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FILM-DIENST Magazin - Alles übers Kino
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18
Alle Kinofilme vom 30.8. und 6.9. Alle Filme im Fernsehen
Ulrich Seidl & Andres Veiel Leos Carax / dOCUMENTA (13)
D A S F I L M � M A G A Z I N
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2012
ALLE NEUEN KINOFILME VOM 30.8. UND 6.9.2012
porträt 6 Insel mit Friedhof Über den Filmemacher Leos Carax Von Esther Buss interview 10 Das Material brennt Ulrich Seidl & Andres Veiel im Werkstattgespräch Von Oksana Bulgakowa und Roman Mauer
30 Am Ende eines viel zu kurzen Tages 29 Chico & Rita 38 Dating Lanzelot 36 Denk wie ein Mann 26 Der kleine Rabe Socke 31 Dichter und Kämpfer 36 Die Fee 32 Goldrausch – Die Geschichte der Treuhand 39 Heiter bis wolkig 28 Herr Wichmann aus der dritten Reihe 42 Holy Motors 45 Ins Blaue 32 Late Bloomers 40 Männer zum Knutschen 38 Schatzritter 37 Step Up: Miami Heat 41 Steve Jobs: The Lost Interview 40 Tagträumer – ... vier kurze Geschichten 47 The Cabin in the Woods 34 The Expendables 2 35 To Rome with Love 44 Ein Ton Blau 46 Total Recall 48 Un amore (kino schweiz) 27 Was bleibt 44 Zambezia
ausstellung 17 Von der Zeit und dem Strom dOCUMENTA (13): Unendliche „Filme“ Von Olaf Möller kino 20 Welcher Held will ich sein? Superhelden und Adoleszenz Von Heidi Strobel aus hollywood 22 Sesam öffne Dich! Ein Schlüssel zu vergessenen Klassikern Von Franz Everschor 4 magazin 24 personen 26 neu im kino 48 kino schweiz 47 impressum 49 literatur
I N H A L T 1 8 / 2 0 1 2
„Chico & Rita“
6 film-dienst 18/2012
„Holy Motors“
film-dienst 18/2012 7
Insel mit Friedhof ÜBER DEN FILMEMACHER LEOS CARAX
8 film-dienst 18/2012
PORTRÄT
In dem kargen Zimmer von Alex, dem
verschlossenen Flaneur aus „Boy Meets
Girl“ (1984), gibt es eine geheime Karto-
grafie. Hinter einem alten Stich über dem
Bett hat der jugendliche Liebeskranke unter
genauen Angaben von Ort und Zeit die wich-
tigsten Stationen seines Lebens verzeichnet,
angefangen mit der Geburt: den ersten La-
dendiebstahl, die erste Begegnung mit Flo-
rence – jener Frau, die ihn gerade mit sei-
nem Freund betrogen hat –, den ersten Kuss
und die erste Lüge. Dies wird nach dem ge-
waltsamen Zusammentreffen mit dem Riva-
len am Seine-Ufer um die Notiz des ersten
Mordversuchs ergänzt. In diese gleicherma-
ßen biografische wie grafische Skizze ließen
sich ohne Weiteres die ereignisreichen Streif-
züge der Hauptfiguren aus Leos Carax’ fol-
genden Filmen einflechten, etwa die der an-
deren beiden Alex-Figuren aus „Die Nacht ist
jung“ (1986) und „Die Liebenden von Pont-
Neuf“ (1991): Streifzüge durch charismati-
sche und für das Bild von Paris typische
(Übergangs-)Orte wie Pont-Neuf und die Mé-
tro sowie die an die Künstlichkeit von Holly-
wood-Musicals erinnernden Fantasie-Stra-
ßenzüge in „Die Nacht ist jung“. Verzeichnet
sein könnte auch der Raub eines Models auf
dem Friedhof Père Lachaise, eine der zahlrei-
chen Stationen des strapaziösen Trips von
Monsieur Oscar aus Carax’ jüngstem Werk
„Holy Motors“ (2002). Nicht fehlen dürfte
außerdem die filmische Biografie von Carax
selbst, der zumindest in der anagramatischen
Version seines Geburtsnamens Alexandre Os-
car Dupont in die von Denis Lavant verkör-
perten Alter-Egos eingegangen ist und nun in
der Figur des sich in weitere Identitäten ver-
vielfältigenden Protagonisten aus „Holy Mo-
tors“ seine Fortsetzung gefunden hat. Zu den
filmisch-fiktiven Daten würde also noch eine
tatsächlich gelebte, von Höhen und Tiefen
bestimmte Künstlerexistenz hinzukommen:
1960 geboren, erste Kurzfilme, eine kurze
Zeit als Kritiker der Cahier du Cinéma, die
für eine bestimmte Richtung des französi-
schen Autorenkinos fast obligatorisch ist, fünf
Spielfilme innerhalb von 28 Jahren, die un-
tereinander durch ein Gewirr von Linien ver-
bunden sind; dazwischen leere weiße Flä-
chen für all die Zeit der vergeblichen Mühen,
das nächste Projekt realisiert zu bekommen,
für Filme, die niemals gemacht wurden. So
eine Carax-Kartografie würde ein ziemlich
dramatisches Bild ergeben.
Die Beschwörung des „ersten Mals“, die das
Debüt „Boy Meets Girl“ anhand der Alex-
Figur vorführt und die in „Die Nacht ist
jung“ erneut aufgenommen wird – „Kann
ich nicht noch einmal geboren werden... nur
erste Male zählen“, sagt Alex hier einmal mit
Bedauern – , ist für das Kino von Leos Carax
symptomatisch. Denn einerseits ist der Re-
gisseur in jedem seiner Filme geradezu fie-
berhaft auf der Suche nach neuen Bildern,
originären Erfindungen und poetischen
„Wahrheiten“ sowie nach unverstellten und
unverbrauchten Gefühlen – nach Affekten,
die instinktiv und „ursprünglich“ zum Aus-
bruch und Ausdruck kommen. Andererseits
sind seine Filme repräsentationskritisch, in-
dem sie mit Diskontinuitäten und gegen ge-
schlossene Erzählungen arbeiten, mit der
Asynchronität von Bild und Ton, mit rätsel-
haften Figuren, die sich aufsplitten und eher
Träger als Erzeuger von Affekten sind. Und
sie bewegen sich ganz explizit im Raum der
vorhandenen Bilder und des historischen Ki-
nos. In den unzähligen intertextuellen Bezü-
gen – von Hermann Melville über Vaudeville
und Vincente Minelli bis hin zu Film noir
und David Bowie – ist nicht zuletzt die Er-
kenntnis präsent, dass man eigentlich immer
nur „ankommen kann, wenn es schon pas-
siert ist“, wie Carax es einmal formuliert hat.
Ein satyrhafter Kobold
Ein postmoderner Zitat-Künstler ist Carax je-
doch ebenso wenig wie ein cinéphiler In-
tellektueller, der filmhistorische Bezüge wohl-
dosiert als akademische Fußnoten setzt. Ca-
rax’ Begegnung mit der Filmgeschichte ist
ebenso schwerelos wie emotional: un-
gebändigt gehen die vorhandene Bilder in sei-
ne eigene Filmsprache ein. So scheint auch
der Begriff der Aneignung viel zu distanziert,
um das maßlose Verhältnis des Regisseurs
zum Kino angemessen zu beschreiben. Selbst
wenn sich in dem satyrhaften Kobold in „Ho-
ly Motors“, der wild gestikulierend und Blu-
men fressend touristische Friedhofbesucher
tyrannisiert, eine Carax’sche Weiter-
schreibung der dämonischen Hauptfigur aus
Jean Renoirs „Le testament du docteur Cor-
delier“ (1959) ausmachen lässt: die referen-
zielle Geste hat als solche keine Bedeutung,
auch wenn so etwas wie „filmhistorisches
Bewusstsein“ immer noch anwesend ist. Auf
der Pressekonferenz nach der Premiere in
Cannes hat Carax das so beschrieben:
„Wenn man sich dafür entscheidet, auf dieser
Insel namens Kino zu leben – es ist eine
wunderschöne Insel mit einem sehr großen
Friedhof –, dann geht man eben manchmal
auf den Friedhof, und manchmal geht man
etwas Trinken, das ist das Leben... Wenn
man einen Film macht, macht man Kino“.
Carax, so scheint es, unterhält zum Kino so
etwas wie eine Familienbeziehung.
Entsprechend knüpfen seine Filme nicht nur
an das Kino der Nouvelle Vague an, deren
Vertreter ja noch immer unangefochten als
„Väter“ gelten – vor allem „Die Nacht ist
jung“ proklamiert ein direktes Verwandt-
schaftsverhältnis zu Godard –, sondern kehren
immer wieder programmatisch auch zu den
Anfängen des Kinos zurück, zu dem Jahr-
marktskino der Attraktionen und Sensationen,
zu den großen tragischen und komischen Ges-
ten des Stummfilms, zu Jean Epstein und
Charlie Chaplin oder sogar noch weiter zu-
rück. „Holy Motors“ beginnt beispielsweise
mit Szenen im flackernden Schwarz-Weiß, die
auf die Bewegungsstudien von Edward Muy-
bridge anspielen, welche der Erfindung der Ki-
nemathographie vorausgingen. Am unmittel-
barsten finden sich die Anfänge des Kinos je-
doch in dem Schauspieler und ehemaligen
Straßenkünstler Denis Lavant verkörpert, der
bis auf „Pola X“ (1999) in allen Filmen des
Regisseurs agiert und diese mit seiner außerge-
wöhnlichen Physiognomie und körperlichen
Präsenz so sehr geprägt hat, dass man Carax
ohne ihn eigentlich gar nicht denken kann.
Unvergesslich sind nicht nur Lavants Auftritte
als Zauberkünstler, Straßenmusiker, Bauch-
redner und Pantomime, sondern auch seine
elektrisierenden, aus dem Stillstand plötzlich
herauswachsenden Tanzwunder. In „Die
Nacht ist jung“ läuft Alex zu David Bowies
„Modern Love“ gekrümmt und fast torkelnd
eine Straße entlang, bis sich sein Schritt all-
mählich beschleunigt und er, von aller Schwe-
re befreit, beginnt, sich völlig entfesselt zu
drehen, zu rennen, sich zu biegen und zu
springen, bis hin zum akrobatischen Flickflack,
was Carax mit einem Kamera-Travelling über
Leos Carax
film-dienst 18/2012 9
PORTRÄT
mehrere Häuserblocks hinweg zeigt, wobei
man sich wünscht, es möge nie enden.
Poetische Verfehlungen
Carax ist alles andere als ein klassischer Ge-
schichtenerzähler. Seine Filme folgen viel-
mehr einer lyrischen Struktur, die hin- und
herschwankt zwischen gedehnten, flaneurhaf-
ten Passagen, eruptiven Gefühlsausbrüchen
sowie Ideen und kleinen Einfällen, die am
Rande der eigentlichen Erzählung situiert
sind; erst in „Die Liebenden von Pont-Neuf“
findet eine Annäherung an konventionellere
Formen des Erzählens statt. Carax’ Figuren
sind allesamt Außenseiter und Künstler, die
einen bohemienhaften Lebensstil pflegen
oder ganz auf der Straße leben: ein Filmema-
cher, der die Titel der Filme träumt, die er
machen wird („Boy Meets Girl“), ein Ein-
bruchskünstler („Die Nacht ist jung“), ein
Obdachloser und Feuerschlucker („Die Lie-
benden von Pont-Neuf“), ein Schriftsteller,
der sich in einer paramilitärischen Künstler-
kommune in den Abgrund schreibt („Pola
X“). Carax selbst gibt sich in der Öffentlich-
keit gerne als ein kettenrauchender, schüch-
terner Poet, der das gesellschaftliche Spiel
nicht mitspielt. Carax’ Figuren leben in klei-
nen, karg eingerichteten Wohnungen mit lee-
ren Kühlschränken, aber den richtigen Schall-
platten, sie machen endlose Spaziergänge an
der Seine, treiben sich in Cafés und Bars he-
rum und sind dabei hauptsächlich mit der
Liebe beschäftigt. Das in Schwarz-Weiß ge-
drehte Nachtstück „Boy Meets Girl“ de-
kliniert die verschiedenen Stadien der Liebe
von der ersten Begegnung bis zum finalen
Liebestod durch: die Leidenschaften und Ver-
werfungen, die Einsamkeit nach dem Ver-
lassen-Werden. Dass sie Formen wiederholen,
die eigentlich nur in Liebesklischees enden
können, zeigt Carax durch poetische Verfeh-
lungen. In einer Szene wird die emotionale
Krise eines Paares über eine Sprechanlage
ausgetragen; dabei mischt sich der poetische
Gefühls(verlust)monolog des Mannes mit der
Musik der „Dead Kennedys“, die aus der
Wohnung seiner Freundin dringt; der Text
kommt aus dem Off, während sich seine Lip-
pen asynchron dazu bewegen.
„Boy Meets Girl“ und „Die Nacht ist jung“
sind beides fragmentarische Filme mit einer
offenen Dramaturgie, die sich erst zum Ende
hin schließt. Sie wirken dennoch organisch,
weil sie durch ihre emotionale Intensität (ein
Schwanken zwischen romantischen Sehn-
süchten und pessimistischer Lust) sowie
durch den Manierismus des Spiels, des Set-
tings und der Bilder zusammengehalten wer-
den. Diese Bilder, die seit „Die Nacht ist
jung“ immer üppiger geraten, mit einem
deutlichen Hang zum Neo-Barock, gelten bei
Teilen der Filmkritik jedoch per se als ver-
dächtig; dass sie der Allgegenwart der visuel-
len Kultur nicht rein affirmativ begegneten,
sondern sich vielmehr in ein Verhältnis zu
ihr setzten, wird dabei oftmals übersehen
(auch wenn es bei Carax zweifellos auch Bil-
der um ihrer selbst willen gibt). So wurden
die Filme des als kapriziös geltenden Re-
gisseurs fälschlicherweise dem in den 1980er-
und 1990er-Jahren entwickelten „Cinéma du
look“ zugeschrieben, für das vor allem Luc
Besson und Jean-Jacques Beineix standen –
einem Kino, das sich durch professionelle Vi-
sualität auszeichnete und sich oftmals recht
selbstverliebt bei der Werbeästhetik bediente.
Vor allem mit dem megalomanen „Les
Amants du Pont-Neuf“, der bis dahin teuers-
ten französischen Produktion, schien die
Qualität seiner Filme zunehmend weniger ab-
gesichert. Vincent Canby nannte das von
Realismen aufgemischte Märchen „one of the
most extravagant and delirious follies per-
petrated on French soil since Marie-
Antoinette played the milkmaid at the Petit
Trianon“ – das war natürlich gehässig, auch
wenn in „Les Amants du Pont-Neuf“ Fulmi-
nanz und Lächerlichkeit mitunter nah bei-
einander liegen. Vor allem verzichtet Carax
auf die Brüche und Störungen, die seine bei-
den vorherigen Filme noch auszeichnen: die
Vielheit an Stimmen, das Ausfransen der Er-
zählung und die Skepsis gegenüber der Au-
thentizität von Gefühlen – wie in „Boy
Meets Girl“, wenn Alex einem küssenden
Paar, das sich auf der Seinebrücke buchstäb-
lich wie auf einer Drehscheibe präsentiert,
als Belohnung ein paar Groschen hinwirft.
„Les Amants du Pont-Neuf“ produziert zwar
wie im Vollrausch einen Überschuss an Ge-
fühlen, an Obsessionen und Leidenschaften –
und nicht zuletzt ein Überschuss an Form –,
doch trotz Wasserski-Oper auf der Seine und
anderen exzessiven Spektakeln ist es Carax
irgendwie auch bitterernst mit seinen beiden
Liebenden von der Brücke. In der Figur der
blinden Malerin, die mit ihrer Skizzenmappe
durch die Gegend schlurft und sich vom
„echten“ Leben inspirieren lässt, findet sich
dabei auch ein romantisches Künstlerbild ver-
körpert, das in „Pola X“ in noch ge-
steigerterer Form auftaucht.
Biografische Fallhöhe
Der lose auf Herman Melvilles Roman
„Pierre: or, The Ambiguities“ basierende „Po-
la X“ stellt im Werk von Carax eine tiefe Zä-
sur dar – es ist der Versuch einer Neusortie-
rung, ohne Denis Lavant und ohne Dialog
mit dem Kino, auch wenn Catherine Deneu-
ve, Guillaume Depardieu und Sharunas Bar-
tas als referenzielle Größen fungieren. „Pola
X“ ist eine strapaziöse Erzählung über inzes-
tuöse Beziehungen und gesellschaftliche Aus-
schlüsse, die Themen wie illegale Migration
und Kriegstraumata mit dem schicksalhaften
Niedergang eines Schriftstellers verbindet. Es
ist nahe liegend, „Pola X“ als Künstlerkitsch
zu verwerfen, so ironiefrei kommen hier die
Klischees daher, so grell sind die Kontraste
zwischen der cremefarbenen, lichtdurch-
fluteten Adelswelt und dem Schmutz, der
Kälte und der Düsternis im gesellschaftlichen
Abseits. Aber die Beharrlichkeit, mit der Ca-
rax hier versucht, abgegriffene Bilder neu zu
beleben und soziale Wirklichkeiten ins Ex-
travagante, Wirklichkeitsübersteigende zu ver-
schieben, hat auch etwas Grandioses – gera-
de in seinem Scheitern. Allerdings schien
sich die Schwere und Fallhöhe von „Pola X“
auch auf Carax’ Biografie zu legen – bis zur
Realisierung von „Holy Motors“ vergingen 13
Jahre, eine lange Zeit, in der nur zwei Kurz-
filme entstanden, darunter auch der de-
pressiv-sarkastische Miniclip „My Last Minu-
te“ (2006). Doch schon in „Merde“, der als
Beitrag zum Episodenfilm „Tokio!“ (2008)
gemeinsam mit Werken von Michel Gondry
und Bong Joon-ho veröffentlicht wurde, war
eine Energie spürbar, die neu und unver-
braucht war und dabei gleichzeitig an den
unverwechselbaren „Caraxismus“ anschloss –
mit einem von Denis Lavant gespielten Ka-
nalisationsungeheuer, das an die Monster aus
der Frühzeit des Kinos erinnert und in „Holy
Motors“ erneut einen Ausgang findet.
„Holy Motors“, mit der von Carax ei-
gentlich verachteten Digitalkamera gedreht,
wirkt wie von einer Last befreit. So spiele-
risch und leicht hat sich Carax nie zuvor
zwischen Genres, Stimmungen und Identitä-
ten bewegt; seine Vorliebe für Bilder und
Ideen, aus denen nicht unbedingt eine kohä-
rente Geschichte erwachsen muss, kann
sich hier ungehindert entfalten. Tatsächlich
schaffen das Vehikel der Limousine und die
Figur des zwischen verschiedenen Rollen
sich bewegenden Schauspielers, der kein
wirkliches Leben jenseits seines Spiels hat,
aber gerade darin seine Existenz behauptet,
eine Struktur und einen Rahmen, in dem al-
les möglich scheint, in dem kein Einfall zu
irrsinnig oder albern ist, keine Abzweigung
und kein Raum zu fern – sogar für Tiere
und Maschinen stehen die Türen offen.
„Holy Motors“ überschreitet die fest umris-
senen Konturen einer Figur, ohne auf die
durchschaubaren Tricks postmoderner Rol-
lenspiele zurückzugreifen; der Banker, die
Pennerin, der Familienvater, der Killer und
der alte sterbende Mann sind allesamt Figu-
ren, die wie aus dem Nichts entstehen und
sich dann wieder auflösen, doch für die
Dauer ihres kurzen Lebens sind sie wahr-
haftig. „Holy Motors“ ist insofern auch ein
Film über das Verschwinden, der dem Ver-
schwinden trotzt. Esther Buss
SEHENSWERT
D I E K R I T I K E N
DISKUSSIONSWERT
Herr Wichmann aus der dritten Reihe 28 Holy Motors 42 Was bleibt 27
Am Ende eines viel zu kurzen Tages 30 Chico & Rita 29 Heiter bis wolkig 39 Der kleine Rabe Socke 26 Un amor (kino schweiz) 48
41 228
Der kleine Rabe Socke
Der Mensch ist dem Menschen ein –
Rabe. Hätte der Philosoph Thomas
Hobbes vielleicht gesagt, wenn es da-
mals schon die Bücher vom „Kleinen Rabe
Socke“ gegeben hätte. Denn der Ringelsocke
tragende Vogel aus der Kinderbuchserie von
Nele Moost und Annet Rudolph ist ein Pa-
radebeispiel für den kreatürlichen Egoismus
des „Menschen im Naturzustand“, den Hob-
bes konstatiert. Wie seinerseits bei „Max und
Moritz“ beruht der Charme der Figur nicht
zuletzt auf ihrer Renitenz: Socke ist ein
ziemlicher Rabauke, und er macht alles, was
man nicht machen soll. Seine Freunde, die
anderen Tiere im Wald, bewundern ihn zwar
für seinen Schneid und lieben ihn, weil mit
Socke immer Leben in der Bude ist, aber des
Öfteren nervt es sie auch, wenn der Rabe ih-
nen ihr Spielzeug klaut, in die Tomatensoße
spukt oder sich auf eine andere Weise rück-
sichtslos aufführt. Und gerade deswegen kön-
nen seine kleinen Fans viel von seinen Aben-
teuern lernen, denn Socke macht immer wie-
der die Erfahrung, dass man höchsten kurz-
fristig oben auf ist, wenn man sich wie die
Axt im Wald aufführt, sprich: nur an sich
selbst denkt; langfristig aber trägt es einem
nichts als Ärger ein. Das Zusammenleben mit
anderen klappt nur dann, wenn man sich an
bestimmte Grundregeln hält, in Sockes Wald
genauso wie im realen Leben. In der ersten
Kinoversion von Sockes Abenteuern ist es
nicht zuletzt die Neigung des Raben zum
Flunkern, die die Geschichte in Gang bringt.
Bei einer seiner draufgängerischen Eskapaden
– ein Stöcke-Fechten mit Wildschwein Stulle
auf dem Staudamm – beschädigt er den
Damm, traut sich aber nicht, zu seinem Feh-
ler zu stehen. Anstatt Frau Dachs, die die
undankbare Aufgabe einer Art Chefgouver-
nante für die Jungtiere im Wald hat, sein
Missgeschick zu beichten, hält er seine
Freunde dazu an, es geheim zu halten, wäh-
rend er sich auf eigene Faust auf den Weg
macht, um die Biber zu suchen, die den
Damm einst erbauten. Dass er Angst davor
hat, seinen Wald zu verlassen, will er nicht
zugeben; zum Glück finden sich aber Schaf
Wolle und nach einigem Hin und Her Eddi
Bär als Weggefährten ein. Die Drei machen
sich auf eine turbulente Reise, um rechtzeitig
Hilfe zu holen, bevor das Wasser ihren Wald
überflutet. Währenddessen versucht der Rest
der Tiere mit allen möglichen Tricks, Frau
Dachs von den immer größer werdenden Lö-
chern im Damm abzulenken.
Die aquarellartigen, an Janosch erinnernden
Landschaften, in denen sich Socke tummelt,
mögen lebensferne Idyllen sein; die Figuren
mit ihren Stärken, Schwächen und Macken
nehmen dafür wie weiland in Lafontaines Fa-
beln umso lebensechter menschliche Ver-
haltensmuster auf Korn. Während die Turbu-
lenzen rund um den Staudamm eine span-
nende dramaturgische Klammer bilden, ent-
faltet sich Sockes Reise als episodisch-kurz-
weiliges, lustiges Road Movie, aber auch als
lehrreiche innere Reise, auf der Socke lernt,
ehrlicher zu seinen Freunden zu sein und
sich auch um ihre Befindlichkeiten, nicht nur
um sich selbst zu kümmern. So gelingt Re-
gisseurin Ute von Münchow-Pohl eine würdi-
ge Filmadaption der Kinderbuchreihe, die das
Kunststück hinbekommt, kleine Kinofans
nicht zu überfordern, aber auch erwachsene
Begleiter gut zu unterhalten. Felicitas Kleiner
KINOSTART 6.9.2012
Der kleine Rabe Socke Deutschland 2012 Produktion Akkord Film/Studio88 Produzenten Dirk Beinhold, Roland Junker, Dirk Dotzert Regie Ute von Münchow-Pohl; Sandor Jesse Buch Katja Grübel, nach den Kinderbüchern von Nele Moost und Annet Rudolph Musik Alex Komlew Länge 78 Min. FSK o.A.; f Verleih Universum
Animationsfilm um die gleichnamige Kinder-buchfigur. Nachdem der Rabe Socke einen Staudamm beschädigt hat, will er seinen Feh-ler vertuschen und macht sich auf, um die Bi-ber zu Hilfe zu holen. Zwei seiner Freunde be-gleiten ihn auf einer abenteuerlichen Reise, bei der er zu seinen Fehlern stehen lernt. So-ckes andere Freunde versuchen derweil, mit lustigen Tricks das Leck im Damm geheim zu-halten. Die den Kinderbuch-Zeichnungen nachempfundene, humorvolle Animation trifft die sympathisch-freche Kauzigkeit der Vorlage und findet zu einer kurzweilig-spannenden Kinodramaturgie. – Ab 6.
„Herr Wichmann aus der dritten Reihe“
film-dienst 18/2012 27
41 229
Was bleibt
Was bleibt Deutschland 2012 Produktion 23/5 Filmprod./SWR/WDR/ARTE Produzenten Britta Knöller, Hans-Christian Schmid Regie Hans-Christian Schmid Buch Bernd Lange Kamera Bogumil Godfrejów Musik The Notwist Schnitt Hansjörg Weissbrich Darsteller Lars Eidinger (Marko Heidtmann), Corinna Harfouch (Gitte Heidtmann), Sabastian Zimmler (Jakob Heidtmann), Ernst Stötzner (Günther Heidtmann), Picco von Groote (Ella Staudt), Egon Merten (Zowie Heidtmann), Birge Schade (Susanne Graefe), Eva Meck- bach (Tine Gronau) Länge 88 Min. FSK ab 12; f Verleih Pandora
Ein junger Berliner Schriftsteller reist mit sei-nem kleinen Sohn zu einem Treffen mit seinen Eltern und seinem Bruder. Während des Som-merwochenendes gerät das Familiengefüge aus der Balance, als die seit Jahren seelisch labile Mutter ankündigt, keine Psychophar-maka mehr zu nehmen. Subtiles Kammer-spiel, das ein schmerzhaftes Panorama des deutschen Bürgertums entwirft, hinter dessen Fassade Generationsbrüche und seelische Nö-te schlummern. Ein schnörkelloses, eindring-liches Drama als leises Gruppenbild mit implo dier ender Kettenreaktion, die das Un-glück der Figuren trotz flacher Bilder ganz nah heranrücken lässt. – Sehenswert ab 16.
Immer wieder sieht man in
diesem Kammerspiel Schwei-
gende. Menschen, die eine
Auszeit nehmen von dem Ge-
plapper der anderen Familienmit-
glieder, die jeden Konflikt aus
Mangel an existentiellen Wider-
ständen vermeiden. Angereist zu
einem jener seltenen Stelldich-
eins irgendwo im grünen Reihen-
hausgürtel eines rheinländischen
Vororts, schalten sie sofort den
energiesparenden Schongang ein.
Drei Generationen spielen sich
eine gutbürgerliche Sonntags-
idylle mit Kaffee, Kuchen und
angestrengt guter Laune vor. Na-
türlich ist nichts, wie es scheint.
Der von Lars Eidinger gespielte
Sohn schlurft als Berliner Kreati-
ver durch sein langsames Leben,
mit obligatorischem Nachwuchs
und gescheiterter Ehe. Sein Bru-
der, ein weiteres Exemplar jener
neuen, von Soziologen mit Stau-
nen erforschten Spezies des un-
entschiedenen männlichen Thir-
tysomething, hat die Abnabelung
erst gar nicht in Angriff genom-
men. Er wohnt im Haus nebenan
und führt eine Fernbeziehung.
Seine verwaiste Zahnarztpraxis
müsste er eigentlich für insolvent
erklären, wenn da nicht die
Scham vor den Eltern wäre. Die
haben sich längst auseinander ge-
lebt, halten die arrivierte Fassade
aber aufrecht, die Mutter dank
Antidepressiva, der Vater, ein
Jahrzehnte nach Frankfurt pen-
delnder Verleger, durch ein Dop-
pelleben, das seinen Reiz aus
Ausflügen mit dem Segelboot
und einer langjährigen Geliebten
bezieht. Gerade hat er seine er-
folgreiche Firma verkauft und
setzt selbstverliebt zur dritten Ju-
gend als Sachbuchautor an. Pech
für die mit Geldzuwendungen
auf Distanz gehaltenen Söhne,
die mit jeder phlegmatischen
Geste vergeblich um Halt, Schutz
und Orientierung betteln. Trost
bei der Mutter zu suchen, ist ta-
bu. Die hat schließlich genug mit
ihren eigenen Hausfrauen dämo -
nen zu kämpfen.
Das kollektive Lügenkonstrukt
könnte noch einige Zeit den aus-
KINOSTART 6.9.2012
bleibenden Wutgewittern stand-
halten, hätte Gitte – die Mutter,
doch die Wörter Mama und Pa-
pa haben die liberalen 68er-
Eltern erfolgreich aus dem Wort-
schatz getilgt – nicht seit zwei
Monaten ihre Medikamente ab-
gesetzt. Akupunktur soll es jetzt
richten. Corinna Harfouch ver-
leiht dieser Entscheidung mit ih-
rem nuancierten Spiel eine dra-
maturgisch erlösende Vehemenz,
die allerdings seitens der Familie
auf pure Fassungslosigkeit trifft.
Freude sieht anders aus. Der
machtbewusste Vater ärgert sich
darüber, dass er „sein ganzes Le-
ben in diese Ehe investiert“ hat
und sorgt sich um seine Reiseplä-
ne, die er mit einer zu Hause
seelisch abdriftenden Frau nicht
mehr gelassen absolvieren kann.
Den sensiblen Söhnen ist die
Last einer urplötzlich als Subjekt
auftrumpfenden Mutter schlicht
„zu viel“. Ihr Misstrauen ist be-
rechtigt; diesmal steckt sie ihre
Wünsche nicht zurück, um ihren
Nächsten den Rücken frei zu hal-
ten. Stattdessen steigt Gitte aus
ihrer berechenbaren Rolle aus
und verschwindet im Wald. Die
Mittelstandslethargie vermag sie
mit diesem hilflosen Wider-
standsakt nur für einen kurzen
Moment zu stören. Man sucht
nach ihr, erst angsterfüllt, dann
zunehmend kraftlos. Das nächste
Treffen nach einem halben Jahr
findet ohne sie statt, als wäre nie
etwas vorgefallen. Man ist
schließlich tolerant und respek -
tiert ihren Entschluss. Nur das
Schweigen schallt jetzt noch blei-
erner durch das Wohlstandsidyll.
Hans-Christian Schmid fängt den
Strukturwandel der bundesrepu -
blikanischen Lebensentwürfe
scharfsichtig ein. Schade ist nur,
dass der bittere Befund bereits
seit über einem Jahrzehnt von
der Berliner Schule, allen voran
Angela Schanelec, in allen Facet-
ten dysfunktionaler Familienkon-
stellationen durchgespielt worden
ist. Nicht zu vergessen das Regie-
Drehbuch-Gespann Stefan Kroh-
mer und Daniel Nocke, das sich
mit seinen gesellschaftlichen Be-
standsaufnahmen, von „Familien-
kreise“ über „Sommer ’04“ (fd
37 835) bis zu „Mitte 30“, eben-
so lang an einem schmerzhaft
klugen Panorama seiner Genera-
tion abarbeitet. Wenn auch das
Erlebnis neuer Einsichten fehlt,
gehört „Was bleibt“ mit den inti-
men Beobachtungen einer rein
psychischen, nie sozialen Notsi-
tuation dennoch zum schnörkel-
los Eindringlichsten, das gegen-
wärtig an Zeitdiagnose im deut-
schen Kino zu finden ist. Ein lei-
ses Gruppenbild mit implo dier -
ender Kettenreaktion, die das
Unglück der Figuren trotz flacher
Bilder ganz nah heranrücken
lässt. Alexandra Wach