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FILM-Magazin Alles übers Kino
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17
Alle Kinofilme vom 16.8. und 23.8.
Alle Filme im Fernsehen
Lynne Ramsay Fernando Meirelles Siegfried Kracauer Gene Kelly
D A S F I L M � M A G A Z I N
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17/
2012
I N H A L T 1 7 / 2 0 1 2
ALLE NEUEN KINOFILME VOM 16.8. UND 23.8.2012
28 360 33 Atomic Age 37 Doppelleben 35 Das Ding am Deich 26 Flamenco, Flamenco 34 Frisch gepresst 38 I Wish (kino schweiz) 34 Die Kirche bleibt im Dorf 42 Life in Stills 27 Magic Mike 38 Nachtlärm 36 Oma & Bella 31 ParaNorman 43 Roman Polanski – A Film Memoir 29 Samsara 32 Starbuck 47 This Ain’t California 36 Was passiert, wenn‘s passiert ist? 30 We Need to Talk About Kevin 40 Wer’s glaubt, wird selig
4 magazin porträt 6 Weiße Wale Die Filmemacherin Lynne Ramsay Von Kathrin Häger porträt 9 Die Katze lächelt Zum Tode von Chris Marker Von Claus Löser interview 10 Lieben, Träumen, Sterben Gespräch mit Fernando Meirelles über „360“ Von Marc Hairapetian geschichte 12 Umgang mit Lichtgestalten Legendäres Filmbuch: „Von Caligari zu Hitler“ Von Michael Girke porträt 14 Der Straßentänzer Über den Schauspieler und Tänzer Gene Kelly Von Michael Hanisch ausland 18 Desorientierung Internationales Filmfestival Moskau Von Hans-Joachim Schlegel porträt 19 Unvergesslich Zum Tod von Susanne Lothar Von Ulrich Kriest aus hollywood 20 Die Babyboomer kommen Nähert sich die Faszination mit jungem Publikum ihrem Ende? Von Franz Everschor animationsfilm 22 Vollendet unvollendet Grandioser Wurf: „Le Tableau“ Von Stefan Stiletto 24 personen 26 neu im kino 38 kino schweiz 44 neu im fernsehen 49 impressum 45 neu auf dvd 48 literatur 50 nachspann NEU AUF DVD 46 End of Animal 45 Kick 46 The Hunter
Animationsfilm-Entdeckung aus Frankreich: „Le Tableau“ (siehe Seite 22)
Neu im Kino: Carlos Sauras „Flamenco, Flamenco“
22 film-dienst 17/2012
ANIMATIONSFILM
Vollendet unvollendet DIE KUNST UND DAS LEBEN: DER WUNDERBARE ANIMATIONSFILM „LE TABLEAU“
Es ist ein Moment purer Magie, wenn
die Figuren in „Le Tableau“ („Das Ge-
mälde“) buchstäblich aus dem Rah-
men fallen, wenn sie die geschlossene
Welt ihres Gemäldes verlassen und das unbe-
kannte Atelier des Malers betreten, von dem
sie einst erschaffen und schließlich im Stich
gelassen wurden. Nicht Abenteuerlust oder
gar Neugierde treibt sie an, sondern Sehn-
sucht. Sehnsucht nach einem gerechteren Le-
ben, nach Freiheit und vor allem nach einer
Antwort auf die Frage, warum der Maler vor
geraumer Zeit überraschend die Arbeit an sei-
nem Bild eingestellt und manche Figuren un-
vollendet zurückgelassen hat.
Seither hat sich in der Gesellschaft des Ge-
mäldes eine starre Hierarchie entwickelt, die
von den Toupins angeführt wird, den bereits
fertig gestellten Figuren. Mit strenger Hand
regieren diese ihr Land und blicken voller
Abscheu auf die Pafinis herab, jene Unvoll-
endeten, denen noch ein Farbtupfer an ihrer
Kleidung fehlt, eine Gesichtszeichnung oder
ein Auge. Am schlimmsten jedoch hat es die
Reufs getroffen, existieren diese doch nur als
grobe Skizzen und sind dementsprechend fra-
gil und verletzlich. Nur der Maler kann diese
Machtverhältnisse wieder aufbrechen, wenn
er sein Werk endlich vollendet – und auf
ihm ruht die Hoffnung der Gemälde-Flücht-
linge.
Der Toupin Ramo, der sich aus Liebe zur Pa-
finie Claire auf die Suche macht, die burschi-
kose junge Pafinie Lola sowie der ängstliche
Reuf Plume, dessen Freund von den Toupins
brutal zusammengetreten wurde, sind die
Protagonisten des wunderbaren Animations-
films von Jean-François Laguionie, der im
vergangenen November in Frankreich sowie
in der französischsprachigen Schweiz im Kino
anlief. Die auf einem Drehbuch von Anik Le
Ray basierende Geschichte verbindet poeti-
sche und gesellschaftskritische Themen und
nimmt ihren Ausgangspunkt bei der politi-
schen Parabel über Machtverhältnisse und
Hierarchien.
Mit dem Herzen sehen
Ramo und Claire verbindet das „Romeo und
Julia“-Schicksal: Sie sind zwei junge Liebende
aus verfeindeten Gruppen, die in dieser Ge-
sellschaftsordnung nicht miteinander glück-
lich werden können. Weil Claires Gesicht
nicht fertig gestellt ist, wird sie von den Tou-
pins nicht anerkannt. Und weil Ramo die Nä-
he einer Pafinie sucht, beäugt man auch die-
sen misstrauisch. Allein die Äußerlichkeiten
bestimmen in dieser Gesellschaft, wer dazu
gehört und wer ausgeschlossen wird. So fin-
det der Film ebenso eindrucksvolle wie ein-
fach verständliche Bilder für Diskriminierung
und Vorurteile und stellt zugleich Schönheits-
film-dienst 17/2012 23
ANIMATIONSFILM
ideale in Frage. Denn nur wenige Figuren –
wie Ramo – können mit dem Herzen sehen.
Sobald Ramo, Lola und Plume ihr Gemälde
verlassen haben, schlägt der Film eine poeti-
sche Richtung ein. Die Figuren sind weder
große Helden noch tapfere Kämpfer, vielmehr
sind sie nach innen gekehrt und sehr still.
Was sie tatsächlich antreibt, verbirgt sich hin-
ter ihren Augen und Blicken – und damit
führt ihre Reise auch in ihre Seele.
Schon „Die Pirateninsel des Black Mor“
(„L’Île de Black Mor“, 2003), Laguionies drit-
ter animierter Langfilm, war kein typischer
Piratenfilm, sondern erzählte ähnlich schwer-
mütig und kontemplativ von einem träumeri-
schen Jugendlichen, dessen Schatzsuche letzt-
lich zu einer Initiationsreise wird. In „Le Ta-
bleau“ übernimmt diese Rolle nun Lola: Sie
ist diejenige, die voran geht und sich am
meisten traut – und deren Motive für die
Reise in die Welt des Malers doch am un-
klarsten sind. Ramo wünscht sich, dass der
Maler endlich Claire vollendet, Plume will
seinem misshandelten Freund helfen. Doch
Lola, deren blauer Rock an einer Stelle einen
kleinen weißen Fleck aufweist, interessiert
sich überhaupt nicht für solche Oberflächlich-
keiten. Sie will über den Gemälderahmen hi-
nausblicken und ihren Schöpfer kennen ler-
nen. Sie ist die einzige, die von Anfang an
ahnt, dass die kleine Welt des Gemäldes nur
ein Ausschnitt ist, ein Abbild von etwas an-
derem, etwas Größerem.
Ein Fest für die Augen
Das Spiel mit Bildern und Abbildern, mit
Realität, Illusion und Traum treibt Laguionie
auf die Spitze, sobald die Figuren das Atelier
erkunden. Von dem Maler fehlt jede Spur.
Alles, was sie dort vorfinden, sind andere Bil-
der: ein Kriegsgemälde etwa, in dem tagein
tagaus rot gewandete Soldaten gegen grün
gewandete Soldaten antreten, weil sie es
nicht anders kennen und ihre kriegerische
Welt für die Realität halten; oder ein mürri-
sches Selbstporträt des Malers im mittleren
Alter, das in einer Schaffenskrise steckt; oder
der Akt einer jungen Frau, in die der Maler
vor langer Zeit verliebt war und durch deren
Bild Lola, Ramo, Plume und ein Flüchtling
aus dem Kriegsgemälde sogar in ein wildes
Karnevalstreiben in Venedig geraten. Ganz
deutlich spürbar wird in diesen Szenen die
Verehrung von Laguionie für seinen Mentor
Paul Grimault, in dessen Studio er von 1963
bis 1973 seine ersten Filme drehen durfte.
Nicht zuletzt ist auch die Grundidee von „Le
Tableau“ eine Verneigung vor Grimaults poe-
tischem Zeichentrickmärchen „Der König
und der Vogel“ („Le roi et l’oiseau“, 1952/
1980), in dem bereits zwei Gemäldefiguren
den Schritt in die Realität wagen – natürlich
aus Liebe.
Ein prachtvoller Film und ein Fest für die
Augen ist „Le Tableau“ geworden, weil er zu
großen Teilen in der Welt der Malerei des
frühen 20. Jahrhunderts angesiedelt ist und
ästhetisch Bezug nimmt auf die Werke des
Fauvismus und Impressionismus. So erstrahlt
das Gemälde mit seinem Schloss der Toupins,
dem Blumengarten und dem verwunschenen
Wald in allen nur erdenklichen Farben. Clai-
res längliches Gesicht erinnert an die Frauen-
porträts von Amedeo Modigliani, die Reufs in
ihrer abstrakten Reduktion an Pablo Picasso,
das Selbstporträt des Malers an Henri Matisse
und eine surreale Traumsequenz an Marc
Chagall. Belehrend oder gar elitär wirkt der
Film jedoch nie. Die ungewöhnlich schönen
Figuren und die detailreichen Bilder machen
vielmehr Lust auf einen Museumsbesuch,
weil es ihnen gelingt, die Stilrichtungen mit
Leben zu füllen.
Dass „Le Tableau“ mit Ausnahme einer kur-
zen Realfilmszene komplett als Computerani-
mation entstand, ist dabei umso erstaunli -
cher; denn mit ihrer zweidimensionalen, flä-
chigen Gestaltung stehen die Figuren tatsäch-
lich ihren musealen Vorbildern näher als dem
plastischen Character Design der Produktio -
nen aus den Pixar- oder DreamWorks-Stu di -
os. So ist der Film ein gutes Beispiel dafür,
wie eine Technik souverän einer Geschichte
untergeordnet wird, ohne selbstzweckhaft zu
sein.
In Frankreich nach der Kinoauswertung be-
reits auf DVD und Blu-ray veröffentlicht,
wurde „Le Tableau“ in Deutschland bislang
lediglich im Langfilm-Wettbewerb des Inter -
nationalen Trickfilmfestivals Stuttgart sowie
beim Filmfest München im Rahmen des Kin-
derfilmfests gezeigt. Dabei versteht es gerade
dieser Film meisterlich, sowohl für Kinder als
auch für Erwachsene zu erzählen, ohne
Kompromisse einzugehen. Selbstironie und
intertextuelle Gags sind hier ebenso wenig
zu finden wie fulminante Actionszenen. Statt-
dessen setzt Laguionie schon von der ersten
Szene an mit seiner Inszenierung nicht auf
Überwältigung, sondern auf Langsamkeit und
Ruhe und bietet damit eine angenehme Al-
ternative zu all den formelhaften aktuellen
Animationsfilmen. Vor allem aber ist spürbar,
dass Laguionie und Le Ray ihrem kleinen
und großen Publikum viel zutrauen und dass
sie selbst hinter ihrer Geschichte stehen.
Lediglich vier Langfilme hat der mittlerweile
73-jährige Jean-François Laguionie seit 1985
gedreht. Es wird höchste Zeit, sein Werk und
seine Kunst auch im deutschen Kino zu ent-
decken. „Le Tableau“ wäre dafür ein schöner
Anlass. Stefan Stiletto
SEHENSWERT
D I E K R I T I K E N
DISKUSSIONSWERT
I Wish (kino schweiz) 38 Life in Stills 42 The Hunter (dvd) 46 We Need to Talk About Kevin 30
Atomic Age 33 Das Ding am Deich 35 Flamenco, Flamenco 26 Oma & Bella 36 Roman Polanski – A Film memoir 43 This Ain't California 41
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Flamenco, Flamenco
D ie Kamera schwebt in den ehemaligen
Expo-Ausstellungspavillon in Sevilla hi-
nein, vorbei an den Stahlbögen der De-
ckenkonstruktion. Stellwände zeigen die Iko-
nografie des „canto jondo“, des Flamenco,
wie sie in den letzten Jahrhun derten von
Malern wie Francisco de Goya, Pablo Picas-
so, Romero de Torres oder Gustav Klimt ge-
prägt wurde: die volkstümli che Tradition und
die romantische Verfeine rung. Wie kaum ei-
ne andere Musikrichtung hat der Flamenco,
ursprünglich dieMusik der „Gitanos“, der
spanischen Roma, Elemente zwischen Orient
und Okzident miteinander verschmolzen.
Wenig später klingen Gesang und Gitarren-
akkorde, das Stakkato der Tanzschuhe, das
rhythmi sche Klatschen und der Takt der
Kastagnet ten durch den Pavillon. Flamenco
vereinigt die Widersprüche überschäumender
Lebensfreude und tiefer Trauer. Regisseur
Carlos Saura fasziniert diese Magie, aber
auch seine Entwicklungsfähigkeit des Flamen-
co: „Flamenco ist Fusion“.
Tanz, Musik und Sauras besonderer Zugang
zur Welt des Flamencos sind seit „Carmen“
(fd 24 114) ein wichtiges kreatives Feld des
spanischen Regisseurs – neben den oft ver-
schlüsselten Autorenfil men der 1960er- und
1970er-Jahre sowie seinen weniger erfolg-
reichen Genrefilmen der 1980er- und 1990er-
Jahre. 1995 drehte Saura „Flamenco“ (fd 33
328). In enger Kooperation mit dem Kamera-
mann Vittorio Storaro inszenierte er ganz ei-
gene, unwirkliche Studiolandschaften, be-
leuchtete, mit transparentem Stoff bezogene
Flächen, die szenische Räume für die Musi-
ker und Tänzer schufen. In „Flamenco, Fla-
menco“ führt er sein altes Team und die al-
ten Protagonis ten wieder zusam men und
bringt auch die neue Generation auf die Büh-
ne. Eingeleitet durch eine moderne Flamen-
co-Version der klassischen Verse Federico
Garcia Lorcas aus dessen „Romancero gita-
no“, beginnt ein Reigen von 22 unterschiedli-
chen Musikstücken – vom klassischen Fla-
menco über die Verbindung mit Jazz-Ele-
menten bis zu lateinamerikanischen Rhyth-
men – und immer wieder überraschenden
Tanz-Performances. Es ist ein Streifzug durch
die Generationen, von Altmeistern der Gitar-
re wie Paco de Lucia und Manolo Sanlúcar
über Estrella Morente, die Tochter des legen-
dären Flamenco-Künstlers Enrique Morente,
bis zu den ganz jungen Vertretern des „canto
jondo“ wie dem Tänzer Farruquito. Thema-
tisch ist „Flamenco, Flamenco“ eine Reise
durch Leidenschaften und Lebensphasen. Im-
mer wieder vereinen sich Künstler zu beein-
druckenden Ensemble-Leistungen; die Unter-
schiede in der Welt des Flamencos, die Tradi-
tion und die modernen Elemente, wirken or-
ganisch, natürlich gewachsen. Saura schafft
mit Vittorio Storaro wieder eine ganz eigene
Synästhesie aus Licht und Ton, wobei die
Ab straktion aus Licht und Schatten früherer
Flamenco-Filme zurückgenommen wurde.
„Flamenco, Flamenco“ ist vor allem ein Fest
der Farben, z.B. wenn sich Tänzerinnen in
tiefblauen Tüchern vor einem gemalten
nächtli chen Hintergrund einer andalusischen
Karwochen-Prozessionen bewegen. Der Kul-
tur- und Populärgeschichte des Flamencos
wird dabei ebenso Reverenz erwiesen wie
der Tradition des Andalusien-Kitsches; u.a.
wird auch an die Folklore-Erfolge des frühen
Tonfilms (z.B. „Morena Clara“) erinnert. So
entsteht ein facettenreiches Bild, das ohne
Kommentar oder andere erklärende Elemente
als Reigen der Musikstücke einen eigentüm -
lichen Sog entfaltet. Wolfgang Hamdorf
KINOSTART 23.8.2012
Flamenco, Flamenco Flamenco, Flamenco Spanien 2010 Produktion General de Producciones y Diseno Produzent Jesús Caballero Regie und Buch Carlos Saura Kamera Vittorio Storaro Schnitt Vanessa Marimbert Länge 97 Min. Verleih Kairos
Impressionistischer Dokumentarfilm über den Flamenco, in dem sich Regisseur Carlos Saura verschiedenen Generationen und unterschied-lichen Einflüssen widmet, die diese ursprüng-lich von spanischen Roma entwickelte Musik- und Tanzrichtung weiter entwickelt und neu belebt haben. Ohne erklärenden Kommentar erweist der Reigen aus Musikstücken und Tanz als Synästhesie aus Licht, Ton und Far-ben der langen Kulturgeschichte des Flamen-co die Reverenz und entfaltet dabei einen großen Reiz. – Ab 14.
„This Ain't California“ (Plakatmotiv)
28 film-dienst 17/2012
KINO
41 206
360
360 – schon der Titel ver-
weist auf einen Rund-
schwenk, der am Schluss
wieder zu seinem Ausgangspunkt
gelangt. Es geht um eine welt-
umspannende Ereigniskette, die
sich über mehrere Kontinente er-
streckt, um eine Kreisstruktur,
bei der mehrere Handlungs-
stränge sich überkreuzen und
miteinander kollidieren, bei der
die Hauptfiguren miteinander
verbunden sind und sich, manch-
mal ohne ihr Wissen, gegenseitig
beeinflussen. Nicht von ungefähr
spielt eine zentrale Szene des
neuen Films von Fernando Mei-
relles („City of God“, fd 35 938)
auf dem Ring, der die Altstadt
Wiens wie ein Wall aus Kraft-
fahrzeugen umfasst. Anhalten
und aussteigen ist jederzeit mög-
lich, umkehren allerdings nicht,
und doch ist man irgendwann
wieder an dem Punkt, von dem
man gestartet ist. Drehbuchautor
Peter Morgan, der unter ande-
rem die Bücher zu „Hereafter“
(fd 40 290) und „Die Queen“
(fd 37 965) schrieb, verweist
selbst auf Schnitzlers „Reigen“;
die vignettenhafte Erzählstruktur
des Films ist damit bereits vor-
gegeben. Eine andere starke, viel-
leicht auch zu starke Metapher
ist die Kreuzung. Rechts, links
oder geradeaus? „Wenn du an ei-
ne Weggabelung kommst, benut-
ze sie“, ist dem Film als enigma-
tisches Motto vorangestellt. Es
wird im Folgenden also auch um
Entscheidungen gehen, um den
Mut und die Kraft, sie zu tref-
fen, und die Auswirkungen, die
sie auf andere haben.
Der Film macht zunächst mit der
schönen Slowakin Mirka be-
kannt. Argwöhnisch beobachtet
von ihrer Schwester Anna, lässt
sie sich in Wien von einem Zu-
hälter fotografieren, um ihren In-
ternet-Auftritt als Escort-Dame
aufzupeppen. Ihr erster Kunde
soll Michael Daly, ein Geschäfts-
mann aus London, sein. Doch
kurz vor der Verabredung in ei-
ner Bar trifft er einen namen -
losen deutschen Kollegen (ge-
spielt von Moritz Bleibtreu) und
ist so verlegen, dass er Mirka
nicht mehr anspricht. Doch der
Deutsche ahnt instinktiv Micha-
els unmoralische Absichten und
erpresst ihn mit diesem Wissen,
um einen Deal mit seiner Firma
zu realisieren. Denn Michael ist
verheiratet – mit Rose, die in
London allerdings gerade eine Af-
färe mit dem jungen brasilia-
nischen Fotografen Rui hat. Des-
sen Freundin Laura ist über den
Seitensprung so entsetzt, dass sie
nach Brasilien zurückfliegt. Am
Flughafen lernt sie einen älteren
Briten kennen, der nach Phoenix
reist, um dort die Leiche einer
jungen Frau zu identifizieren.
Vielleicht ist es ja seine vor Jah-
ren verschwundene Tochter. In
Paris hat sich derweil ein musli-
mischer Zahnarzt unsterblich in
seine unglücklich verheiratete As-
sistentin Valentina verliebt und
fragt sowohl einen Imam als
auch eine Psychotherapeutin um
Rat. Des weiteren geht es um ei-
nen russischen Gangster, seinen
sympathischen Chauffeur (Valen-
tinas Ehemann) und das hübsche
Mädchen, das er vor einem Ho-
tel in Wien kennen lernt: Anna,
Mirkas Schwester.
Die irritierendste Episode ist jene
um Tyler, einen soeben aus der
Haft entlassenen Sexualstraftäter,
der auf dem Weg in eine Reso-
zialisierungsanstalt ist. Doch das
Menschengewirr am Flughafen
mit all seinen Versuchungen
setzt ihm so sehr zu, dass er
mehrmals mit seiner Gefängnis-
psychologin telefonieren muss.
Warum ausgerechnet Laura sich
für diesen scheuen, unfreundlich-
nervösen und obendrein martia-
lisch tätowierten jungen Mann
interessiert, ist eine Behauptung
des Drehbuches, die nur schwer
zu akzeptieren ist, zumal der da-
mit verbundenen Spannung et-
was Geschmackloses anhaftet. Fi-
guren wie Handlungselemente
dienen in „360“ immer auch als
Chiffre, die über das Gezeigte hi-
naus noch mehr sagen will. Die
Akteure tragen ihre Funktionen
und Charaktereigenschaften wie
einen Bauchladen vor sich her.
Alle versuchen in diesem Reigen,
das Richtige zu tun, auch wenn
ihnen ihre Wünsche und Sehn-
süchte gelegentlich ein Bein stel-
len. Da man sie immer nur ein
kleines Stück ihres Weges be-
gleitet, bleibt eine Identifikation
verwehrt. Daran ändern auch die
hervorragenden Darstellerleis-
tungen nichts, allen voran An-
thony Hopkins als traumatisierter
Vater, der sich stellvertretend für
KINO
360 360 Scope. Großbritannien/Österreich/Frankreich/Brasilien 2011 Produktion Revolution Films/Dor Film/Fidélité Films/O2 Filmes/BBC Films/UK Film Council/ORF/Uni- son Films/ Gravity Pic./Hero Ent. Produzenten Andrew Eaton, David Linde, Emanuel Micha- el, Danny Krausz, Chris Hanley, Marc Miss- onnier, Olivier Delbosc, Andy Stebbing Regie Fernando Meirelles Buch Peter Morgan Kamera Adriano Goldman Schnitt Daniel Rezende Darsteller Anthony Hopkins (älterer Mann), Jude Law (Michael Daly), Rachel Weisz (Rose), Moritz Bleibtreu (deutscher Geschäftsmann), Ben Foster (Tyler), Jamel Debbouze (Algerier in Paris), Marianne Jean-Baptiste (Fran), Dinara Drukarowa (Valentina), Gabriela Marcinkova (Anna), Johannes Krisch (Rocco), Juliano Ca- zarré (Rui) Länge 110 Min. FSK ab 12; f Verleih Prokino
Ein britischer Geschäftsmann versetzt in Wien ein Callgirl und löst damit rund um den Glo-bus eine Kette dramatischer Ereignisse aus. Kreisförmiger Reigen, der in mehreren Groß-städten auf unterschiedlichen Kontinenten die Liebesgeschichten und Begegnungen zahlrei-cher Figuren verwebt. Neben Schicksal oder Zufall thematisiert der Film die Folgen indivi-dueller Entscheidungen und deren Auswir-kungen auf andere. Ein reichlich konstruierter, recht abstrakter Episodenfilm, der die Welt als feinmaschiges Gefüge voller Verknüpfungen und Abhängigkeiten beschreibt. – Ab 14.
KINOSTART 16.8.2012
41 207
Samsara
Samsara Scope. USA 2011 Produktion Magidson Films Produzent Mark Magidson Regie Ron Fricke Buch Ron Fricke, Mark Magidson Kamera Ron Fricke Musik Marcello De Francisci, Lisa Gerrard, Michael Stearns Schnitt Ron Fricke, Mark Magidson Länge 139 Min. FSK ab 12; f Verleih Busch Media
In atemberaubenden Bildern fi-xierte Eindrücke von Orten und Menschen rund um den Globus, von Naturschauspielen bis hin zur modernen Massentierhal-tung. Der technisch brillante Bil-derrausch ohne Kommentar oder einordnende Erläuterung formu-liert als assoziative Montage ei-ne Zivilisationskritik, die einen archaisch-guten Urzustand der degenerierten Moderne gegen-überstellt. Vom Regisseur als „geführte Meditation“ intendiert und mit sphärisch angehauchter Filmmusik unterlegt, zelebriert sich der Film als quasi sakrales Erlebnis; sein Erkenntniswert tendiert angesichts der naiven Weltsicht allerdings gegen null. – Ab 14.
Ron Fricke mag nicht zu
den bekanntesten Filmema-
chern zählen, doch es gibt
eine weltweite Fangemeinde, die
leuchtende Augen bekommt,
wenn ein neuer „Fricke“ ange-
kündigt wird. Bekannt wurde
der US-Amerikaner als stilbilden -
der Kameramann von „Koyaanis-
qatsi“ (1982), dem ersten Teil
von Godfrey Reggios „Qatsi“-Tri-
logie. Die unkommentierten, as-
soziativen, rasant montierten, im
Zeitraffer dargebotenen Bild-
sequenzen über den Eingriff der
Zivilisation in die Natur, nur un-
terlegt mit Musik des Minimalis-
ten Philip Glass, waren seinerzeit
eine Sensation. In den 1980er-
Jahren drehte Ron Fricke die
IMAX-Filme „Chronos“ und „Sa-
cred Site“, bevor er 1992 mit
„Baraka“ (fd 30 355) eine Pro-
duktion in die Kinos brachte, die
vom Konzept her ähnlich ganz
angelegt war wie „Koyaanisqatsi“
(fd 24 271). Mit „Samsara“ hat
sich Fricke 20 Jahre Zeit gelas-
sen. Trotzdem knüpft der Film
nahtlos an seine Vorgänger an.
An 25 Orten rund um den Glo-
bus fingen Fricke und sein Ko-
Autor und Produzent Mark Ma-
gidson mit einer 70mm-Kamera
Bilder von atemberaubender
Schönheit ein. Imposante Natur-
schauspiele wie Vulkanausbrüche
folgen auf mystisch anmutende
religiöse Stätten in Fernost, zwi-
schendurch blicken kostümierte
Tänzerinnen und oder buddhisti-
sche Mönche für einige Sekun -
den regungslos in die Kamera.
Erst mit zunehmender Dauer ge-
raten auch Phänomene der Mo-
derne ins Bild. Opulente Foyers
KINOSTART 23.8.2012
von Luxus-Hotels, Straßenver-
kehr, Ski-Hallen, aber auch Mas-
sentierhaltung, Müllhalden, die
Produktion von Waffen und Sex-
Puppen werden mit derselben
schwelgerischen Ästhetik insze -
niert, mit der die Kamera zuvor
Sandhügel eingefangen hat, die
der Wind nach einer Natur-
katastrophe in verlassen Häusern
zusammengeweht hat.
All diese Sequenzen fügen sich
kaleidoskopartig zu einem tech-
nisch brillanten Bilderrausch mit
frappierenden Schauwerten. Ein-
mal mehr verzichtet Fricke nicht
nur auf jeden Off-Kommentar,
sondern lässt die Zuschauer auch
im Unklaren darüber, wo die je-
weiligen Szenen entstanden sind.
Lediglich die vorwiegend sphä-
risch angehauchte Filmmusik
sorgt für Stimmungswechsel zwi-
schen Melancholie und Drama-
tik. Fricke selbst nennt seine Fil-
me „geführte Meditationen“, wo-
mit das Kino zum quasi sakralen
Raum wird. „Samsara“, was in
Sanskrit so viel wie das immer-
währende Werden und Vergehen
bezeichnet, hat von der Drama-
turgie her weder Anfang noch
Ende. Ein Mandala, das im Film
erst von Mönchen in zeitrauben-
der Filigranarbeit auf den Boden
eines Klosters gezaubert und
dann von ihnen wieder zerstört
wird, mag als Sinnbild dieser
Vorstellung gedacht sein. Man
kann sich als Zuschauer dieser
Bilderflut hingeben, sich von
kühnen Assoziationen über-
raschen lassen – wird angesichts
der Redundanzen mit der Zeit
aber dennoch Ermüdungserschei -
nungen feststellen. Denn für ei-
nen spannenden oder auch nur
erhellenden Film ist Frickes Zivi-
lisationskritik entschieden zu
naiv: Die schlichte Gegenüber-
stellung des archaisch Einfachen
(vermeintlich „guten“) und der
(degenerierten) Moderne ist ohne
Anflug einer ironischen Brechung
nur schwer zu ertragen und bis-
weilen hart an der Grenze zum
Kitsch. Je kritischer sich der Film
in der zweiten Hälfte gibt, umso
ärgerlicher wird das Ganze. Erst
recht, wenn der Regisseur in ei-
ner Sequenz die fließbandmäßige
Schlachtung von Hühnern ins
Bild setzt, die Kamera sich aber
zugleich für das Heer der Ar-
beiter begeistert, die in ihren ro-
sa Uniformen ein groteskes Bal-
lett aufzuführen scheinen. Ins-
gesamt haftet „Samsara“ viel von
einer opulenten, beinahe mysti-
schen Darbietung an. Genau da-
für werden die Fans auch den
neuen „Fricke“ lieben.
Reinhard Lüke
seine vermisste Tochter um eine
andere junge Frau sorgt.
Meirelles und sein Autor Morgan
haben sich von der zunehmen -
den Globalisierung inspirieren
lassen. Finanzkrise, Emigration,
Epidemien, arabischer Frühling,
Mobilität – den Machern geht es
um Zusammenhänge und Ab-
hängigkeiten in der Welt, ohne
sie jedoch konkret aufzugreifen.
Das gibt „360“ etwas seltsam
Konstruiertes und Abstraktes. Die
Welt, die hier beschreiben wird,
ist eine flüchtige. Taxis, Limousi-
nen und Flugzeuge, Bars, Res-
taurants und Hotelzimmer sind
die Handlungsorte, nirgendwo
hält es der Film, angetrieben
durch Split Screens und einen
schnellen Montagerhythmus, lan-
ge aus. Man muss schon auf-
merksam hinschauen, wenn man
nichts versäumen will.
Michael Ranze