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FILM-DIENST 14/2012

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FILM-DIENST 14/2012

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Alle Kinofilme vom 5.7. und 12.7. Alle Filme im Fernsehen

Das Kino der Jahre 1962 und 2012 Wojciech Kilar / Eicke Bettinga

100 Jahre Universal / Das „Cinema Jenin“

D A S F I L M � M A G A Z I N

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I N H A L T 1 4 / 2 0 1 2

kino 6 Kann der deutsche Film nicht besser sein? Gedanken über das Kino 1962 und 2012 Von Thomas Koebner kinderfilm 11 Neue Kinder-Stimme Der „EFA Young Audience Award“ Von Horst Peter Koll ausland 12 Die Kraft des Kinos Das „Cinema Jenin“ Von Andreas Kötzing kino 14 Von glücklichen Filmautoren Kreative Splitter: Low- und No-Budgetfilme Von Bernd Zywitz aus hollywood 16 Happy Birthday! 100 Jahre Universal Von Franz Everschor musik 18 Der „Kilar-Sound“ Der polnische Filmkomponist Wojciech Kilar Von Michael Hanisch

25 2 Tage New York 38 90 Minuten – Das Berlin Projekt 40 Babycall 28 Bis zum Horizont, dann links! 30 Cosmopolis 37 Fast verheiratet 36 Hasta la vista 35 Das Haus auf Korsika 36 Holidays by the Sea 42 Ice Age 4 – Voll verschoben 29 Kawa 27 Little Thirteeen 44 Mary & Johnny (kino schweiz) 41 Os Residentes 26 Periferic 31 Pommes essen 24 Sleep Tight 42 Sons of Norway 34 The Amazing Spider-Man 33 The Raid 32 Töte mich 40 Wanderlust 38 Woody Allen: A Documentary

kurzfilm 20 Erst die Sehnsucht, dann der Schock Der Kurzfilmer Eicke Bettinga Von Andrea Dittgen veranstaltung 22 Grenzfälle in Zeiten der Krise „Crossing Europe“ & das aktuelle Kino Von Bernd Buder dvd 47 In den Augen von Abel Gance „Napoleon“ auf DVD Von Roland Mörchen 48 Die Macht des „Kopfkinos“ Das „Texas Chainsaw Massacre“ Von Jörg Gerle 4 magazin 23 personen 24 neu im kino 44 kino schweiz 45 neu auf dvd 45 impressum 50 nachspann NEU AUF DVD 46 Der Mönch 45 Sex & Drugs & Rock & Roll

ALLE NEUEN KINOFILME VOM 5.7. UND 12.7.2012

100 Jahre Universal: „Der weiße Hai“

„Ice Age 4“

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Happy Birthday! 100 JAHRE FILME, SERIEN UND ATTRAKTIONEN

Touristen, die zum ersten Mal nach Los

Angeles kommen, haben mit ziemli-

cher Sicherheit zwei Ziele auf ihrem

Kalender: Disneyland und die Univer-

sal Studio Tour. Beide „Theme Parks“ symbo -

lisieren heute den kommerziellen Status der

sie betreibenden Eigentümer, demonstrieren

aber weniger den augenblicklichen Stand des

Filmemachens als die neuesten Errungen -

schaf ten der Special-Effects-Technik. Die Be-

sucher lassen sich von der zirkushaften Bunt-

heit der Attraktionen überwältigen und set-

zen die Achterbahntricks der Vergnügungs-

parks leichtgläubig mit den Leistungen der

Studios gleich – was der Filmindustrie nur

recht ist. Wer sich daran stößt, verkennt die

schaustellerische Vergangenheit der amerika -

nischen Filmproduktion.

Wenn Universal in diesem Jahr sein hundert-

jähriges Bestehen feiert, dann stehen dabei

bezeichnenderweise nicht die großartigen Fil-

me des Studios im Mittelpunkt (schon des-

halb nicht, weil es derzeit kaum neue Best-

leistungen vorzuzeigen hat), vielmehr spielt

sich die Feier für mehr als 80 Dollar Eintritt

auf dem Studio-Gelände ab. Auch dort findet

der Besucher Alfred Hitchcock auf das Bates

Motel und Steven Spielberg auf den Weißen

Hai reduziert, während im Vordergrund der

Show „Transformers: The Ride“, „Battle of

Galactica“ und zahllose Schnellrestaurants

um die Gunst des Publikums buhlen. Wer

wenigstens ein bisschen hinter die Kulissen

blicken will, muss schon ein paar hundert

Dollar locker machen und die VIP-Tour bu-

chen. Doch das war eigentlich nie anders.

Glanzvolle Vergangenheit

Als der 17-jährige Carl Laemmle mit 35 Dol-

lar in der Tasche 1884 aus dem deutschen

Laupheim in Castle Garden, einem Vorläufer

von Ellis Island, ankam, war für ihn das

Wunder der bald populär werdenden Nickel -

odeons auch hauptsächlich deshalb interes-

sant, weil es ihm eine Möglichkeit verhieß,

seinen Job in einer Kleidermanufaktur an den

Nagel zu hängen. Nicht weit außerhalb der

Stadtgrenze von Los Angeles etablierte

Laemmle später die erste „Filmstadt“ der

Welt, indem er ein riesiges Stück Ackerland

kaufte, das damals als „die Hühnerfarm“ be-

kannt war. Sogleich begann er nicht nur Fil-

me zu produzieren, sondern lud auch Neu-

gierige ein, sein frischgebackenes Studio zu

besichtigen. Während sie zusahen, wie auf

dem einstigen Farmgelände die ersten

Stummfilme gedreht wurden, kauten die Be-

sucher der Überlieferung zufolge am Inhalt

von Lunch-Boxen, die der geschäftstüchtige

Laemmle austeilen ließ. Der erste „Theme

Park“ der Filmgeschichte war geboren. Ande-

re Studios haben versucht, die 1964 daraus

hervorgegangene Universal Studio Tour zu

kopieren, stießen aber schon deshalb nicht

auf eine vergleichbare Resonanz, weil sie

nicht über ein so großes, bald mit ganzen

Straßenzügen und Stadtteilen bebautes Gelän-

de verfügten, für das es sich gelohnt hätte,

Millionen zu investieren, um eine Riesen-

show daraus zu machen.

Spätestens seit den 1970er-Jahren hat Univer-

sals „Theme Park“ für das Studio eine ganz

entscheidende Rolle gespielt. Es war die Zeit,

als das inzwischen farbige Fernsehen zu ei-

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AUS HOLLYWOOD

nem kommerziell bedeutenden Faktor wurde.

Universal, das damals längst der Talent-Agen -

tur MCA gehörte, erkannte die neuen Mög-

lichkeiten und stürzte sich in die Produktion

von TV-Movies und TV-Serien wie kein ande-

res Studio in Hollywood. Die wechselseitige

Promotion seiner Fernsehserien in dem durch

realistische Tour-Attraktionen wie „Jaws“ und

„Earthquake“ populär gewordenen „Theme

Park“ und umgekehrt seiner Studio Tour im

Fernsehen katapultierten den Namen Univer-

sal ins Bewusstsein aller Amerikaner. Kinofil -

me wie „Airport“, „The Sting“, „Back to the

Future“, „Out of Africa“ und „Jurassic Park“

stabilisierten den Ruf des Studios, das bis da-

hin hauptsächlich für seine Horror- und Sci-

ence-Fiction-Filme bekannt war, bei den Film-

fans überall in der Welt. Und in den USA

waren es nicht zuletzt TV-Serien vom Schla-

ge „Ironside“, „Kojak“ und „Columbo“, mit

denen das Publikum Universal identifizierte.

Universals Erfolgsgeschichte war mehr noch

als die der anderen Hollywood-Studios von

einem beständigen Auf und Ab gekennzeich -

net, aus dem einige Perioden nachträglich als

deutlich erkennbare Höhepunkte hervorste -

chen: die „Frankenstein“- und „Dracula“-Peri-

ode, die Jahre der Doris-Day- und Rock-Hud -

son-Erfolge, Hitchcocks kommerzieller Höhe-

punkt mit „Psycho“, „The Birds“ und nicht

zuletzt seiner jahrelangen „Alfred Hitchcock

Hour“ und schließlich die Ära der Katastro -

phenfilme, die mit „Airport“ und „Earth-

quake“ aus der Taufe gehoben wurde. In der

Geschichte des Studios spielten Stars wie

Jane Wyman, James Stewart und Gregory

Peck eine große Rolle sowie hinter der Kame-

ra Regisseure wie Don Siegel, George Roy

Hill und immer wieder Steven Spielberg.

Oft wird über den spektakulären Namen und

Titeln vergessen, dass das Management-Team

Lew Wasserman und Sidney Sheinberg, das

Universal in den 1970er- und 1980er-Jahren

zu einer Hochblüte führte, nicht nur für die

Entdeckung und Förderung Steven Spielbergs

verantwortlich war, sondern auch die Entste -

hung einiger künstlerisch und gesellschaftlich

hoch beachtlicher Filme ermöglicht hat: „The

Last Temptation of Christ“, „Born on the

Fourth of July“, „Do the Right Thing“ und

„Field of Dreams“ erhielten damals grünes

Licht.

Individualität geht verloren

Viel von dem, was Universals Film- und Fern-

sehproduktion wie auch deren Höhe- und

Tiefpunkte beeinflusst hat, lässt sich vor al-

lem in den beiden letzten Jahrzehnten auf

das unbeständige korporative Schicksal des

Studios zurückführen. Wie auch andere Hol-

lywood-Studios hat Universal häufiger, als ei-

nem großen Produktionsunternehmen gut

tun kann, den Eigentümer gewechselt. Die

konservative MCA verpasste zur Zeit der um

sich greifenden Diversifikation der Medienbe -

triebe in vielen Dingen den Anschluss, was

sie für einen Zugriff durch die japanische

Elektronikfirma Matsushita prädestinierte.

Deren großer Konkurrent Sony hatte gerade

mit der Übernahme des Columbia-Studios ge-

zeigt, dass eine Kombination von Hardware-

und Filmproduktion Sinn machen könnte.

Zwei Jahre, nachdem die Japaner MCA (und

damit Universal) gekauft hatten, änderte sich

abermals die Strategie in der Branche. Nicht

mehr die Verbindung von Hardware und

Software galt Anfang der 1990er-Jahre als der

Weisheit letzter Schluss, sondern die Einbin -

dung der Filmstudios in umfassendere Orga-

nisationen, die in der Lage waren, Produk -

tion und weltweite Distribution in allen Me-

dien gleichzeitig zu kontrollieren. Statt sich

aber zum Beispiel zusätzlich bei einem Fern-

seh-Network oder einem Kabelunternehmen

zu engagieren, entschloss sich Matsushita lie-

ber zum Verkauf. So wanderte MCA-Univer-

sal 1995 an den kanadischen Whisky-Herstel -

ler Seagram, bald darauf an das französische

Konglomerat Vivendi und im Jahr 2004 an

General Electric, die Muttergesellschaft des

NBC-Networks. In einem Aktiendeal ging

schließlich im Januar 2011 eine Mehrheit von

51 Prozent an den Kabelkonzern Comcast.

Auf dem steinigen Weg dahin verließen ei-

nige der besten Executives – freiwillig oder

unfreiwillig – das Unternehmen, sehr zu des-

sen Schaden.

Der gravierendste Verlust war wohl die Tren-

nung von Steven Spielbergs Produktionsbe -

trieb DreamWorks, der sich zunächst mit Pa-

ramount liierte und heute mit Disney ver-

bunden ist. Ausgerechnet im Augenblick sei-

nes hundertjährigen Jubiläums geschieht es

Universal nun, dass seine Filme kaum einen

nennenswerten Anteil an den kommerziellen

Hits dieses Jahres stellen. Nach bitteren Ent-

täuschungen der Hoffnungsträger „Cowboys

& Aliens“, „The Thing“ und „Battleship“ an

den Kinokassen ist „Snow White and the

Huntsman“ die erste Universal-Produktion,

mit der das Studio wieder Aufmerksamkeit

auf sich gelenkt hat.

Wie so oft in der Geschichte Hollywoods

zeigt sich am aktuellen Beispiel von Universal

abermals, dass neue Eigentümer, deren

Hauptinteresse nicht die Filmproduktion ist,

auch solide fundierte Studios rasch in Miss-

kredit bringen können. Nachdem kenntnis-

reiche Mitarbeiter wie Stacey Snider, Marc

Shmuger und David Linde Universal verlas -

sen hatten, setzte Comcast auf das Team

Adam Fogelson und Donna Langley, die in

der Branche nicht gerade als Innovatoren be-

Hollywood spricht über ... James Bond wird 50

E in weiteres Jubiläum steht in diesem Jahr vor

der Tür: James Bond wird 50. Seit „Dr. No“

1962 auf der Leinwand erschien, hat nach An-

sicht der Statistiker die Hälfte aller Erdbewohner

mindestens einen James-Bond-Film gesehen. Heutige

Franchises mögen es pro Film auf mehr Geld brin-

gen, aber ob sie in 50 Jahren immer noch für neue

Kino-Abenteuer gut sind, wie es der „Geheimagent

Seiner Majestät“ schafft, darf bezweifelt werden. Im-

merhin, 3,5 Mrd. Dollar sind schließlich auch kein

Pappenstiel. So viel haben die bisherigen Bond-Filme

kumulativ eingebracht. Von Sean Connery bis Daniel

Craig haben sechs Schauspieler den weltge wandten

Helden mit dem unstillbaren Appetit auf Frauen und

Wodka-Martinis ihr Gesicht geliehen. Und dabei ist

David Niven in dem satirischen Außenseiter „Casino

Royale“ nicht einmal mitgezählt. Bonds Aston Martin

ist ebenso zum Luxussymbol der Fans geworden wie

John Barrys musikalisches Titelmotiv zur Inspiration

einer ganzen Generation von Filmkomponisten. Sogar

Staatspräsidenten gehörten zu den Bond-Anhängern:

John F. Kennedy soll höchstpersönlich „From Russia

With Love“ als zweiten Bond-Film vorge schlagen ha-

ben. Wenn im November „Skyfall“, der 23. Bond-

Film, in die Kinos kommt, wird zur Feier des halben

Jahrhunderts auch eine Jubiläumsbox mit 22 frisch

restaurierten Blu-rays aller bisherigen Filme plus 130

Stunden Bonus-Material erscheinen, genug, um die

Fans glücklich zu machen, auch wenn das Ver-

gnügen 199 Dollar kosten soll. Ev.

kannt sind. Deren Buchhalter-Mentalität be-

wegte sie denn auch prompt, die Produktion

von Guillermo Del Toros Projekt „At the

Mountains of Madness“ einzustellen, in des-

sen Entwicklung das Studio bereits viel Geld

und Zeit investiert hatte, und auf die ambi-

tionierte Stephen-King-Verfilmung „The Dark

Tower“ zu verzichten. Die Palette ihrer Pro-

duktionen für die beiden nächsten Jahre hat

wenig Individualität und verlässt sich in viel

zu hohem Maß auf Angebote der mit Univer-

sal kooperierenden Produktionsbetriebe, Fir-

men wie Relativity Media und Village Road-

show. Das Schwergewicht liegt eindeutig auf

der Fortsetzung bereits reichlich strapazierter

Franchises von „Jurassic Park“ über „Fast and

Furious“ bis zu „Transformers“. Universals

Glanzlichter stecken in der mehrere tausend

Filme umfassenden „Library“. Aber ein Stu-

dio, das gerade mit gehörigem Pomp ein neu-

es Jahrhundert betreten will, kann nicht al-

lein von seinem Archiv leben. Hoffentlich se-

hen das auch die branchenfremden Okkupan-

ten von Comcast bald ein, die heute über

Carl Laemmles Erbe das Sagen haben.

Franz Everschor

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20 film-dienst 14/2012

KURZFILM

Erst die Sehnsucht, dann der Schock

DIE KÜHNEN GEFÜHLSDRAMEN DES DEUTSCHEN KURZFILMERS EICKE BETTINGA

Beim Filmfestival von Cannes ist Eicke

Bettinga bekannter als in Deutsch-

land. In den letzten zehn Jahren lie-

fen dort drei Kurzfilme des deut-

schen Nachwuchsregisseurs in verschiedenen

Sektionen – eine höhere „Cannes-Quote“

kann nur Wim Wenders vorweisen. In die-

sem Jahr lief Bettingas neuer Kurzfilm

„Gasp“ sogar im Wettbewerb um die „Golde-

ne Palme“. Gewonnen hat er sie zwar nicht,

aber spätestens jetzt werden alle auf diesen

ungewöhnlichen Mann aufmerksam, denn

„Gasp“ ist ein Kleinod, ein subtiler in-

tellektueller Schocker über eine bestimmte

Art von Sehnsucht in der Pubertät, die allzu

vorschnell ausgeklammert wird.

Ein Teenager steht in der Dusche. Man sieht

ihn von hinten. Er hat eine Plastiktüte auf

dem Kopf. Lautlos fällt er zu Boden und

zieht sich röchelnd die Tüte vom Kopf. In

der Schule klappt es gut, er wird für ein Sti-

pendium vorgeschlagen, was ihn jedoch

ebenso kalt lässt wie die Bemühungen seiner

Mutter, einen Zugang zu ihm zu finden.

Sehnsüchtig beobachtet der Junge ein Liebes-

paar beim Küssen. Später, als er allein im

Wald ist, umarmt er einen Baum, wie er viel

lieber ein Mädchen umarmen würde – bis

ein anderer Junge kommt. Sie freunden sich

an, mehr mit Blicken als mit Worten. Einige

Zeit später hat der Junge im Wald wieder sei-

ne Selbstmordtüte dabei; da flüstert ihm sein

neuer Freund etwas ins Ohr – und er zieht

dem Freund die Tüte über den Kopf.

In „Gasp“ machte Eicke Bettinga fast alles

selbst: Buch, Kamera, Regie. Gesprochen

wird kaum. Großaufnahmen der glasigen Au-

gen des Jungen genügen, um zu zeigen, was

er fühlt. Das ist es, was den 15-minütigen

Film zu einer so intensiven Gefühlsstudie

macht. „Mein Lehrer Stephen Frears hat mir

viel beigebracht“, erzählt Bettinga. „Er sagte

knallhart: Das ist Scheiße, das ist gut. Am

Anfang ist das schon desillusionierend.“ Bet-

tinga, 1978 in Aurich geboren, studierte in

Großbritannien an der National Film and Te-

levision School (NFTS). Mit 17 zog es ihn

nach England, der Sprache wegen.

Dort machte er Abitur, schrieb Theaterstücke

– und verarbeitete seine Prüfungsängste zu

dem Kurzfilm „Exam“, der ihm die Tür zur

Aufnahmeprüfung an der NFTS öffnete.

Dass er Filme drehen wollte, wusste er schon

mit 14, als alles ganz klassisch begann. Der

Vater, ein Hobbyfilmer, gab ihm die erste Ka-

mera. Eicke Bettinga begann, auf Video zu

drehen, kurze Krimis und Persiflagen mit sei-

nen drei Brüdern als Darstellern. Eine davon,

die „Indiana Jones“-Parodie „Indiana Jost“

(1994), war ein großer Erfolg bei der Werk-

statt für junge Filmer in Wiesbaden und lief

danach bei weiteren Festivals, ebenso wie

der nächste Film „Kolk“ (1995); beide Filme

erhielten den deutschen Jugendvideopreis.

Nach seinem Studium kamen weitere Preise

hinzu, etwa die Goldmedaille beim Interna-

tionalen Filmfestival von Chicago für den bes-

ten Studentenfilm unter 15 Minuten für sei-

nen Abschlussfilm „Shearing“. Wieder be-

ginnt alles spielerisch: Eine Stadtfrau zieht

nach der Heirat aufs Land zu ihrem Mann,

der aber nur Augen für seine Schafe hat. Auf

dem Videobild, das den Blick aus dem Stall

in die Küche überträgt, beobachtet er per-

manent die Schafe. Die vernachlässigte Frau

geht in die nächste Kneipe, wo der Wirt ihr

Avancen macht. Doch eigentlich will sie kei-

ne Affäre, sondern die Aufmerksamkeit ihres

Mannes zurückgewinnen. Das schafft sie mit

einer genialen Idee: Sie geht in den Stall und

zieht sich langsam inmitten der Schafe vor

der Videokamera aus.

Bettinga konzentriert sich in „Shearing“ je-

weils auf die beiden Personen, die mit-

einander kommunizieren. Warum die Worte

nicht so ernst gemeint sind, wie sie klingen,

wird schnell klar, wenn die Blicke dabei am

Partner vorbei gehen statt auf ihn. Dennoch

wirkt alles natürlich und lebensecht, nicht

inszeniert, das sorgt für Spannung. „She-

aring“ brachte Bettinga 2002 seine erste

Einladung nach Cannes ein – in die Hoch-

schulfilm-Sektion „Cinéfondation“. Davon

schwärmt er heute noch: „In der Jury saß

Martin Scorsese. Er sah meinen Film! Und

meinte danach: „You should make a feature

film“.

Trotz des ersten internationalen Erfolgs blieb

Bettinga auf dem Teppich. Er begann, in Lon-

don in der Werbebranche zu arbeiten, hatte

er doch 2002 schon den Kodak Student

Commercial Award bekommen. Seine Spezia-

lität: Werbefilme mit Charakteren und einer

kleinen Geschichte. Solche Spots drehte er

ab 2004 auch in Deutschland. Doch die we-

nigen Monate, die er fest bei der renommier-

ten Werbeagentur Saatchi & Saatchi in Frank-

furt arbeitete, machten ihn nicht wirklich

glücklich. Bald arbeitete er wieder freiberuf-

lich in der Werbung, zumal er als einer der

Gewinner des Science-Fiction-Nachwuchs-

wettbewerbes „Agenda 2020 – Wie werden

wir leben?“ (ZDF) einen 60-Minuten-Film

drehen durfte. Mit Weiß als Hauptfarbe und

einem distanzierten Blick auf die Figuren er-

innert „TRUST.Wohltat“ ein wenig an „Gatta-

ca“ und ein bisschen auch an Fassbinder,

doch die Geschichte, die Bettinga erzählt, ist

grausamer. Es geht um genetisch reine Men-

schen – wie zur Nazizeit – und um solche,

die keine Skrupel haben, wenn es um ihren

Vorteil geht. Ein Versicherungskonzern hat

die Macht über die Menschen. Reiche Senio-

ren kaufen bei der Versicherung Trust einen

jungen Menschen. Sie zahlen seine Aus-

bildung und bekommen dafür die Rendite,

die er für Trust erwirtschaftet. Ein Ehepaar

(Irm Hermann und Manfred Andrae) adop-

tiert so quasi den Medizinstudenten Luca

(Florian Panzner), der ihnen auch noch zu ei-

nem Kind verhelfen soll, indem er seinen Sa-

men einer Leihmutter spendet. Doch Hannah

will das Kind behalten, weil sie das Geld für

ihre pflegedürftigen Eltern braucht, auch

wenn Trust es abtreiben will, weil bei Luca

ein Gendefekt entdeckt wurde, der in der

perfekten Welt von Trust keinen Platz hat.

Um das Kind zu behalten, schrecken Luca

und Hannah nicht vor Mord zurück, doch

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film-dienst 14/2012 21

das schützt sie nicht vor dem Übergriff der

Versicherung.

„Einen Ausweg aus der verfahrenen Situation

gibt es nicht, die Gesellschaft soll der Böse-

wicht sein und soll auch gewinnen“, erklärt

Bettinga, warum er sich nicht zu einem Hap-

py End durchringen konnte. Zwei Jahre ar-

beitete er (neben den Werbejobs) für diesen

mittellangen Film, der zwar nicht langweilig

ist, aber doch arg stilisiert und steril wirkt.

„Das große Problem war, futuristische Ecken

zu finden, die bezahlbar sind; die gute Er-

fahrung war, zu lernen, wie man maximale

Effekte mit minimalen finanziellen Mitteln er-

reicht“. Der in Berlin entstandene Fernsehfilm

hatte gute Einschaltquoten und wurde dreimal

wiederholt, sagt Bettinga nicht ohne Stolz.

Bei der Finanzierung seines nächsten Kurzfilms

„Together“ half das Stipendium „Cast & Cut“.

10.000 Euro beträgt der Produktionskosten-

zuschuss für den Kurzfilm, den die Stipen-

diaten innerhalb von sechs Monaten als „Artist

in Residence“ in Hannover fertig stellen sollen.

Bettinga drehte in Englisch mit seiner briti-

schen Produzentin aus den Hochschultagen für

insgesamt 40.000 Euro. Aus „TRUST.Wohltat“

mitgenommen hat er das Weiß – der Film

spielt im Winter – und die Gefühlskälte der

Hauptfiguren. Ein Jahr nach dem Tod seines

Bruders fährt Rob, ein junger Engländer, zu sei-

nen Eltern. Doch die drei reden nicht mit-

einander, alles erstickt in wortlosen Ritualen,

bis Rob eines Abends seinen Vater erst umarmt

– und dann offenbar erwürgen will. Die beiden

Männer kämpfen miteinander und liegen am

Ende keuchend, aber glücklich nebeneinander.

Die Gewalt wirkt als Ventil, all die angestauten

Trauergefühle endlich herauszulassen. Zufrieden

fährt Rob wieder ab.

„Es geht mir darum, den Zuschauer an-

zusprechen, wenn du das Publikum nicht er-

reichst, hast du verloren“, sagt der selbst-

bewusste Jungfilmer über seine Mini-

Familiendramen. Die „Semaine de la Criti-

que“ in Cannes lud diesen emotional berüh-

renden Kurzfilm 2009 in den Wettbewerb

ein, der Bettingas größter finanzieller Erfolg

wurde („Ich konnte ihn gut verkaufen“) –

nicht zuletzt wegen Matt Smith, der Rob

spielt. Smith bekam die Hauptrolle in der bri-

tischen Fernsehserie „Doctor Who“, die ihn

schlagartig bekannt machte und den Blick

auf seine früheren Arbeiten lenkte, auch auf

diesen Kurzfilm. Von „Together“ übrig ge-

blieben für „Gasp“ sind wieder einige Ele-

mente: eine gewisse Unfähigkeit der Figuren,

sich verbal auszudrücken, und ein optischer

Rahmen. Bei „Together“ ist es die Autofahrt

am Anfang und Ende, die eine abge-

schlossene Episode im Leben markiert, die

Entsprechung in „Gasp“ ist der Blick von un-

ten auf sich im Wind bewegende Baumwip-

fel. Bettinga hofft, durch die Präsentation von

„Gasp“ in Cannes Geld für einen ersten lan-

gen Spielfilm zu finden. Das Drehbuch ist

schon länger fertig: „Eine britische Studentin

will in den 1980er-Jahren unbedingt in die

DDR. Es soll ein Film werden, der ähnlich

cross-cultural ist wie ich“, verrät der in Ber-

lin lebende Regisseur.

Bis es soweit ist, wird er weiter Werbespots

drehen („Das geht schnell, von der Idee bis

zum fertigen Film dauert es drei Wochen“).

Einer lief kürzlich im Fernsehen, er wirbt für

den Bandwettbewerb von MTV: Bei der Prä-

sentation einer Werbung entblößt der smarte

Mann im Anzug zuerst seinen Unterarm, wo

ein Schrift-Tattoo sichtbar wird – zum Entset-

zen seiner Auftraggeber. Dann reißt er sein

Hemd auf. Bild-Tattoos auf der Brust und

dem Rücken zeigen weitere Stationen der

Werbekampagne. Als Letztes kündigt er eine

kleinformatige Version an – und öffnet den

Hosenschlitz. Andrea Dittgen Filme: „Exam“ (1999, 10 Min.) „Double Happiness“ (2001, 25 Min.) „Shearing“ (2002, 12 Min.) „Jureks Kino“ (2006, Dok, 45 Min.) „Family“ (2006, 15 Min.) „TRUST. Wohltat“ (2007, 60 Min., auf der dt. DVD „Agenda 2020“) „Together“ (2009, 14 Min., auf der frz. Doppel-DVD: „Cannes 09, 48e semaine de la critique“) „Gasp“ (2012, 15 Min.) www.eickebettinga.com

„TRUST. Wohltat“

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SEHENSWERT

D I E K R I T I K E N

DISKUSSIONSWERT

Cosmopolis 30 Periferic 26

Fast verheiratet 37 Hasta La Vista 36 Mary & Johnny (kino schweiz) 44 Os Residentes 41 Pommes essen 31 Sons of Norway 27 Woody Allen: A Documentary 38

41 152

Sleep Tight

César ist ein Mann Mitte 40, der nach

eigener Aussage noch nie Glück emp-

funden hat. Dabei sieht es zu Beginn

des Films so aus, als hätte er dafür durchaus

Grund. Denn César wacht neben Clara auf:

Mitte 30, sehr attraktiv und mit einem ein-

nehmenden Lächeln. Behutsam und ohne sie

zu wecken zieht er sich an, nimmt seine Sa-

chen, steigt in den Fahrstuhl und ist unten

bereits bei seinem Arbeitsplatz angelangt. Als

Concierge und Hausmeister verwaltet er ein

altes, ehedem prachtvolles Haus. Seine Mut-

ter liegt im Krankenhaus, unfähig oder nicht

willens, sich zu seinen Monologen zu äu-

ßern, die um seine Beziehungsprobleme krei-

sen. Doch nach den ersten 15 Film-Minuten

bröckelt Césars Fassade; sein wahres Gesicht

kommt zum Vorschein: Während Clara von

der Arbeit nach Hause kommt, liegt er unter

ihrem Bett und wartet darauf, dass sie ein-

schläft. Dann drückt er ihr ein Tuch mit

Chloroform auf den Mund und betäubt sie,

wie in den Nächten zuvor.

Dies ist ein spannender und verblüffender

Einstieg in einen Thriller, der das Vertrauen

in die Sicherheit der eigenen vier Wände er-

schüttern will. Dabei hat man zu Beginn tat-

sächlich Mitleid mit César, einem Mann, der

keine Lebensperspektive zu haben scheint,

dessen buschige Augenbrauen und Halbglatze

ihn sympathisch normal und harmlos erschei -

nen lassen. Doch er ist ein perfider Psycho-

path. Seiner Mutter beichtet er, dass er Clara

endgültig das fröhliche Lächeln aus dem Ge-

sicht wischen will. Deshalb spritzt er in ihre

Kosmetika ein Mittel, das einen Ausschlag

bewirkt. Obwohl er es sich zur Aufga be ge-

macht hat, Clara unglücklich zu machen, ist

er doch auch in sie verliebt, präsentiert sich

als Retter in der Not, nachdem die von ihm

ausgelegten Larven von Küchenschaben ge-

schlüpft sind und ihre Wohnung voller Käfer

ist, während er sie zeitgleich anonym über

E-Mails und Textnachrichten belästigt und zu

ängstigen versucht.

Regisseur Jaume Balagueró, der seine Erfah -

rung mit Genrestoffen wie den Zombie-

Filmen „Rec“ (fd 38 709) und „Rec 2“ sam-

melte, und seinen Darstellern gelingt es, die

Empathie der Zuschauer zu manipulieren

und die anfängliche Sympathie, die man dem

Underdog César entgegenbringt, von Szene

zu Szene ins Gegenteil kippen zu lassen, wo-

mit dieser immer furchterregender erscheint.

Als César eines Nachts erneut unter Claras

Bett lauert, kehrt sie mit ihrem Freund nach

Hause. César narkotisiert sich aus einem Un-

geschick heraus selbst, sein Fluchtversuch ge-

lingt nicht mehr. Unentdeckt erwacht er an-

derntags in ihrer Dusche und will die Woh-

nung unbemerkt verlassen. In dieser fast

zehnminütigen Szene beweist Balagueró, dass

er es versteht, Spannung mit extrem hoher

Intensität zu inszenieren. Kurz vor Schluss

des cleveren, sorgfältig dramatisierten und

sehr düsteren Films, wenn Clara endlich wie

gelähmt vor Schmerz und Trauer ist, lächelt

César zum ersten Mal über das ganze Ge-

sicht. Doch zu diesem Zeitpunkt gönnt man

ihm das Fünkchen Glück schon lange nicht

mehr, sondern wünscht ihn zum Teufel.

Sascha Koebner

KINOSTART 5.7.2012

Sleep Tight Mientras duermes Scope. Spanien 2011 Produktion Castellano Pic./Filmax Ent. Produzenten Julio Fernández, Carlos Fernández, Alberto Marini Regie Jaume Balagueró Buch Alberto Marini Kamera Pablo Rosso Musik Lucas Vidal Schnitt Guillermo de la Cal Darsteller Luis Tosar (César), Marta Etura (Clara), Alber to San Juan (Marcos), Petra Martínez, Carlos Lasarte, Pep Tosar, Iris Almeida, Tony Corvillo Länge 101 Min. FSK ab 16; f Verleih Senator

Der soziopathische Hausmeister eines Wohn-hauses hat eine Obsession für eine attraktive junge Mieterin entwickelt. Heimlich dringt er in ihre Wohnung ein, manipuliert ihr Leben und beginnt, ihr Schaden zuzufügen. Span-nender Thriller, der die Furcht beschwört, sich in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher fühlen zu können, und geschickt die Empa-thie der Zuschauer manipuliert. – Ab 16.

„Cosmopolis“