? 9 -

Kants Kriterium zur Bestimmung der Verwandtschaft.

Aber nicht nur in diesem Grundprinzip, der Sonderung von Naturbeschreibung und Naturgeschichte ist Kant seiner Zeit weit voraus gewesen, er hat auch erkannt, — soviel ich sehe, damals als Linziger erkannt — daß Vererbungsexperimente der Weg sind, um zu entscheiden, was genetisch zusammengehört. (Er geht von der Voraussetzung aus, daß die Funktion, die am tiefsten in dem tüefen des Organismus wurzelt, die Jeugungskraft sei. Auf die Art und Weise, wie sie sich äußert, modern gesprochen, auf die Vererbung?-gesetze, baut er darum fein Prinzip auf.

Nach der B u ffottfchen Regel gehören alle Menschen auf der weiten Erde zu einer und derselben Naturgattung, weil sie durchgängig mit-einander fruchtbare Rinder zeugen. Dafür kann man nur eine einzige natürliche Ursache anführen, nämlich, daß sie alle zu einem einzigen Stamm gehören. Line Tiergattung, die einen gemeinschaftlichen Stamm hat, enthält unter sich nicht verschiedene Arten (denn Art und Gattung sind genetisch das gleiche), sondern nur Abartungen. Solche sind:

V Die Rassen, Sie erhalten sich dauernd beständig, auch nach ver-Pflanzung in einen anderen kandesstrich und erzeugen bei Kreuzung mit anderen Abartungen des gleichen Stammes unausbleiblich halbschlächtige Jungen, die ihren intermediären Typus konstant weiter vererben. (Beispiel Neger und weiße.)

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§ 79. Kants Rassenkriterium. 28\

2. Die Spielarten. Sie erhalten sich beim Verpflanzen beständig, erzeugen aber nicht unausbleiblich halbschlächtige Jungen. <I. B. unter den Weißen Blonde und Brünette, eine blond« Frau kann lauter brünette Minder haben.)

3. Die Varietäten. Sie sind bei Verpflanzung oft, aber nicht unbedingt beständig, zeugen keine halbschlächtigen Zungen.

Der Schlag. Der erlischt bei Verpflanzung nach und nach, erzeugt aber halbschlächtig. (Beispiele: die Böotier, die einen feuchten, die Athenienser, die einen trockenen Boden bewohnen.)

Aus einer Varietät, die an sich nicht erblich konstant ist, kann durch Inzucht ein erblicher Familienschlag entstehen. Beispiel: Der alte Adel Venedigs.

ITtan sieht also, Kant gründet die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppe auf den Modus der Vererbung. Wenn eineLigentümlichkeitunausbleiblich anerbt, dann ist dots ein Zeichen dafür, daß es eine tief im Organismus verwurzelte, somit eine ältere, eine Rasseneigenschaft sei. Line solche muß gleichmäßig von beiden Eltern übertragen werden und in sämtlichen Nachkommen den intermediären (Kant nennt ihn „halb­schlächtigen") Typus hervorbringen.

handelt es sich dagegen um Eigenschaften, die jünger und somit noch nicht so tief in die Organisation einge-drungen sind, also um Spielarten, dann ist die llber-tragung nicht von beiden Litern her eine gleichmäßige, die Vererbungskraft des einen Liters überwiegt, und so kann es kommen, daß ein brünetter Mann von einer blonden Frau lauter blonde Kinder hat. Krankheiten gehören nicht zu den Rasse-Ligenschaften.

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282 Entwicklungslehre.

In gewissen Familien sind Schwindsucht, Schiefwerden, Wahn-sinn erblich, aber nicht unausbleiblich. Gb es auch besser wäre, solche Verbindungen zu vermeiden, so habe ich doch selbst wahrgenommen, i>aß ein gesunder Mann mit einer schwindsuchtigen Frau ein Kind zeugte, das in allen Gesichtszügen ihm ähnelte und ein anderes, das der Mutter ähnlich und wie sie schwindsüchtig war. Ebenso finde ich in der Ehe eine- Vernünftigen mit einer Frau, die aus einer Familie, worin Wahnsinn erblich, selbst aber vernünftig war, unter verschiedenen klugen nur ein wahnsinniges Rind.

tüenn zwei Individuen ein halbschlächtiges Rind e r z e u g e n , s o d a r f m a n R a s s e n v e r s c h i e d e n h e i t v e r m u t e n , Sind alle Geburten so, dann wird die Vermutung zur Gewißheit. Ist aber nur ein einziges Kind kein Mittel-schlag, dann find die (Eltern nur Spielarten derselben Rasse.

Kant leitet also dazu an, zahlenmäßig zu unter­suchen, wie sich die (Eigenschaften der (Eltern auf die Kinder verteilen, ferner welche (Eigenschaften auch bei den späteren Generationen konstant bleiben, welche bei Kreuzung oder Verpflanzung wieder erlöschen. EDäre man ihm gefolgt, so hätte man notwendig bereits im *8. Jahrhundert die ITlenbelfchen Gesetze entdeckt, notwendig, sage ich, nicht bloß durch ein zufälliges Experiment, dessen Resultat nicht verstanden, bald wieder verloren ging, sondern sofort in der richtigen theoretischen (Einschätzung seiner Bedeutung. Wäre man ihm gefolgt, wo stünde die Biologie heute! Weil man ihm nicht gefolgt ist, weil man erst seit wenigen Jahrzehnten

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§ 79- Kants Rassenkriterium. 285

regelmäßig Lrblichkeitsforschung treibt, darum ist sogar heute noch die Frage, wie Rassenbastarde sich tatsächlich verhalten, nicht endgültig geklärt.

(Zum vergleich mit Kants Lehre ist in den folgenden Zitaten Art durch Rasse, Rasse aber durch Spielart zu ersetzen.)

Baur (Einführung in die exp. Vererbungslehre ^922) erklärt:

Man findet zwar in der Literatur ungemein häufig die Angabe, daß Kreuzungen zwischen verschiedenen Spezies eine ungefähr inter-mediäre Nachkommenschaft geben, die dann in allen späteren Ge-nerationen konstant bleibt. Diese Angabe ist aber in ihrer Detail« gemeinerung sicher falsch, basiert mir auf ganz ungenügenden Beob-achturtgen.

Dagegen glaubt lNeisenheimer (Naturforschertag Leipzig ^922) als Regel aufstellen zu können, daß ein sich konstant erhaltender intermediärer Typus „nicht häufig bei Rassenkreuzungen, viel häufiger bei Art-kreuzungen" erscheine. Die Beispiele, die er bringt, kann ich im Augenblick nicht nachprüfen, mir genügt an dieser Stelle die Überlegung, daß, wenn im )ahre *922 ein vererbungsspezialist für Vererbungsforschung An-laß findet, einen solchen Satz zu formulieren, das Aantische Prinzip nicht ganz verkehrt gewesen sein kann. Das Prinzip beruht auf der )dee, daß die Eigenschaften, welche die weiteren Gruppen kennzeichnen, physiologisch tiefer begründet seien und darum von beiden Litern

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Entwicklungslehre-

„unausbleiblich" vererbt werden, während die engeren Gruppen sich von einander durch weniger bedeutungs-volle Eigenschaften unterscheiden, die U. in dem einen Llter unterdrückt werden, d. h. menbeln können.

Alles übrige, erklärt Kant, alle Einzelheiten sind Zutat und Neben-werk und können angenommen oder verworfen werden. Auf das Prinzip allein kommt es an. Und dieses Prinzip ist darum wertvoll, weil es eines Experiments fähig ist.

Nach meiner — freilich lückenhaften Kenntnis der damaligen Literatur ist Kant der einzige Naturforscher gewesen, der sich dafür einsetzt, phylogenetische Probleme durch das Experiment zu entscheiden.

über die Rassenfrage entspann sich eine Polemik zwischen Kant und dem berühmten Naturforscher Georg Förster. Dieser sah von der l^öhe seiner Lrfahrungs-w eisheit verächtlich auf den philosophierenden Dilettanten herab und verwarf in ziemlich gehässigem Ton alles, was Kant vorschlug, sowohl die Trennung der Natur-Wissenschaft in Beschreibung und Geschichte, als auch Kants experimentelle Erblichkeitsforschung. (Er begriff keineswegs, was Kant wollte. (Es ist hochinteressant zu sehen, wie der berühmte (Empiriker mit seinem un­geheuern Tatsachenmaterial schlechterdings nichts anzu­fangen wußte, und wie dagegen der Philosoph an einem viel geringeren und dazu großenteils falschen Tatsachen-bestand Gesichtspunkte entwickelte, die heute erst verstanden werden, ja, vielleicht darf ich sogar noch mehr sagen: die heute noch fruchtbar werden können.

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285

§ 80.

Kant über die Vererbung erworbener Eigenschaften und über Gene.

Krankheiten sind bisweilen erblich, aber diese bedürfen keiner

Organisation, sondern nur eines Fermentes schädlicher Säfte, die sich

durch Ansteckung fortpflanzen. Sie erben nicht notwendig an. Tust,

Sonne und Boden können einen Körper in feinem Wachstum modi­

fizieren, aber sie können diese Veränderung nicht zugleich mit einer

zeugenden Kraft versehen, die imstande wäre, sich auch ohne die äußere

Ursache wieder selbst hervorzubringen.

Ivas sich fortpflanzen soll, das muß in der Zeugungskraft schon

seit je gelegen haben als vorbestimmt zu einer gelegentlichen Ab­

wicklung.

Dem „ versehen" von schwangeren Frauen ober Sintert steht Kant darum mit Mißtrauen gegenüber und bezweifelt auch, daß man durch Ausrupfen des Bartes bei ganzen Völkerschaften, durch Stutzen des Schwanzes in einer Pferdezucht eine neue Rasse erzeugen könne oder daß zufällig entstandene „geplätschte Nasen" sich ver­erben. (Er weigert sich auf das entschiedenste zu glauben, daß durch äußere Eingriffe oder auch durch die bloße Wirkung der Einbildungskraft

die Natur genötigt werden könne, ein Produkt, woraus sie ur-

anfänglich organisiert war, aus ihren Zeugungen wegzulassen. Denn

wenn der Zauberkraft der Einbildung oder bet Künstelei des Menschen

so große Macht zugestanden würde, dann wüßte man schließlich über-

Haupt nicht mehr, von welchem Original die Natur ausgegangen. Der

Menschen Einbildung kennt keine Grenze, und es ist nicht abzusehen,

in welchen Fratzengestalten das Menschengeschlecht schließlich erscheinen

müßte. Dieser Erwägung gemäß nehme ich es mit zum Grundsatz,

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286 Entwicklungslehre.

keinen in das Zeugungsgeschäft der Natur pfuschenden Einfluß gelten zu lassen. Alle diese abenteuerlichen Ereignisse wollen nur durch ge-legentliches Aufhaschen von Wahrnehmungen bewiesen sein. Experi-mentert weicht man unter allerlei Vorwand beständig aus.

Was aber eines Experiments wohl fähig wäre und doch keines aushält, das ist nichts als Wahn und Erdichtung. Dies find meine Gründe, warum ich keine andere Ursache für die Abarten annehme als die in der Gattung selbst liegenden Keime und Anlagen.

vor zwanzig fahren hätte ich es kaum gewagt, diese Ansichten zu referieren, so veraltet, so verkehrt wären sie mir selbst vermutlich erschienen, freute darf ich sie mit einem gewissen Stolz auf meinen Helden wiedergeben, denn das wenige, was die moderne Lrblichkeitsforschung bisher überhaupt feststellen konnte, scheint völlig zu seinen Gunsten zu sprechen. Man sieht sich heute allgemein g e z w u n g e n , v o n u r s p r ü n g l i c h e n A n l a g e n , v o n G e n e n zu reden, und ob diese Anlagen durch äußere Umstände je in ihrem Wesen verändert werden können, das ist eine noch offene Frage. Ls gibt genug Forscher, die jedesmal, wenn eine neue Eigenschaft auftritt, voraussetzen, sie müsse doch latent schon vorhanden gewesen sein. Auf alle Fälle hat, soweit ich urteilen kann, kein einziger von Kants Zeitgenossen das probiern der Vererbung er­worbener Eigenschaften als solches so scharf gesehen wie er.

Vögel entwickeln in kaltem Klima eine neue Lederschicht, die zurückgehalten wird, wenn sie sich in gemäßigtem Klima aufhalten. Weizen bringt in kaltem Tande, wo der Kern mehr gegen feuchte Kälte geschützt werden muß, nach und nach eine dickere Sfarxi hervor. So scheinen bei Wanderung und Verpflanzung neue Arten zu entstehen, aber es sind nur Abartungen, für die die Anlagen seit jeher dagewesen

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§ 80. Kant über Gene. 287

fein müssen. Der Zufall ober allgemeine mechanische Gesetze sönnen derlei Zusammenpassungen nicht hervorbringen. Und selbst da, wo nichts Zweckmäßiges sich zeigt, ist das bloße vermögen, feinen be­sonderen angenommenen Lharakter fortzupflanzen, schon Beweis genug, daß ein Keim oder eine Anlage in dem organischen Geschöpf vorhanden gewesen sein muß. Denn für etwas, was notwendig anerbt und nachartet, können äußere Dinge wohl die auslösende, aber nicht die hervorbringende Ursache sein. Sowenig als der Zufall ober physisch-mechanische Ursachen einen organischen Körper hervorbringen können, sowenig werben sie seiner Zeugungskraft etwas hinzusetzen, d. h. etwas bewirken können, was sich selbst fortpflanzt.

So ist denn auch der Mensch nach Kants Vorstellung ursprünglich für alle Klimate und für jeden Boden aus-gerüstet gewesen. Wie der ursprüngliche IHetifchettstamm ausgesehen hat, davon kann man sich keinen Begriff mehr machen, nur vermutet Kant — sich gleichzeitig gegen die Anmutung eines Rassenvorurteils verwahrend — er dürfte der weißen Rasse am nächsten gestanden sein, weil diese die anpassungsfähigste ist. Aus diesem Ur-stamm gliederten sich schon in der ältesten Zeit die Rassen je nach dem Bedürfnis des Klimas, und wenn erst eine der Anlagen bei einem Volk voll entwickelt war, so löschte sie alle übrigen gänzlich aus. Zur Aus-bildung der Rassen-Ligentümlichkeiten war aber ein längerer Zeitraum nötig, und Kant behauptet, es gäbe Völker, die für kein Klima völlig taugen, weil sie aus dem einen auswanderten, ehe die Anpassung vollzogen war, in dem neuen aber erst einwanderten, als ihre Anlagen bereits zu stark spezialisiert waren.

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288 Entwicklungslehre,

Diese Theorie von den ursprünglichen Anlagen konnte leicht im Sinne der Präformationslehre verstanden werden, und gegen diese Mißdeutung wendet sich Kant i n s e i n e r R e z e n s i o n d e s z w e i t e n T e i l s v o n H e r d e r s „Ideen ..(Er sagt:

Der Einteilung der Menschengattung in Rassen ist unser Verfasser nicht günstig, vermutlich weil ihm der Begriff einer Rasse noch nicht deutlich bestimmt ist. Er nennt als die Ursache der klimatischen Ver­schiedenheit eine genetische Kraft. Offenbar will er einerseits das Lvolutionssystem, anderseits den bloß mechanischen Einfluß äußerer Ursachen als untaugliche Erklärungsgründe abweisen. Er nimmt viel­mehr ein innerlich sich selbst den äußeren Umständen angemessen modi-fizierendes kebensprinzip an. Darin tritt ihm Rezensent völlig bei, nur mit dem folgenden Vorbehalt: Könnte es nicht sein, daß die von innen organisierende Ursache in bezug auf Zahl und Grad der ver-schiedenheiten eingeschränkt sei, so daß sie, wenn diese einmal aus­gebildet sind, nicht mehr frei wäre, noch bei veränderten Umständen einen neuen Typus zu bilden? Nimmt man solche nicht weiter erklär­liche Einschränkungen eines sich selbst bildenden Vermögens an, so darf man wohl von Keimen oder ursprünglichen Anlagen reden, ohne dabei wie das Evolutionssystem an uranfänglich eingelegte und sich nur bei Gelegenheit auseinanderfaltende Maschinen ober Knospen zu denken.

)n diesem Punkt scheint Kant, wenigstens soweit man heute urteilen sann, völlig recht zu haben. (Einmal erlangte Spezialisierung kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, die Anpassungsfähigkeit steht im um­gekehrten Verhältnis zur bewirkten Anpassung.

Auf einem Zettel aus dem Nachlaß Goethes finden wir die Worte:

Zeit, wo der Typus beweglicher war.

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§ sv Evolution und Epigenefe. 289

©b er damit eine eigene oder eine fremde Ansicht — etwa die Kants — festhalten will, ist wir nicht bekannt.

§ sv

Evolution und Lpigenese.

D a G o e t h e i n f e i n e m A u f s ä t z c h e n ü b e r d e n B i l d u n g s ­t r i eb, A VI freilich nur in äußerlicher Weise, an Kant an­knüpft, so will ich dessen Gedankengang aus UKr. § 8\ hier referieren.

Um sich die Möglichkeit eines organisierten Wesens zu denken, langt der Naturmechanismus allein nicht zu, sondern dieser muß einer absichtlich wirkenden Ursache untergeordnet werden; der ideologische Grund allein langt aber ebensowenig zu, auch der Mechanismus kann nicht weggedacht werden, wenn das Produkt überhaupt ein ZVerk der Natur fein soll. Nimmt man nun für die Entstehung der (Organismen eine Ursache an, so kann dies auf zweierlei Weise geschehen. Entweder diese Ursache verleiht der Materie bei jeder Begattung unmittelbar die organische Bildung ((Dtfafionaltsmus), oder sie hat die anfänglichen Produkte so eingerichtet, daß sie dauernd ihres gleichen hervorbringen können (präftabilismus). Beim Vkkasionalismus geht alle Natur und aller vernunftgebrauch zu ihrer Beurteilung gänzlich verloren, es wird also kaum jemand, dem es um Philosophie zu tun ist, dieses System annehmen.

Der präftabilismus kann wiederum zweifach verfahren, nach der Theorie der Evolution oder der Lxigenefis. Die erste betrachtet jedes organische N?esen als individuell realiter präformiert, die zweite nur als genetisch »irtualiter präformiert, indem das produktive ver-mögen der Zeugenden von den Anlagen abhängt, die dem Stamm zuteil wurden.

Die Verfechter der Evolutionstheorienehnienz war jedes Individuum von der bildenden Kraft der Natur aus und lassen es unmittelbar

19

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290 Entwicklungslehre.

aus der Hand des Schöpfers kommen, wollten aber doch nicht wagen; dies nach der Hypothese des Vkkasionalismus geschehen zu lasse«, so daß die Begattung eine bloße Formalität wäre, unter der die oberste Ursache beschlossen hätte, eine Frucht zu bilden. Dabei sind zwar eine große ITtenge übernatürlicher Anstalten erforderlich, damit der im An-fang der lvelt gebildete (Embryo sich unverletzt erhalte, und eine un­ermeßlich große Zahl vorgebildeter tVefcn, die nie entwickelt werden sollen, deren Schöpfung also unnötig und zwecklos erscheint. Allein sie wollten doch wenigstens etwas der Natur überlassen, um nicht völlig in eine Hyperphysik zu geraten, die aller Naturerklärung entbehren kann. Die Erzeugung der Bastarde konnten sie indes in ihr System der Präformation nicht hineinpassen, sondern hier mußten sie betn männ­lichen Samen, den sie sonst nur als Nahrungsmittel für den Lmbryo angesehen hatten, noch obendrein eine bildende Kraft zugestehen, die sie doch bei Produkten der gleichen Gattung keinem der beiden Lr-zeuger hatten einräumen wollen.

Für die Lpigenefis dagegen, selbst wenn man die empirischen Gründe, die für sie sprechen, gar nicht kennte, muß die Vernunft schon zum voraus eingenommen fein, weil sie die Natur nicht bloß als ent-wickelnd, sondern als selbst hervorbringend betrachtet und so mit dem kleinstinöglichen Aufwand« an Übernatürlichem alles Folgende vom ersten Anfang an der Natur überläßt, — freilich ohne über diesen ersten Anfang, an dem alle Physik scheitert, etwas bestimmen zu wollen.

3n Ansehung dieser Theorie der Lpigenesis hat niemand mehr geleistet als Herr Hofrat Blumenbach, sowohl zu ihrem Beweis als zur Gründung der echten Prinzipien ihrer Anwendung, zum Teil auch durch Beschränkung ihres zu vermessenen Gebrauchs, von organi-sierter Materie hebt er alle physische Lrklärungsart dieser Bildungen an. Denn daß rohe Materie sich nach mechanischen Gesetzen ursprüng­lich selbst gebildet habe, daß aus der Natur des Leblosen keben habe entspringen und Materie sich von selbst in die Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit habe fügen können, erklärt er mit Recht für vernunftwidrig. Unter diesem uns uncrforfchlichcn Prinzip einer

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§ sv Evolution und Epigenese. 291

ursprünglichen (Organisation läßt er aber zugleich bcm Naturmechanis-mns einen unbestimmbaren, zugleich doch auch unverkennbaren Anteil-Das vermögen der Materie hierzu in einem organisierten Körper nennt er den Bildnngstrieb — zum Unterschied von der aller Materie beiwohnenden bloß mechanischen Bildungskraft — weil der Bildungs­trieb gleichsam unter der höheren Leitung und Anweisung der Vrgani-sation stehend gedacht ist.

©b Kant hier in der Tat, wie Driesch ihm vor-wirft, 23hintenbach falsch zitiert habe, ist mit zweifelhast. Historisch ist jedenfalls zu sagen, daß Blumenbach seiner-seits wiederholt die Kritik der Urteilskrast zitiert, ohne sich je über ein Mißverständnis Kants zu beschweren. Daß er selbst sich sehr ähnlich ausdrückt, sollen die folgenden Zitate zeigen:

Aus dem dritten Abschnitt von „Bildungstrieb": Man kann nicht inniger von etwas überzeugt fein, als ich es von

der mächtigen Kluft bin, die die Natur zwischen den organisierten und den unorganischen Geschöpfen befestigt hat, und ich sehe nicht, wie die Verfechter der Kontinuität der Natur beim Übergang ... ohne einen etwas gewagten Sprung durchkommen wollen. Allein dies hindert nicht, daß man Erscheinungen in einem dieser beiden Bauplteile der Schöpfung zur Erläuterung für Erscheinungen in dem anderen be-nützen dürfe, und so sehe ich es für keines der geringsten Argumente zum Erweis des Bildungstriebs in den organisierten Reichen an, daß auch im unorganischen die Spuren von bildenden Kräften so un-verkennbar sind, — von bildenden Kräften, nicht vom Bildungstrieb, denn der ist eine Lebenskraft und folglich in der unbelebten Schöpfung nicht denkbar.

Aus dem Handbuch der Naturgeschichte: von dieser Verbindung der beiden Prinzipien? — des mechanischen

mit dem ideologischen — die man sonst bei Erklärung der Entstehungs­

19*

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292 Entwicklungslehre,

art organisierter Körper für unvereinbar gehalten, und worin gerade das Auszeichnende im Begriff vom Bildungstrieb liegt, davon gibt zumal die vergleichende Anatomie Beispiele die Menge.

Und schließlich aus betn Passus, wo der Bildung?-trieb oder nisus formativus zuerst eingeführt wird (t?90):

Hoffentlich ist für die mehrsten Leser die Erinnerung sehr über-flüssig, daß das Wort Bildungstrieb so gut wie die Worte Attraktion, Schwere ic. zu nichts mehr und nichts weniger dienen soll als eine Kraft zu bezeichnen, denen konstante Wirkung aus der Erfahrung anerkannt worden, deren Ursache aber für uns qualitas occulta ist.

Diese okkulte Ursache für den Bildungstrieb kann nichts anderes sein als das „unerforschliche Prinzip einer ursprünglichen Organisation", dieses !Vort im dynamischen Sinn genommen, also als organisierendes Prinzip, nicht als die materielle Wirkung dieses Prinzips. Denn zu den Hauptvorzügen der Lebewesen rechnet es Kant, daß sie imstande sind, auch die leblose Materie, die sie zu sich hinzusetzen, zu organisieren.

Dort den beiden im Grunde nichts erklärenden Theorien der Evolution und der Lpigenese erscheint ihm die zweite als das kleinere Übel, weil sie wenigstens außer den unerforschlich bleibenden ersten Ursachen alles der Natur überläßt.

Goethe meint, daß Evolution sowohl wie Lpigenesis, „Ausdrücke sind, mit denen wir uns nur hinhalten", oder (A. 7\, $) „schwache Versuche des Verstandes, der alles mit ständen greifen will".

Um das vorhandene zu betrachten, müssen wir eine vorher-gehende Tätigkeit zugeben, und wenn wir uns eine Tätigkeit denken

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§ 8V Evolution und Lpigenese, 293

wollen, so müssen wir ihr ein schickliches «Element unterlegen, worauf sie wirken konnte, so daß wir zuletzt diese Tätigkeit mit dieser Unterlage als immerfort zusammen bestehend und ewig gleichzeitig vorhanden denken müssen. (A. VV)

Hier geschieht nun ein in Goethes wissenschaftlichen Schriften sonst ungewöhnliches Salto mortale, wovon er klüglicherweise sofort wieder „in das Feld der Philo­sophie zurückkehrt", um festzustellen, daß die „Lin-schachtelungslehre freilich einem Höhergebildeten bald widerlich" werde, daß aber schließlich die Niesen doch irgendwie vorgebildet sein müßten, und ob man nun Präformation, prädelineation, Prädetermination oder prästabilieren sagt — irgend etwas muß immer voraus-gehen, „ehe wir etwas gewahr werden".

Goethe findet also den Unterschied zwischen der materiellen und der virtuellen Präformation nicht )o erheblich und im Grunde vermag ich aus dem ganzen Aufsatz „Bildungstrieb" nichts herauszulesen als einen resignierten Stoßseufzer: lvie das alles eigentlich ist, können wir nicht begreifen, verehren wir Gott und damit basta.

§ 82.

Die Metamorphose bei Kant.

Meine Metamorphose hatte ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinn seiner Lehre.

Was meint Goethe mit diesen Worten? Noch niemand hat sie verstanden. Vielleicht wäre es

auch mir nicht anders ergangen, wenn nicht eine Notiz

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Entwicklungslehre-

aus dem Nachlaß 5?z) und die oft erwähnten lehr­reichen „Striche" mir den N?eg gewiesen hätten. Die Notiz aus dem Nachlaß sagt unter dem Titel „An-deutungen auf diese Lehre":

Kants Kritik der Urteilskraft spricht sich deutlich aus.

Suchen wir also in der Kritik der Urteilskraft (natürlich der ideologischen), ob wir unter den Stellen, die Goethes Aufmerksamkeit erregt haben, etwas entdecken, was als ein deutliches Aussprechen des Metamorphosengedankens bezeichnet werden kann, so finden wir zunächst in § 65,

mit einem Goetheschen Doppelstreich versehen, die Be-merkung:

Die Natur organisiert sich selbst und in jeder Spejies ihrer organi­sierten Produkte zwar nach einerlei Lxernplar*) im Ganzen, aber doch auch mit schicklichen Abweichungen, die die Selbsterhaltung nach den Umständen erfordert.

Das ist der Grundgedanke — nicht der sukzessiven, sondern der simultanen Metamorphose. Die sukzessive besteht in der Entwicklung des einzelnen Individuums, wobei ein Grundorgan, allgemein Blatt genannt, nach­einander die verschiedensten Formen und Funktionen a n n i m m t , d i e s i m u l t a n e , s y m b o l i s i e r t d u r c h d i e U r -pflanze, bedeutet Bildung aller Individuen nach einem gemeinsamen Urbild. Dieses „Urbild" finden wir in jenem berühmten § so von UKr, der die Deszendenz­theorie als ein gewagtes aber reizvolles Abenteuer der Vernunft bezeichnet. Dort heißt es:

*) Nüster, Vorbild. Man denke an „exemplarisch".

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82. Die Metamorphose bei Kant. 295

Ls ist rühmlich, die große Schöpfung organisierter Naturen durch-zugehen, um zu sehen, ob sich nicht etwas einem System ähnliches und zwar dem Lrzeugungsprinzip nach vorfinde, so daß wir nicht nötig hätten, beim bloßen Beurteilung? prinzip stehen zu bleiben und mutlos allen Anspruch auf Natureinsicht in diesem Felde auf­zugeben. Die Übereinkunft so vieler Tiergattungen in einem gemein­samen Schema, wo bewunderungswürdige Einfalt des Grundrisses durch Verkürzung des einen und Verlängerung des anderen, durch Linwicklung dieser und Auswicklung jener Teile eine so große Mannig-faltigkeit von Spezies hat hervorbringen formen, läßt einen, obgleich schwachen Strahl von Hoffnung ins Gemüt fallen, daß hier etwas mit dem Mechanismus der Natur auszurichten fein möchte. Diese Analogie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem ge-meinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft usw.

Wahrhaftig — die Kritik der Urteilskraft spricht sich deutlich aus! Übereinkunft in einem gemeinsamen Schema, Verkürzung, Verlängerung, Auswicklung, Gn-wicklung, da ist alles beisammen.*) Nicht bei der bloßen Beurteilung stehen bleiben, nein (Einsicht in die Er­zeugung der Fülle des Lebendigen gewinnen — da stand es schwarz auf weiß, was Goethe sich mit heiligem <2ifer als Ziel gesetzt hatte. ZVie hat sein Herz geschlagen, als er das las.

Nun tonnte mich nichts mehr hindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge ausdrückt, mutig zu bestehen (A. jsq).

*) Man sehe Goethes Auszug 25 a, wo er diese Worte „ver-mannigfaltigen, verlängern, verkürzen" ausdrücklich heraushebt.

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296 Entwicklungslehre.

Den Gedanken der sukzessiven Metamorphose finden wir bei Kant nicht ausgesprochen, wohl aber einige Überlegungen, die in diesen Komplex gehören. )n UKr. § 6$ wird gesagt, das N?achstum sei eigentlich einer Jeugung gleich zu achten. Denn

die Materie, die ein Gewächs zn sich hinzusetzt, verarbeitet es

vorher zu spezifisch eigentümlicher (Qualität, und es bildet sich selbst

weiter aus oermitHs eines Stoffes, der seiner Mischung nach sein

eigenes Produkt ist.

Die höheren Teile der Pflanzen sind also die Rinder der erstgebildeten, weil sie nicht mehr von den zugeführten rohen Stoffen leben, sondern von der selbstzubereiteten Nahrung. Das erinnert an Goethes Vorstellungen über die Verfeinerung der Säfte. <Ls sei hier nebenbei an-gemerkt, daß Goethe in diesem Punkt häufig miß-verstanden wird — in der Regel darum, weil man in alte Texte gar zu gern moderne Auffassungen hinein interpretiert. So macht sich ein Pflanzenphysiologe die Theorie zurecht, daß „rohe" Säfte anorganische, „feine" dagegen organische Substanzen bedeuten, und dann schilt er Goethen darum, daß er die Kotyledonen von rohen, d. h. also anorganischen Materien erfüllt sein lasse, was ein zwar verzeihlicher, aber doch bedauerlicher Irrtum fei, — Aber hat denn Goethe behauptet, roh heiße anorganisch? Goethe meint mit der Verfeinerung das gleiche, was Kant meint: die Pflanze nährt sich immer mehr und mehr aus Stoffen, die ihr eigenes

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§ 82. Die Metamorphose bei Kant. 297

Erzeugnis sind. Aus den „rohen" Kohlenwasserstoffen, die teils das direkte Produkt der Kohlensäure-Assimilation, sind, teils als Reservestoffe in den Kotyledonen lagern, bildet sie immer arteigenere Säfte, bis schließlich in den Keimzellen alle ihre Eigenschaften auf engstem Raum in höchster Dichte versammelt sind. Denn von hier aus erzeugt sich ja die Pflanze neu. Darum nennt Goethe die in den Fortpflanzungsorganen enthaltenen Säfte auch die „geistigsten", weil hier der Geist der Pflanze seinen reinsten chemischen Ausdruck findet.

Zu dem letzten Absatz in UKr. § 6$ hat Goethe die Randbemerkung gemacht: „Gleichgültigkeit des pflanzen-reichs". Dieser Absatz sagt:

Das Auge an einem Baumblatt, dem Zweige eines anbeten eingeimpft, bringt an einem fremdartigen Stock ein Gewächs von feiner eigenen Art hervor und ebenso das Pfropfreis auf einem anderen Stamm. Daher kann man auch an dem selben Baume jeden Zweig oder jedes Blatt als bloß auf diesen gepfropft oder okuliert ansehen, mithin als einen für sich selbst bestehenden Baum, der sich nur an einen anderen anhängt oder parasitisch ernährt.

In Goethes Pflanzenmetamorphose handelt § 89 von der überpfropfung von Augen, und dann fährt

§ 90 fort:

Die Seitenzweige, welche aus den Knoten der Zweige ent­springen, lassen sich als besondere pflänzchen, welche ebenso auf dem Mutterkörper stehen, wie dieser an der (Erbe befestigt ist, betrachten. ...

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298 Entwicklungslehre.

Die Übereinstimmung in diesem doch immerhin originellen Gedanken ist so auffallend, daß man an eine gemeinsame Quelle denken möchte.*)

!Vas soll aber die Glosse „Gleichgültigkeit des Pflanzenreichs"? Gleichgültigkeit bedeutet Gleichwertig-feit. Jeder Teil gilt gleich viel (A 82). Mineralkörper sind am gleichgültigsten in bezug auf ihre Anordnung, Vögel und Säugetiere dagegen „völlig entschieden". Bei den pflanzen sind die Teile noch nicht absolut deter-miniert, daher die Möglichkeit, ihre Funktion zu wechseln und daher ihre unbegrenzte Reproduktionsfähigkeit. Auf diese wurde Goethe durch den Rat Reiffenstein aus-merksam gemacht, der „bis zur Pedanterie behauptet, jeder in die Lrde gesteckte Zweig müsse sogleich fort­wachsen."

Der Schluß von UKr. § 6t behandelt die patho­logische Metamorphose, die Selbsthilfe bei Verletzungen und die Monstrositäten.

Eine Priorität auf alle diese Gedanken nehme ich für Kant nicht in Anspruch. Goethe hätte sie vermutlich in der zeitgenössischen Literatur da und dort finden können. Doch hat er sie offenbar nur bei Kant gefunden, da er diesen als Vertreter der Metamorphosenlehre aus­

*) Goethe nennt Gärtner, der (De fruct. plart., Kap. \) „diese

vergleiche vor kurzem so scharfsinnig und mit so vieler Genauigkeit

ausgeführt hat, daß wir uns hier nur mit einem unbedingten Beifall

darauf berufen können" Dort ließ sich indes dieser Gedanke nicht

auffinden.

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Kants Stellung zur Deszendenztheorie. 299

drücklich nennt. Herders Buch kommt hiefür nicht in Betracht, da es unter Goethes Mitarbeit entstanden War. Hier fand er nur sich selbst wieder. Hingegen wäre es umgekehrt nicht ausgeschlossen, daß Kant aus diesem Goethe-Herderschen lverk geschöpft hätte.

Kants Stellung zur Deszendenztheorie.

§ 85.

Die Herder-Rezension.

3n feinet Rezension des ersten Teiles von Herders „)deen" referiert Kant dessen Meinung, daß

die beobachtete Steigerung der Organisationen bis zum Menschen hinauf einen Überschritt der Natur zu noch mehr verfeinerten Vpe-rationen erwarten lasse, um ihn dadurch zu künftigen noch höheren Stufen des kebens und so fortan ins Unendliche zu erheben. Re­zensent rrtuf$ gestehen, daß et diese Schlußfolge aus der Analogie der ZTatur, wenn er gleich jene kontinuierliche Gradation der Geschöpfe samt ihrer Annäherung zum Menschen einräumen wollte, doch nicht einsähe. Denn es sind da verschiedene lvesen, welche die mancherlei Stufen der immer vollkommeneren Organisation besetzen. Also würde nach einer solchen Analogie nur geschlossen werden können, daß irgend anderswo, etwa in einem anderen Planeten, wiederum Geschöpfe sein dürften, die die nächst höhere Stufe der Organisation Über dem Menschen behaupteten, nicht aber daß dasselbe Individuum hierzu gelange,

Dieser Einwand klingt einleuchtend und unanfechtbar. )ch bin aber zu der Meinung gekommen, daß Kant hier Herder unrecht tut, wenn auch ohne seine Schuld

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500 Entwicklungslehre.

weil Herders Vorstellungen erst in dem damals noch nicht erschienenen zweiten Teil des Werks klar erkannt werden können. «Anen deutlichen Fingerzeig, der ebenfalls Kant nicht zu Gebote stand, gibt uns die bekannte Äußerung der Frau von Stein (A \), die häufig in deszendenz-theoretischem Sinn interpretiert wird, was aber auch wiederum verkehrt ist. Kants Rezension fährt fort:

Was indessen die Stufenleiter der (Organisationen betrifft, so darf matt es dem Verfasser nicht so sehr zum Vorwurf anrechnen, wenn sie zu seiner weit über diese tüeti hinauslangenden Absicht nicht hat zulangen wollen; denn ihr Gebrauch in Ansehung der Naturreiche hier auf Lrden führt ebensowohl auf nichts. Die Mannigfaltigkeit der Natur ist so groß, daß wenn matt die Gattungen ihrer Ähnlichkeit nach an­einander paßt, die Unterschiede notwendig klein sein müssen. Nur eine Verwandtschaft unter allen Gattungen, so daß entweder eine aus der anderen und alle aus einer einzigen Griginalgattung, ober aus einem einzigen erzeugenden Mutterschoß entsprungen wären, würde auf Zdeen führen. Diese wären aber so ungeheuer, daß die ver-nunft vor ihnen zurückbebt, und dergleichen darf man unserem Verfasser, ohne ungerecht zu sein, nicht beimessen.

Über dieses Zurückbeben werde ich mich noch aus-fährlich zu verbreiten haben, vorerst obliegt mir zu zeigen, daß man Herder tatsächlich den Gedanken einer Verwandtschaft aller Gattungen im realen Sinn, ohne ungerecht zu sein, nicht beimessen darf. Denn seine Theorie sieht folgendermaßen aus:

Wenn ein Individuum stirbt, so werden die Stoffe und Kräfte, die es gebildet haben, der gebärenden Lrde zurückgegeben, und diese formt neue Gebilde daraus.

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§ 83. Kants Herder-Rezension, 30\

lveil aber jedes Individuum während seines Lebens dauernd seine Kräfte steigert, seine Stoffe verfeinert, so beginnt das neue Lebewesen bereits auf höherem Niveau.

Lin paar proben: II. Teil, \o. Buch. Bei fortgehender Ausbildung der Lrde fanden

die Schaltiere häufig ihren Untergang, und ihre zerstörten Teile wurden die Grundlage zu feineren Organisationen... Bei diesen Pflanzen­abdrücken finden sich nirgend Lrdentiere, geschweige denn Menschen-gebeine, weil weder zu ihrem Gebilde der Stoff nach zu ihrem Unterhalt Nahrung bereitet war.. . Sollte der Mensch die Krone der Schöpfung sein, so konnte er mit dem Fisch ober dem Meerschleim nicht eine Masse, einen Tag der Geburt haben...

Die von jenen Untergegangenen . . . beschwängerte Lrde fuhr fort, gewiß nicht alle Gattungen auf einmal zu gebären. Denn so wenig das fleischfressende Tier ohne animalische Speise leben konnte, so gewiß setzte seine Entstehung auch den Untergang animalischer Ge-schlechter voraus.

von hier aus gelangt man zur Unsterblichkeit der Seele, wenn man bedenkt, daß nicht nur die sichtbaren Stosse, sondern auch die unsichtbaren Kräfte unzerstör­bar sind.

Denn was hieße es, eine Kraft gehe unter! Mir haben in der Natur hiervon kein Beispiel.. . Ls wäre Unsinn, von der Natur zu glauben, daß in dem Augenblick, da eine Kombination derselben, d. i. ein äußerlicher Zustand aufhört, sie ihre Weisheit gegen sich kehrte, um auch nur einen Teil des lebendigen Zusammenhanges, in dem sie ewig tätig lebt, zu vernichten.

Der jetzige Zustand des Menschen ist wahrscheinlich das ver-bindende Mittelglied zweier UMten.

Das heißt also, wenn die eine Kombination von Kräften die heute mich bildet, auseinanderfällt, so

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302 Entwicklungslehre.

entsteht aus diesem Komplex eine neue höhere, viel-leicht „übermenschliche" Kombination, so wie ich aus den Kräften, untergegangener niedrigerer (Organisationen entstanden bin. ItTan sieht: Nicht durch direkte Fort-Pflanzung aus lebenden Pflanzen und Tieren haben wir uns entwickelt, sondern durch Nahrung und Neu-bildung aus toten. Und die Äußerung der Frau von Stein, „daß wir erst pflanzen und Tiere waren", kann man nur solange in deszendenztheoretischem Sinn auf­fassen, als man Herders Buch nicht kennt.

Schon gegen die zu nahe Angrenzung der Affen an den Menschen in der Stufenleiter verwahrt sich Herder.

Und ginge man gar noch weiter, gewisse Unförmlichfeiten unseres Geschlechtes genetisch vom Affen herzuleiten, so dünkt mich diese Vermutung eben so unwahrscheinlich als entehrend. (II. Teil, 7. Buch.)

Das Menschengeschlecht, das zur Humanität bestimmt war, sollte von seinem Ursprünge an ein Brudergeschlecht aus einem Blut, am keitbande einer Tradition erzogen werden. (NB. durch die €Iohim!) Dies der auszeichnende plan Gottes über unser Geschlecht, der uns auch dem Ursprung nach vom Tier unterscheidet. (II. Teil, 10. Buch.)

Kant hat also recht, wenn er die )dee eines gemein-samen Ursprungs dem Verfasser nicht bei messen will, aber unrecht mit feinem Einwand gegen die „Schluß-folge aus der Analogie der Geschöpfe". Herder meinte keine bloße Analogie.

Das „Zurückbeben der Vernunft" trug Kant von zwei Seiten derbe Zurechtweisungen ein: von seinem späteren

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§ 8$. Kants Auseinandersetzung mit Forster, 303

Apostel Reinhold, der unter der Maske eines Pfarrers — warum waren damals alle Schriftsteller so feige, Masken vorzubinden? — Herders Verteidigung über­nahm, und von dem bereits erwähnten Georg Forster.

Den Wortlaut von Reinholds Angriff kenne ich nicht, nur Kants Antwort.

Meine Zvorte verführten den Pfarrer zu glauben, als sei in der Rezension metaphysische Orthodoxie, mithin Intoleranz anzutreffen, und er setzt hinzu: „die gesunde, ihrer Freiheit überlassene Vernunft bebt auch vor keiner Zdee zurück," <Es ist aber nichts von alledem zu furchten, was er wähnt. £s ist bloß der horror vacui der allgemeinen Menschenvernunft, da zuriickzubeben, wo man auf eine Idee stößt, bei der sich gar nichts denken läßt,

§ 8*.

Die Auseinandersetzung mit Forster.

Forster versteigt sich in seinem Artikel über die Menschenrassen zu folgendem Exkurs:

Lines der zuverlässigsten Mittel, in einer glückseligen Alltäglichkeit des Denkens behaglich zu ruhen, sich in demütiger Geistesarmut unter das Zoch der törichtesten Vorurteile zu schmiegen, und nie eine nahe, dem Denker winkende Wahrheit zu ahnden, ist diese: wenn man vor einer kühnen Folgerung, die ganz unmittelbar aus deutlichen Prä-missen fließt, zurückbebt wie vor einem Ungeheuer, Hinweg mit dieser unmännlichen Furcht! Statt derselben nachzugeben, untersuche man nochmals sorgfältig den zurückgelegten ZVeg und prüfe jeden Schritt mit unerbittlicher Strenge.

Diese Tirade, an die Adresse Kants gerichtet, ist von hoher Komik. )ndes Hatte sich der Philosoph freilich

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ZV4 Entwicklungslehre.

durch die ungeschickte Wendung eine Blöße gegeben. )ch habe das Gefühl, daß nur die grundsätzliche Opposition gegen Herder ihm den überstarken Ausdruck eingab, der sachlich weder begründet noch begreiflich ist. Hat doch Kernt selbst Theorien aufgestellt, die es <tn Kühnheit mit der hier so scharf zurückgewiesenen durchaus aufnehmen, und hat sich zudem späterhin über das gleiche probiern in einem ganz anderen Ton vernehmen lassen. Kants Antwort an Forster findet sich in der Abhandlung „Über das ideologische Prinzip" V88:

Mit Herrn Forster bin ich betritt einig, daß in der Naturwissenschaft alles natürlich erklärt werden muß, weil anderes in diese Wissenschaft nicht hineingehört. Aber dieser Grundsatz bezeichnet auch zugleich ihre Grenzen. Man ist zu der äußersten Grenze gelangt, wenn man den letzten Erklärungsgrund gebraucht hat, der noch durch Erfahrung bewährt werden sann, Wo diese aufhört, wo man mit selbsterdachten Kräften nach unerhörten und keiner Belege fähigen Gesetzen operieren muß, da ist man schon über die Naturwissenschaft hinaus... Ich meiner­s e i t s l e i t e a l l e O r g a n i s a t i o n v o n o r g a n i s c h e n W e s e n d u r c h Z e u g u n g ab und spätere Formen durch allmähliche Entwicklung aus ursprüng­lichen Anlagen.

Wie der ursprüngliche Stamm selber entstanden sei, das liegt gänzlich jenseits der Grenze der physischen Wissenschaft, innerhalb deren ich glaube, mich halten zu müssen, von einem Ketzergericht fürchte ich nichts, und ich meine sogar, daß eine Jury von Naturforschern kaum einen für sperrn Försters System günstigen Spruch fällen d ü r f t e . „ D i e k r e i ß e n d e E r d e , w e l c h e T i e r e u n d p f l a n z e n o h n e Zeugung von ihresgleichen aus ihrem weichen, vom illeeresfchlamm befruchteten Mutterschoß entspringen ließ, — die darauf gegründeten Lokalschöpfungen, da Afrika feine Menschen, Asien die seinigen hervorbrachte, — die in einer unmerklichen Abstufung vom Menschen

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§ 85. Das Abenteuer der Vernunft. 305

zum iDalfifd; und so weiter hinab — vermutlich bis zu Moosen und Aechten gehende Naturkette organischer lvesen", — das alles würde zwar nicht machen, daß der Naturforscher davor als vor einem Unge­heuer zurückbebte, denn es ist ein Spiel, womit sich gar mancher irgend einmal unterhalten hat, das er aber, weil damit nichts ausgerichtet wird, wieder aufgab. Er würde aber doch davon durch die Betrachtung zurückgescheucht werden, daß er sich unvermerkt von dem fruchtbaren Boden der Naturforschung in die lvüste der Metaphysik verirre.

Ich kenne ab?r freilich eine — nicht eben unmännliche — Furcht: vor allem zuriickzubeben, was die Vernunft von ihren Grundsätzen abzieht und sie verleitet, in grenzenlosen Einbildungen herum -zuschweifen.

Das klingt schon bedeutend gemäßigter. Das Spiel, mit dem sich mancher gern einmal unterhalten hat, das er aber wieder aufgab, weil nichts gescheites dabei herauskam, erinnert lebhaft an die viel und allzuviel zitierte Stelle vom „Abenteuer der Vernunft" in UKr. § 80. Diese sei im folgenden Paragraphen ausführlich wiedergegeben.

§ 85.

Das Abenteuer der Vernunft.

<Ls ist wesentlich, die Überschrift zu beachten, die Kant diesem Paragraph gibt, damit man von vornherein die richtige Einstellung finde: „Von der notwendigen Unter­ordnung des mechanistischen Prinzips unter das teleo-logische".

Die Befugnis, auf eine bloß mechanische Erklärung aller Natur­produkte auszugehen, ist unbeschränkt, aber das vermögen, damit

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306 Lntwicklungsle hre.

auszulangen, ist seht beschränkt.... Damit also bet Naturforscher nicht auf reinen Verlust arbeite, muß er immer eine ursprüngliche Grzani-sation zugrnndelegen, welche den Mechanismus benutzt, um entweder sich selbst zu neuer und zweckmäßiger Gestalt zu entwickeln oder andere organisierte Formen hervorzubringen.

<£s folgt mm die bereits in § 82, Seite 26 zitierte Stelle, die von der Übereinkunft sovieler Tiergattungen in einem gemeinsamen Schema handelt, und es heißt dann sogar weiters, die Vermutung, daß alle diese nach einem Urbild gestalteten töefen miteinander wirklich ver­wandt, von einer gemeinschaftlichen Mutter erzeugt seien, werde verstärkt durch die

stufenartige Annäherung einer Tiergattung zur anderen, von der-jenigen an, in welcher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt z» sein scheint, dem Menschen, bis zum Polyp, von diesem sogar bis zu Moosen und Aechten und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie.

Hier steht es nun dem Archäologen der Natur frei, aus den übrig gebliebenen Spuren ihrer ältesten Revolutionen, nach allem ihm bekannten oder gemutmaßten Mechanismus jene große Familie von Geschöpfen entsp.ingen zu lassen... Lr kann den Mutterschoß der Lrde, die eben aus ihrem chaotischen Zustande herausging, gleichsam als wenn sie ein großes Tier wäre, Geschöpfe gebären lassen, — anfänglich solche von minder zweckmäßiger Form, diese wiederum andere, welche schon ihrem Zeugungsplatz und ihrem Verhältnis untereinander ange-messener sich ausbilden, bis diese Gebärmutter selbst erstarrt wäre, sich verknöchert und so ihre Geburten auf bestimmte, fortab nicht mehr ausartende Spezies eingeschränkt hätte. Dies mag er (der Archäolog«) alles tun, aber — dazu muß er der allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäßig eingestellte Organisation beilegen, sonst bleibt es undenkbar, wie die Iweckform der Lebewesen entstehen konnte. Tut er das aber, dann hat er den «Lrklärungsgrund nur weiter

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§ 85. Das Abenteuer der Vernunft. 307

hinausgeschoben und kann sich nicht anmaßen, die Erzeugung der Tiere und Pflanzen von der Bedingung der Endursachen befreit zu haben.

Darum also geht es: Mag alles Organisierte sukzessive entstanden sein, die Organisation selbst ist nicht „ent-standen" — sie muß man voraussetzen. Das ist alles, vor der Zdee der allgemeinen Verwandtschaft bebt Kant gar nicht mehr zurück. Seinerzeit hatte er diese Verwandtschaft auf zweierlei Art möglich gedacht: entweder eine Gattung stammt von der andern und alle von einer einzigen Originalgattung, oder sie stammen alle aus einem erzeugenden Mutterschoß. M. <E. be­deutet dieses „oder" überhaupt keine Verwandtschaft, zum mindesten keine engere, als wenn alle Wesen von Gnem Gott erschaffen sind. In UKr. § 80 ist wirkliche Entwicklung angenommen. Die (Erbe gebärt anfangs minder zweckmäßige Geschöpfe, diese wieder andere, welche ihrem Zeugungsplatz und ihrem Verhältnis unter-einander angemessener sind. Das entscheidende Wort steht in einer Anmerkung:

Line Hypothese solcher Art kann man ein gewagtes Abenteuer der Vernunft nennen. Wenige mögen fein, selbst unter den scharf-sinnigsten Naturforschern, denen es nicht bisweilen durch den Kopf gegangen wäre. Denn ungereimt ist es eben nicht. Nicht so unge-reimt wie die gener&tio aequivoca, d. h. Zeugung aus Andersartigem, aus roher unorganisierter Materie durch bloße Mechanik. Nach dieser Hypothese würde immer Organisches aus anderem Organischem entstehen, es wäre also Zeugung aus Gleichartigem, generatio univoca. So könnten z. B. gewisse Wassertiere sich nach und nach zu Sumpf-tiereis und aus diesen nach einigen Zeugungen zu Landtieren aus­

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308 Entwicklungslehre,

bilden, A priori- im Urteil bet bloßen Vernunft widerstreitet sich das nicht. Allein die Erfahrung zeigt davon kein Beispiel, Unserer Erfahrung nach ist vielmehr alle Zeugung nicht bloß univoca, sondern sogar homonyma, d. h. das Erzeugte ist mit dem Erzeugenden spezifisch gleich. Und eine generatio heteronyma wird nirgend beobachtet, soweit unsere Lrfahrungserkenntnis reicht.

Diese Stelle und die von dem Spiel, mit dem sich jeder Naturforscher, also auch wohl Kant selber! — schon unterhalten hat, lag mir im Sinn, als ich oben sagte, das drastische „Zurückbeben der Vernunft" sei sachlich nicht erklärlich und könne nur aus momentaner Gereizt-Heit stammen, Wet die vorangegangene Polemik nicht kennt, ist sogar geneigt — und das ist gelegentlich ge-schehen — Kant als einen „ Vorläufer der Deszendenz-theorie" einzurangieren, so verlockend entwickelt er hier ihren Grundgedanken.

Das Fazit dieses Paragraphen:

Strikte abgelehnt wird die Abstammungslehre in ihrer mechanistischen Form, wonach Leben und Zweck-mäßigkeit von selbst nach bloß mechanischen Gesetzen entstanden sein soll. Dagegen wird die Theorie einer Höherentwicklung innerhalb des kebensreiches als nicht eben ungereimt, als der Vernunft a priori nicht wider­sprechend charakterisiert, als ein Abenteuer, das jedem Naturforscher gelegentlich durch den Kopf spukt. Der Ausdruck Abenteuer bedeutet bei Kant keine abfällige Kritik, denn er hat seine eigene Himmelstheorie ebenfalls so benannt. Nur leider muß er feststellen, daß es weit

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§ 86. Goethe über das Abcntcncr der Vernunft. 509

rtnd breit keine Erfahrung gibt, die für diese Hypothese spräche, denn niemals hat noch jemand eine Art sich in eine andere verwandeln gesehen.

§ 86.

Goethe über das Abenteuer der Vernunft.

Goethe bezieht sich bekanntlich in seiner kleinen Skizze (A J69) auf dieses Wort, doch muß ihm im Augen-blick des Schreibens der Zusammenhang, in dem Kant den Ausdruck gebraucht, entfallen gewesen sein. Das Abenteuer ist nach Kant dieses: aus dem Schoß der Lrde anfänglich minder zweckmäßige Formen entstehen zu lassen, aus diesen zweckmäßigere usw. Aber dieses Abenteuer hat Goethe nicht nur nicht „mutig bestanden", sondern er hat es nicht einmal versucht. Goethe bezog den Ausdruck auf den ersten Teil von UKr.Z so, wo vom Urbild und von der Metamorphose die Rede ist.

£?<ttte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Nrbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte usw.

Kant meint, es wäre rühmlich, nicht beim bloßen Beurteilungsprinzip stehen zu bleiben, sondern nach einem «Lrzeugungsprinzip zu suchen, er sieht einen „Strahl von Hoffnung, daß mit dem Prinzip des Mechanismus etwas auszurichten fein möchte". (Mechanismus be­deutet hier wie überall bei Kant soviel wie Kausalität.) völlig parallel läuft Goethes Betrachtung in A ?n,t:

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3V> Entwicklungslehre.

' Beifäll verdienen die Bemühungen, die Verwandtschaft ins Eicht zu setzen ufm., aber gewiß auch die, das Gesetz zu erkennen, wonach jene Bildungen hervorAebracht werden.

Die Veränderung innerhalb des Typus mechanisch, 3* B. durch Einwirkung des Milieus zu begreifen, war Goethes kieblingsidee. Seine erste Arbeit hieß „versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären". tDenn er auch den Titel änderte, lag ihm der Gedanke doch stets im Sinn, und dieses war das Abenteuer, von dem er glauben konnte, er habe es mutig bestanden.

§ 87.

Goethes Ablehnung der Deszendenztheorie.

Metamorphose und Deszendenztheorie sind für viele so identisch, daß der scharfe Grenzstrich, den ich soeben zwischen den beiden Ideen gezogen habe, einer Be-gründung bedarf, Hat doch z. B. Haeckel in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" bedenkenlos ver-sichert:

Die Zdee der Metamorphose ist gleichbedeutend mit unserer Entwicklungstheorie.

So preisen viele Goethe als den ersten verkünder des neuen Evangeliums, als den Vorläufer dessen, der da kommen sollte, nämlich Darwins, andere erklären seine Äußerungen für unbestimmt und vieldeutig, die dritten interpretieren sie ausschließlich im ideellen Sinn.

Nach Hermann Bahr ist das meistgelesene Buch Goethes „Gckermanns Gespräche". Ahnlich kann man

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87. Goethes Ablehnung der Deszendenztheorie. 5\\

sagen, die einzigen wirklich eindeutigen Aussagen Goethes über seine Stellung zur Deszendenztheorie stammen von Charlotte von Stein und Ernst Meyer. Was die Bemerkung der Frau von Stein, „daß wir erst Pflanzen und Tiere waren", im Zusammenhang mit Herders Werk bedeutet, ist bereits gezeigt worden. <Ls ergibt sich daraus, daßGoethe zum mindestens zu Beginn seiner wissenschaftlichen kaufbahn kein Deszendenz-theoretifer war. Daß er es aber am Ende ebenso wenig gewesen ist, das demonstriert die Abhandlung von Ernst Meyer, die von Goethe provoziert und sodann „als ein Zeugnis reiner Sinn» und Geistesgemeinschaft" in seine Zeitschrift eingerückt wurde. (A J8$.) Nach dieser Vorbemerkung haben wir alles, was Meyer vor-bringt, als Goethes eigene Meinung zu achten.

Goethe hatte als Text hingestellt: Die )dee der Metamorphose ist eine höchst ehrwürdige, aber ge-

fährliche Gabe von oben. Sie führt ins Formlose, zerstört das Wissen, löst es auf. Sie würde sich ins Unendliche verlieren, wäre ihr nicht das Gegengewicht gegeben, der Spezifikationstrieb, das zähe Beharrung?-vermögen dessen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen.

Daß Goethe, wenn er die Idee der Metamorphose eine gefährliche nennt, etwas bestimmtes im Sinne haben muß, das spürt man wohl, aber was et im Sinne hatte, selbständig zu erraten, ist kaum erlaubt. Nun erklärt es uns der junge Freund:

Die Zdee der Metamorphose mag den Botaniker sicher leiten, solange sie ihn nicht verführt, Arten in Arten hinüberzuziehen,

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5 \ 2 Entwicklungslehre.

das wahrhaft Gesonderte mystisch, zu Verstößen. Von einer Meta­morphose der Arten kann nur symbolisch die Rede sein. Aus innigster Überzeugung behaupte ich: gleicher Art ist, was gleichen Stammes ist. Es ist unmöglich, daß eine Art aus der andern hervorgehe; ge-sondert besteht allein das ursprünglich Nebeneinandergestellte. Die Abweichungen nenne man Varietäten.

3m gleichen Sinn läuft eine Glosse, die Goethe persönlich zu einer Rezension von lvenderoths Botanik macht (A J82). Der Rezensent findet, daß der Natur-forscher die Verwandlung einer Art in eine andere auf keinen Lall einräumen darf und daß durch einen neuen genetischen Begriff der Sepcies, wie ihn die Metamorphose liefert, die Kritik an der Theorie der Umwandlung der Arten wieder festen Boden gewinnt, fjätte Goethe an diese Theorie geglaubt, so hätte er die Rezension nicht oder nur unter Protest abdrucken können. Aber was hören wir statt dessen?

Die Hoffnung, die der Rezensent uns am «Ende gibt, wollen wir sehr gerne hegen und pflegen.

Dieses wurde *822 geschrieben, probiern und Er­wiederung 1823. Offenbar besteht ein innerer Zusammen­hang zwischen beiden Publikationen; beide lassen klar erkennen, daß es schon zu jener Zeit „ Vorläufer fjaeckels" gab, die aus der Metamorphose eine Abstammungslehre machen wollten. Herzerfrischend energisch wehrt sich gegen diese Unterstellung Goethes Freund und Dolmetsch, gemessener in dem zeremoniösen Stil seines Alters er selbst.

Man gestatte mir, hier eine der kühnen Inter­pretationen Haeckels anzufügen — zum Beleg für die

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§ 87. Goethes Ablehnung der Deszendenztheorie. 51_Z

in § 23 behandelte Beobachtung, wie anspruchslos der Mensch wird, wenn er etwas beweisen will. Als ein besonders glücklicher £mtd erscheint Haeckel die Schilderung in A |39, wie sich Pflanzen und Tiere aus einer kaum zu sondernden Verwandtschaft nach zwei entgegengesetzten Seiten vervollkommen,

so daß die pflanze sich zuletzt im Baum dauernd und starr, das Tier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit und Freiheit sich ver-herrlicht.

Wenn nun in diesem Satz wirklich, wie Haeckel findet, „das genealogische Verwandtschaftsverhältnis des pflanzen- und Tierreiches höchst treffend beurteilt" wäre, so müßten die Bäume im entwicklungsgeschichtlichen System die höchste Stelle einnehmen. Aber diese groteske Konsequenz gehört Haeckel nicht. In Wirklichkeit ist eben hier nur von ideeller Verwandtschaft die Rede.

§ 8 8 .

über Urzeugung.

Meyers Abwehr der Deszendenztheorie fährt fort: Auch dem Linwand ist zu begegnen, daß dieselben Formen in den

entlegensten Ländern sich wiederholen. Die Annahme einer gemein-samen Abstammung wäre hier in der Tat gezwungen, könnte man nicht von dem ersten Tierpaare, von der ersten Mutterpflanze jeder Art noch einen Schritt weiter hinabsteigen bis zum spezifischen Lntstehungs-grunde derselben int Schoß der Erde. Dieser bald ängstlich vermiedene, bald besinnungslos getane Schritt rechtfertigt nicht nur obigen Begriff der Art, sondern macht ihn allererst nicht bloß auf Tiere und Pflanzen, nein auf jedes Naturwesen ohne Ausnahme anwendbar

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5tt Entwicklungslehre.

ZU meinem lebhaften Bedauern findet der Verfasser, es fei hier nicht der Ort, diesen weitläuftigen Gegenstand auszuschöpfen. Einen andern Ort, an dem er dies voll­bracht hätte, habe ich indessen nicht ausfindig gemacht. Soweit ich ihn verstehe, sagt Meyer folgendes: Wenn wir definieren „gleicher Art ist, was gleichen Stammes ist", so setzt das voraus, daß alles, was nicht gleicher Art ist, getrennten Ursprung hat. Wir müssen also „den bald ängstlich vermiedenen, bald besinnungslos getanen Schritt" wagen, auch die höchstorganisierten Wesen, auch den Menschen durch Urzeugung entstehen zu lassen. Was hilft es euch, wenn ihr die pflanzen dieser und jener weit entfernten Gegenden von einer einzigen Mutterpflanze abstammen läßt? Wißt ihr nicht wie die entstehen konnte, so mögt ihr ebensowohl viele gleiche da und dort dem Boden entsprossen denken.

Danach würde also Meyer hier sich in voller Sinn- und Geistesgemeinschaft mit Goethe zur Urzeugung — und zwar auch für den Menschen — bekennen. Diese Auffassung bestätigt A 206, wo Goethe versichert, die Menschen seien, als nur die Wasser sich verlaufen hatten, durch die Allmacht Gottes überall entstanden, wo der Boden es zuließ.

3m übrigen fand ich in Goethes Bibliothek eine Reihe von Werfen aus dem Anfang des Jahrhunderts, in welchen Beobachtungen über plötzliche Entstehung von Fröschen oder Mischen in ausgetrockneten Tümpeln, wo sie sich nach Meinung der Verfasser unmöglich durch Samen konnten fortgepflanzt haben, mitgeteilt sind.

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§ 88. Ober Urzeugung. 3 ^ 5

Kant dagegen gehört zu Jenen, die diesen letzten Schritt „ängstlich vermieden" haben. Zwar definiert er genau wie Meyer: gleicher Art ist, was gleichen Stammes ist, indessen hält er es nicht für nötig, Aonse-quenzen aus dieser Anschauung zu ziehen, die über die Grenzen der Erfahrung hinausgehen.

3<f? meinerseits leite alle (Organisation von organischen Wesen durch allmähliche Entwicklung aus ursprünglichen Anlagen ab. Wie der ursprüngliche Stamm selbst entstanden sei, das liegt gänzlich jenseits der Grenze der physischen Wissenschaft, innerhalb deren ich glaube, mich halten zu müssen.

Aber auch Goethe beschließt sein Bekenntnis be-hutsam: „darüber nachzusinnen, wie das geschehen konnte, halte ich für ein unnützes Geschäft, das ich denen überlasse, die sich gern mit unauflöslichen Problemen beschäftigen."

§ 89.

Goethe und Ctnne.

3« seinem „ Problem" wirft Goethe die Frage auf, wie unter so schwierigen Umständen — da die vis centrifuga und die vis centripeta beständig im Streit liegen — ein System der Pflanzen aussehen könne. Line Symbolik wäre aufzustellen. Meyer antwortet:

Nur unter der Bedingung, daß man die Arten in ihrer Besonderheit und Sündhaftigkeit unwiderruflich anerkennt, versuche man ein System nach dem Typus der Metamorphose, nur wenn man das keben in seiner Alleinheit und Beweglichkeit gelten läßt, eine Geschichte des pflanzenlebenz nach dem Typus des Systems.

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3*6 Entwicklungslehre.

Beide müßten im genauesten Gleichgewicht auftreten, äußerlich zwar geschieden, doch innerlich von demselben Geiste durchdrungen.

Der ist also Kants Forderung nach der Scheidung von System und Geschichte auf fruchtbaren Boden gefallen, lvie diese beiden Wissenschaften sich symbolisch er­gänzen, dafür ersinnt Meyer ein geistreiches Schema, das verdient, meditiert zu werden.

Metamorphose und Beharrlichkeit sind die Brennpunkte einer <Lllipse. Von dem einen Brennpunkt ausstrahlend entsteht das ganze unendlich mannigfaltige Geschlecht der Pflanzen, begrenzt durch die Einwirkung des anderen Brennpunkts. Die unendliche Menge aller denkbaren Radien wird abgeteilt durch eine endliche Menge, welche die bestimmte, wiewohl unbekannte Zahl der wirklichen Arten sym-bolisiert. Jeder Punkt des Radius bezeichnet eine mögliche Form, und denkt man sich die Lllipse als Bahn, so ist das Wesen das alle Punkte durchläuft, die Urpflanze.

Aus dieser höchst erwünschten, ausführlichen, präzisen und authentischen Interpretation des Goetheschen Textes erfahren wir auch genau, wie Goethe zu Linnö steht.

Ivill der Botaniker sich als Gesetzgeber geltend machen, so wendet er sich mit Recht an die Art der Pflanzen, bestimmt und ordnet sie, so gut er kann, in irgend ein Machwerk. Allein er tut unrecht, sobald er mit gleicher Schärfe den Kreis der Metamorphose teilt, die lebendige Pflanze terminologisch zerstückelt.

Hier ist der direkte Anschluß gegeben an jene Klage Goethes, daß er auf die Kinnesche Art nicht bestimmen könne, weil ja die Blätter, deren Gestalt als Schlüssel dienen soll, die wandelbarsten Gebilde sind.

Wenn ich z. B. an demselben Stengel erst ein entschiedenes Blatt sah, das nach und nach zur Stipula ward, wenn ich an derselben Pflanze

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§ sy. Goethe und Sinne 317

erst rundliche, dann eingekerbte, zuletzt beinahe gefiederte Blätter entdeckte, verlor ich den Mut, irgendwo einen Pfahl einzuschlagen. (A. V2C-)

Diese Zerstückelung ist es, die er bekämpft — nicht die Zerstückelung der Natur in feste Arten. <Er findet die festen unwandelbaren Teile an der Pflanze nicht, nach denen die Bestimmung vor sich gehen soll. Und nur um Bestimmung ist es ihm zunächst zu tun.

Der Gedanke wird mir immer lebendiger, daß man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickeln törtne.

Man sich entwickeln — ich habe die Worte absichtlich gesperrt. (Es heißt nicht, daß sie sich entwickeln.

hierdurch würde es allein möglich werden, Geschlechter und Arten wirklich zu bestimmen, u>as bisher sehr willkürlich geschieht.

Und schließlich! Durch meine Harmonia plantarum wird das Sinn fche System

auf das Schönste erleuchtet.

(Erleuchtet und keineswegs abgeschafft! 3ch kann schon die eigensinnigsten Formen mit meiner allge­

meinen Formel erklären und in parallel setzen.

Der gleiche Wunsch, eine übersichtlichere Methode zur Bestimmung und Beschreibung zu finden, leitet ihn auch bei den zoologischen versuchen über den Typus. (Er ist genau so fest überzeugt wie fimte, daß man Mittel finden muß, die Arten zu sondern, nur die Mittel, die Linnö gewählt hat, behagen ihm nicht. Besonders deutlich wird dies aus der bereits erwähnten Rezension von lvenderoths Lehrbuch der Botanik (A *82):

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5*8 Entwicklungslehre.

<£s kommt darauf an, ob wir die pflanze in ihrer lebendigen Metamorphose verfolgen oder ob wir sie mit kinnö als ein Beharrliches in einem oder in einigen weit auseinanderliegenden Zuständen fest-halten wollen. £}at man sich für die Methode der Metamorphose ent-schieden, so geht daraus ein bestimmter genetischer Begriff der Species hervor.

)m übrigen war ja bei £tnn6 selbst die starre Einteilung ausschließlich zu praktischen Zwecken unter-nommen. Die Entdeckungen, die Goethe so jubelnd in Karlsbad und Italien machte, daß Berge, Wasser, fjitje, Trockenheit die Pflanzen gewaltig umwandeln, finden wir in einer *755 erschienenen Dissertation eines seiner Schüler Dahlberg ausführlich behandelt. Die Ab-Handlung führt den Titel „Metamorphosis plantarum" und enthält durchaus nicht nur, wie Hansen (Goethe-Jahrbuch *90$) versichert, falsche Analogien mit der )nsekten-lNetarnorphose, sondern unter der Überschrift „Variationes" und „ Alienationes" Beobachtungen über verschiedene Arten von Metamorphose. Der Refrain ist immer wieder: „Die alten Botaniker haben viel zu viele Arten aufgezählt, weil sie nicht merkten, daß die Blätter sowohl als die Fruktifikationsorgane den mannigfachsten Transformationen unterliegen. )m Gebirge spalten sich etwa die oberen Blätter einer pflanze, im Wasser die unteren. Gefüllte Blumen Hat man als besondere Arten behandelt, und es sind doch nur die Staubfäden, die sich bei zu üppiger Nahrung inRronblätter wandeln". Auch in dem „ Metamorphosis vegetabilis" überschriebenen Ab­schnitt von Goethes Brevier, der Philosophia botanica,

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§ 89- Goethe und fintt'. 3H9

kommt nicht nur der verschieden interpretierbare Satz vor: Principram flornm et foliorum idem est, principium gemmarnm

et foliorum idem est,

sondern auch die Sätze: Luxurians vegetatio folia e iloribus continuando producit,

macra vegetatio flores e foliis terminando producit.

und andere ähnliche, etwa Terminus plantae idem,' vel vita continuata in- gemma, vel

propagata in flore.

Wie man diese Sätze sollte anders deuten können, als daß es ein und dasselbe Grgan ist, das je nach den äußeren Umständen zum Laubblatt oder zum Blumen-blatt wird, das vermag ich nicht zu sehen.

)n knappen lakonischen scheinbar zusammenhanglosen Sätzen hat £inn6 eine unendliche Fülle von Erfahrungen und Gedanken zusammengepreßt.

Nach N?ettstein (verh. d. öst. bot. Ges. 1907) soll er einen außerordentlich scharfen Blick für die Zusammen-geHörigkeit der Pflanzen besessen haben, so daß die „natürlichen Gruppen", die er gebildet, auch heute noch Geltung haben. Aber:

Das jetzt wertlose, nur historisch interessante Sexualsystem ist allgemein bekannt geworden, von dem ungleich wertvolleren und vor allem für die wissenschaftliche Auffassung- £htn6s viel be­zeichnenderen natürliche« System wissen selbst viele Fachleute nichts.

Wettstein zitiert einen Satz aus den Amoenitates academicae, wo dem Botaniker empfohlen wird, er

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320 • Entwicklungslehre-

möge angelegentlichst darauf achten, „rote die Arten entstehen". Auch daß die Infektionskrankheiten.durch Mikroorganismen erregt werden, fei £tmt6 nicht ent­gangen. Man hat diesen Mann früher schwer verkannt. Zn den letzten fahren ist besonders von Skandinavien her manches zu seiner Ehrenrettung geschehen. Indessen ist die Verzerrung des großen Naturforschers in einen pedantischen Staubgefäßzähler doch erst in späteren Tagen eingerissen. Zu Goethes Zeiten wußte man noch, wer kinnö war, und auch Goethe wußte es.

)n seiner Bibliothek fand ich eine Abhandlung Schelvers, der ich einige charakteristische Zitate aus kinnes Werken entnahm:

Die Entdeckung des natürlichen Pflanzensystems ist die erste und letzte Forderung der Botanik (Phil. bot.). Lange habe ich an der Entdeckung dieser natürlichen Methode gearbeitet; ich habe sie- nicht vollenden können, doch werde ich davon nicht lassen, so lange ich lebe (class. plant.)

Sie zu lehren, müßte ich vom Universellen ausgehend zum Be-sonderen fortschreiten und ein bestimmtes Prinzip haben. Da wir aber noch Schüler in der Wissenschaft der Natur sind, so können wir nur vom Besonderen hinaufsteigen... Der Meltschöpfer hat alles in der Einheit geschaffen, es ist unter sich in Verwandtschaft und Ähnlichkeit verbunden! Die natürliche (Ordnung stellt die Welt in bet Verbindung ihrer Ge­schöpfe dar, und zeigt ihre Verwandtschaft. Sie ist das letzte Ziel des Systems der Natur (Praelectiones).

Und zuletzt ein ergreifendes Bekenntnis: Jch weiß, daß die Gewächse ineinander übergehen und daß eins

mit dem anderen verbunden werden müsse — aber ich werde es nicht aussprechen — ich werde es niemals aussprechen können! Es ist eine

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§ 89. Goethe und Cimte. 521

Unmöglichkeit, die natürlichen Ordnungen durch besondere Renn-zeichen zu fassen, versuche es, wo du willst, und du wirst erfahren, daß es unmöglich ist. (Ein gewisser Fragaeus, ein fleißiger Mann, wollte durchaus einen Schlüssel für die Anordnung meiner Pflanzenfamilien finden, er arbeitete drei Jahre daran und schickte mir seinen Entwurf zu. IPie habe ich gelacht! Ich schrieb ihm: kerne doch zuvor, was eine natürliche (Ordnung sei!

Diese Stoßseufzer und Klagen mögen Goethe vor­geschwebt haben, als er gelegentlich von dem natürlichen j ) f l a n z e n s y s t e m r e d e t , „ a u f d a s k i n n e m i t f r o m m e n Wünschen hindeutet".

Daß ihm aber auch der lNetamorphosengedanke bei Linn6 bekannt war, beweisen Notizen „Zur Geschichte der Pflanzenmetamorphofe":

£inn6 zusagend abfallend

Wie und wo fand Sinne diese Denkweise? Er verläßt diese Vorstellungsart. Rann man nachkommen, ob aus

eigener Überzeugung oder aus Nachgiebigkeit gegen seine atomistisch-realistischen Zeitgenossen?

§ 90.

Metamorphose und Deszendenztheorie.

Treffend bemerkt B liedner in einer Abhandlung über die Urpflanze, Goethes „Metamorphose der Pfsimzett" könnte eben so gut von einem Anhänger der Konstanz der Art geschrieben sein. Und daß Goethe in der Tat ein Anhänger der Konstanz der Art war, glaube ich einwandfrei gezeigt zu haben.

21

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322 Entwicklungslehre.

Amüsanterweise hat sich der zweite berühmte „Vor-l ä u f e r d e r D e s z e n d e n z t h e o r i e " , G e o f f r o y 5 t . H i l a i r e , ebenso entschieden gegen sie ausgesprochen. Daß der Äkademiestreit *830 sich um diese Theorie gedreht habe, und daß Goethes Teilnahme ein Bekenntnis zu ihr be-deute, das ist eine kegende, die Haeckel in die ZDelt gesetzt hat. Der Streit ging um völlig andere Dinge: Zuvörderst behauptete Geoffroy, daß nur anatomische Vergleichung der Organismen ihre Beziehungen untereinander richtig zu erkennen erlaube, <Luvier dagegen war mehr für die physiologische Methode. Ferner war Luvier zu der über-zeugnn.g gekommen, daß das Tierreich in vier Klaffen zerfalle, die nach deutlich von einander verschiedenem plan gebaut seien, während Geoffroy sich darauf ver-steifte, daß es nur einen gemeinsamen Bauplan für sämtkiche tierischen Wesen gebe. Den damaligen Anlaß, diese Ansicht vor der Akademie zu vertreten, lieferte eine Abhandlung der Anatomen Laurencet und Meyranx, welche u. A. die folgende These vertrat:

Der Tintenfisch ist innerlich genau so gebaut wie der Mensch oder ein beliebiges Säugetier, man merkt das bloß nicht, weil er äußerlich anders geformt ist. Denkt euch aber einen Gaukler, der, den Kopf nach hinten abwärts gebogen, auf fänden und Füßen geht, dann habt ihr einen Tintenfisch.

Diese These schien jedenfalls Goethe so genierlich, daß er es vorzog, sie nicht weiter zu geben. Infolgedessen ist der Ausgangspunkt des Streites bei ihm in mystisches

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§ 90. Metamorphose und Deszendenztheorie- 323

Dunfei gehüllt, der Bericht über die Akademiesitzungen in orakelhaft geheimnisvollem Ton gehalten, und es ist unmöglich, aus seiner Schilderung den casus belli irgend zu erraten.

Geoffroy war nicht wählerisch in seinen Mitteln, um die „Einheit des Bauplanes" für alle Tierklassen zu be-weisen. Sein Freund Flourens erzählt:

Die oberflächlichsten, die verkehrtesten Analogien befriedigen ihn. (Er sieht bei den Insekten eine Reihe von Ringen oder Segmenten, die entfernt an eine Wirbelsäule erinnern. Sofort ist die Theorie fertig. „Anderwärts, erklärt er, bedeckt das Fleisch die Knochen, bei den In-festen bedecken die Knochen das Fleisch, tvesen, die man bisher für wirbellos gehalten hat, werden künftig in unseren Sammlungen unter den Wirbeltieren zu figurieren haben."

„Ls gibt nicht mehr viele Tiere, — es gibt nur ein Tier."

Soweit ist Goethe niemals gegangen. €r hat seinen „Typus" immer nur auf die Säugetiere beschränkt, und als «Lamper Analogien mit Vögeln und Fischen nach­wies, war das ein großer Schritt. Diese Hauptfrage des' Konflikts: ob es einen Bauplan gebe oder vier, kommt in Goethes Aufsatz überhaupt nicht vor — wahrscheinlich weil er, einseitig aus Geoffroys Buch*) informiert, sich sie selbst nicht ganz klar gemacht hatte. Aber in ganz vager weise beglückt ihn (laut A 2H «• 2*5), daß Geoffroy überhaupt von der )dee des Tiers ausging.

Die Deszendenztheorie ist in dem Buche Geoffroys nur an einer einzigen Stelle erwähnt, und zwar

*) Principes de philosophie zoologique.

21*

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32* Entwicklungslehre.

in einer Anmerkung. Offenbar hatte sich der Autor genau wie Goethe dagegen zu verteidigen, daß man seine )deen in deszendenztheoretischem Sinn interpretierte. Denn er schreibt:

Toute composition organique est la r6p6tition d'une autre aans 6tre de fait produite par le d6veloppement et les transfor-mations successives d'un mfime noyau. Ainsi, il n'arrive ä personne de croire qu'un palais ait d'abord 6t6 une humble cabane, qu'on aurait ötendue pour en faire une maison, puis un hötel, puis entin un 6difice royal.

Das ist deutlich, und k^aeckel hat mit seinen beiden Vorläufern Goethe und Geoffroy entschiedenes Pech. Beide lehren ein gemeinsames Urbild für mehr oder weniger große Klaffen des Lebendigen, beide sind über-zeugt, daß dieser Grundtypus in der Erscheinung vielerlei Metamorphosen erleiden kann, sukzessive reale einerseits, simultane ideelle anderseits — beide drücken ihre Über-zeugung gelegentlich in Sätzen aus, die man stark geneigt sein könnte, im entwicklungsgeschichtlichen Sinn zu deuten — sowie ihnen aber zu ©Htert kommt, daß man ihnen diesen Sinn unterschiebt, protestieren sie feierlich. Goethe hat in Geoffroys „Principes de philosophie zoologique" außerordentlich viel angestrichen und sich außerdem fast von jeder Seite ein Schlagwort (f. A 225 a) notiert. Die oben zitierte Stelle ist nicht angestrichen. Sie hat ihn offenbar nicht interessiert. Das erinnert an die oft bestaunte Tatsache, daß auch Lamarcks Name bei Goethe nur in einer meteorolo-

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§ 90. Metamorphose und Deszendenztheorie. 325

gischen Sache erwähnt ist. Und bereits *5 Jahre vor kamarck hatte Erasmus Varwin in seiner goonomio sehr ähnliche Ansichten entwickelt — auch sie sind spurlos an ihm vorübergegangen.

Geoffroys Gleichnis von fjütte und Palast muß uns als Richtschnur dienen, wie seine übrigen nicht so ein-deutigen Äußerungen zu lesen sind. Und hier ist der ntoment, wieder auf die Gefahr hinzuweisen, die darin liegt, daß Ausdrücke wie „abstammen" oder „ Verwandtschaft" bald im realen bald im ideellen Sinn verwendet werden. (§ 77.) Wenn z. B. Geoffroy sagt:

Bei jeder Tierklasse finden wir, daß die verschiedenen Formen, in denen sich die Natur gefallen hat, jede Art existieren zu lassen, alle voneinander abstammen (toutes derivent les unes des autres),

so könnte mdn bei flüchtigem Lesen an reale Abstammung glauben. )n Wirklichkeit haindelt es sich um ein logisches und umkehrbares Ableiten einer jeden Form von einer jeden andern unter Zugrunde-legung eines gemeinsamen Typus.

Mit dieser Auffassung steht es nicht in Widerspruch, daß tSeoffroY lebende Krokodile von ausgestorbenen Krokodilen real ableitete. Denn dies ist eine Umwandlung in sehr engen Grenzen, die nicht einmal mit der mosaischen Schöpfungsgeschichte in Konflikt käme. Hat uns doch Dieses keine so detaillierte Beschreibung der dazumal geschaffenen Arten geliefert, daß man kon­trollieren könnte, ob sie mit den heutigen identisch sind. Und ob es hebräisch wirklich heißt „ein jedes nach

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526 Entwicklungslehre-

seiner Art" oder nicht etwa „ein jedes nach seiner Gattung", das entzieht sich meiner Kenntnis. Eine richtige Deszendenztheorie aber muß doch zum mindesten in Konflikt mit IHofes kommen, und das tut sie erst dann, wenn sie die Wirbeltiere allmählich aus irgendwelchen schleimhasten Urtieren entstehen läßt. Line gewisse Variabilität, eine gewisse Fähigkeit zur realen Meta-morphose nimmt jeder Naturforscher an, er fei nun Anhänger oder Gegner der Deszendenztheorie. Die Frage ist einzig und allein: wie weit geht die Variabilität? Mo sind ihre Grenzen?

Dieses sowie auch alle übrigen Probleme der Deszen-denztheorie hat am klarsten <Luvier erkannt und for-mutiert. Und da ich hier versuche, wenn auch nur roh und skizzenhaft, die biologische Atmosphäre, in der Goethe lebte, zu schildern, so scheint es mir nur recht und billig, auch einige Ansichten dieses ungerecht verlästerten Mannes vorzutragen.

§ 9V

Luviers Stellung zur Deszendenztheorie.

Die übliche Einschätzung von Luviers Geistesart ist die durch Haeckel suggerierte:

Luvier wies nach, daß eine Reihe verschiedener Tierbevölkerungen aufeinander gefolgt war. Da er nun hartnäckig an der kehre von der absoluten Beständigkeit der Spezies festhielt, glaubte er, deren Gnt-stehung nur durch die Annahme von großen Katastrophen und von wiederholten Neuschöpfungen erklären zu sönnen... Obgleich diese

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§ 9V <Luviers Ansichten. 327

Aatastrophentheorie zu den absurdesten Folgerungen führte und auf den nackten Wunderglauben hinauslief, gewann sie doch allgemeine Geltung und blieb bis auf Darwin herrschend.

Diese Darstellung stellt die Dinge auf den Kopf. Nicht weil «Luvier hartnäckig an der Beständigkeit der Species festhielt, nahm et zu den Katastrophen seine Zuflucht, sondern weil eine Reihe gewichtiger geologischer und paläontologischer Beobachtungen ihn Zwang, Katastrophen anzunehmen, darum sah er keine Not-wendigkeit, die normale Variabilität über gewisse kon-statierbare Grenzen hinausgehen zulassen.

Dieser angebliche Fanatiker der Konstanz der Art schreibt in seinem Discours sur les revolütions du globe:

Man begreift, daß unter solchen Veränderungen in der Natur des Mediums auch die Tiere, die es nährte, nicht die gleichen bleiben konnten. Zhre Arten, selbst ihre Geschlechter, wechselten mit den Schichten. Man kann allgemein sagen, daß die Muscheln der älteren Schichten ihre eigentümlichen formen haben, und dagegen die der neueren den heute noch lebenden gleichen. Es hat also in der tierischen Natur eine Folge von Veränderungen gegeben, welche durch die des flüssigen Mediums, in welchem sie lebten, veranlaßt waren ... und diese Veränderungen haben stufenweise (par degr6s) die int Wasser lebenden Tiere in ihren heutigen Zustand gebracht.

Für die Katastrophentheorie entscheidend waren die Pallasschen Ausgrabungen in Sibirien.

Es ist besonders für die letzte Erdkatastrophe leicht nachzuweisen, daß sie eine plötzliche war. Denn sie hat in den Ländern des Nordens Leichname von großen Vierfüßern zurückgelassen, die sich bis in unsere Tage mit Haut, fjaar und Fleisch erhalten haben, Mären sie nicht in demselben Augenblick eingefroren, da sie getötet wurden, so hätte die

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328 Entwicklungslehre.

Verwesung sie zerstört. Anderseits fand sich vorher kein Eis in den Gegenden, sonst hätten sie dort nicht leben können, folglich war es der gleiche Augenblick, der diese Tiere sterben ließ und die Länder, die sie bewohnten, vereiste.

Der Schluß war einwandfrei bis auf die Annahme, daß diese ihm nur als Tropentiere bekannten Wesen in Schnee und Gs nicht leben können.

Mögen die Wasser allmählich abnehmen, mag das Meer nach allen Richtungen festes Material fortschleppen, mag die Temperatur abnehmen oder zunehmen, — nichts von alledem hat geologische Schichten umgeworfen, hat große Vierfüßer samt Fleisch und Fell vereist, hat ganze Geschlechter vernichtet.

Daß nach jeder Katastrophe eine Neuschöpfung nötig sei, stellt Luvier ausdrücklich in Abrede. Wanderungen, die während und nach den Umwälzungen stattfanden, genügen seiner Meinung nach zur Erklärung.

Weiter sagt er: 3ch werde zeigen, wie weit, sei es durch den Einfluß von Zeit,

Klima oder Zähmung die Variation gehen kann und so den £efer instand setzen, mit mir zu folgern, daß so erhebliche Unterschiede, wie sie die ausgestorbenen Arten von den lebenden trennen, nur durch seht große Ereignisse herbeigeführt werden konnten.

<2s folgen nun Beobachtungen über die Veränderungen, die Licht, tDärme, Nahrung bewirken können, vergleich von Polarfüchsen mit Tropenfüchsen, Untersuchung von zooo)ahre alten Tiermumien, und unter allen Tatsachen findet «Luvier keine, die die Vermutung stützen könnte, daß die Saurier direkte vorfahren unserer Arten sein könnten.

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§ 9(- Cum'ers Ansichten. 329

Nach 5cm üblichen lvellengang der Wissenschaft ist anzunehmen, daß die Aatastrophentheorie demnächst wieder zur Herrschaft kommen werde. Mit dem Satz, daß die Natur keine Sprünge macht, ist im Zeitalter der Mutations- und der Quantentheorie nicht mehr viel Staat zu machen, und schon wittere ich Morgenlust in Adels Lehrbuch:

Die paläozoologie hat den Nachweis zu erbringen vermocht, daß auch innerhalb eines sich noch in Entwicklung befindlichen Stammes Perioden langsamer, ruhiger und stetiger Umformung mit solchen eiltet rapiden, stürmischen und ruckweisen Umformung abwechseln.

Rurz möchte ich noch Cutners berühmtes Aorrela-tionsprinzip streifen, welches dem Denken Goethes so verwandt ist, daß man schier meinen möchte, sein „Atroismos" wäre nichts als «Luviers Theorie in Verse gebracht.

Niemals vereinigt die Natur Spaltfüße oder Dörner mit Schneide­zähnen. Zedes organisierte Wesen bildet ein Ganzes, kein Teil kann verändert werden, ohne daß die anderen mitvariieren, so daß jeder Einzelteil alle anderen bestimmt und anzeigt. Aus der bloßen 5»§= spur eines Tieres kann man darum auf seine Zähne, Kiefern, Schultern, Klauen, Becken usw schließen. Der geringste Knochensplitter, der unbedeutendste Auswuchs hat einen fest bestimmten Charakter je nach Klasse, Geschlecht, Gattung und Art. Diese Methode der Bestimmung habe ich oft und oft bei bekannten Tieren angewendet, ehe ich ihr für die Fossilien vertrauen schenkte. Sie hat mich nie im Stich gelassen.

Sie hat ihn bei den Fossilien so wenig im Stich ge-lassen, daß er — in wild durcheinandergeworfenen

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330 Entwicklungslehre

Unochenhaufen zwei verschiedene Zahntypen ent-deckend — imstande war, zu diesen Zähnen das ganze übrige Skelett nie gesehener Tiere hinzuzufügen. Kurze Zeit danach fand man zum erstenmal vollständige Skelette. Und siehe da, ruft Llourens, „was die Natur gemacht hatte und was «Luvier gemacht hatte, das stimmte genau überein!"

Was Goethe in jugendlichem Überschwang zu leisten sich vermaß, in Wirklichkeit aber nie geleistet hat: mit einem Modell Organismen zu erfinden, die existieren könnten — dieser „Philister", dieser bloß „Beschreibende, genau Unterscheidende", hat es vollbracht.

§ 92.

Deszendenztheorie und Stufenleiter.

Luvier sagt:

Ich weiß, daß hinter dieser (Geosfroys) Theorie der Analogien sich wenigstens unklar eine andere, sehr alte Theorie verberge, die, schon längst widerlegt, von einigen Deutschen wieder hervorgesucht worden, um das pantheistische System zu begünstigen, das sie Natur-philosophie nennen,

wodurch Goethe sich aufgerufen fühlt, „die fromme Unschuld deutscher Naturdenker klar hinzulegen".

Etwas deutlicher drückt sich Cuotet in einem Diction= naire-Artikel aus:

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§ 92. Deszendenztheorie und Stufenleiter. 33 H

Diese Linheitsansichten sind aus einem alten Irrtum erneuert, der im Schoß des Pantheismus geboren ward, und zwar im Wesent­lichen erzeugt durch die unannehmbare Voraussetzung, daß die £ebe-roefen eines mit bezug auf das andere geschaffen sind. Indessen ist jegliches ZDefen für sich selbst gemacht und hat in sich alles, was es betrifft.

Ich glaube, einermaßen zu begreifen, was Luvier damit sagen will. Geoffroy bekennt sich ausdrücklich als Anhänger der Leibnizschen Stufenleiter und diese Theorie setzt tatsächlich voraus, daß alle Wesen zu einander in ideeller Beziehung stehen. Der Schöpfer will, daß alle denkbaren Formen vertreten seien, also muß dieses Tier so und so gebaut sein, weil die anderen anders sind. Man kann dabei an das Gesetz der großen Zahl denken, auf das nebenbei bemerkt, schon Kant in seinen „Ideen zur Geschichte" hinwies. Wenn die (Ehe oder der Selbstmord eines Menschen davon ab-hängen, wieviel andere Unglücksfälle gleicher Art in diesem Jahre bereits erfolgt sind, so muß man irgend einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen den Menschen voraussetzen. Auch Herder war Anhänger der Stufenleitertheorie, und daß ein solches mystisches Band zwischen allen Lebewesen auch für ihn bestand, zeigt folgender Passus: (I. Teil, 2. Buch.)

Da diese Hauptform nach Geschlechtern, Arten, Bestimmungen immer variiert werden mußte, so erhellt, daß immer ein Exemplar das andere erkläre, lvas die Natur bei einem Geschöpf als Nebenwerk hinwarf, führte sie bei dem anderen als Hauptwerk aus. Sie setzte es ins kicht, vergrößerte es und ließ die anderen Teile, obwohl immer

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332 Entwicklungslehre.

noch in der überdachtesten Harmonie diesem Teil jetzt dienen. Alle Wesen der organischen Schöpfung erscheinen also alsdisiecta membra poetae.

Daß hier dienendes Nebenwerk wird, was dort herrschendes Hauptorgan ist, darf auch die Deszendenzlehre voraussetzen, und dieser Gedanke wird immer ein frucht­bares heuristisches Prinzip sein, aber die )dee der Stufen-leiter fordert, daß auch wirklich alle möglichen Kombi-nationen existieren.

Um die Ansichten jener Zeit, also auch die Herders, Goethes und Geoffroys zu begreifen, ist es wichtig, sich den Gegensatz zwischen Stufenleiter und Deszendenz recht deutlich zu machen, und zu diesem Zweck ersetzen wir Geoffroys Gleichnis von f?ütte und Palast durch ein ähnliches. (Ein Bild kann auf zweifache Art von einer Skizze „abstammen" oder „aus ihr hervorgehen". Lnt-weder ideell, indem der Künstler zwar die Erfahrungen ver-wertet, die er an der Skizze gemacht, aber auf einer neuen Leinwand. Oder reell, indem er sie selber, den eiste« flüchtigen versuch, sorgfältiger ausmalt. Für uns heutige Menschen — wenn wir sehen, daß in der Folge der geologischen Schichten immer höher or­ganisierte Lebewesen auftreten, kommt gar keine andere Möglichkeit als die zweite, die der Entwicklung in Frage. Da wir Urzeugung kaum noch für die primitivsten, ge-schweige denn für die komplizierteren Organismen für möglich halten, da wir uns abgewöhnt haben, einen einheitlichen Plan des Weltschöpfers in unsere über-

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§ 92. Deszendenztheorie und Stufenleiter. 335

legungen einzubeziehen, so besteht ein Denkzwang, die Deszendenzhypothese anzunehmen, auch wenn wir von ihren Bestätigungen noch so wenig überzeugt sind. Wir haben einfach keine Wahl. Damals war das anders. So hat z. B. Buffon ausdrücklich die Skizzentheorie in ihrer ersten Form vertreten, die Natur besteht für ihn aus aufeinanderfolgenden versuchen Gottes, und Geoffroy äußerte wiederholt seinem freunde Flourens gegenüber, er könne sich diese Buffonsche )dee nicht aus dem Kopf bringen. Man brauchte keine Deszendenz-theorie, weil man die Stufenleiter hatte. Dieser gründ-sätzliche Gegensatz wird heute leicht übersehen, und jeder, der Vrganisationsstufen in der Natur feststellt, schlank-weg für einen Vorläufer der Entwicklungslehre erklärt. Aber welcher Deszendenztheoretiker würde mit Herder betonen, daß nach Gottes platt der Mensch sich schon dem Ursprung nach vom Tier unterscheide, welcher mit Geoffroy schreiben:

5ür einen Naturforscher, der nach den Tatsachen urteilt, ist jedes

Wesen aus den Händen des Schöpfers mit ihm eigenen materiellen

Bedingungen hervorgegangen. (Es kann, je nachdem, was ihm

verliehen ist zu können. Es gebraucht seine Organe nach ihrer

MrkungsfShigkeit.

Allerdings gab es längst Abstammungslehrer, — das geht ja schon aus URr. § 80, sowie aus Goethes und Geoffroys Protesten hervor — nur gerade die

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35$ Entwicklungslehre,

Leute, die man heute in diesem Zusammenhang nennt, scheinen es nicht gewesen zu sein.*)

Die Stufenleitertheorie verlangt eine Unendlichkeit von Gestalten, da von jeder Form zu jeder Übergänge führen. Geoffroy als ausgezeichneter Anatom vertrat diese Theorie gewiß nicht in der groben Form, in der sie sonst gelehrt wurde, wo es etwa hieß:

Die Fledermaus ist der Übergang zwischen Vogel und Säugetier, der fliegende Fisch zwischen Vogel und Fisch. Der Aal ist der Übergang zwischen Fisch und Reptil, die Schnecke zwischen Muschel und Reptil, der Röhrenwurm zwischen Insekt und Muscheln und so fort in infinitum.

Auf Grund dieser Anschauung prophezeite Leibniz die Entdeckung von Organismen, die einen Übergang vom pflanzen- zum Tierreich bilden, und als dann die Polypen entdeckt wurden, war die Theorie der Stufen-leitet auf das glänzendste bestätigt und blieb für die

*) Der erste Deszendenztheoretiker jener Periode dürfte De Maillet sein, der (nach Cuoiers und Flourens Referaten) die Ansicht ausgesprochen hatte, daß der Mensch ursprünglich Lisch gewesen, und daß man gar nicht selten im Gzean Fische antrifft, die bisher nur zur Hälfte Menschen geworden sind, deren Rasse es aber einmal sein wird, — daß aus den Tieren des Meeres, die in der Tiefe kriechen, Reptilien werden, aus denen, die an der Oberfläche schwimmen, Vögel. Ein fliegender Fisch etwa stürzt sich in die Luft, fällt auf eine Wiese herab, feine vorderflossen spalten und werfen sich infolge der Trocken­heit und werden zu Flügeln, die Hinterflossen zu Füßen usw.

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§ 92. Die Stufenleiter. 335

nächsten Jahrzehnte Dogma. (Einet Deszendenztheorie bedürfte es nicht, um die «Einheitlichkeit alles Lebendigen zu erklären.

Kant aber, nachdem er die einander widersprechenden Maximen der Naturforscher erörert, die doch nur dem Interesse der Vernunft entspringen, beschließt den Abschnitt vom regulativen Gebrauch der Ideen mit einem Seitenhieb auf das

so berufene, von Leibniz in Gang gebrachte und von Bonnet trefflich aufgestutzte Gesetz der kontinuierlichen Stufenleiter der Ge-schöpf«. (Es zu behaupten oder es anzufechten, das ist auch nur Sache des persönlichen Interesses. Wer es verficht, der wird durch den Grund-fatz der Affinität geleitet, denn Beobachtung kann dieses Gesetz nicht lehren. Die Sprossen einer solchen Leiter, wie sie uns die Erfahrung angeben kann, stehen viel zu weit auseinander, unsere vermeintlich kleinen Unterschiede sind gemeiniglich in der Natur selbst so weite Klüfte, und bei einer großen Mannigfaltigkeit von Dingen ist es so leicht, immer gewisse Ähnlichkeiten und Annäherungen zu finden, daß solche Beobachtungen gar nicht auf Absichten der Natur schließen, lassen. Dagegen ist die Methode, nach einem solchen Prinzip Ordnung in der Natur aufzusuchen, und die Maxime, eine solche Ordnung über-Haupt vorauszusetzen, ein rechtmäßiges und treffliches regulatives Prinzip der Vernunft, um der Erfahrung den lveg zur systematischen Einheit vorzuzeichnen.

§ 95.

über Systeme.

Diese Betrachtung über die anthropomorphe Zu-stutzung der Natur in der Stufenleiter führt dazu, über

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336 Entwicklungslehre.

Systeme überhaupt etwas zu sagen. Unter den,, Problemen" (A j8$), die Goethe dem Freunde zur Behandlung auf-gibt, ist auch dieses:

Natürlich System — widersprechender Ausdruck. Die Natur hat kein System.

Der Mensch, wo er bedeutend auftritt, verhält sich gesetzgebend, vorerst im Sittlichen durch Anerkennung der Pflicht. In der Wissen-schaft deuten die unzähligen versuche, zu systematisieren, zu schemati-sieren dahin. Unsere ganze Aufmerksamkeit muß darauf gerichtet sein, der Natur ihr Verfahren abzulauschen, damit wir sie durch zwängende Vorschriften nicht widerspenstig machen, aber uns dagegen auch durch ihre Willkür nicht vom Zweck entfernen lassen.

Auf den stark kantisch gefärbten Anfang des zweiten Absatzes weise ich nur flüchtig hin. Wichtiger ist an dieser Stelle die innere Übereinstimmung in dem Ge-danken, daß die unendliche und unergründliche Mannig-faltigkeit der Natur gegen jede Systematisierung miß-trauisch machen muß. Die allgemeine Neigung zum System bezeichnet Kant als „das architektonische Interesse der Vernunft", und er zeigt in der Behandlung der Antinomie (f. § 25), wie leicht dieses architektonische Interesse die Denker irreführt. Jedes System, wie es auch beschaffen sei, ist nach ihm eine spontane apriorische Tat des Menschengeistes, denn die Erfahrung liefert immer nur Bruchstücke. Darum können nur solche Systeme, bei welchen der verstand völlig in feinem eigenen Bereiche in dem des «priori bleibt, Anspruch auf voll--ständigkeit und Sicherheit erheben und im eigentlichen

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§ 92- Ober Systeme. 337

Sinne Wissenschaft genannt werden (vgl. § jo$). töo die Erfahrung abgewartet werden muß, ist alles Syste-matisieren nur ein unsicheres Tasten.

Aus dieser Feststellung lassen sich allerlei besinnliche Betrachtungen ziehen. tVie merkwürdig ist es, daß es fast in jedem System, das der Menschengeist sich ausheckr, gelingt, die Lücken a posteriori auszufüllen. So wurde ja auch das Leibnizsche Stufenleiterprinzip empirisch be-(tätigt, und doch halten wir heute dieses Prinzip nicht mehr für richtig. N?ir wissen jetzt, das Kant recht hatte: die Aussagen über die Natur, die zu seiner Aufstellung führten, waren viel zu grob, viel zu oberflächlich. Aber haben wir nicht heute andere Systeme, die vielleicht nicht weniger grob, nicht weniger oberflächlich sind, und von denen wir uns doch einbilden, daß sie „der Natur ab-gelauscht" seien?

In einer Skizze pirartdellos geht ein Monomane herum, der die „Philosophie des umgekehrten Lernrohrs" geschrieben hat. <£r richtet sein Instrument auf die nächst-gelegenen Dinge, und sie werden ganz entfernt und ganz klein, tüenn dieser MTann die modernen Theorien und Systeme anvisierte und sie mit denen von vor hundert Jahren vergliche — ob er da sehr wesentliche Unterschiede entdeckte? vor hundert fahren sagte man: die Fledermaus ist der Übergang vom Säugetier zum Vogel, der fliegende Fisch vom Fisch zum Vogel. Das Bindeglied bestand darin, daß sie alle fliegen. Daß aber

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338 Entwicklungslehre.

das Fliegen auf ganz verschiedene Züetfe zustande­kommt, das bedachte man nicht, freute sagt man:

So gering auch die Ähnlichkeit zwischen einer festsitzenden köpf-losen, von einem gelatinösen Mantel umhüllten Aszidie und einem

oder Elephanten sei, so bilden doch diese Manteltiere in ihrer Jugend karven, die „in sehr vielen Merkmalen mit den Larven der kanzettfischchen übereinstimmen. Folglich stellt man den Stamm der Manteltiere im phylogenetischen System neben den Stamm der Wirbel­tiere." (Tschulok, kehrbuch der Deszendenztheorie, *92$, § 28.)

Aber woher wissen wir, daß die im Groben ähnliche Gestalt der Larven von Aszidien und Lanzettfischchen nicht auch auf ganz verschiedene ZVe'se zustande kommt? Doch dieses System, darauf gegründet, daß gewisse Embryonalstadien eine gewisse oberflächliche Ähnlichkeit haben, nennt man heute das „natürliche System".

Übrigens ist „natürlich System" nicht nur ein inhaltkich widersprechender, sondern auch ein grammatikalisch falscher Ausdruck. Die Systeme unterscheiden sich durch den Ge­sichtspunkt, den man der Einteilung zugrundelegt; so kann es ein Sexualsystem, ein phylogenetisches, ein pharmakologisches System usw. für Pflanzen geben. Natürlich System würde heißen, daß man die Natur als Gesichtspunkt gewählt hat. Ls ist aber jedes System sofern gleich künstlich und gleich natürlich. )edes berücksichtigt gewisse Züge und vernachlässigt andere. Es gibt nur künstliche Systeme. )n dem schon herangezogenen Aufsatz über das „System der pflanzen" sagt lvettstein:

Die Unterscheidung zwischen kunstlichen und natürlichen Systemen trifft nicht immer das Wesentliche, viele botanische Systeme sind

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§ 93. Über Systeme. 339

künstlich und sollten nach dem Plan der Verfasser natürlich werden.. . wirklich künstliche, beabsichtigt künstliche Systeme gibt es kaum.

Ich erlaube mir hinzuzufügen: es sollte aber welche geben. Aus der Erkenntnis, daß uns immer die Systeme von gestern künstlich und die von heute natürlich scheinen, sollte man sich nicht scheuen, die Konsequenzen zu ziehen.

Sehr lehrreich finde ich eine Betrachtung, durch die Flourens (Histoire des travaux de Cuvier) gegen das Bestreben polemisiert, ein System linearer Höher­entwicklung bei den Tieren zu konstruieren. €r sagt:

Betrachtet ihr das Nervensystem, so werdet ihr die Insekten über die Mollusken stellen, aber unter sie, sobald ihr Blutumlauf, Sekretion usw. ins Auge faßt. Seht ihr auf die Atmung, so hat der Vogel den Vorsprung vor dem Säugetier, seht ihr auf die Intelligenz, so steht das Säugetier höher. Zn bezug auf die Atmung stehen Insekten und Vögel über allen anderen Tieren und nahe bei einander, denn sie haben die ausgebreitete, eine doppelte Atmung. Nehmt ihr die Blutzirkulation als Kriterium, so stehen Insekten und Vögel an den äußersten Lnden der Leiter, denn die einen haben die vollständigste Zirkulation, die anderen haben überhaupt keine.

)n bezug auf die großen Gruppen ist man denn auch heute so weit, eine lineare Höherentwicklung nicht mehr anzunehmen. Aber so ein Gedankengang geht auto­matisch weiter, lvas für die großen Gruppen nicht gilt, soll doch wenigstens für die kleinen gelten. Innerhalb kleiner Formenkreise muß es doch gelingen, die Linie der Aufwärtsentwicklung nachzuweisen? )ndes soweit man auch bis in die kleinsten Einheiten vordringt, die „Spezialisationskreuzung" — so nennt man den Zustand, den Flourens beschrieb — geht unerbittlich mit.

22*

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3*0 Entwicklungslehre,

Wenn wir die stufenweise erfolgende Becken-Reduktion der N?ale als Grundlage zur Aufstellung einer phylo genetischen Reihe wählen, so erhalten wir eine Stufenreihe, die sich von einer zweiten, auf Grundlage der Spezialisation des Gebisses aufgestellten durchaus unterscheidet. Wieder anders ist das Bild, wenn wir die schrittweise sich steigernden Veränderungen der Halswirbel, und wieder anders, wenn wir die Spezialisationssteigerung im Bau der Flossen als Grund-läge wählen. Daraus ergibt sich, daß wir die verglichenen Formen, mögen sie bei oberflächlicher Betrachtung sich scheinbar noch so einfach ht eine phylogenetische Reihe einordnen lassen, unter keinen Um-ständen direkt miteinander in einer Ahnenreihe verbinden dürfen. (Abel, kehrbuch der paläozoologie.)

So gibt es z. B. für die Formen, die uns am nächsten angehen, die fjomtnideit, bisher nur eine Stufenreihe, aber keine Ahnenreihe. Man hilft sich durch ein sehr einfaches und ganz kostenloses Verfahren: man schiebt die Abzweigungspunkte weiter zurück. (Db man nicht auf diesem Wege schließlich dahin gelangen wird, sie bis zur Schöpfung zurückzuschieben?

Man setze die von Ab et angedeutete Methode in Gedanken fort; man denke sich für jeden Knochen des tierischen Skeletts, aber nicht nur für dieses allein, nein, auch für jeden Muskel, für jedes sekretorische, nervöse oder Sinnesorgan eine Reihe stetiger Übergänge kon­struiert, und wa sdann herauskommt, wenn man diese Legion von Stammbäumen kombiniert, das ist das, was man heute das „natürliche System" nennt.

Das alles soll nur eine Erläuterung des Goetheschen lvortes fein:

Natürlich System, widersprechender Ausdruck.

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§ 93. Über Systeme.

3<f? würde vorschlagen, dieses Wort aus dem biologischen Lexikon zu streichen.

Es ist wertvoll, die Vrganismenwelt nach möglichst vielen Gesichtspunkten zu ordnen, es ist gut, zunächst ein beliebiges System auf die allgemeine äußere Ähnlichkeit aufzubauen, nur zum Zweck der gegenseitigen Ver­ständigung, es ist richtig, daneben spezielle Systeme aus-zuarbeiten, in denen der grobe Begriff der allgemeinen Ähnlichkeit verfeinert erscheint in die Ähnlichkeit einzelner Skeletteile oder Funktionen — aber warum den ver-jährten lvahn heilig halten, das alles müsse sich unbe-dingt einem einheitlichen Gesichtspunkt unterordnen lassen, irgend eines dieser Systeme sei „das richtige", das „natürliche"?

Und so fasse ich Goethes, Kants und meine eigenen Reflexionen in einem Schlußabsatz zusammen:

Natur hat kein System; sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Jentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze. Die Gesetze, die wir in ihr zu finden meinen, das Gesetz der Homogenität, der Spezifikation, der Affinität, es sind doch nur subjektive Maximen, durch die der Mensch Ordnung und (Einheit in die Natur zu bringen sucht. Als solche Maximen sind sie wertvoll, ja unent-behrlich, und jedes System ist ein rechtmäßiges und treffliches Prinzip der Vernunft. Aber jedes System ist künstlich, und es ist besser, das einzusehen und ein-zugestehen, als dem Phantom eines „natürlichen Systems" nachzujagen.

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3<*2

Zweites Aapitel.

Teleologie.

§ n - -

Innere und äußere Zweckmäßigkeit.

Wenn wir eine Wirkung sehen, von der wir uns nicht vorstellen können, wie sie ohne eine vorausgehende Zdee dieser Wirkung zustande kommen konnte, dann werden wir auf den Begriff eines Zwecks der Natur geführt. Dabei denken wir uns entweder die Wirkung als Selbst-zweck oder nur als Mittel für das Wirken anderer Naturwesen. Das erste heißt innere, das zweiteäußere oder relative Zweckmäßigkeit, auch Nutzbarkeit (für Menschen) oder Zuträglichkeit (für jedes andere Geschöpf). (UKr. § 63.)

Kein* führt allerlei Naturvorgänge an, die man gern auf ihre Nützlichkeit hin begutachtet.

Schwömmen da etwa Flüsse Erde an, die das fruchtbare Land erweitert, — das Gewächsreich gewinnt an Boden, aber dafür wird er den Meeresgeschöpfen entzogen. Kann man so etwas als einen Zweck der Natur ansehen? ©der: das Meer läßt, sich zurückziehend, Sandstriche hinter sich, die weitläuftige Fichtenwälder möglich machen, in einer Gegend, die sonst für alle Kultur unbrauchbar war. Kann das ein Zweck der Natur sein? Soviel ist klar, — läßt man die Fichtenwälder als Zweck gelten, dann muß man dem Sand das gleiche einräumen und den Meeresstrand und sein Zurückziehen als Mittel dazu auffassen. Nun kann aber doch der Sand als rein mechanische Wirkung der Meeres-tätigkeit auch ohne solche Deutung ganz wohl begriffen werden.

t}ier haben wir also keine objektive Zweckmäßigkeit der Dinge an sich selbst, sondern eine relative, dem Ding, dem sie beigelegt wird, zufällige.

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| 94- Innere und äußere Zweckmäßigkeit. 343

Ein anderes Beispiel. Wenn einmal Rindvieh, Schafe, Pferde in bet Welt fein sollten, so mußte Gras auf der Lrde wachsen. (Es mußten auch in Sanbroiiften Salzkräuter sprießen, wenn Kamele ge­deihen sollten, und es mußte Kamele und andere grasfressende Tiere in Menge geben, wenn Wölfe, Tiger und £öroen möglich fein sollten. Bei dieser Art der Betrachtung werden die Grasarten, obwohl sie doch für sich als organisierte Naturprodukte, mithin als kunstreich zu be­urteilen sind, in bezug auf die Tiere, die sich davon nähren, als bloße rohe Materie angesehen.

Die EDorte „als bloße rohe Materie" hat Goethe unterstrichen und dazu geschrieben „(Element". Was er damit meint, werde ich in § 97 erklären.

Kant fährt fort: Noch weniger kann es als ein Zweck der Natur, nicht einmal als

ein relativer, gelten, daß bunte Vogelfedern zum Putz, pflanzen« fäfte zur Schminke, Tiere zum Reiten für uns da sind. Denn des Menschen Vernunft weiß alle Dinge für feine (Einfälle auszunützen, so töricht und närrisch die auch fein mögen, und so wenig er von der Natur dazu prädestiniert war. Zm hohen Norden ist auf bewunderungs­würdige weife dafür gesorgt, daß Menschen dort leben können, aber es wäre ein höchst gewagtes willkürliches Urteil, daß darum große mit <61 angefüllte Seetiere da find, darum Schnee aus der Luft falle und warme Meeresströme Bolz anschwemmen, damit gewisse armselige Geschöpfe einen Vorteil davon haben. Denn wären all diese (Er-fcheinungen niemandem nützlich, so würden wir sie aus ihren Ursachen doch vollkommen verstehen können. Und da außerdem nur die größte Unverträglichkeit der Menschen sie bis in so unwirtliche Gegenden hat versprengen können, so dünkt es uns vermessen und unüberlegt, der Natur einen solchen Zweck zuzumuten.

(Hüten wir uns, sagt Kant an anderer Stelle, die Spötterei des Herrn von Voltaire auf uns zu ziehen: Wozu haben wir Nasen? Gewiß um unsere Brillen darauf zu setzen.)

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Teleologie.

Wenn man freilich einmal annimmt, daß Menschen überhaupt auf der (Erde haben leben sollen, dann durften auch die Mittel, sie zu ernähren, nicht fehlen. Alle äußere Zweckmäßigkeit ist nur unter der Bedingung sinnvoll, daß die lvesen, die davon profitieren, selbst Zwecke der Natur seien. Das aber ist durch bloße Naturbetrachtung nimmer-mehr auszumachen, und somit berechtigt die relative Zweckmäßigkeit zu keinem absoluten teleologifchen Urteil. (Dgl. § 1,52.)

Ganz anders steht es, wenn wir die organisierten Wesen für sich selbst und ihre innere Zweckmäßigkeit untersuchen. Denn da stoßen wir auf Verhältnisse, die rein mechanisch in keiner Weise zu begreifen sind.

§ 95.

Die Definition des Organismus bei Kant.

So oft diese Definition in URr. § 6t bis 66 vor­kommt, so oft hat Goethe sie angestrichen. Sie lautet:

Lin organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist,

oder ausführlicher: in welchem alle Teile, sowohl ihrem Dasein als ihrer Form nach

nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind, und sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechsel­seitig Ursache und Wirkung sind,

oder: daß die Teile einander insgesamt, sowohl ihrer Form als ihrer

Verbindung nach wechselseitig hervorbringen und so ein Ganzes aus eigener Kausalität erzeugen.

In einem solchen Produkt der Natur wird ein jeder Teil so wie er nur durch alle übrigen da ist, auch als um der anderen tind des

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§ 95. Die Definition des «Organismus bei Kant. 3$5

Ganzen willen existierend gedacht. Ein Rad in einer Uhr ist zwar auch um aller anderen willen da, aber nicht durch sie. Jedes Rad be­wirkt die Bewegung der übrigen mit, aber nicht ihre Erzeugung. Und noch weniger bringt eine Uhr andere Uhren hervor, noch ersetzt sie von selbst ihr entwendete Teile, noch vergütet sie den Mangel eines Teiles durch die Nachhilfe anderer und bessert sich so selbst aus, wenn sie in Un­ordnung geraten ist, wie wir das doch alles von der organisierten Natur sagen können.

Sin organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine, denn die hat lediglich eine bewegende Kraft, sondern es besitzt in sich eine bildende Kraft, und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben, indem es sie organisiert.

Hier folgt eine Stelle, die man ohne historische Kenntnisse nicht begreifen kann.

Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen beiweitem zuwenig, wenn man es ein Analogon der Kunst nennt. Denn da denkt man sich ein vernünftiges Wesen, einen Künstler dazu. Die Natur aber or­ganisiert sich selbst, zwar nach einerlei Exemplar im Ganzen, doch mit schicklichen Abweichungen, wie sie die Selbsterhaltung nach den Um­ständen erfordert. Näher tritt man vielleicht dieser unerforfchltchen Eigenschaft, wenn man sie ein Analogon des Lebens nennt.

W i e denn „Analogon des Lebens"? sagt der moderne Mensch, wir reden doch eben vom Leben! Nein, der Naturforscher des J8. Jahrhunderts unterschied das, was lebt (Tiere und Menschen) von dem, was bloß vegetiert. Und so kommt denn auch Kant vom Leben sofort auf die Seele zu sprechen.

Würde man wirklich sagen wollen: die Materie lebt, so gäbe es zwei Möglichkeiten. Entweder sie lebt durch sich selbst, indem sie als Materie die Fähigkeit, sich zu organisieren, besitzt tHylozoismus), das würde nach allen Begriffen, die wir uns sonst von ihr machen müssen, ihrem Wesen tuiberstreiten, ©der man gesellt ihr ein fremdartiges,

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246 Teleologie.

mit ihr in Gemeinschaft stehendes Prinzip, eine Seele 311. Soll aber Kiese die Künstlerin fein, die das Bauwerk leitet, dann ist das Produkt *et körperlichen Natur entzogen, und wir möchten es doch gerade als Naturprodukt verstehen. Im Grunde hat also die Organisation der Natur nichts Analoges mit irgend einer Kausalität, die wir kennen, — ols höchstens mit denjenigen menschlichen Einrichtungen, die man nach ihr als Organisationen bezeichnet, wie etwa dem Staat, wo gleich-falls jedes Glied Mittel und zugleich Zweck fein soll, zur Möglichkeit des Ganzen mitwirkt und wiederum aus der Idee des Ganzen seine Stelle und Funktion erhält.

Als vorläufiges Beispiel dafür, wie die organisierten Wesen von sich selbst in zwiefachem Sinn zugleich Ur­sache und Wirkung sind, wird die Existenz eines Baumes geschildert.

Zunächst einmal ist der Baum als Gattung von sich selbst Ursache «nd lvirkung, indem jedes Individuum von seinesgleichen erzeugt worden und unaufhörlich wieder seinesgleichen hervorbringt. Weiter? erzeugt der Baum auch schon als Individuum sich selbst, indem das Wachstum eigentlich eine Zeugung ist (vgl. § 82) und dabei hängt die Erhaltung eines jeden Teils von der Erhaltung der anderen ab. Die Blätter sind zwar Produkte des Baumes, aber wiederholte €nt= blätterung würde ihn töten.

Schließlich ist noch der Selbsthilfe der Natur bei Verletzungen zu gedenken, wo das Fehlen des einen Teiles durch stärkere Aktion der übrigen ersetzt wird, sowie der Mißgeburten, wo gewisse Teile wegen vorkommender Mängel und Hindernisse sich ganz neu formen, um das, was da ist, zu erhalten.

§ 96.

Der Begriff des Naturzwecks.

Die Kaufalverbindung, wie sie durch den verstand gedacht wird, geht immer nur nach abwärts, ihr nach ist es unmöglich, daß Dinge

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§ 96. Der Begriff des Naturzwecks. 3)7

einander zugleich Ursache und Wirkung sind. Nach dem Vernunft-begriff der Zwecke hingegen ist das wohl möglich, ©n Haus ist die Ursache der eingehenden Mietgelder, und die Vorstellung dieser Miet-gelber ist die Ursache für die Erbauung des Hauses. Die erste Art der Kausalität nennt man die der wirkenden Ursachen, nexus effectivus, die zweite die der Endursachen, nexus finalis. Ulan könnte auch sagen, die erste sei die Verknüpfung der realen, die zweite die der idealen Ursachen, womit zugleich begriffen wird, daß es mehr als diese beiden Arten nicht geben kann.

Da also der Zweckgedanke derjenige ist, der eine solche Wechselwirkung möglich macht, so muß man or­ganisierte Wesen, um sie von Mechanismen zu unter-scheiden, sicher als Zwecke bezeichnen. Aber was für eine Art von Zwecken sind sie?

Die einfachste Art, sich einen Gegenstand als Zweck zu denken, ist die, daß man sich eine Vernunft dazu denkt, die diesen Zweck vorstellt und realisiert, so wie es bei all unseren Kunstprodukten der Fall ist. Aber Organismen sollen doch gerade keine Kunstprodukte, sondern Naturprodukte sein, wir bezeichnen sie also zur Unterscheidung von allen künstlichen Zwecken als Natur-zwecke, wir sagen: „ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst Ursache und Wirkung ist" ; damit grenzen wir diesen Begriff sowohl von den Produkten des rein kausalen Naturmechanismus als von den Wirkungen menschlicher Technik ab und schieben noch zugleich die Hypothese einer außernatürlichen intelligenten Ursache beiseite.

was als Zweck gedacht ist, muß freilich unter einer Zdee befaßt sein, die alles in ihm Enthaltene a priori bestimmt. Sobald aber diese

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3*8 Ccleologie.

3bee einer äußeren vernünftigen Ursache zugehört, die absichtlich die Teile so herbeischafft und verbindet, wie es ihrer Vorstellung vom Ganzen entspricht, dann HSrt das Produkt auf, ein Naturzweck zu sein. Das Entscheidende ist, daß die Teile selbst einander wechselseitig erzeugen und nur dadurch allein die (Einheit bewirkt wird. ZVenn wir also bei einem «Organismus von der Idee des Ganzen sprechen, so müssen wir uns hüten, diese Idee als wirkende Ursache aufzufassen, sie soll nur dem Beurteilenden ermöglichen, sich die systematische Einheit in der Form und Verbindung aller Teile bewußt zu machen. Zn einem tvesen, welches ein solches Produkt nach Begriffen zu erzeugen im-stände wäre, könnte allerdings der aus der Beurteilung entstehende Begriff des Ganzen umgekehrt Ursache des Ganzen und damit die Verknüpfung der wirkenden Ursachen zugleich als Wirkung von Lnd-Ursachen beurteilt werden*).

(Organisierte Wesen sind die einzigen in der Natur, die — auch wenn man sie für sich und ohne alles Verhältnis zu anderen Dingen betrachtet — nur als Zwecke begriffen werden können, die also dem Begriff eines Naturzwecks objektive Realität verschaffen, und da-durch Anlaß geben, in die Naturwissenschaft ein besonderes Prinzip einzuführen, wozu man sonst schlechterdings nicht berechtigt wäre, die Teleologie.

Man darf dann als regulatives Prinzip den Satz aufstellen:

Nichts in einem organisierten Wesen ist umsonst, zwecklos oder einem blinden Naturmechanismus zuzuschreiben.

Diese Maxime haben auch die Zergliederer der Gewächse und Tiere, um ihre Struktur zu erforschen, um einzusehen, warum gerade diese Teile in solcher tage, Verbindung und Form ihnen gegeben worden, seit je angewendet. Sie können sich auch von diesem teleo-

*) Die Philosophische Bibliothek hat hier nach (Erbmann ein „ist" eingefügt, welches den Satz in fein Gegenteil verkehrt und damit den ganzen Absatz unverständlich macht. Nicht „ist", sondern „werden könnte" ist das zu „Ursache" gehörende Verbum.

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§ 96. Die Definition des «Organismus. 3)9

logischen Grundsatz genau so wenig wie von dem allgemein physischen lossagen, weil ihnen sonst jeder Leitfaden zur Beobachtung fehlt. Mögen immerhin in einem tierischen Körper manche Teile , wie Häute, Knochen, Haare nach bloß mechanischen Gesetzen begreifbar sein, so muß doch immer die Ursache, welche die dazu schickliche Materie herbei-schafft, modifiziert, formt und an den gehörigen Stellen absetzt, teleo-logisch beurteilt werden, so daß auch wirklich alles in einem organi-sierten Körper als organisiert betrachtet werden muß.

Hier will ich in der Wiedergabe der Kantifchen Ge­danken Halt machen und ihr Echo bei Goethe aufsuchen.

§ 9?.

Die Anwendung dieser Begriffe durch Goethe.

In den Notizen A 25 a sieht man zunächst die unmittelbare Wirkung dieser Lektüre. (Es sind offenbar freie Exzerpte.

Die Art, die Naturprodukte zu betrachten, als lebendiges Wesen, das eben, weil es lebendig ist, schon Ursache und Wirkung in sich schließt.

Und: Wirkung und Ursache. Koinzidenz bei allen lebendigen Wesen,

so daß man ein lebendiges Wesen nennen kann, bei dem Wirkung und Ursache koinzidiert und weil der Zweck zwischen Ursache und Wirkung fällt, das seinen Zweck in sich selbst hat.

Fast wörtlich kehrt Kants Darstellung wieder in A 72: wir denken uns das abgeschlossene Tier als eine kleine Welt, die

um ihrer selbst willen und durch sich selbst da ist. So ist auch jedes Geschöpf Zweck seiner selbst... und als physiologisch vollkommen anzusehen. Kein Teil ist von innen betrachtet, unnütz...

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350 Teleologie.

3« einer Disposition (tX>. A. II, Band 8, S. 350) finden wir die Schlägwörter:

Entsagung, auf einen Endzweck losgehen, Zweck« nach innert, Naturzwecke, Ursache und Wirkung.

Ich verzichte darauf, die vielen Stellen, wo ähnliche Wendungen bei Goethe vorkommen, gesondert anzu-führen. Man sehe etwa noch U2 d, und den „Zweiten versuch über die Metamorphose", der V90 geschrieben sein soll und der sich ausdrücklich auf Kattt beruft.

voll von Rant-Reminiszenzen ist der „Versuch einer Vergleichunslehre" A 22, Zunächst erinnert schon der Anfang in possierlicher Weise an die Vorrede zur Der» nunftkritik: „Wenn eine Wissenschaft nach vielen ge­machten Anstalten und Zulüftungen, sobald es zum Zweck kommt, in Stecken gerät" — so heißt es bei Kant. Und: „Wenn eine Wissenschaft zu stocken und unerachtet der Bemühung vieler tätiger Menschen nicht vom Fleck zu rücken scheint"... so heißt es bei Goethe. Man er­innert sich dabei an Goethes Geständnis, er habe eine unbezwingliche Lust verspürt, den Stil seiner jeweiligen Lektüre nachzuahmen. Ich verweise auch in diesem Zusammenhang auf die Stelle int „Versuch als Ver­mittler": „Daß die Erfahrung usw." (§ 33). <£s ist dann, in A 22 weiter die Rede von der Gewohnheit der Menschen, sich als «Endzweck zu betrachten, die mütterliche Vorsorge der Natur zu bewundern, weil sie den Hund dazu gebildet hat, daß er das Wild einhole u. dgl. alles genau parallel zu UKr. § 63. Und hier finden mir

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§ 98. Das teleologische Prinzip. 35 ̂

nun auch die Erklärung dafür, warum Goethe die „bloße rohe Materie" unterstrichen und das ZVort „Element" an den Rand geschrieben hat. Denn nun heißt es:

ZD'te man erst die unorganisierten, undeterminierten (Elemente als Vehikel der organisierten Wesen angesehen, so wird man sich nun-mehr in der Betrachtung erheben und die organisierte Welt wieder als einen Zusammenhang von vielen Elementen ansehen. Das Pflanzen­reich wird wie ein Gzean erscheinen, in dem eine ungeheure Anzahl lebender Geschöpfe geboren und ernährt wird, und zuletzt werden wir die ganze tierische Welt wieder nur als ein großes «Element ansehen, wo ein Geschlecht aus dem anderen und durch das andere, wo nicht entsteht, doch sich erhält.

Wir werden uns gewöhnen, Verhältnisse und Be-Ziehungen nicht als Bestimmungen und Zwecke anzusehen.

Durch diesen letzten Satz bekommt eigentlich erst Kants Gedankengang in § 63 einen erleuchtenden Ab­schluß.

§ 98.

Das teleologische Prinzip.

Bekannt ist die Wirkung, die Kants Ablehnung der äußeren Zweckmäßigkeit auf Goethe gehabt hat, seine Äußerungen darüber in A so, J68 und 200 werden viel zitiert. (Es muß aber jetzt diese Ablehnung dahin ein-geschränkt werden, daß sowohl Goethe als Karts trotz ihres Skeptizismus gegenüber dem Prinzip der „Wir­kungen nach außen" Toleranz üben.

Goethe findet (in dem zuletzt besprochenen Aussatz) es weder tätlich noch möglich, sie im Ganzen zu bestreiten,

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352 Teleologie.

und tadelt es dann in A 90 an Schelling, daß er fremde Vorstellungsarten nicht zu begreifen vermag. Z. B. hänge er selbst, Goethe, so sehr an der Zweckmäßigkeit nach innen, und doch

läßt sich ja eine Bestimmung von außen und ein Verhältnis nach außen nicht leugnen, wodurch matt mehr oder weniger sich jener vor-stellungsart wieder nähert, sowie man sie im vortrag als Redensart nicht entbehren kann.

)n der Farbenlehre (N). A. II. 2, S. Zusagt er:

Als man die ideologische Erklärungsart verbannte, nahm man der Natur den verstand; man hatte den ITtut nicht, ihr Vernunft zuzu­schreiben, und sie blieb geistlos Hegen. Was man von ihr verlangte, waren technische, mechanische Dienste, und man fand sie zuletzt auch nur in diesem Sinne faßlich und begreiflich.

Kant auf seiner Seite argumentiert so:

Daß die äußere Zweckmäßigkeit an sich nicht be-rechtigt, ein ideologisches Prinzip in die Naturwissen-schaft einzuführen, das hat zwei Gründe. Erstlich sind die meisten Dinge, die gemeinhin als nützlich beurteilt werden, auch rein mechanisch zu erklären, wie (§ 94) der Sand am Meer, der Golfstrom im Norden usw. Zweitens aber erfordert die Kette aller Zwischenzwecke einen Endzweck, und den zu finden, ist nicht Sache der Natur-Wissenschaft. Die Lrde fürs Gras, das Gras fürs Vieh, das Vieh für den Menschen — gut, aber wozu der Mensch? höflich fügt Kant hinzu, diese Frage sei nicht so leicht zu beantworten, wenn man etwa den Leuerländer in Gedanken habe.

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§ 98- X*as teleologische Prinzip. 553

Nun ist es aber zweierlei, ob man einen Gegenstand seiner inneren Form halber als Naturzweck be-zeichnet oder ob man feine Existenz als einen Zweck der Natur hinstellt. Der Grashalm, dessen Dasein für das Vieh, also als Zweck der Natur höchst problematisch ist, kann seiner inneren Organisation nach nicht anders wie als Naturzweck begriffen werden. Die mechanische Erklärung versagt. f?at man aber erst den Gedanken gefaßt, daß eine innere Einheit die Natur durchzieht, hat man daraus die Berechtigung geschöpft, das teleologische Prinzip in die Naturwissenschaft ein-zuführen, dann darf man es auch erweitern, indem man die gesamte Natur als ein System von Zwecken betrachtet und allen Naturmechanismus dieser )dee unterordnet. Das ist ein regulatives Prinzip, „um die Natur-erscheinung daran zu versuchen".Man arbeitet nach der Maxime: „Alles in der lvelt ist zu irgend etwas gui, nichts ist umsonst", behauptet aber damit nicht, daß das, was man als zweckmäßig beobachtet hat, auch wirk-lich eirt „Zweck der Natur" sei.

€s ist gut, selbst die uns unangenehmen oder zweckwidrig scheinen-den Dinge von dieser Seite zu betrachten. So könnte man etwa sagen: das Ungeziefer, welches die Menschen in ihren Kleidern, Waaren oder Bettstellen plagt, sei nach einer weisen Naturanstalt ein Antrieb zur Reinlichkeit, also zur Gesunderhaltung. Die Moskitos seien Stacheln der Tätigkeit, Moräste abzuleiten, Wälder zu lichten.

Und wenn wir einmal die teleologische Beurteilung als regulatives Prinzip gelten lassen, dann dürfen wir sogar auch die Schönheit der Natur so beurteilen, als fei es eine besondere Gunst gegen uns,

23

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351 Teleologie.

daß sie über das Nützliche noch reichlich Reize austeilte, wir dürfen sie deshalb lieben, wie wir sie ihrer Unermeßlichkeit wegen achten, gerade als ob die Natur ganz eigentlich in dieser Absicht ihre herrliche Bühne aufgeschlagen und geschmückt habe.

Dieses Prinzip führt bann Kant in allemeiteftem, fast möchte man manchmal sagen phantastischem Maße durch, nicht bloß in der Naturwissenschaft, sondern auch im geistigen Bereich. Daß eine jede natürliche Anlage im Menschen an sich gut und nützlich sei, solange sie nicht mißbraucht wird, das gehört noch zur inneren Zweck­mäßigkeit. Aber auch die Geschichte des menschlichen Geschlechts betrachtet er als ein System der Zwecke, und in der Moral leitet er die Idee des höchsten Gutes daraus ab — allerdings immer betonend, daß es sich nur um ein regulatives Prinzip handle.

§ 99-

Die Stellung der Teleologie in Kants System.

Als „Kategorie" oder als Bedingung der „Erfahrung" bezeichnet Kant das, was wir uns mit aller Anstrengung nicht aus der Erfahrung wegzudenken vermögen. Z. B. ist der Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirk-lichkeit, der für einen intuitiven verstand nicht bestünde, für uns nicht wegdenkbar, darum sind Möglichkeit und Wirklichkeit Kategorien. <2ine Natur ohne Kausalität ist für uns schlechterdings undenkbar. (Eine Veränderung vorzustellen, die nicht irgend eine Ursache hätte, gelingt uns beim besten Willen nicht. Darum ist die Kausalität

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§ 99- Die Stellung der Teleologie in Kants System, 355

eine Kategorie. Russell (Our knowledge of external world) meint zwar, die Ansicht, daß das Kausalitäts-prinzip in sich selbst a priori ist, könne von niemandem aufrecht erhalten werden, der sich klar mache, was für ein kompliziertes Prinzip es sei. Aber das Apriori der Kausalität besteht einzig und allein darin, daß wir gezwungen sind, zu allem, was uns zustößt, eine Ursache zu suchen, es mag sich objektiv mit der Kausalität ver­halten, wie es wolle.

So steht es mit den Kategorien, den allgemeinen Verstandesgesetzen. Ganz anders mit der Zweckmäßigkeit. Mühelos denken wir sie aus der Natur fort.

Wenn man den Bau eines Vogels, die Höhlung in seinen Knochen, die Tage seiner Flügel zur Bewegung, des Schwanzes zum Steuern anführt, so findet man, das alles sei sehr zufällig, die Natur als bloßer Mechanismus betrachtet hätte es auf tausendfache Art anders bilden können, und man ist darum einig darin, den Grund dafür außerhalb der Natur zu suchen ... Sowenig notwendig er-scheint dem Menschen das Prinzip des zweckmäßigen Zusammen-W i r k e n s m i t d e m B e g r i f f N a t u r v e r k n ü p f t ( U K r . § 6 \ ) .

Und hier kommt nun die entscheidende Wendung: Daß die Natur den allgemeinen Verstandesgesetzen

unterworfen erscheint, das kann an uns liegen, denn wir fühlen diese Gesetze so innig mit unserem Geist verknüpft, daß wir gar nicht wissen können, ob er nicht ihre einzige Quelle sei. Die speziellen Gesetze dagegen, die in der Natur walten, wie das der Schönheit, das der Zweckmäßigkeit, sie scheinen unmittelbar auf etwas hinzuweisen, was außerhalb unseres Verstandes, was in den „ Dingen an

23*

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356 Teleologie.

sich", im übersinnlichen Substrat seinen Grund hat. Darum führt der Begriff des Naturzwecks, dieser „Fremdling in der Naturwissenschaft" (UKr §72) „in eine ganz andere Ordnung der Dinge als die eines bloßen Mechanismus der Natur", direkt in den übersinnlichen Mittelpunkt der ZVelt hinein. (UKr§66.) Sitte höchst interessante Wendung, die das ganze Kantische System erst völlig erleuchtet und durchsichtig macht.

Wenn wir aber nun den Grund für die Zweckmäßigkeit im nichtsinnlichen ZVesen der Natur suchen, so kann das auf zweierlei Art geschehen. Entweder wir führen es als ein konstitutives Prinzip ein, daß in der Natur absichtlich wirkende Ursachen existieren, von denen wir die Naturprodukte ableiten. Das wäre kein Prnzip für die Urteils-kraft, sondern ein Vernunftbegriff. Wir würden dadurch eine neue Kausalität in die Naturwissenschaft einführen, die wir von uns selbst entlehnen und sie anderen ZVesen beilegen, ohne doch diese mit uns als gleichartig ansehen zu wollen — ein nicht zu rechtfertigendes vor-gehen, ©der: wir denken uns zwar einen in der Natur befindlichen Begriff vom Vbjekt, der nach der Analogie mit unserer eigenen Zwecktätigkeit das (vbjekt erzeugt, d. h. wir denken uns die Natur als durch ihr eigenes Vermögen technisch, aber ausschließlich als regulatives Prinzip für die reflektierende Urteilskraft. !vir tun so, als ob die Natur eine Technikerin wäre. Das ist doch wenigstens ein Prinzip mehr, um die Erscheinungen unter Regeln zu bringen, wo die mechanische Kausalität nicht zulangt. (UKr § 6 v) [<S]

Der Begriff einer Kausalität noch Zwecken hat objektive Realität — für unsere Kunst und Technik. Der Begriff einer Naturkausalität hat ebenfalls objektive Realität — in der gesamten Naturwissenschaft.

Gb aber der Begriff einer Naturkausalität nach der Regel der Zwecke objektive Realität habe, ob ihm außerhalb unseres Geistes irgend etwas positives entspreche, das ist durchaus problematisch.

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§ 99- Die Stellung der Teleologie in Kants System. 357

Die Zwecke in der Natur können wir als Zwecke im eigentlichen Sinn des Worts, nämlich als absichtliche, niemals beobachten, wir können sie nur in der Reflexion über gewisse Produkte hinzudenken-

Denn es könnte sein, daß der Grundvorgang im Obersinnlichen weder Kausalität noch Knalität sei, sondern etwas Drittes, Ursprüngliches, und für uns nicht vorstellbares, Goethisch gesprochen die „inneren großen Prinzipien, nach denen die Natur zwecklos wirkt". (A 2U.)

§ 100.

Die Antinomie der ideologischen Urteilskraft.

Sie ist das genaue Gegenstück zur Freiheitsantinomie und die Lösung ist nur darum eine andere, weil wir die Freiheit als „Faktum" in uns spüren, während wir eine geistige Spontaneität in den übrigen Lebewesen nur reflektierend vermuten können.

Die Antinomie lautet: Alle Erzeugung materieller Dinge ist nach bloß mechanischen

Gesetzen möglich. Die Erzeugung einiger unter ihnen ist nach bloß mechanischen

Gesetzen nicht möglich.

Die Lösung erfolgt durch die leichte Wendung ins „Regulative":

Alle Erzeugung materieller Dinge muß so beurteilt werden, als ob sie nach bloß mechanischen Gesetzen möglich wäre.

Einige Produkte der materiellen Natur können nicht so beurteilt werden, als ob sie bloß mechanisch erzeugt wären, es muß ein zweites Prinzip, das der Endursachen, mit herangezogen werden.

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358 Teleologie.

)n dieser ^orm widersprechen einander die Sätze nicht. Zch soll beim Studium der Grganismen soweit als nur irgend möglich nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten forschen, das hindert aber keineswegs, daß ich bei gegebener Veranlassung eine Ideologische Erklärung ver­suche. Weder sage ich, es ist möglich, daß alles in der Welt nur kausal bedingt sei, noch sage ich, es ist nicht möglich. Zch als Mensch vermag mir die Selbstregulierung der (Organismen anders wie nach Absicht und Zweck nicht zu erklären. Aber als mtausgemacht muß es dahin­gestellt werden, ob nicht in dem uns unbekannten inneren (Stund der Natur die physisch-mechanische und die Zweckverbindung an den selben Dingen in einem Prinzip zusammenhängen mögen, nur daß unsere Vernunft sie in einem solchen zu vereinigen nicht imstande ist. (UUr § 70.)

Iu diesem letzten Satz hat Goethe drei große Aus-rufungszeichen gemacht. Zustimmung? Empörung? Zu-erst dachte ich das zweite, aber jetzt glaube ichs nicht mehr. Denn zu ähnlich dem von Kant hier eingenommenen Standpunkt sind Goethes Bekenntnisse zum „Schaukel-system" nebst ihrer Begründung, daß unsere Vorstellung?-arten nur rohe grobe Versuche sind, mit der Natur fertig zu werden und daß man es „doch immer mit einem un-auflöslichen Problem zu tun habe". )ch habe denn auch Kants Behandlung des ideologischen Problems schon früher als Haupt- und Musterbeispiel für das Schaukel-festem angeführt.

An den Satz mit den drei Ausrufungszeichen aber mag vielleicht die im § 99 angezogene Stelle aus A zu unmittelbar anknüpfen.

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559

§ tov

Teleologie und Mechanismus.

Wir verfahren mit einem Begriff kritisch, wenn wir ihn nur in Beziehung auf unser Erkenntnisvermögen betrachten, ohne es zu unternehmen, über sein Objekt etwas zu entscheiden.

Dieses kritische Verfahren hat eine seiner wichtigsten An-Wendungen in der Behandlung der Teleologie gefunden. Sie ist bloß in Naturforscherkreisen bisher noch zu wenig verstanden und darum noch nicht fruchtbar geworden.

3ch persönlich bin der Ansicht, daß der Rantische Standpunkt schlechterdings der richtige ist, der der Situation in der Biologie besser gerecht wird als irgend ein anderer, und daß sich auf ihm alle feindlichen Tendenzen müßten einigen können. Denn seine kehre ist nach beiden Seiten absolut unvorgreifend und un-dogmatisch. Sie ist rein methodisch und hat keinen andern Zweck als einem undurchschaubaren, unerreichbaren Gegenstand auf sovielen tDegen wie möglich so nahe als möglich zu kommen.

ZDenn ich sage: Mir als Menschen ist es nicht möglich, mir die Seeigel-Regeneration anders vorzustellen, als bewirkt durch eine Art Intelligenz, die ich Lntelechie nenne, so ist das ein regulatives Prinzip, das keinen beleidigen kann. Schlüge es aber in die dogmatische Behauptung um: es gibt Lntelechien, so würde das bei den mechanistisch Gesinnten erbitterten Widerstand erzeugen, ohne die Sache im Geringsten zu fördern. Beweisen lassen sich die Lntelechien nicht, und niemand

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360 Tcleologie.

kcknn wissen, wie weit schließlich eine mechanische Er­klärung der Seeigel-Regeneration gelingen mag.

Der mechanischen Erklärung soll, dies betont Kant immer wieder, keine Grenze gezogen werden. Sie ist der unentbehrliche Leitfaden für unseren verstand. Aber wiederum, wenn man es wie die sogenannten „Monisten" zum Dogma macht, daß durchaus mit dem Mechanismus überall das Auslangen gefunden werden müsse, so geht man erstens über das, was man weiß und be-weisen kann, hinaus und bringt sich zweitens um ein wertvolles heuristisches Prinzip.

Befreiend und erlösend wirkt hier Kants kritischer Grundsatz, sowohl das Ideologische als das Kausalprinzip bloß als Maximen aufzufassen, die „sehr wohl mit einander verträglich sind, aber solange sie für objektive Einsichten gehalten werden, nichts als Streit und Hinder­nisse veranlassen" — er führt uns auf einen Standort jenseits von Vitalismus und Antivitalismus.

Die beiden Prinzipien lassen sich weder eines durch das andere ersetzen, noch auch, wenn man sie als dogmatisch und konstitutiv betrachtet, so an einem und demselben Dbjekt anwenden, daß man das eine von dem andern ableite (deduziere).

Hätte ich etwa behauptet, eine Made werde rein mechanisch erzeugt, sobald bloß ihre Elemente durch Fäulnis in Freiheit gesetzt wurden, dann steht es mir nicht mehr frei, von derselben Made zu versichern, sie sei nach Zwecken gebildet*). Umgekehrt: bin ich fest

*) Diese Stelle fand ich einmal als Beleg dafür angeführt, daß Kant an Urzeugung für Maden glaubte! So wenig ist die geistige Grundhaltung dieser Erörterungen verstanden worden.

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§ \0\. Teleowgie und Mechanismus. 36J(

überzeugt, daß nur absichtlich zweckmäßig wirkende Kräfte die Made produzieren können, so kann ich nicht gleichzeitig behaupten, der reine Naturmechanismus habe sie gezeugt. Denn, wenn wir auch annähmen, beide Prinzipien seien durch ein gemeinsames, das in dem übersinnlichen Grund der Natur liegt, verbunden, so kennen wir doch dieses gemeinsame Prinzip nicht und können daher von ihm aus nichts ableiten, also nichts erklären, folglich können wir nichts anderes tun, als beide Prinzipien als regulative behandeln, uns an dem Widerstreit zwischen ihnen nicht stoßen und uns dabei be-ruhigen, daß doch wenigstens die Möglichkeit bestehe, sie seien im Übersinnlichen in einem gemeinsamen Prinzip auch objektiv vereinbar. [©•]

Wenn aber auch der Grund der Vereinbarkeit beider in dem liegt, was weder Mechanismus noch Zweckverbindung ist, nämlich im Übersinnlichen, so ist für unsere Vernunft die Verknüpfung nicht anders möglich, als durch Unterordnung des Mechanismus unter die Zweckverbindung.

Denn wo Zwecke gedacht werden, da müssen auch Mittel da sein, und die für sich selbst rein mechanisch und absichtlos wirkenden Naturkräfte sind solche Mittel. (UKr § 78.)

Hier kommt wiederum die Analogie mit dem in-telligibeln Charakter schön zum Ausdruck. Die gesamte empirische Kausalität, die den Charakter der Notwendig-keit trägt, wird durch das Vorhandensein eines zweiten übergeordneten Prinzips keineswegs gestört, sondern nur geleitet.

Goethe hat eine seiner prächtig prägnanten Wendungen gefunden, um Teleologie und Mechanismus in einem Satz zu verbinden: „Der Fisch ist durch das lvasser und für das Wasser, der Vogel durch die kuft und für die Luft da". „Das Auge ist gebildet für das Sicht und durch das Licht".

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362 Teleologie,

Das ist zweifellos die kürzeste und unbefangenste Be­schreibung der Tatsachen. Daß Augen nur am ficht entstehen und in der Dunkelheit zurückgebildet werden, ist Tatsache. Daß sie die Funktion haben, ficht auf­zunehmen, ist ebenso Tatsache. Und es wird durch die zugespitzte Formulierung nur umso intensiver die Auf-merksamkeit auf das große Rätsel gelenkt, das man als Anpassung bezeichnet, die wunderbare Erscheinung, daß durch mechanische Einwirkung der Umgebung in manchen Fällen Formen erzeugt werden, die den Gr-ganismus gerade für diese Umgebung gut tauglich machen.

Wie und wodurch diese Anpassung aber mögli ch, d. h. wie sie zu erklären sei, dieses Geheimnis hat die Natur auch seinem„reinen bescheidenen Anschaun" nicht verraten.

§ \02.

Der Newton des Grashalms.

Die Vernunft muß im Herbeirufen des ideologischen Prinzips behutsam verfahren, nicht jede Technik der Natur, wie etwa die regulären Körper, darf sie teleologisch erklären, lver aber auch bort, wo sich unleugbar eine Beziehung auf eine andere Art von Kausalität zeigt, darauf besteht, nur den Mechanismus gelten zu lassen, der wird ebenso phantastisch und schweift so in Hirngespinsten von Natur-vermögen herum, die sich gar nicht denken lassen, wie eine bloß teleo-logisch erklärende Vernunft schwärmerisch wird.

<£s ist ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger erklären können, und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, ober zu hoffen, daß noch

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§ to2. Der Newton des Grashalms. 363

dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen. Daß aber auch in der Natur, wenn wir bis zu den Prinzipien vordringen könnten, die der Spezi-fikation ihrer allgemeinen Gesetze zugrundeliegen, ein solcher unab-sichtlicher Mechanismus nicht trotzdem genügen könne, das wäre vermessen geurtei l t , woher wollen wir das wissen? (UKr § 75 . )

<2s ist charakteristisch für Koni, und es zeigt, wie schweres Unrecht man ihm tut, wenn man ihn als einen „mechanistischen Denker" bezeichnet, daß er zur Zeit seiner größten mechanischen Leistung, als er ausrufen durfte: Gebt mir Materie und ich will euch eine Welt daraus bauen, unmittelbar hinzufügt:

Eher wird die Bildung aller Himmelskörper, die Ursache ihrer Bewegungen, der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des ZVeltbaues eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund werden wird.

(Es ist mir eigentlich unbegreiflich, wie man selbst in der begeistertsten Darwin - Lpoche je der Meinung sein konnte, dieser Satz sei widerlegt. Wenn Darwin mit all feinen Hypothesen recht hätte, wäre dadurch die Entstehung eines Grashalms mechanisch erklärt?

§ *03.

Teleologie und Theologie.

3m „einzig möglichen Beweisgrund" unterscheidet Kant zweierlei j)hysikotheologie, eine oberflächliche, die jeden einzelnen ihr unverständlichen Vorgang dem un­

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Tcleologie,

mittelbaren Eingreifen Gottes zuschreibt, und eine tiefere, die die Naturgesetze so wirksam sein läßt wie nur möglich, alles was de facto geschieht, als natürliche Folgen aus ihnen ableitet, aber die ganze Natur in all ihrer Harmonie und Gesetzlichkeit nicht anders begreifen kann als abhängig von einem einzigen Urwesen.

Wenn man alles direkt auf den göttlichen Urheber schiebt, so werden der Naturforschung Grenzen gesetzt. Die erniedrigte Vernunft steht von einer weiteren Untersuchung ab, die sie als Vorwitz empfindet, und das Vorurteil ist um desto gefährlicher, weil es durch das Ansehen von Andacht und Frömmigkeit dem faulen einen Vorzug vor dem unermüdeten Forscher gibt. Wenn man solche Verfasser hört, möchte man meinen, die kaufrinnen der Flüsse wären alle von Gott ausgehöhlt!

3ch erkläre die (Entstehung der Gebirge auf natürliche Weise, weder als wilde Verwüstung der «Erde zur Strafe für unsere Sünden, noch als besondere göttliche «Einrichtung zu unserem Vorteil, und dadurch werde ich darauf aufmerksam, daß auch jetzt noch dauernd neue Betten sich ausbilden ... Die Zupitermonde wären auch da, wenn niemand auf dem Meer den ®rt danach bestimmen wollte, das Wasser würde wagrecht stehen, auch wenn sich niemand darin spiegeln könnte.

Suefjmilch pries es als eine Absicht der Vorsehung, daß mehr Knaben als Mädchen geboren werden, weil dadurch der Verlust durch Kriege oder gefährliche Berufe ausgeglichen werde, hinterher wurde er belehrt, daß die Sterblichkeit bei den Knaben größer fei, so daß die Absicht verfehlt würde. Wahrscheinlich steht diese Merk-Würdigkeit unter einer viel allgemeineren Regel, und es hemmt nur die (Erkenntnis, wenn man anstatt nach den physischen Ursachen zu suchen, überall Zwecke Gottes vermutet. Das ist faule Vernunft.

Die „Theorie des Himmels" raisonniert: Wie kann man es rechtfertigen, daß man die Natur als ein wider­

wärtiges Subjekt ansieht, das nur durch eine Art von Zwang, der

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§ tos. Teleologie und Theologie. 565

ihrem freien Betragen Schranken setzt, im Gleise der Ordnung und Harmonie erhalten werden kann?

<£s wird dann keine Natur mehr sein, nur ein Gott in der

Maschine, Wenn man dagegen annimmt, daß die weise Idee des Urhebers

der Materie die Fähigkeiten eingepflanzt hat, wodurch sie, sich selbst überlassen, lauter Schönheit, lauter «Ordnung hervorbringt, so wird die Natur uns würdiger erscheinen.

Kant wünscht also nicht einen Gott, der nur von außen stieße, aber vielleicht nicht so sehr, wie Giordano B r u n o u n d G o e t h e ( v g l . £ ? . S t . ) , w e i l d a s G o t t e s nicht würdig wäre, als weil es der Naturwissenschaft nicht würdig wäre, wenn sie mit feinen Stößen beständig rechnen müßte.

Während sogenannte Naturwunder das Gemüt ermuntern, da sie ihm Hoffnung geben, neue Naturgesetze zu entdecken, wird es durch wirkliche Wunder niedergeschlagen, weil es besorgen muß, auch das Zutrauen zu den schon bekannten zu verlieren. (Beweisgrund.)

So ist es also auch in UKr. beständig Kants Sorge, die Entwicklung der Lebewesen nicht „der Natur zu e n t z i e h e n " , w o d u r c h s i e a u f h ö r e n w ü r d e n , N a t u r -Produkte zu sein. (Er legt alles darauf an, Gott nicht „in den Kontext der Naturwissenschaft hineinzubringen", erstens um sie nicht mit Metaphysik zu vermengen und so die Grenzen der Wissenschaften zu verwischen, zweitens um die faule Vernunft zu bekämpfen, die sich „auf den unerforfchlichen Ratschluß der höchsten Weisheit" beruft und sich dann „zur Ruhe begibt, als ob sie ihr Geschäft völlig ausgerichtet habe". (2t tX)

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366 Teleologie.

Niemals darf die Naturforschung den Mechanismus der Natur-Ursachen fallen lassen oder <nt ihm vorübergehen. Wenn wir selbst wüßten, daß ein höchster Architekt die Naturformen unmittelbar geschaffen oder prädeterminiert habe, so würde unsere Naturerkenntnis dadurch nicht im mindesten gefördert, denn da wir die Ideen und die Handlungsweise dieses höchsten Wesens nicht kennen, so ist alles, was wir von oben herab aus seinem Dasein ableiten, völlig in den IPirtd geschlossen.

Etwas anderes ist es, einen solchen Urheber dogmatisch voraus-setzen, etwas anderes, die Erscheinungen bloß so betrachten, als ob sie aus höherer Absicht entsprungen wären, denn durch diese Fiktion gelangt die Vernunft zur größten systematischen Einheit, vermuten wir z. B. eine solche Absicht hinter der etwas abgeplatteten Figur der Erde, so führt das zu einer Menge von Entdeckungen. Nur wenige wissen, daß die Hervorragungen des festen Landes oder auch kleinerer, vielleicht durch Erdbeben aufgeworfener Berge die Achse der Erde kontinuierlich verrücken würden, wäre nicht die Aufschwellung am Äquator ein so gewaltiger Berg, daß alle anderen dagegen nicht ins Gewicht sollen. Und trotzdem kann man diese weise Anstalt ohne Be-denken aus dem Gleichgewicht der ehemals flüssigen Erdmasse erklären Solange man die Voraussetzung bloß als regulatives Prinzip betrachtet, kann sogar der Irrtum nicht schaden.

Durch den Grundsatz: es habe alles an einem Tier seinen Nutzen und seine gute Absicht, erweitert immer die Physiologie ihre sonst beschränkten empirischen Kenntnisse — auch wenn einmal ein Anatom ein tierisches Grgan auf einen falschen Zweck bezieht. Sobald man aber die Idee einer höchsten Intelligenz nicht mehr bloß regulativ zum Aufsuchen von Zusammenhängen, sondern konstitutiv gebrauchen will, so verläßt die Vernunft den Boden der Erfahrung, wagt sich ins Unbegreifliche und Unerforfchliche und wird schwindlicht ...

Man sehe es darum nicht als unwesentlich an, ob man sich sorg-fältig und bescheiden auf den Ausdruck „Naturzweck" einschränkt, der gerade nur soviel sagt, als wir wissen, oder ob man statt dessen von eitlem göttlichen Zweck redet, ja wohl gar den letzteren Ausdruck

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§ 103. Teleologie und Theologie. 567

für schicklicher und einer frommen Seele angemessener ausgebe, weil es am Ende doch dahin kommen müsse, die zweckmäßigen Wonnen von einem weisen Welturheber abzuleiten.

Vb die Naturzwecke es absichtlich oder unabsichtlich seien, ob etwa ein Verstand, nach der Analogie mit dem, was wir bei Tieren Kunst inst inst nennen, durch bloße Notwendigkeit zur Hervorbringung gewisser Formen bestimmt, der Urgrund der Welt sei, davon abstrahiert die Naturlehre völlig, sonst triebe sie Metaphysik, also Einmengung in ein fremdes Geschäft. Genug, gewisse Wesen sind nur unter der Idee der Zwecke erklärbar, ja erkennbar.

Ebenso redet man in der Teleologie ganz richtig von der Weisheit, Sparsamkeit, Vorsorge und Wohltätigkeit der Natur, ohne aus ihr ein verständiges Wesen machen zu wollen, was umgereimt wäre, ohne aber auch ein anderes verständiges Wesen als Werkmeister über sie zu setzen, was vermessen wäre.

Man drückt durch diese Redeweise nur eine Regel aus, nach der man außer nach den mechanischen Gesetzen die Natur erforscht. (UAr. § 68.)

3n Goethes „Bildungstrieb" schlägt ein bißchen „faule Vernunft" durch, wenn er plötzlich alle vernünftige Überlegung durch die Aufforderung abschneidet, Gott zu preisen und anzubeten — doch besinnt er sich sofort, wieder „ins Feld der Philosophie zurückzukehren".

Ebenso gefährlich wie die faule ist die verkehrte Vernunft (perversa ratio), die — anstatt Gott aus der Zweckmäßigkeit der Welt, umgekehrt diese Zweckmäßigkeit von Gott ableiten will. Wenn wir die vollkommene Einheit nicht in demWesen der Naturdinge selber finden, wie wollen wir von ihr auf die Vollkommenheit des Urhebers schließen? Dieser Schluß — er mag gelingen oder nicht — bleibt seiner Idee nach immer richtig, so daß alle Teleologie ihre Vollendung in der Theologie findet. Das umgekehrte verfahren dagegen, Gott dogmatisch vorauszusetzen und von daher der Natur Zwecke vorzuschreiben, vollendet die Teleologie nicht, sondern hebt sie vielmehr völlig auf.

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368 Teleologie.

Indessen, was beweist am Ende auch die allervollständigste Teleologie? Zunächst läßt sie bloß auf Intelligenzen schließen, es mögen eine oder mehrere fein, die einen Uunstverstand haben. Aber auf ein weises oder gar das denkbar weiseste Wesen komme ich so nicht. Dazu müßte ich nicht nur unsere Welt als Ganzes übersehen können, sondern auch alle übrigen Welten, die möglich wären. Beweist sie aber überhaupt die Existenz irgend eines verständigen Urwesens? Nein. Sondern nur, daß wir nach der Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens ein solches voraussetzen müssen. Objektiv sönnen wir darüber gar nicht urteilen, weder bejahend noch verneinend. Da aber unser subjektives und dem menschlichen Geschlecht unoer» weibliches Urteil auch zu jeder menschlichen Absicht vollkommen genugtut, so möchte ich wissen, was uns dabei abgehe, wenn wir es nicht aus objektiven Gründen beweisen können. (U.Kr. § 75.)

Ls ist höchst interessant und wichtig, wie Kant immer wieder darauf hinweist, daß nur wir durch die Analogie mit unserem eigenen Handeln gezwungen sind, ein Wesen mit Verstand und Willen hinter der Natur zu suchen, daß aber in Wirklichkeit auch ein blinder Trieb alles Zweckmäßige hervorgebracht haben könnte.

(Ein jedes Ding in der Natur wirkt nach Gesetzen, aber nur das vernünftige Wesen hat das vermögen, nach der Vorstellung von

Gesetzen zu wirken.

Und um dieses dreht also Kant den Streit: sind die Gesetze, die uns an den Organismen in Verwunderung setzen, von irgend einem Wesen vorgestellt? oder kommen sie dumpf und unbewußt aus dem Grunde der Natur heraus?

(Es wird im q. Hauptstück § \62 berichtet, wie für Kant einzig und allein die ITCotaltheologie zu einem

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% X.04- Mathematik als „eigentliche Wissenschaft". 369

einheitlichen Gottwesen führt, während die bloße physiko-theologie keine Mittel hat, zu beweisen, daß nicht entweder ein solcher dumpfer Trieb ohne allen verstand oder eine Reihe von Dämonen die lvelt geschaffen habe. Zur Not könnte also Kant von sich sagen: er'sei als Naturforscher Pantheift oder polythcift, und nur als sittlicher Mensch unbedingt Monotheist.

Drittes Kapitel.

Mathematik. § *0*.

Kants Viktum über Mathematik als „eigentliche Wissenschaft".

tfenn ein „Gebildeter" die Reizworte „Kant" und „Mathematik" hört, so reagiert er prompt mit der Sentenz:

In jeder Naturlehre ist nur soviel eigentliche Wissenschaft enthalten, als darin Mathematik enthalten ist.

Und daß dieser Satz zu einer der Barrieren zwischen Kant und Goethe gemacht wird, versteht sich. Aber auch hier tut äußerste Vorsicht not. Der Satz steht in Kants Schriften, soviel mir bekannt ist, nur an einer einzigen Stelle. Schon das deutet, im Vergleich zu den endlosen Wiederholungen alles dessen, was ihm wichtig erscheint, darauf hin, daß ihm dieser Gedanke vielleicht nicht be­sonders wichtig erschien.

Außerdem ist der Zusammenhang, in dem er dort (nämlich in der vorrede zu M. A.) steht, ein äußerst kom--

24

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370 Mathematik.

plizierter. Line ganze Reihe mehr oder weniger raf­finierter Einteilungen liegt ihm zugrunde.

V Wissenschaft ist jede kehre, die ein nach Prinzipien ge-ordnete? System sein will. Aber je nachdem, ob die Prinzipien a priori oder empirisch gefunden sind-, ist sie historisch oder rational.

2. Das lvort „Natur" hat zwei Bedeutungen, a) ist es Inbegriff aller Gegenstände der Sinne, b) das innere Prinzip des Daseins eines Gegenstandes. 3. Zn der Bedeutung a) umfaßt Naturlehre die Gegenstände

des äußeren Sinnes als Kötperlehre und die Gegenstände des inneren Sinnes als Seelenlehre und diese beide könnten laut v historische oder rationale Wissenschaft sein.

<*. In der Bedeutung b) kann es aber eine historische Natur« Wissenschaft gar nicht geben. Denn da das töort Natur schon von selbst den Begriff von Gesetz und Notwendigkeit „bei sich führt", so kann eine Wissenschaft von der Natur der Dinge nur eine solche sein, die apodiktische Gewißheit in Anspruch nimmt, also eine solche, die ausschließlich auf apriorischen Grundsätzen beruht.

Folglich muß alles, was sich bloß auf Fakta bezieht, von der Naturwissenschaft abgetrennt und bloß als „Natur-kehre" bezeichnet werden. Diese zerfällt (nach § 76) in Naturbeschreibung und Natur­geschichte, die Naturwissenschaft aber .

5. in eigentliche und uneigentliche oder auch (wovon ich nicht sicher weiß, ob es dasselbe ist) in reine und angewandte.

Was aber nun die „reine Dernunfterfenntnis a priori" anlangt,

so ist sie 6. entweder (Erkenntnis aus bloßen Begriffen, d.i. Metaphysik,

oder Erkenntnis durch Konstruktion der Begriffe, d. i. Mathematik. Die Metaphysik ist für alle „eigentliche" Naturwissenschaft die

erste Voraussetzung. Sie beschäftigt sich mit allem, was zum not-wendigen Dasein eines Dinges gehört, und zwar kann sie das

7. entweder so tun, daß sie überhaupt sich auf kein bestimmtes Lrfahrungsobjekt bezieht, dann ist sie transzendental, oder sie

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§ Mathematik als „eigentliche Wissenschaft". 3?\

setzt zwar einen empirisch gefundenen Begriff wie den der Materie oder den eines denkenden tüefens voraus, schließt ober dann a priori, soviel als sich aus diesem Begriff eben schließen läßt. Im zweiten Fall heißt sie „besondere metaphysische Naturwissenschaft", und zwar je nach ihrem Gegenstand Körper- oder Seelenlehre (Physik oder Psychologie).

N?as aber kann nun eigentlich in der besonderen Naturwi>senschaft a priori erkannt werden? Rein gedanklich lassen sich allerlei Dinge für möglich halten, um aber zu erkennen, daß bestimmte Naturdinge wirklich möglich seien, dazu ist noch nötig, daß die dem Begriff korrespondierende Anschauung a priori gegeben werden könne, d. i. daß der Begriff konstruiert werde.

Folglich wird in jeder besonderen Naturlehre nur soviel eigent-liche Naturwissenschaft stecken als darin Mathematik steckt.

ZtTan muß hier noch die Erörterungen aus den „Ana-logten der Erfahrung" in RV hinzunehmen, wo gezeigt wird, daß das lUatenale, das Qualitative der Empfindung immer gegeben fein muß, dagegen das rein zahlen-mäßige a priori konstruiert werden kann.

Man sieht, es ist gar nicht so leicht, zu diesem Exkurs in der Vorrede der ITT. A. Stellung zu nehmen. Zunächst hat man sich über die mehr als seltsame Bestimmung hinwegzusetzen, daß, weil eine Lehre von der Natur der Dinge ihr notwendiges, aus ihrem innern Prinzip fließendes Dasein betreffen muß, das bloße Beschreiben von Fakten nicht Naturwissenschaft, sondern Naturlehre heißen soll. Folgerichtig müßte man erwarten, daß Kant das ihm zweideutig erscheinende Wort „Natur" vermeide, wo nicht von inneren Notwendigkeiten die Rede ist. Ander-

24«

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372 Mathematik,

feite ist das Ergebnis, daß nur rechnerische Verhältnisse sich a priori genau bestimmen lassen, einwandfrei.

<Nn Beispiel für eine Naturlehre, die nicht eigentliche Wissenschaft genannt werden kann, ist die Chemie,

solange als nicht ein Gesetz für die Annäherung und (Entfernung der Teile der Materie gefunden wird, welches gestattet, ihre Bewegungen im Raume anschaulich zu machen und die chemischen Wirkungen daraus zu erschließen. Da das aber eine Forderung ist, die schwerlich jemals erfüllt werden wird, so kann Chemie nur „systematische Kunst" oder Lxperimentallehre heißen.

Noch weiter aber als die Chemie muß die empirische Seelenlehre von dem Rang einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt bleiben. Nicht nur, weil die Mathematik hier nur einen verschwindenden Anteil haben kann, sondern auch, weil die Psychologie aus einer sehr unsicheren und nur für das eigene Subjekt gültigen inneren Beobachtung beruht, die feinem anderen aufbewahrt und vorgezeigt werden kann, weil also von einer Seelenwissenschaft überhaupt feine Rede sein kann, so habe ich kein Bedenken getragen, dieses tüerf, obwohl es nur die Grundsätze der Körpermissenschaft enthält, als Anfangsgründe der „Naturwissenschaft" zu bezeichnen.

Biese metaphysischen Anfangsgründe sind die Voraussetzung für die Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre. Sie enthalten nur die Prinzipien, wie die Begriffe, die zur Möglichfeit der Materie gehören, fonftruiert werden können. Während sonst in der physica generalis metaphysische und mathematische Konstruktionen durch­einanderlaufen, habe ich hier die ersteren abgesondert und in einem besonderen System dargestellt. Dabei wird als Grundbestimmung für etwas, was ein Gegenstand äußerer Sinne fein soll, Bewegung angenommen, und auf sie alle übrigen Prädikate zurückgeführt. Die Naturwissenschaft wird also durchgängig entweder reine oder ange­wandte Bewegungslehre.

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373

§ *05.

über die Wertung dieses Satzes, tvar Kant Mathematiker?

Am kürzesten gelangt man zu der richtigen Ein­schätzung, wenn man sich fragt, ob Goethe beleidigt ge-wesen wäre, hätte man seine Dptik als Natur-,, Lehre" oder auch als „systematische Kunst" bezeichnet? Ls wird schwerlich jemand sich zu der Absurdität versteigen, diese Frage zu bejahen.

Übrigens plaudert Kant gelegentlich aus, daß „in seinen Gegenden" der gemeine Mann, wenn man ihm eine Taschenspielerei vorlegt, zu sagen pflege: „€i das ist keine Kunst, das ist nur eine Wissenschaft". Das heißt: wenn man es weiß, so kann man es. Dagegen das Seil-tanzen ist eine Kunst. Gne Herabsetzung ist es also nicht, wenn etwas nicht „eigentliche Wissenschaft" genannt wird. Auch hier wiederum muß man sich hüten, jede Ein­teilung und Absonderung als eine wertende anzusehen. So wenig „reine Schönheit" höchste Schönheit ist, so wenig ist „reine Wissenschaft" für Kant die wichtigste und interessanteste geistige Tätigkeit. Was gewiß am schla­gendsten daran zu demonstrieren ist, daß er selber eine große Zahl von naturwissenschaftlichen Arbeiten geliefert hat, in denen die Mathematik eine verschwindende Rolle spielt. Außer in der Studentenschrift über die lebendigen Kräfte findet sich bei ihm kaum eine einzige Formel. Sein Denken war ein rein anschauliches. Wenn er Mathe­

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2 7H Mathematik.

matik sagt, meint er Geometrie. (Es herrscht, soviel ich sehe, unter den Mathematikern Einmütigkeit darüber, daß Kant nicht zu ihnen gehört, er hat sich aber auch selbst niemals zu ihnen gerechnet und redet von dieser Gilde immer in der dritten Person.

höchst wesentlich ist in diesem Zusammenhang der Umstand, auf den ich schon hinwies (§ 73), daß er feine Gleichnisse — außer von der ihm als fasert stabiler nahe liegenden Seefahrt — regelmäßig aus der belebten Natur hernimmt. Jeder Schriftsteller, fofern er nicht anspruchslos genug ist, um mit fertig bezogenen Klischees fein Auslangen zu finden (der „rote Faden", der „Nagel auf dem Kopf", der „Schuß ins Schwarze" find solche Fabrikware) wählt seine Bilder aus dem Gebiet, das ihm das liebste oder das vertrauteste ist. ZVäre Kant seinem geistigen Habitus nach Mathematiker und Physiker, so würde er seine Bilder aus Mathematik und physii holen und nicht fast ausschließlich aus der Biologie.

§ 106.

Die Grenzen der Mathematik.

Unermüdlich betont Kant den Unterschied zwischen philosophischem und mathematischem Denken und unisono mit Goethe spricht er: Mathematik in allen Ehren, wo sie hingehört, wo sie aber nicht hingehört, macht sie sich bloß unnütz.

Zum Beispiel hören wir im einzig möglichen Beweis­grund:

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§ 106. Die Grenzen der Mathematik. 375

Die Methodensucht, die Nachahmung des Mathematikers, der auf eiltet wohlgebauten Straße sicher fortschreitet, auf dem schlüpfrigen Boden der Metaphysik hat eine Menge Fehltritte verursacht.

(Dbet in der „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze":

Man kann mit dem Bischof Warburton sagen, daß nichts der Philosophie schädlicher gewesen sei als die Nachahmung der Mathematik dort, wo sie unmöglich gebraucht werden kann. Etwas anderes ist es, ihre Sätze in den Teilen der Philosophie anzuwenden, wo man es mit Größen zu tun hat. £?iet ist ihr Nutzen unermeßlich.

fröret nun Goethe! Hecker <28v Wir müssen erkennen, was Mathematik fei, wozu sie der Natur-

forschung dienen könne, wo sie hingegen nicht hingehöre, und in welche klägliche Abirrung Wissenschaft und Kunst durch falsche An-wendung geraten sind.

Hecker <ZSI: Man hört, nur die Mathematik fei gewiß; sie ist es nicht mehr

als jedes andere Wissen und Tun. Sie ist gewiß, wenn sie sich klüglich nur mit Dingen abgibt, über die man gewiß werden und in sofern man darüber gewiß werden kann.

Vder Hecker *390/9 v Das ist eben das Hohe der Mathematik, daß-ihre Methode

gleich zeigt, wo ein Anstoß ist. Fanden sie doch den Gang der himm-lifchen Körper nicht ihren Rechnungen gemäß und warfen sich auf die Annahme von Störungen, und diese stören noch immer zuviel oder zu wenig.

In diesem Sinne kann man Mathematik als die höchste und sicherste Wissenschaft ansprechen, aber wahr kann sie nichts machen, als was wahr ist.

Der Ton ist aufs Z?aar der gleiche. Kant suchte seine Wissenschaft, die Philosophie, von unbefugtem hinein­

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376 Mathematik.

wuchern mathematischer Methoden genau so zu reinigen wie Goethe feine, die Gptik. Dafür gibt es Belege in Kants sämtlichen Schriften, die ich natürlich nicht alle hier zitieren mag. Nur aus Rv. sei noch eine der von Goethe hervorgehobenen Erörterungen über dieses Thema an­geführt.

RV. (Architektonik der reinen Vernunft). Für den Philosophen ist es genau so wichtig, unsere Erkenntnisse

nach ihrem Ursprung zu isolieren, wie das Scheiden der Materien für den Chemiker. Bisher ist aber die Grenzbestimmung des a priori und des aposteriori selbst bei Denkern von Gewerbe sehr undeutlich geblieben. Wenn man sagt: Metaphysik ist die Wissenschaft von den ersten Prinzipien der Erkenntnis, wo soll man den Abschnitt machen, was noch zu den ersten gehört? Gehört der Begriff des Ausgedehnten zur Metaphysik? Ihr antwortet: Ja. Auch der des Körpers? )a. Und der des flüssigen Körpers? Ihr werdet stutzig, denn wenn es so weiter geht, wird alles in die Metaphysik gehören. Was aber noch von einer anderen Seite die Grundidee der Metaphysik verdunkelte, das war, daß sie eine gewisse Gleichartigkeit mit der Mathematik insofern zeigt, als sie ebenfalls a priori entspringt. Weil aber die eine durch Begriffe, die andere durch die Konstruktion der Begriffe urteilt, so ist doch auch eine entschiedene Ungleichartigkeit da, die man fühlte, aber nicht auf deutliche Kriterien bringen konnte. Dadurch ist es geschehen, daß die Philosophen selbst in der Entwicklung der Idee ihrer Wissenschaft fehlgingen und sie endlich sogar bei sich selbst in Verachtung brachten.

Dieses also ist der eine Grund, warum in Kants Schriften so außerordentlich viel von Mathematik die Rede ist. Philosophie und Mathematik fand er eng verknüpft vor und mußte immer davor warnen, ihre Methoden zu verwechseln.

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57?

§ 107.

lvas die Mathematik für die Philosophie bedeutet.

Außer diesem negativen Motiv gab es allerdings auch ein positives, um die Mathematik in das System hinein-zuziehen. Denn sie mußte als Beispiel dafür dienen, daß es überhaupt Erkenntnisse a priori gibt.

Rv. Vorrede,

Dem ersten, der den gleichschenkligen Triangel demonstrierte, dem ging ein ficht auf, denn er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sah, nachspüren und davon ihre Eigenschaften ablernen müsse, sondern — um sicher etwas a priori zu wissen — der Sache nichts beilegen dürfe, als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hatte.*)

Daß Goethe der Geometrie die Vorzugsstellung nicht streitig machen wollte, die plato und Kant ihr in der Philosophie einräumen, zeigt der Spruch:

Wenn der Knabe zu begreifen anfängt, daß einem sichtbaren Punkt ein unsichtbarer vorhergehen müsse, daß der nächste Weg zwischen zwei Punkten schon als £inie gedacht werde, ehe sie mit dem Bleistift aufs Papier gezogen wird, so ist ihm die (Quelle alles Denkens ausgeschlossen. Der Philosoph entdeckt ihm nichts Neues, dem ©eometer war von feiner Seite der Grund alles Denkens auf-gegangen. Wecker 656.)

Das ist genau der kantische Gedankengang. Seht die Geometrie, da herrscht Aprioritat, da geht euch das Wesen alles Denkens auf.

*) Diese Erklärung des Begriffes „a priori" ist sehr wichtig und f chütjt vor Mißverständnissen.

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378 Mathematik,

Oder Hecker *276: Wenn in der Mathematik der menschliche Geist seine Selbständigkeit

und unabhängige Tätigkeit gewahr wird, flößt er zugleich der Er-fahrungswelt ein solches Zutrauen ein, daß man sie überall zu Ejiilfe ruft.

Seltsam ist die Frage: lvas hat denn der Mathematiker für ein Verhältnis zum

Gewissen? was doch das höchste, das würdigste Erbteil des Menschen ist? (Hecker *392.)

Kant würde sagen: als Mathematiker keines, als Mensch dasselbe wie jeder andere auch.

Von alledem, was Goethe den Mathematikern vor-wirft, z. 23.,

daß sie sogar das Unmeßbarste, welches wir Gott nennen, mit-zuerfassen glauben (Hecker 1236)

trifft nichts, aber auch wirklich gar nichts den Stand-punkt Kants.

<Ls mögen im einzelnen Abweichungen zwischen ihnen darin bestehen, welche Gebiete der eine oder der andere gerade als für Mathematik geeignet ansah, und welche nicht. Aber Abweichungen sind keine Gegensätze. Nur wenn Kant seiner ganzen Natur nach ein echter Mathe­matiker wäre, wenn er alles in Formeln fangen wollte und auf die nichtmathematischen Wissenschaften veräch»-lich herabsähe, wenn auf der anderen Seite Goethe völlig unfähig gewesen wäre, den Eigenwert der Mathematik zu begreifen und zu schätzen, — dann könnte man von einem Gegensatz reden. Beide Voraussetzungen treffen nicht zu.

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579

§ 108.

Kants sogenannte „mechanistische Naturauffassung

Dieser Ausdruck läßt verschiedene Deutungen zu, und je nachdem wie man ihn deutet, darf man Kant eine solche Auffassung zuschreiben und darin einen Gegensatz zu Goethe erblicken oder nicht.

Kant bezeichnet es in HTA., wie ich in § am (Ende zitierte, als die Aufgabe der „eigentlichen" Naturwissen-schaft, alle Prädikate auf Bewegung zurückzuführen. Das ist eine Forderung, die man zu Lnde des 19. Jahrhunderts mit dem Ausdruck „mechanistisch" belegte. In diesem modernen Sinn war also Kant Mechanist. Indes be­schrankt sich bei ihm diese Tendenz völlig auf die phyfif und wird nie „Weltanschauung" wie bei manchen Denkern des 19. Jahrhunderts. Ich erinnere an § HZ (Kant kontra Dubois-Reymond). Ich gebe ausdrücklich zu, daß diese Tendenz, wie immer eingeschränkt sie sich auch bei Kant finde, Goethe fremd gewesen ist. (Es ist aber überhaupt ein Anachronismus, von mechanistischer Naturauffassung in diesem Sinn zu reden, wenn man an Kants und Goethes Zeit denkt. Denn damals hieß der Gegensatz innerhalb der Physik „mechanisch-atomistische" oder „dynamische" Theorie. Und hier standen Goethe und Kant auf der gleichen Seite. Davon mehr in § *09.

Außerhalb der Physik gibt es noch in der Biologie einen Gegensatz zwischen mechanistischer und teleo-logischer oder vitalistischer Auffassung, und wie wenig

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580 Mathematik.

Mechanist Kant auf diesem Gebiet war, davon hat das ganze vorige Kapitel gehandelt.

Line Schwierigkeit für das Verständnis hat er sich hier wieder, wie jo oft, durch seine unglückliche Termins-logte geschaffen. Denn er gebraucht tatsächlich die Aus-drücke „Natur" und „Naturmechanismus" oder gar „Mechanismus" allein, als wären es Synonyme. Sofern ist es denen, die sich gerne an Worte halten, nicht zu ver-denken, wenn sie sich die Vorstellung gebildet haben, für Kant sei Natur überhaupt nichts anderes als ein ab­straktes Begriffs- oder Gesetzeskonglomerat.

Nach der wissenschaftlichen Definition des Züortes ist Natur, bei Kant der Inbegriff aller Gegenstände der Sinne, sofern er unter Verstandesgesetzen steht und in dieser Bedeutung ist der „Naturmechanismus" wie er es einmal (in j)rv.) sogar ausdrücklich sagt, schlechterdings identisch mit der Kausalität, die ihm ja stets Typus und Repräsentant aller Verstandesgesetze ist. Diese in die Verstandeskategorien eingefangene Natur ist es, die mathematisch gefaßt werden soll. Aber es ist naiv zu glauben, dies sei für Kant der vollständige Begriff der Natur. (2s ist der allgemeinste und darum auch leerste. Alles Tiefere, höhere, Wertvollere ist nicht in ihm ent­halten. Diese Natur ist es nicht, die er meint, wenn er bewundernd schildert, wie die Natürlich selbst organisiert", wie „die innere Möglichkeit der freiwirkenden Natur alle Kunst und vielleicht sogar die Vernunft erst möglich macht", wie „die Natur durch dasGenie der Kunst dieRegel gibt."

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§ H09- Atomismus und Darwinismus. 38J

<2in produktives geheimnisvolles vermögen ist ihm Natur, das in pflanzen und Tieren von innen heraus das Wunderbarste schafft, das im Menschen ihm selbst unver-ständlich aus unergründlicher Tiefe heraus gestaltet.

Wir haben es also bei Kant mit zwei total ver--schiedenen Naturbegriffen zu tun.

lveil aber der „Naturmechanismus", die kausal strukturierte Natur, die Schöpfung des Menschengeistes ist, eben darum weisen alle Beobachtungen einer nicht-kausalen Struktur, also im Sittlichen die Freiheit, im Lebendigen die Zweckbezogenheit, unmittelbar auf das hin, was diesem Geiste transzendent ist, auf das über-sinnliche Substrat der Welt. Dieser Gedanke ist das Zentrum des gesamten Rantischen Systems, von ihm aus muß alles übrige verstanden werden.

Und von diesem Grundgedanken glaube ich, daß ihn Goethe besser verstanden hat als die meisten Kantianer, daß es ihm darum niemals passieren konnte, Kant einer mechanistischen Naturauffassung zu verdächtigen.

§ *09.

Atomismus und Dynamismus.

lvar Goethe ein Anhänger der dynamischen Theorie der Materie, so war Kant ihr Schöpfer, und dieses Faktum war Goethe bekannt, da er die „Metaphysischen Anfangsgründe" studiert hat.

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382 Mathematik.

Am Schluß der „Dynamik" sagt Kant ungefähr folgendes:

Hin die spezifischen Verschiedenheiten der Materie zu erklären, kann man zwei Wege einschlagen, den mechanischen und den dynamischen. Im ersten Lall denkt man sich die Materie gebildet aus Atomen und absolut leeren Zwischenräumen, wo dann ihre Unterschiede durch die spezifische Gestalt der Atome und die Weite der leeren Räume bedingt sind. Zm zweiten Lall sieht man die Atome nicht als starre undurchdringliche Gebilde an, sondern als Kraft* Zentren für Anziehung?- und Abstoßungskräfte.

Das folgende hat Goethe hervorgehoben: €tn Körper, dessen bewegende Kraft von seiner Figur abhängt,

heißt eine Maschine. Die Erklärung der spezifischen Verschiedenheiten der Materie aus der Beschaffenheit ihrer kleinsten Teile als Maschinen ist die mechanische Naturphilosophie, diejenige aber, welche die Materien nicht als bloße Werkzeuge äußerer bewegender Kräfte auffaßt, sondern ihre Verschiedenheiten aus ihnen ursprünglich eigenen bewegenden Kräften ableitet, kann die dynamische Natur-Philosophie genannt werden.

Die mechanische Lrklärungsart, da sie der Mathematik am fügsamsten ist, hat unter dem Namen der Atomistik oder Korpuskular-Philosophie mit weniger Abänderung vom alten Demokrit an bis auf Cartefen und selbst bis auf unsere Zeiten Ansehen und Einfluß auf die Naturwissenschaften behalten ... Man gab vor, den Unterschied der Dichten nicht anders begreiflich machen zu können, als durch die leeren Räume innerhalb der Materie und man nahm sie so verteilt an, wie matt sie nötig fand, unter Umständen so groß, daß der erfüllte Teil des Volumens gegen den leeren beinahe für nichts zu halten wäre. Der Lxperimentalphilosophie ist aber die dynamische Erklärung weit angemessener und förderlicher, weil sie darauf leitet, die den Materien eigenen Kräfte und deren Gesetze herauszufinden, dagegen die Freiheit einschränkt, leere Zwischenräume und Grundkörperchen von bestimmten Gestalten anzunehmen, die beide sich durch kein

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§ 1,09- Atomismns und Dynamismus. 383

Experiment bestimmen lassen.*) lvir müssen also bloß das Postulat der mechanischen Erklärungsart widerlegen: daß es unmöglich fei, sich den Dichteunterschied der Materie ohne Beimischung leerer Räume zu denken [((5)].

Ist bei gleicher Anziehungskraft die Zurückstoßung verschieden, so müssen dadurch die Materien verschieden ausgedehnt sein. Außer diesem aber darf kein Gesetz auf Mutmaßungen a priori gewagt, sondern alles aus Datis der Erfahrung geschlossen werden. Dies gilt sowohl für die Schwere als für die chemischen Verwandtschaften. Denn es ist überhaupt über dem Gesichtskreis unserer Vernunft gelegen, die Möglichkeit ursprünglicher Kräfte a priori einzusehen, vielmehr besteht alle Naturphilosophie in der Zurückführung gegebener, dem Anschein nach verschiedener Kräfte auf eine geringere Zahl, die zur Erklärung eben zulangen. Diese Reduktion geht nur bis zu Grundkräften fort, über die unsere Vernunft nicht hinaus kann (Ltrphänomene!) Alles, was die Metaphysik zur Konstruktion der Materie, mithin zur Anwendung der Mathematik auf Naturwiffenfchaft leisten kann, ist, die Raumerfüllung dynamisch zu erklären und nicht als eine unbedingte ursprüngliche Konfiguration, wie sie etwa eine bloß mathematische Behandlung postulieren würde.

Gn Dutzend Seiten vorher sagt Kant: Die mathematisch- mechanische Erklärungsart hat einen

Vorteil über die metaphysisch-dynamische; denn die Möglichkeit der Gestalten sowohl als der leeren Zwischenräume läßt sich mit Evidenz bartun; dagegen wenn der Stoff selbst in Grundkräfte ver­wandelt wird, gehen uns alle Mittel ab, diesen Begriff zu kon-struieren. Aber diesen Vorteil büßt die mathematische Physik auf der anderen Seite doppelt ein, weil sie mit der Einstreuung der leeren Räume der Einbildungskraft zuviel Freiheit lassen muß.

*) Das war zu Kants Zeiten richtig. Die heutige Physik hat Methoden gefunden, um die Bestimmung der leeren Ztäiime der bloßen Einbildungskraft zu entziehen.

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38) Mathematik.

„Der Stoff selbst wird in Grundkräfte verwandelt".

Das ist das Wesentliche an dieser Theorie: daß nicht ein Wesen, Materie genannt, unter andern (Eigenschaften auch anziehende und abstoßende Kräfte „besitzt", sondern daß ohne diese Kräfte überhaupt keine Materie existieren würde.

Aber nicht bloß in dieser speziellen Gestalt zur <Lr-Märung der „Möglichkeit der Materie" hat Kant den Dynarnisrnus vertreten. In seiner Vorrede zu Soemmetings „Organ der Seele", einer Schrift, von der wir wissen, daß Goethe sie kannte, finden wir die bezeichnenden töorte:

N?ie wäre es, wenn ich statt der mechanischen Organisation, die darauf beruht, daß die Teile in gewisser Gestalt nebeneinander gedacht werden, eine dynamische Organisation vorschlüge, die nicht wie jene auf mathematischen, sondern auf chemischen Prinzipien beruht?

Soemmertng hatte das GeHirnwasser als sensorium commune, also als den (Drt angesehen, in welchem die (Empfindungen vereinigt, vermittelt, gesondert werden. Kant ergänzt nun diese Vorstellung durch den Gedanken, daß ein jeder Nervenreiz die Gehirnflüssigkeit in ihre Urftoffe zersetze, die sofort nach Aufhören des Reizes wieder zusammenflössen.

So könnte man sagen: das Wasser werde kontinuierlich organisiert, ohne je organisiert zu sein.

Nebenbei kreidet es der Philosoph dem Physiologen an, daß er die unlogische Forderung erhebt, den „Sitz

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§ uo. Polarität. 385

der Seele" kennen, das heißt das Unräumliche räumlich lokalisieren zu wollen, lvie Goethe (A 78) auf diesen dilettantischen Philosophierversuch des Mediziners reagiert, wie er den Titel „vom Organ der Seele" im Sinne Kants verbessert in „von den Kirnenden der Nerven", das habe ich bereits in § 74 erwähnt.

Aber auch ganz allgemein im übertragenen Sinn muß Kants Denken als ein dynamisches charakterisiert werden. Er führt das Wort Tugend auf feinen antiken Sinn zurück, als Tüchtigkeit, Tapferkeit. Statische Tugend, Tugend aus Gewohnheit, hat keinerlei tPert, sie muß ein beständiges Kämpfen und Streben fein. Auch die Kategorien haben diesen dynamischen Charakter. Sie sind Vorgänge, Akte nicht Lächer. Weitere Bei­spiele folgen.

§ UO.

Polarität.

Kants dynamische Theorie der Materie, insbesondere der von Goethe speziell angestrichene Lehrsatz 6:

Durch bloße Anziehungskraft ohne Zurückstoßung ist keine Materie möglich.

hat offenbar eine reiche Fülle von Assoziationen in ihren ausgelöst. tDir lesen in der „Campagne",

Ich hatte mir aus Kants Naturwissenschaft nicht entgehen lassen, daß Anziehung?- und Juriickstoßnngskraft zum Wesen der Materie gehören, und feine von der anderen im Begriff der Materie getrennt werden könnte. Daraus ging mir die Urpotarität aller lvesen hervor ...

25

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386 Mathematik,

Und in bcm Brief an den Physiker Schweigger ( A ^ 5 5 ) :

Seit unser vortrefflicher Kant mit dürren Vorteil sagte, es lasse sich keine Materie ohne Anziehung und Abstoßung denken (das heißt doch wohl nicht ohne Polarität), bin ich sehr beruhigt, unter dieser Autorität meine Weltanschauung fortsetzen zu können nach meinen frühesten Überzeugungen, an denen ich niemals irre geworden bin.

lver weiter nichts kennt als den oben zitierten Lehrsatz, dem könnte Goethes (Erweiterung zu einer Urpolarität kühn und willkürlich erscheinen; was wird er aber zu der folgenden Stelle sagen?

Manche Vorstellungen reihen sich durch Verwandtschaft affinitas aneinander. Das Wort erinnert an eine ans der Chemie genommene analoge Wechselwirkung zweier spezifisch verschiedenen, innigst auf einander wirkenden und zur Einheit strebenden Stoffe, wo diese Vereinigung ein Drittes bewirkt, dessen Eigenschaften nur durch die Vereinigung heterogener Stoffe erzeugt werden können, verstand und Sinnlichkeit verfchtvistem sich bei all ihrer Ungleichartigkeit doch so von selber, als ob sie von gemeinschaftlichem Stamm ihren Ursprung hätten, wahrend es uns doch ganz unbegreiflich ist, wie das Ungleich­artige aus derselben Wurzel entsprossen fein könne. Man könnte diese Art der Vereinigung die dynamische nennen. Pas Spiel der Kräfte in der leblosen Natur sowohl als der lebenden, in der Seele als dem Körper beruht auf Zersetzungen und Vereinigungen des Ungleichartigen. Wir erfahren ihre Wirkungen, aber ihre oberste Ursache und die einfachen Bestandteile, in die ihr Stoff aufgelöst werden kann, sind für uns unerreichbar. Was mag die Ursache davon fein, daß alle organischen Wesen ihre Art nur durch Vereinigung zweier Geschlechter fortpflanzen? Man kann doch nicht annehmen, das sei bloß ein sonderbares Spiel des Schöpfers, sondern es scheint unmöglich zu fein, sie anders entstehen zu lassen. Anthr. § 29. C.

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§ UO. Polarität. 387

Das heißt doch wirklich die UrPolarität aller Wesen in nackten dürren Worten aussprechen! Und die dynamische Theorie der Materie kann als Symbol für alle denkbaren Urpolaritäten aufgestellt werden. Ohne abstoßende Kraft flösse die Materie in einen mathe-matischen Punkt zusammen, ohne anziehende löste sie sich im Weltraum auf. )n beiden Fällen gäbe es keine Materie. Nur durch das Gegeneinanderwirken zweier antagonistischer Strebungen entsteht Grenze, Ausdehnung, Gestalt, und zwar jede Gestalt, dieses Wort im weitesten Sinn genommen und auch ins Geistige übertragen. Nicht „zufällig", gleich als ein erratischer Block findet sich dieser dynamische Gedanke in Kants Werk, er ist in seinem Denken tief verwurzelt. An einer weit entfernten Stelle seines geistigen Globus tritt er ebenfalls an die Ober-fläche. )n der Erklärung der bürgerlichen Gesellschaft (Ideen) finden wir den gleichen Antagonismus: An-Ziehung und Abstoßung, Neigung, sich zu vergesellschaften, und f?ang, sich zu isolieren, eine „ungesellige Geselligkeit", in der der Widerstand Aller gegen Alle die Gesellschaft beständig zu sprengen droht. Und doch ist dieser Wider­stand, der jeden zwingt, seine Faulheit zu überwinden und sich unter seinen Mitmenschen hervorzutun^ „die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann" das Mittel zur Kultur,

wie die Bäume im Wald, eben dadurch, daß ein jeder dem andern £uft und Sonne benehmen will, einander nötigen, beides über sich zu suchen, und dadurch einen schönen geraden lüuchs befommen,

25*

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388 Mathematik.

statt daß die, welche in Freiheit und abgesondert ihre Aste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief und stumm wachsen.

Ganz ohne Bang zur Isolierung aber wären die Menschen eine kulturlose Herde.

Und so ist die ideale bürgerliche Gesellschaft, in der die größte Freiheit eines )eden gepaart ist mit der Sicherung der Grenzen dieser Freiheit das Resultat des polaren Widerstreits zweier einander entgegen arbeitender Kräfte.

Mühelos läßt sich das Glei chnis auch auf A anwenden. Die Metamorphose, gleich der vis centrifuga, führt ins

Formlose, löst das Wissen auf, würde sich ins Unendliche verlieren (wie die Materie ohne Anziehung), wäre ihr nicht eine vis centripeta zugegeben.

Jeder lebendige Zustand ist Synthese aus Kraft und G e g e n k r a f t . U n d h i e r m u ß i c h w i e d e r u m a u s K e y s e r l i n g anspielen, der unter Modernen diesen Polarität?-gedanken am nachdrücklichsten vertritt und daraus die Lehre zieht, man solle gar nicht antagonistische (Elemente vernichten wollen, weil man sich sonst vielleicht selbst mit vernichtet.

N a c h K a n t h a t a u c h d i e E r k e n n t n i s d i e g l e i c h e p o l a r e S t r u k t u r a u s R e z e p t i v i t ä t u n d S p o n t a n e i t ä t . Dem von außen Lindringenden antwortet von innen des Menschen eigener Geist. Darum hat auch Kant selbst in Anthr. § 29 verstand und Sinnlichkeit unter den Bei-spielen für die Polarität aufgeführt. Lasset die Rezep-tivität weg, und Erkenntnis schrumpft in den mathe­matischen Punkt des Solipsismus zusammen, verzichtet auf die Spontaneität, und sie löst sich in Sensualismus auf.

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§ UO. Polarität. 389

historisch ist Kant als der Anreger der ganzen polaritätsbetvegung anzusehen, denn wie Goethe, so knüpft auch Schelling ausdrücklich an seinen Lehrsatz an, wonach zwei Kräfte positiven und negativen vor-Zeichens die „Bedingung für die Möglichkeit der Materie und somit einer Natur überhaupt" seien. €s hat diesen Gedanken also weder Schelling von Goethe noch Goethe von Schelling übernommen, sondern beide von Kant. Allerdings, für die späteren Ausschweifungen der Natur-philosophie auf diesem Gebiet ist Kant damit nicht verantwortlich.

Schelling drückt sich so aus: Jurückstoßung ohne Anziehung ist formlos, An-

ziehung ohne Jurückstoßung ist objektlos. Diese Anti­these von Stoff und Form, die ja im wesentlichen mit Kants Rezeptivität und Spontaneität identisch ist, führt dann weiter zu all den Zuspitzungen, die Schiller dem Stoff-Lorm-j)roblem gegeben hat. Auf einem Umweg führt auch eine Reflexion Goethes eben dahin.

Der Mathematiker ist angewiesen aufs Quantitative, auf alles, was sich durch Zahl und Maß bestimmen läßt, also gewissermaßen auf das äußerlich erkennbare Universum. Betrachten wir aber dieses, sofern uns Fähigkeit gegeben ist, mit vollem Geist und aus allen Kräfte«, so erkennen wir, daß Quantität und Qualität als die zwei Pole des erscheinenden Daseins gelten müssen. Wecker J286.

Über diesen Punkt äußert sich Kqnt so: Wer den Unterschied zwischen Mathematik und Philosophie

darin sehen will, daß die eine auf Qualität, die andere auf (Quantität gehe, der verwechselt Ursache und Wirkung. Denn nur darum kann

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590 Mathematik,

die Mathematik lediglich auf Quanta gehen, weil nur der Begriff von Größen sich konstruieren läßt, während alles (Qualitative empirisch gegeben werden muß.

Das Quantitative ist also ein Teil von Spontaneität-Form-Gedachtem-Apriori

das Qualitative gehört zu Rezeptivitat-Stoff-Gegebenem-Aposteriori

Rezeptivität-Stoff-Gegebeneni-Aposteriori.

Beide zusammen bilden die pole des „erscheinenden Daseins", alle (Erscheinung entsteht aus der Synthese des polaren, aus der Synthese von Welt und Geist.

Zu meiner Freude hat auch Liebert (Löie ist kritische Philosophie möglich?) darauf aufmerksam gemacht, wie sich Goethe und Kant in dem Gedanken der Polarität begegnen.

§ U V

Beschluß des naturwissenschaftlichen Hauptstücks.

Kants Naturgesühl.

Für Kant charakteristisch in seiner Stellung zur Natur ist das ihm eingeborene monistische Gefühl. )n der Jugend ist es ihm selbstverständlich, überall nichts als (Einheit, lvohlgereimtheit, Harmonie zu sehsn, im Alter fühlt er sich verpflichtet, nctch Argumenten für diese (Einheit zu suchen, sie durch künstliche Gedankenketten zu demonstrieren — besonders in der Ästhetik und in deren

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§ UV Kants Nciturgefühl.

Verknüpfung mit Teleologie und Moral findet man solche versuche — diese sind aber logisch gar nicht zu begreifen, und nur aus dem vor und unter aller Wissen-schaft in ihm wohnenden Gnheits-Gefühl verständlich.

(Es hänget alles in dem ganzen Umfange bet Natur in einer ununterbrochenen Gradfolge zusammen durch die ewige Harmonie, die alle Glieder beziehend macht. Die Vollkommenheiten Gottes haben sich in Stufen offenbart, und sind nicht weniger herrlich in den niedrigsten Formen als in den höchsten. Von der erhabensten Klaffe unter den denkenden ZVefen bis zum oerachtetsten Insekt ist kein Glied gleichgültig, keines kann fehlen, ohne daß die Schönheit des Ganzen dadurch unterbrochen würde. (Theorie des Fimmels.)

Aus diesem Linheitsgefühl resultieren methodische Grund-sätze, deren Verwandtschaft mit denen Goethes über­raschend ist.

Lebendige Kräfte §

i£s ist in der Naturlehre Grundsatz geworden, daß Bewegung anders entstehen könne als vermittels selbst bewegter Materie. Dadurch sind sie genötigt worden, ihre (Einbildungskraft mit künstlich er­sonnenen Wirbeln müde zu machen, eine Hypothese auf die andere zu baue«, und anstatt daß sie zu einem plan des lveltgebäudes führen sollten, der einfach und begreiflich genug ist, um die zusammen« gefetzten (Erscheinungen der Natur daraus abzuleiten, verwirren sie uns mit unendlich viel seltsamen Bewegungen, die viel wunder-barer und unbegreiflicher sind als alles, was sie damit erklären wollen.

Bier erinnere man sich dessen, was Goethe beständig den Newtonianern vorwirft, daß sie seiner Meinung nach das (Einfache aus dem Komplizierten erklären, „wodurch die wunderlichsten Verwicklungen und Verwirrungen in die Hatmlehre gekommen sind".

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392 Beschluß.

Ist es nicht wunderbar, daß man sich einem unermeßbaren Meere von Abschweifungen und willkürlichen «Erdichtungen der Einbildungs­kraft anvertraut und dagegen die Mittel nicht achtet, die einfach und begreiflich und eben darum die natürlichsten sind? Aber das ist schon die gemeine Seuche des menschlichen Verstandes. Ulan erlustigt sich an Betrachtungen, die verwickelt und künstlich sind und wobei der Verstand seine eigene Stärke wahrnimmt. Man wird eine Physik haben, die voll vortrefflicher Proben des Scharfsinns und der Einbildungskraft ist, aber keinen Plan der Natur selbst und ihrer Wirkungen. Aber endlich wird noch die Meinung siegen, welche die Natur, sowie sie ist, d. h. einfach und ohne Umwege geschildert.

Ls ist kein Wunder, wenn die Schätzung der Kräfte, wie sie durch die Mathematik erkannt tuird, der tveisheit Gottes nicht vollkommen genugtut. Die ßarmonte unter den Wahrheiten ist wie die in einem Gemälde. IPenn man einen Teil gesondert herausnimmt, so ver-schwindet das 'Wohlanständige darin. Die cartesianische Schätzung ist den Absichten der Natur zuwider, also ist sie nicht das wahre Kräfte-maß, das hindert aber nicht, daß sie es in der Mathematik sei.

(Über das Erdbeben zu Lissabon.) Die Natur entdeckt sich nur nach und nach. Man soll nicht durch

Ungeduld das, was sie vor uns verbirgt, ihr durch Erdichtung ab­zuraten suchen, sondern abwarten, bis sie ihre Geheimnisse in deut­lichen Wirkungen angezweifelt offenbart.

IDeim ich nicht dazu sagte, daß dieser Ausspruch von Kant stammt, möchte ihn wohl mancher Goethe zu-schreiben. Oder:

(<Db die Erde veralte?)

Es wäre ein einem Philosophen sehr unanständiges Vorurteil, eine geringe Wirkung für nichtswürdig zu erklären, die durch eine beständige Summierung dennoch auch die größte (Quantität endlich

erschöpfen muß.

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§ m. Martts Naturgefühl, 395

Auch Kant zog wie Goethe — in der Natur sowohl als in der Politik — die langsam wirkenden Faktoren den plötzlichen vor.

Gelegentlich erhebt sich unseres Philosophen Be­geisterung geradezu zu dichterischem Schwung. )n § 59 nannte ich seine Theorie des Fimmels eine gewaltige Naturdichtung und gab eine Probe davon. Line weitere olgt:

Welch eine unzählige Menge Blumen und Insekten zerstöret ein einziger kalter Tag; aber wie wenig vermisset man sie, ohnerachtet es herrliche Kunstwerke der Natur und Beweistümer der göttlichen Allmacht sind. An einem andern Grt wird dieser Abgang mit Über-fluß wieder ersetzt. Die Natur beweist, daß sie ebenso reich, ebenso unerschöpflich ist im Hervorbringen des Trefflichsten als des Geringsten, und daß selbst aller Untergang eine notwendige Schattierung in der Mannigfaltigkeit ihrer Sonnen ist, weil ihre Erzeugung sie nichts kostet. Die schädlichen Wirkungen der angesteckten £uft, die Erdbeben, die Überschwemmungen vertilgen ganze Völker vom Erdboden, ohne daß die Natur dadurch einigen Nachteil erlitte. Auf gleiche töeife verlassen ganze Welten den Schauplatz, nachdem sie ihre Rolle aus­gespielt haben. Die Unendlichkeit der Schöpfung ist groß genug, um eine Welt oder eine Milchstraße von Welten so anzusehen, wie man eine Blume oder ein Insekt gegen die Erde ansieht.

Zum vergleich Goethe A 2^9: 3ch aber bete den an, der eine solche Produktionskraft in die

Welt gelegt hat, daß wenn nur der millionste Teil davon ins £eben tritt, die Welt von Geschöpfen wimmelt, so daß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermögen. Das ist mein Gott'

Oder: Die Natur hat den Tod erfunden, um viel £ebcn zu haben.

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394 Beschluß,

Nun wieder Kant: Wenn wir diesem Phönix der Natur, der sich nur verbrennet,

um aus seiner Asche verjünget aufzuleben, durch alle Unendlichkeit der Zeiten und Räume hindurch folgen, wenn wir sehen, wie sie mit stetigen Schritten fortschreitet, um die Ewigkeit sowohl als alle Räume mit Wundern zu füllen, so versenket sich der Geist in ein tiefes Erstaunen.

Wunderbar ist Kants Schilderung der brennenden Sonne:

Lasset uns der Einbildungskraft ein so wunderseltsames (Objekt als eine brennende Sonne ist, vorstellen, weite Feuerseen, die ihre Flammen gen Himmel erheben, rasende Stürme, deren tüut die Heftigkeit der ersten verdoppelt, ausgebrannte Felsen, die aus den flammenden Schlünden ihre fürchterlichen Spitzen herausstrecken, dicke Dämpfe, die das Feuer ersticken und die durch die Gewalt der Winde erhoben, finstere Wolken ausmachen, welche in feurigen Regengüssen wiederum herabstürzen und als brennende Ströme von den Höhen des festen Sonnenlandes sich in die flammenden Täler ergießen, das Krachen der (Elemente, die mit der Zerstörung ringende Natur, welche mit dem abscheulichsten Zustande ihrer Zerrüttungen die Schönheit der lvelt und den Nutzen der Kreaturen bewirkt.

Aus den „Beobachtungen" führe ich an: Gemütsarten, die ein Gefühl für das Erhabene besitzen, werden

durch die ruhige Stille eines Sommerabends, wenn das zitternde Sicht der Sterne durch die braunen Schatten der Nacht hindurchbricht und der einsame Mond im Gesichtskreise steht, allmählich in hohe Empfindungen gezogen, von Freundschaft, von Verachtung der lüeit, von Ewigkeit.

3n UAr. finden sich mehr solche innige oder gewaltige Stimmungsbilder, besonders in den Abschnitten Über das Erhabene in der Natur.

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§ mv Kants ZTatiirgefitht. 595

Schöner glaube ich das naturwissenschaftliche Haupt-stück nicht beschließen zu können als mit den Worten, mit denen Kant feine Theorie des Himmels beschließt:

Züentt man mit solchen Betrachtungen sein Gemüt erfüllt hat, so gibt der Anblick eines bestirnten Himmels bei einer heiteren Nacht eine Art des Vergnügens, welche nur edle Seelen empfinden. Bei der allgemeinen Stille der Natur und der Ruhe der Sinne redet das verborgene Erkenntnisvermögen des unsterblichen Geistes eine unnennbare Sprache, und gibt unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen.

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597

Inhalt des ersten Bandes.

Einleitung.

«Erstes Kapitel: Grundsätzliches. Seite § V Goethes Selbstzeugnisse über sein Verhältnis zu Kant .... »

2. Kurzer historischer Überblick über Goethes Kantstudien .... ! I 3. War Goethe Kantianer? 20 4. Philosophie und Weltanschauung 24 5. Die Rolle des Systems bei Goethe und Kant 28 6. Kant und die Schulgelehrsamkeit 32 7. Kants Wirkung auf die Zeitgenossen 35 8. Gegensätze 38 9. Herderismus und Kantianismus 40

\o. Hamann und Kant $2 HJ. Goethe als Synthese zwischen Herder und Kant 46

Zweites Kapitel: Schiller — Kant — Goethe. § \ 2 . ZDatut hat das Gespräch über Idee und Erfahrung stattgefunden? . 4«

(3. Kant als Vermittler zwischen Schiller und Goethe sq> Schiller als geistiger Reflektor 59

Drittes Kapitel: Herder — Kant — Goethe. § HB. Herder als Schüler Kants 62

Kants Rezension der „Zdeen" 64 (7. Herber und Goethe 68 *8. Herders Metakritik 7«t U9- Goethes Stellungnahme dazu 76 20. Kants Replik 8< 2V Herders Kalligone 8$ 22. Herder und Rudolf Steiner. Line parallele 87

I. Hauptstück: Erkenntnistheorie.

(Erstes Kapitel: Wie ist Polemik möglich? 5 23. Kants «Erftlingsfchrift als Symbol für fein kebenswerk .... 93

24. Die Antinomie der reinen Vernunft 98 25. vom Interesse der Vernunft 26. Das Znteresse als „wunderliche Bedingtheit des Menschen" . . tos

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398

Seit

2 7 . Über Einheit und Mannigfaltigkeit in der Natur t06 28. Kant über die Einseitigkeit der Naturforscher tos 29. Goethe über das gleiche Thema <09 30. Das Schaukelsystem m 3V Ober Toleranz und Selbstkritik 1 > 5

Zweites Kapitel: Subjekt und Objekt.

§ 32. Die „Subjektivität des Lrkennens" (19 33. Der Versuch als Vermittler \23 3<$. „Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt" \2y 35. Kants „Apologie der Sinnlichkeit" 13 5 36. Erscheinung und Schein nsz 37. Das empirische und das reine Phänomen

Drittes Kapitel: Die Dinge an sich.

$ 38. Goethe über die Grenzen der Erkenntnis 1 -H 39. Grenzen und Schranken H9 40. Goethes Schlosserbrief \52 <H. Das ilnetforfchliche hat keinen praktischen Nutzen \ö5 »2. Das Znnere der Natur \ö7 43. Kant kontra Dubois-Reymond 1,62 H). Die Dinge an sich oder Neunten« \63 45. Die doppelte Kausalität \66 $6. Der inielligible Charakter H68 47. Das Urbild ^ 18. Das Noumenon in der anorganischen Welt 175 49. ZToumetta in positiver und negativer Bedeutung 177 50. Goethe über die Dinge an sich \?9 5 V „Sie gelangen nie zu den Körpern" 181

viertes Kapitel: Der intuitive verstand.

$ 52. Gibt es ein Erkenntnisvermögen für ZToumetta? \ S 2

53. Die Vernunftkritik über den intuitiven Verstand (8* 54. Die Konstruktion der Begriffe ?8? 55. Die Kritik der Urteilskraft über den intuitiven verstand . . . 188

. 56. Zur Deutung dieser Kantstellen 191 5™. Das Analytisch-Allgemeine und das Synthetisch-Allgemeine ... 193 58. Goethes „Anschauende Urteilskraft" <99 59. Goethes Gedicht „Weltseele" 202 60. Kants Intuition 20s 6V Intuitiver Verstand und Unterbewußtsein 208

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399

Fünftes Kapitel: Idee und Idealismus. Seite

§ 62. Kants Ideenlehre 212 65. Zur Deutung dieser Zdeenlehre 2*8 6$. Die Normalidee und das Ideal 222

Die Idee bei Goethe: 65. Die Urpflanze 22s 66. Idee und Erfahrung. Idealismus und Realismus 228 67. Kants „Normalidee" und Goethes „Typus" 255 68. Goethe über den regulativen Gebrauch der Zdeen 259 69. Goethes Verhältnis zum kritischen Idealismus 240

Sechstes Kapitel: Analyse und Synthese. § 70. Kant über Analyse und Synthese. Goethes Anstreichungen - - . 248

?V Goethes Fortbildung dieser Gedanken 20& 72. Goethes Apologie des Zergliedern? und Sondern? 252 75. Die Architektonik der Wissenschaften 258 74. Die Trennung der Wissenschaften 262 75. Über Spezialisierung 265

II. Hauptstück: Naturwissenschaft.

Erstes Kapitel: Entwicklungslehre.

§ 76. Kant über Naturbeschreibung und Naturgeschichte 209 77. Die Fruchtbarkeit dieses Gedankens 27H 78. Die Definition der Art 273 79. Kants Kriterium zur Bestimmung der Verwandtschaft .... 280 so. Kant über Vererbung erworbener Eigenschaften 285 8V Evolution und Epigenese 289 82. Die Metamorphose bei Kant 293

Kants Stellung zur Deszendenztheorie: § 83. Die Herder-Rezension 299

8<(. Die Auseinandersetzung mit Forster 303 85. Das Abenteuer der Vernunft . 505 86. Goethe über das Abenteuer der Vernunft 509 87. Goethes Ablehnung der Deszendenztheorie 3 n o 88. über Urzeugung 3(3 89. Goethe und £irme 355 90. Metamorphose und Deszendenztheorie . 32 n 9V Luviers Stellung zur Deszendenztheorie 326 92. Deszendenztheorie und Stufenleiter zzo 95. Übet Systeme 335

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Zweites Kapitel: Teleologie. sttu S 9-T- Innere und äußere Zweckmäßigkeit Z-52

95. Die Definition des (Organismus bei Kant 3<H 96. Der Begriff des Nawrzwecks 3-js 97. Die Anwendung dieser Begriffe durch Goethe 349 98. Das teleologifche Prinzip 35* 99. Die Stellung der Teleologie in Kants System 55-5

*oo. Die Antinomie der teleologischen Urteilshaft 357 50;. Teleologie und Mechanismus 359 *02. Der Newton des Grashalms 362 tos. Teleologie und Theologie 363

Drittes Kapitel: Mathematik. § tot. Kants Dictum über Mathematik als „eigentliche Wissenschaft" . 369

*05. Ober die Wertung dieses Satzes 373 *06. Die Grenzen der Mathematik 374 *07. Was die Mathematik für die Philosophie bedeutet 377 *08. Kants sogenannte „mechanistische Naturauffassung" . . . . . 3 7 9 *09. Atomismus und Dynamismus 38* **o. Polarität 385

Beschluß des naturwissenschaftlichen Hauptstücks: $ UV Kants Naturgefühl 590