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Ewige Wiederkehr oder unendlicher Fortschritt: Die Apokatastasisfrage bei Leibniz Author(s): MICHEL FICHANT Source: Studia Leibnitiana, Bd. 23, H. 2 (1991), pp. 133-150 Published by: Franz Steiner Verlag Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40694173 . Accessed: 29/04/2014 04:32 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Studia Leibnitiana. http://www.jstor.org This content downloaded from 188.93.107.17 on Tue, 29 Apr 2014 04:32:41 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Ewige Wiederkehr Oder Unendlicher Fortschritt Die Apokatastasisfrage Bei Leibniz

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MICHEL FICHANT Studia Leibnitiana, Bd. 23, H. 2

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Ewige Wiederkehr oder unendlicher Fortschritt: Die Apokatastasisfrage bei LeibnizAuthor(s): MICHEL FICHANTSource: Studia Leibnitiana, Bd. 23, H. 2 (1991), pp. 133-150Published by: Franz Steiner VerlagStable URL: http://www.jstor.org/stable/40694173 .

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Ewige Wiederkehr oder unendlicher Fortschritt: Die Apokatastasisfrage bei Leibniz1

Von

MICHEL FICHANT (PARIS)

Résumé

A la fin de sa vie, en 1715, Leibniz rédige, en marge d'entretiens et de sa correspondances avec Adam Theobald Overbeck, l'opuscule intitulé 'Anoicaxácrcaaiç navxcov. Il y examine hypothéti- quement une version originale de l'argument en faveur de l'Eternel Retour des mêmes cycles périodiques dans l'histoire des Etats ou des individus.

Cette version est la suite et le développement de la preuve que Leibniz avait examinée en 1693 dans De l'Horizon de la Doctrine bwnainet pour établir le caractère fini de l'ensemble des vérités qui peuvent être formulées avec les ressources d'un alphabet fini. A ce compte, le nombre des vérités de fait, qui constituent la matière des livres d'histoire, est lui aussi fini. Si l'on accorde un principe de correspondance qui associe de manière univoque les événements aux énoncés qui les relatent, il en résulte que l'ensemble des événements historiques (les «faits mémorables») est fini, et qu'à supposer que les hommes perdurent assez longtemps dans le même état où ils sont, les mêmes événements finiront par se reproduire, et les mêmes acteurs reviendront sur le «théâtre du monde».

L'article examine les présupposés de l'argument de Leibniz du point de vue de sa conception de la connaissance historique. Il esquisse ensuite quelques points saillants de l'histoire du mot et de l'idée d'ànoicaxaaxaaiç, à partir d'Origène et du stoïcisme tardif, afin de dégager le sens original que leur confère Leibniz. Enfin, il montre que la loi de continuité et l'idée d'harmonie, qui gouvernent le cours des choses, permettent à Leibniz de surmonter la contrainte apparente de l'argument tiré de la Combinatoire: une perspective de progrès infini s'ouvre alors aux esprits «qui connaissent et recherchent la vérité»; il n'y a pas pour eux d'«horizon de leur science future», ni de retour à l'identique.

Am 17. Juni 1715 erwähnt Leibniz in einem Brief an Adam Theobald Overbeck, den damaligen Konrektor des Wolfenbütteler Gymnasiums, seine „meditario(nes) [. . .] circa revolutionem seul palingenesiam omnium rerum, quae necessaria foret, si satis diu duraret genus humanum in eo quod nunc est statu"2. Neben den Briefen Overbecks und den Konzepten der Briefe von Leibniz enthält das Faszikel ihrer Korrespondenz in der Tat zwei Fassungen einer Untersuchung, die den derart definierten Gegenstand solchen Nachdenkens sorgfältig behandelt; die offensichtlich erste der beiden Versionen trägt den Titel 'Anoicaxáaxaaiç Ttávxcov (Die Wiederherstellung aller Dinge), die zweite, durchgesehene, korrigierte und erheblich erweiterte Fassung ist durch nur ein Wort benannt: 'Arcoicaxáaxaaiç. Den Text der späteren Version hat Max Etdinger 1921 im Anhang seines Essais Leibniz als Geschichtsphilosoph übersetzt und veröffentlicht, ob- gleich er den früheren Titel beibehielt. In der Leibniz-Forschung wird die Schrift seitdem

1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags vor der Leibniz-Gesellschaft am 24. Januar 1991 in Hannover. - Ich danke Herrn Jürgen Herbst (Leibniz-Archiv) für seine hervorragende Übersetzung. 2 LBr 705, Bl. 39 r°. Ich verweise auf meine Edition: Leibniz: De l'horizon de la doctrine humaine (1693), 'Arcoicaxáaxaaiç návxoov (La Restitution universelle) (1715), textes inédits, traduits et annotés par Michel Fichant, suivis d'une Postface: „Plus Ultra", Paris 1991, S. 86.

Studia Leibniriana, Band XXm/2 (1991) © Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart

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daher beständig unter der ersten Überschrift erwähnt: erwähnt, so muß man es be- zeichnen, mehr erwähnt als untersucht; die einzige philosophische Studie von gewissem Umfang, die sie zentral behandelt, findet sich in Kapitel X von Hans Blumenbergs Buch Die Lesbarkeit der Welt3. Die Drucklegung der von mir bearbeiteten Neuausgabe der Schrift schafft mir die Gelegenheit, mit einer schlichten Ausgangsfrage auf den Text zurückzukommen: Was bedeutet denn für Leibniz, so wie er ihn hier gebraucht, eigent- lich der Ausdruck „Apokatástasis" ?

1. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst den Gang der Argumente kurz verfolgen, die der Text unmittelbar im Anschluß an eine These entfaltet, die bereits im Jahre 1693, also etwa 22 Jahre zuvor, in De l'horizon de la doctrine humaine entwickelt wurde. Es ging dort um eine weitere „meditation touchant le nombre de toutes les vérités ou faussetés possibles, que les hommes tels que nous les connoissons peuvent énoncer [...]. Pour faire voir les bornes de l'esprit humain et son étendue à les connoistre"4

Angenommen wird hier nun, jede Wahrheit sei in eindeutiger Weise einem vermittels der Elemente eines endlichen Alphabets geschriebenen Ausdruck zuzuordnen, dessen größte Länge sich nach dem gegenwärtigen Vermögen der Menschen bemißt, seinen Sinn je zu erfassen. Ein dem Verfahren des Archimedes im Arenarius nachgebildeter Kalkül zeigt dann sehr leicht, daß unter diesen Voraussetzungen die Anzahl solcher wie im übrigen auch der falschen Ausdrücke und selbst von sinnlosen Buchstabenkombina- tionen endlich ist - endlich auch die Zahl der umfangreichen Bücher, in denen sie verzeichnet wären. Hält man sich an die Bedingungen, die den Kalkül ausführbar machen, so wird man zunächst schließen können, daß Terenz' Aphorismus: „Nihil dici quod non dictum sit prius"5 eines Tages, wenn nämlich jene, deren Metier das Bücher- schreiben ist, ihr Feld der möglichen Kombinationen aller Zeichen endlich ausgeschöpft haben werden, buchstäblich bestätigt würde: und damit wäre „l'horizon de la doctrine humaine" erreicht.

Das Argument tritt allerdings nur hypothetisch auf, und es muß hier darum gehen, seine Grundbedingungen herauszulösen und im übrigen das Mittel des Beweises von dessen Gegenstand zu trennen. Leibniz setzt zunächst voraus, daß „tout ce qui appartient à la doctrine est enonçable": man darf also „doctrine", d. h. in diesem Kontext „Wissen", nicht etwa mit „Denken" („pensée") oder „menschlicher Geist" („esprit hu- main") verwechseln, die das in den verworrenen Perzeptionen und den Empfindungen enthaltene Unendliche einschließen, in denen sich die überabzählbare Mannigfaltigkeit der Dinge ausdrückt. Zweitens unterstellt er dann, daß das Menschengeschlecht unverändert in seinem gegenwärtigen Zustand verharrt. Beweismittel ist eben der mit dem Apparat der ars combinatoria erbrachte Nachweis, daß die Anzahl aller möglichen Bücher endlich ist (da stets eine noch größere Zahl angegeben werden kann); der Gegenstand des Beweises hingegen enthüllt sich schon auf der ersten Seite durch die Randbemerkung: „Peu de probabilité que le genre humain dure tousjours". Die Schlußfolgerung kann nun auf zweierlei Weise formuliert werden: zunächst ausdrück-

3 Frankfurt a. M. 1981. Die Grundgedanken dieses Beitrags findet man auch unter dem Titel Eine imaginäre Universalbibliothek , in: Akzente 28 (1981), S. 27-40.

4 LH IV, 5, 9, Bl. 2 r°; S. 39 meiner Edition. 5 Wortwörtlich: „[...] nullumst iam dictum quod non dictum sit prius" (Eunucbus, Prol., Z. 41),

zitiert nach Robert Kauer und Wallace M. Lindsay (Hrsg.): P. Terenti Afri Comoediae, repr. Oxford 1979, S. 114.

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lieh, „si le genre humain durait assez long temps, presque tout ce qu'on pourrait dire ne seroit que redites"; dies aber „choque l'harmonie des choses", und man muß daher annehmen, „que Testat present du genre humain ne durera pas assez pour cela"6. Im Hintergrund scheint dann eine andere Konsequenz auf, die eine künftige Entwicklungs- perspektive des Menschengeschlechts jenseits, „plus ultra", seines gegenwärtigen Zu- standes skizzierend suggeriert: an zunehmend reineren, feineren und deutlicheren Per- zeptionen zu reifen, deren Ausdrückbarkeit die Grenzen des Sagbaren verschieben wird. Und dies eben sind die Folgerungen, deren sich die 'ATtoicaxácrraaiç rcávTíOV 22 Jahre später erneut bedient.

Der schon erwähnte Brief an Overbeck zeigt die Verklammerung der Themen klar:

„[...] si satis diu duraret genus humanum in eo quod nunc est statu [,] tandem [. . .] efficeretur, ut literaìissime vera esset sententia haec: nihil dictum in quod non dictum fuisset prius; imo ut verbotenus redirent priores libri. Ex quo amplius sequitur edam Historias priores redituras. Nam si ponamus, ut hodie, Historiam temporis semper conscribi (certe conscribi potest), ubque cum libri sint futuri iidem, erit edam eorum materia eadem, id est eadem erit Historia"7.

Ohne sie nochmals abzuhandeln, betrachten beide Fassungen der 'AíiOKaxáataaiç die grundlegende Frage nach der Berechenbarkeit der Zahl von Ausdrücken, die den Umfang ganzer Bücher erreichen könnten, als gelöst und stellen sich sofort jenseits der Genauigkeit und Vorsicht, welche die kleine Schrift von 1693 bestimmten, deren Züge sich somit verwischen. Man weiß also, daß die Zahl der Bücher, die beispielsweise einhundert Millionen Buchstaben enthalten, endlich ist, und man weiß sie zu berechnen: „Hie numerus vocetur N*. Falls die Annalen eines beliebigen Jahres der Weltgeschichte niedergeschrieben werden können, ohne die Dimensionen solcher Bücher zu sprengen, so ist die Zahl aller Jahrbücher kleiner oder gleich N, also endlich. Die gleiche Schlußfol- gerung gilt, wenn man den Umfang der Bücher dergestalt ausdehnt, daß den Annalen die Lebensgeschichten berühmter oder unbekannter Einzelpersonen hinzugefügt werden. Gewähren wir 1023 Zeichen und nennen die Zahl der Bücher Q: die Zahl der entsprechen- den Jahrbücher, welche also die Geschichte des öffentlichen Lebens und der Einzel- schicksale enthalten, wird kleiner oder gleich Q und somit endlich sein.

In einem unveröffentlichten Fragment aus dem Jahre 1701, das gewissermaßen ein Bindeglied zwischen De l'horizon de la doctrine humaine und der 'ATtOKaxáaxaaiç darstellt, liest man folgende Umformulierung des Korrespondenzprinzips zwischen Aus- drücken und Wahrheiten:

„Pósito autem aliquando nihil dici quod non dictum sit prius, oportet esse tempus quoque, quo redeant etiam eadem gesta, nihilque fiat quod non factum sit prius, nam quae geruntur materiam praebent sermonibus" 8

Von nun an handelt man also über einen Teilbereich aller möglichen Bücher, die Geschichtsbücher nämlich, der einem Teilbereich von Wahrheiten entspricht, nämlich den kontingenten Wahrheiten der Tatsachen und Ereignisse, die in diesen Büchern selbst

6 LH IV, 5, 9, Bl. 5 Vo; S. 53 meiner Edition. 7 LBr 705, Bl. 39 r°: S. 86 meiner Edition. 8 LH IV, 5, 9, Bl. 7 r°; S. 56 meiner Edition. Das Fragment bezieht sich auf den Brief an

Fontenelle vom 26. Februar 1701, erstmals veröffentlicht von A. Birembaut, P. Costabel, S. Delorme: La Correspondance Leibniz -Fontenelle et les relations de Leibniz avec VAcadémie Royale des Sciences en 1700-1701, in: Revue d'Histoire des Sciences 19,2 (1966), insbesondere S. 128-129 (Nachdruck dieser Stelle auf S. 84 meiner Edition).

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enthalten sind. Die erste Option setzt gleichsam eine Einteilung der Bücher nach deren Gegenständen voraus, die bibliothekarische Tätigkeit des Verzeichnens und der Erstel- lung eines Katalogs.

Das zweite Unternehmen ist ein erkenntnistheoretisches und verfährt zunächst kate- gorisierend: Jede singuläre Aussage fällt in den Rahmen von „Historia", im Gegensatz sowohl zu universal-kontingenten Aussagen, die auf Induktion beruhen („Observado"), als auch zu universal-notwendigen und beweisbaren Aussagen, die der „Scienria" zuge- hören (Nova Methodus I, § 32; A VI, 1, 284). Nachdem diese Klassifizierung vorgenom- men ist, bestimmt sich die Geschichte durch das Auflisten der verschiedenen Bereiche von Singularität: „Philosophia est complexus doctrinarum universalium, opponitur Historiae quae est singularium"9.

Das ist nun zweifellos eine zu abstrakte Definition des Feldes von historischem Wissen, um darin die Deutung der Argumentation zu finden, die zur Konsequenz der 'AflOKaTáaxaaiç führt. Diese beruht in der Tat auf einer engeren Verbindung zwischen „Handlungen" und „Worten", die den Schluß vom „nihil dici quod non dictum sit prius" auf ein „nihil fieri quod non factum sit prius" ermöglichen muß. Wenn die Ereignisse den Gegenstand der Rede bilden, so ist auch das Menschengeschlecht in seinem gegenwärti- gen Zustand ebenso befähigt, den Gegenstand der öffentlichen Geschichte zu bilden, wie die Individuen den Stoff ihrer eigenen Geschichte liefern. In beiden Fällen wird der Gegenstand offenbar durch die Geschehnisse erzeugt, die den Lauf der Welt, die Ent- wicklung der Staaten und Völker, die Existenz von Familien und Privatpersonen insofern betreffen, als man sie für wert befindet, niedergelegt und zur Erinnerung aufbewahrt zu werden. Es scheint, daß Leibniz, um die These der 'ATiOKaxáaxaaiç zu stärken, den ereignishaften Grundzug berechneter Geschichtsbücher mit dem Begriff der „histoire memorable" direkt anspricht: „Une histoire memorable peut estre placée dans les annales de l'histoire universelle et dans l'histoire du pays où elle est arrivée, et dans l'histoire de la vie d'un homme qui y estoit intéressé" (Affi IV, XXI § 4; A VI, 6, 523); deren Reihe liefert: „ce Roman de la vie humaine, qui fait l'histoire universelle du genre humain" (Théod. II, § 149; GP VI, 198). Und es sind in jedem Jahr die Ensembles solch historischer Ereignisse, die den Gegenstand der Bücher formen, denen der Kalkül schon a priori die Grenze ihrer Zahl bescheinigt. Damit gilt auch für sie die Konsequenz, die von der Endlichkeit der Geschichtsbücher zur Wiederkehr der gleichen Vergangenheit führt.

Dieser Schluß beruht zudem auf wesentlichen Zügen der Praxisdes Historikers, wie Leibniz sie vertreten und zugleich verrichtet und durchdacht hat. Es ist bezeichnend für die Eigenart des historischen Faktums, so wie Leibniz es versteht, daß es dem Historiker schon als Sprachtatsache gegenübertritt. Die res gestae übermitteln sich weniger durch narrative Quellen und Zeugnisse, die ihren Ereignischarakter über- bringen würden, als in der entwickelten Gestalt kodifizierter Texte:

„Suntigitur Actorum publicorum Tabulae pars Historiae certissima, quibus perinde ac Numismatibus, & lapidum Inscriptionibus, rerum fides transmittitur posteritati. Et reperta Typo- graphia factum est, ut turius chartae quam saxis aut metallis credas" (Codex juris gentium diplomati- cum, Dissert. I, § III; Dutens IV, 3, 289).

Daher die ständig wiederholten und variierten Aufzählungen, sobald Leibniz die

9 Eduard Bodemann: Die Leibniz-Handschrifien der Königl. öffentl. Bibliothek zu Hannover, Hannover u. Leipzig 1895, S. 112.

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historischen Fakten mit den „Monumenten" gleichsetzt, die deren verläßlichste Verwah- rung sind: die Urkunden, die Abkommen zwischen Fürsten verzeichnen, die Überein- künfte, Friedens- und Bündnisverträge, die Heiratskontrakte mit Aussteuerregelungen, die Testamente und Akten über Adoption, Belehnung und Vasalleneid, die Schlichtungs- sprüche, die berühmten Urteile, das Abtreten von Königreichen, Fürstentümern oder ehrenvollen Ämtern, Abdankungen und Kapitulationen, die Statuten der Gesellschaften und Orden (A I, 9, S. 315, 249, 267 . . .) 10. Der Historiker ist zunächst Archivar, weil die Wirklichkeit selbst der Fakten, deren Neubau er arrangiert, durch die Aktenlage begründet ist. Es besteht insofern volle Übereinstimmung zwischen Fakten und Rede, als die Ereignisse, die würdig sind, in die Geschichte einzugehen, bereits geschriebene Dinge sind. Hier liegt, so scheint es, eine wichtige Prämisse vor, die das gesamte argumentative Gerüst der 'ATtoicaxácrcaaiç stark unterstützt: Nicht allein können wir kaum ohne Buchstaben denken11, es ist auch so, daß was wir zu denken, wiederzuerkennen, zu beschreiben und in Berichte zu fassen haben, schon durch und durch aus Schriftzeichen besteht. Daher, und angesichts der absehbaren Grenzen einer Bibliothek von Geschichts- büchern, die angesprochene Notwendigkeit der Wiederkehr.

2. Da Leibniz den Titel 'AflOKaxaaxaaic Tiávxtov wählte, klingen in diesem Aus- druck zwangsläufig noch die Spuren seiner früheren Verwendungen, und darunter, als eine ihrer neuesten, derjenigen von Johann Wilhelm Petersen, für den Leibniz sich besonders interessierte. Petersen, seit 1688 Superintendent zu Lüneburg und 1692 wegen chiliastischer Propaganda aus seinem Amt entlassen, hatte im Jahre 1700 unter dem Titel Muaxfjpiov 'ATtOKaxáaxaaecoç návxcov den ersten Band einer umfangreichen Arbeit vorgelegt, die drei Bände umfassen sollte. Im April 1701 veröffentlichte Leibniz in den Monathlichen Auszügen, der Zeitschrift, die sein Mitarbeiter Johann Georg Eckart her- ausgab, eine recht wohlwollende Besprechung des Buches von Petersen12.

Indem er die Lehre von der universellen Wiederherstellung vertritt, der äußersten und endgültigen Ausrottung des Bösen, der Leiden, von Sünde und selbst Tod, die Doktrin also vom ewigen Seelenheil aller mit der unendlichen Güte Gottes versöhnten Geschöpfe, greift Petersen de facto auf Orígenes, auf dessen These und deren Bezeichnung zurück. Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte des Origenismus auszumalen; einige Hinweise müssen genügen, die Umgestaltung zu erhellen, der Leibniz wie so oft Vokabeln unter-

10 Vgl. Louis Davillé: Leibniz Historien. Essai sur l'activité et la méthode historique de Leibniz, Paris 1909, S. 126-127, 396-397.

11 „Les choses composées ne sçauroient estre si bien démêlées par l'esprit humain sans aide de caracteres" (Brief von Leibniz an Huygens vom 4./14. September 1694; GM II, 193).

12 Monathlicher Auszug aus allerhand neuherausgegebenen nützlichen und artigen Büchern, April 1701, S. 1-37 (Teilabdruck bei G. E. Guhrauer. Leibnitz's Deutsche Schriften, Bd 2, Berlin 1840, S. 342-347). In einem Brief an Burnett vom 27. Februar 1702 faßt er sein Urteil über Petersen, nachdem er zuvor „le sentiment d'Origene de la salvation finale de toutes les creatures intelligentes" angesprochen hat, so zusammen: »[...] M. Petersen, tres savant homme, [. . .] est allé au même sentiment et a publié il y a deux ans ou environ un livre en Allemand in folio, intitulé 'ATiOKaxáaxa- aiç TtávTCOV ou de la restitution de toutes choses; ce livre est fait avec beaucoup d'érudition et de jugement. L'auteur apporte tous les passages des anciens et modernes favorables à cette doctrine et il soutient son sentiment contre des savans adversaires avec beaucoup de moderation et de zele. Je l'ay parcouru avec plaisir et quoyque je n'aye garde de le suivre, je ne laisse pas de reconnoistre son mérite" (GP III, 283). Auch die Theodizee wird Petersen und dessen Werk nochmals in anerkennen- den Worten erwähnen (Théod I, § 17, II, § 156; GP VI, 111-112, 202-203).

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zieht, von denen er Besitz ergreift. Im Hinblick auf den Titel der kleinen Schrift von 1715 könnte man eine Darstellung oder Erklärung des Origenismus erwarten, die im übrigen für den Verfasser der Theodizee keineswegs ganz unwahrscheinlich wäre. Beginnt man aber mit der Lektüre, stellt sich heraus, daß Leibniz unter diesem Titel ex hypothesi eine Konzeption von der zyklischen Wiederkehr der Weltgeschichte und der Individuen entwickelt, die Orígenes mit größtem Nachdruck gerade zurückgewiesen hatte. Indessen verläuft alles schließlich in dem Maße, wie Leibniz aus Gründen, die in den tiefsten Prinzipien seiner Metaphysik verankert sind, diese Konzeption gleichfalls verwirft, als ob er für einen philosophischen Quasi-Origenismus habe plädieren wollen, der von den Naivitäten und Inkonsequenzen entlastet wäre, die des historischen Origenismus' ur- sprüngliche Schwäche sind.

In seinem Brief an Overbeck vom 17. Juni 1715 verwendet Leibniz anstelle des Begriffs „Apokatastasis" vielmehr die Termini „Revolutio" (Kreisbewegung) und „Palingenesia" (Wiedergeburt). Nun umhüllt seit Piaton zumindest die Idee der Wiedergeburt zwei eng verbundene Thesen, deren Zusammenhang die spätere Tradition nicht immer recht gesehen hat, sei es, daß sie ihn vergaß, sei es, daß sie ihn als selbstverständlich ohne Diskussion aufnahm: Es gibt die Wiedergeburt der Einzelseelen, und es gibt die regelmä- ßige Wiederkehr des Universums13. Kontextgebunden sind die Weise, in der die Wieder- kehr geschieht, die Rechtfertigung und der Bereich, den man ihr zuerkennt, bald die gleichen, handele es sich um Individuen oder um das Ganze, bald divergieren sie, mehr noch, sie widersprechen sich. Die Möglichkeiten einer systematischen Variation, die dieses Schema liefert, kennzeichnen auch den Ort, an dem sich Leibniz Orígenes in der Wiederaufnahme der Apokatastasis-Problematik gegenüberstellt.

Orígenes selbst hatte zudem dem Wort schon eine neue Bedeutung beigelegt, die für ihn bezeichnend war. Insofern hat man bemerkt:

„La doctrine est première par rapport au mot qui l'exprime. [...] Il appartenait à Origène d'attacher celui-ci à ses idées les plus hardies et de faire d'un mot biblique un titre de chapitre dans l'histoire des hérésies"14.

Orígenes entdeckte das Wort in der Apostelgeschichte (3, 20-21):

„[Der Herr] sende den, der euch zuvor zum Christus bestimmt ist, Jesus. Ihn muß der Himmel aufnehmen bis auf die Zeit, da alles wiedergebracht wird (cmoKaxáaTaaiç tov Tiávxcov), wovon Gott geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten von Anbeginn".

Er deutete es aber im Lichte seiner eigenen Lesart von Passagen zweier Paulus-Briefe, des ersten Korintherbriefes (15, 22-28) und des Briefes an die Römer (8, 19-25), in denen er die Versicherung fand, daß am Ende jeder Zeit , wenn „in Christus alle lebendig gemacht werden" und der „letzte Feind", der Tod, schließlich auch vernichtet ist, die von Knechtschaft und Verderbnis nun erlöste Kreatur in die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes" eingeht. Die letzte Wendung der ersten dieser beiden Stellen: „auf daß Gott sei alles in allem", wird dann zum Leitsatz origenischer Apokatastasis, der sich bei Petersen in gleicher Eindringlichkeit wiederfinden läßt15.

13 Vgl. den Artikel von H. Leisegang: Palingenesia, in: Konrat Ziegler (Hrsg.): Paulys Real-Ency- clopädie der Classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, begonnen von Georg Wissowa, fortgeführt von Wilhelm Kroll und Karl Mittelhaus, Bd 18,3, Stuttgart 1949, Sp. 139-148.

14 André Méhat: yApocatastase*. Ongène, Clement d'Alexandrie, Act. 3, 27, m: Vigtltae C/mstianae 10 (1956), S. 214. 15 „Wenn aber alles ihm untenan sein wird, alsdann wird auch der Sohn selbst Untertan sein dem,

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In gewisser Weise ist diese Verwendung des Begriffs tatsächlich nur die Überführung und Erweiterung in eine Heilslehre der ersten Bedeutung, die ihm Aristoteles in der Ethica Endemia (II, 7, 1204 b, 36, 1205 a, 4, b 11) zugewiesen hatte: Lust ist die Rückkehr (áTiOKatáaxaatç) in den natürlichen Zustand. Auch Orígenes verweist gelegentlich auf umgangssprachliche Gehalte von ánoKaxáaTaaic, die sich aus der Vorstellung von einer Rückkehr zu dem, was uns eigentlich zugehört, ableiten lassen:

„Videtur autem quiddam significare mysterii in eo quod ait: Restituam te ; nemo quippe restitui potest, nisi in eum locum unde ante discesserat; ut puta si membrum corporis mei fuerit a compage disjunctum, mediais illud in prisrinum locum resrituere conatur. Si aliquis separatur e patria, in exsilium mitritur, et postea per indulgenriam eorum qui possunt exsules solvere, redditur libertad, redit unde fuerat expulsus. Miles quoque abjectus ex ordine suo resrituitur ordini, si acceperit veniam"16.

Hieraus entsteht nun die Erweiterung, durch die der Ausdruck zur Bezeichnung der schließlichen Rückkehr aller vernunftbegabten Lebewesen in den ursprünglichen Zu- stand ihrer Unschuld vor dem Sündenfall wird, getreu einer Kreisbewegung, die bewirkt, daß „semper enim similis est finis initiis"17. Diese Bestimmung ist mit der völligen Ausrottung des Bösen und der vollkommenen Gemeinschaft aller in Gott, der selbst der Teufel angehört, erreicht; Endzustand ist die allumfassende Wiederherstellung aller Dinge:

„Sic ergo finis ad prineipium reparatus, et rerum exitus collatus initiis, restituet illum stamm quem tune habuit natura rationabilis, cum de Ugno sciendi bonum et malum comedere non egebat; ut amoto omni malitiae sensu, et ad sincerum purumque deterso, solus qui est unus bonus Deus hic ei fiat omnia, et non in paucis aliquibus vel pluribus, sed in omnibus ipse sit omnia. Cum jam nusquam mors, nusquam aculeus mortis, nusquam omnino malum, tune vere Deus omnia in omnibus erit"18.

Das ist aber noch nicht alles: Wenn es einen Fortschritt in der Bildung und zunehmen- de Erleuchtung für alle geistigen Wesen gibt, die Gott insofern näherkommen und schließlich allesamt in seine Güte eingehen, so vertritt Orígenes ebenso die Überzeugung von der Freiheit jeder Kreatur, deren Seelenheil Gott nie erzwingt. Man kann folglich stets noch das Böse wählen; daher ein beständiger Wechsel von Stürzen und erneuten Aufstiegen im wiederkehrenden Ablauf des Universums, den Orígenes weniger in Gestalt einer grundsätzlichen These behauptet, vielmehr als immer offenen Ausgang nahelegt:

„[...] ex quo opinamur, quoniam quidem, sicut frequenter diximus, immortalis est anima et aeterna, quod in mulris et sine fine spatdis per immensa et diversa saecula possibile est ut vel a summo bono ad infima mala descendat, vel ab ulrimis malis ad summa bona reparetur" 19.

Es gibt vielleicht, wie man erwähnt hat, „un certain illogisme" in dieser Verbindung eines letzten, als „définitif" begriffenen Zustandes mit einem ständig offenen, zyklischen Verlauf, und Jean Daniélou bemerkt, daß Orígenes die Liebe zu Gott mit menschlicher

der ihm alles untergetan hat, auf daß Gott sei alles in allem". Die Formulierung: „que Dieu est tout en tous" nimmt Leibniz im Discours de Métaphysique, § 32 (GP IV, 457) wieder auf.

16 Orígenes: In Jeremiam homilia, XIV, 18, zitiert nach [Charles] und [Charles Vincent] Delarue (Hrsg.): Opera omnia, t. III (= Patrología Graeca, t XIII), Paris o. J., Neudr. Brepols - Turnhout [um 1964], Sp. 427. 17 Orígenes: De prindpiis, I, 6, 2, zitiert nach [Charles] und [Charles Vincent] Delarue (Hrsg.): Opera omnia, 1. 1 (PG XI), Sp. 166. 18 Orígenes: De prindpiis, HI, 6, 3, zitiert nach Delarue (vgl. Anm. 17), Sp. 336. 19 Orígenes: De prineipiis, III, 1, 21, zitiert nach Delarue (vgl. Anm. 17), Sp. 302.

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Freiheit zweifellos nicht hat versöhnen können20. Das Wesentliche allerdings für unseren Zusammenhang liegt darin, daß die Sequenz der Welten, die den Seelen in Rückfall und erneutem Fortschritt folgen, nicht mehr als ewige Wiederkehr des Gleichen verstanden werden kann, die Orígenes ausdrücklich zurückweist, da sie der geistigen Freiheit wider- spricht:

„Si enim similis per omnia mundus dicitur, erit ut iterum Adam vel Eva eadem faciant quae fecerunt; idem iterum erit diluvium, atque idem Moyses rursum populum sexcenta fere millia numero educet ex Aegypto: Judas quoque bis dominum tradet; Paulus secundo lapidantium Stepha- num vestimenta servabit; et omnia quae in hac vita gesta sunt, iterum gerenda dicentur; quod non puto ratione aliqua posse firmari, si arbitrii libértate aguntur animae, et vel profectus suos, vel decessus pro voluntaos suae sustinent potestate. Non enim cursu aliquo in eosdem se circuios post multa saecula revolvente aguntur animae [. . .]"21.

Was Orígenes daher verwirft, ist also die Interpretation der späten Stoa, derzufolge nach jeder Katastrophe, die das All entflammt, die gleiche Welt in der gleichen Reihen- folge ihrer Ereignisse vom Anfang bis zum Ende neu entstände, was eine lächerliche These wäre, auch wenn ihre Verfechter sich bemühen, ihr größere Wahrscheinlichkeit durch die Beschränkung auf eine regelmäßige Wiederkehr ganz ähnlicher, numerisch jedoch unterscheidbarer Einzelwesen zu verleihen. Wie dem auch sei, nie benutzt Oríge- nes den Ausdruck áTiOKatáaxaaiç, um die Rückkehr des Gleichen oder Ähnlichen zu benennen, denn für ihn bezeichnet er nichts anderes als eine These, die keine Wederho- lung kennt: nicht die Zyklen, sondern das Ende.

Andererseits ist dasselbe Wort leicht ins Vokabular der Astronomie eingegangen und kennzeichnet dort die periodische Wiederkehr der Gestirne an einen durch ihre Bahn bestimmten Ort, woher im besonderen die vollständige Wiederkunft der gleichen Kon- stellation am Himmel im Begriff des Weltjahres stammt Wenn man zudem gelten läßt, was Leibniz „connexion Stoïcienne" (GP IV, 523) nennt, die alle Seienden der Welt aneinanderbinden will, so kann man auch verstehen, daß, um die Worte zu verwenden, die Eusebius gebraucht, die Wiederkunft (ávacrráaiç), welche das Weltjahr vollendet, einen Wechsel (áTtOKaxáaxaaic) mit sich bringt, der die Natur dazu bewegt, die gleiche Folge von Ereignissen dem gleichen Gesetz gemäß von vorn zu beginnen.

So ist also vornehmlich die Doxographie der späten Stoa für diesen Gebrauch eines Wortes verantwortlich, das weder dem Vokabular der frühen noch der mittleren Schule zugehört. Das aufschlußreichste Fragment stammt von Nemesius, der am Ende des vierten Jahrhunderts folgendes schrieb:

„Stoici autem aiunt Stellas errantes, cum ad idem et in longitudine et in latitudine signum ref eruntur, in quo initio erant, cum primum mundus est conditus, certo temporum ambiai conflagra- n'onem et interitum rerum eff icere, et de integro mundum eodem restitui. Et quoniam sidera similiter rursus ferantur, omnia, quae in priori ambiai fuerint, immutabiliter eff ici. Futurum enim rursum Socratem et Platonem et quemque hominem, cum iisdem et amicis et civibus, et eadem quique eventura (et iisdem occursurum), et eadem tractaturum, omnesque civitates, et pagos, et agros similiter restitui. Atque istam restitutionein (aftOKataaxaaic) universi, non semel, sed saepe fieri, imo infinite et sine ulla terminatione eadem referri"22.

20 Jean Daniélou: Origène, Paris 1948, S. 282-283. Vgl. auch Auguste Luneau: L'Histoire du Salut chez les Pères de l'Eglise. La doctrine des Ages du Monde, Paris 1964, S. 121.

21 Orígenes: De principiis, II, 3, 4, zitiert nach Delarue (vgl. Anm. 17), Sp. 192. 22 Nemesius: De natura hominis, XXXVIII, zitiert nach J.-P. Migne (Hrsg.): SS. Patrum Aegyptio-

rutn Opera omnia ( = Paa-ologia Graeca, t. XL), Paris 1863, Sp. 759. Vgl. auch Hans von Arnim (Hrsg.): Stoicorum veterum fragmenta, vol. 2, n° 625, ed. stereotypa ed. primae (1903), Stuttgart 1979,

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Somit ist die These klar bezeichnet und benannt, der Orígenes im Namen einer ihr opponierten eschatologischen Konzeption begegnet, die dennoch die gleiche Überschrift erhält: „Apokatastasis". Dieser zweifache Gebrauch des Wortes kennzeichnet nun deut- lich die Bedingungen, unter denen Leibniz seinerseits es nochmals nutzt, um die Idee der Rückkehr zu benennen.

3. Die Vorstellung der zyklischen Wiederkehr einer Welt von gleichen oder doch ganz ähnlichen Wesen mit der gleichen Aufeinanderfolge von Leben fand nur unter der Voraussetzung Halt in der Regelmäßigkeit astronomischer Wiederholungen, die strenge Bestimmung noch der geringsten Einzelheit im Werden der Dinge durch die Konstella- tionen am Himmel einzuräumen. Das bedeutet eine weitgehende Preisgabe der Lehre sowohl Piatons als auch von Aristoteles, für die mathematische Invarianz lediglich die Umläufe der Himmelskörper regierte und auf die Details im Leben singulärer Wesen so wenig anzuwenden war wie auf die Sinnenwelt im allgemeinen. Im Gegensatz dazu drückte im Stoizismus die ewige Wiederkehr, so spät wie selten Apokatastasis benannt, keineswegs den mathematischen Charakter einer Himmelsgegend aus: Die Welt selbst wurde ihm ein den rhythmischen Wechselfolgen von Zeugung, Verfall und Regeneration unterworfenes Lebewesen. Die Unmöglichkeit, eine zahlenmäßig genaue und nicht wi- derlegbare Bestimmung des Weltjahres vorzulegen, da erkannt war, daß die Umlaufzei- ten der verschiedenen Himmelskörper nicht etwa kalkulierbare Beziehungen eingehen, die dann zur Anwendung der Berechnung eines gemeinsamen ganzzahligen Vielfachen ermächtigen würden, erwies die Mathemarisierung des Schicksals als bloße Illusion. Man mußte also auf kosmobiologische Vorstellungen und Analogien zurückgreifen:

„Cette assimilation réelle de PUnivers à un organisme vivant établit entre ses parties une solidarité, une dépendance réciproque [. . .] qui contient la justification du fatalisme astrologique et des diverses formes de la divination [. . .]"23.

Leibniz für seinen Teil hat die Apokatastasis mit einer mathematischen Bestimmung verbunden, die nicht länger auf ein geometrisches Modell zur Berechnung der Position von Himmelskörpern zielt. So wie er einst die Metapher vom Horizont menschlichen Wissens arithmetisiert hatte, behandelt er jetzt die Geschichte als einen Bericht von den Zuständen der Welt, vom öffentlichen Geschehen und individuellen Erlebnissen, dessen Text zum Gegenstand einer kombinatorischen Aufzählung wird. Daher die Paradoxie, daß Leibniz nichts zur stoischen Quelle der Apokatastasis im Sinne von Wiederkehr sagt, ihre Verwandtschaft mit dem physikalischen Weltmodell Epikurs hingegen betont:

„Sane si corpora constarem ex Atomis, omnia redirent praecise in eadem collectione Atomorum, quandiu novae Atomi aliunde non admiscerentur, veluri si poneretur Mundus Epicuri ab aliis per intermundia separatus. Sed ita talis mundus foret machina quem Creatura finitae perfectionis perfecte cognoscere posset, quod in mundo vero locum non habet"24.

Diese Zeilen belegen wie andere Texte gut, daß die „connexion universelle", häufig im

S. 190; die Fragmente 512 und 625 sind die einzigen, in denen der Ausdruck «ArcoKaxáataaic" als Terminus der Stoiker erscheint.

23 Joseph Moreau: L'Ame du Monde de Platon aux Stoïdens, Paris 1939, S. 169, Anm. 11. Vgl. auch Victor Goldschmidf Le système Stoïcien et l'idée de temps, Paris 1953, S. 186-187. 24 LBr 705, BI. 74 r°; S. 72 meiner Edition. Die gleiche Idee war in einem Brief an Gerhard Meier vom 10. Januar 1693 formuliert: „Quodsi Universum constaret ex Atomorum numero certo, tune sagacitas creaturarum ad perfeetam cognirionem universi pervenire posset" (A I, 9, 229).

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Zusammenhang der Wiederaufnahme des stoischen und hippokratdschen „EujjJtvoia rtavxa" erwähnt, nun ganz im Gegenteil die unendliche Vielfalt eines Universums ausdrückt, in dem die Materie aktual ins Unendliche geteilt ist und jede Partikel eine Welt unendlich vieler Geschöpfe birgt, die kein Buch jemals vollständig beschreiben könnte. Die Vertiefung der „connexion Stoïcienne" gestattet also den Abschied von der Hypothese der Wiederkehr, die nun mit Physik und Kosmologie des Atomismus verbun- den wird.

Seit De Vhorizon de la doctrine humaine, worin er den zweiten Gesang aus Lukrez' De rerum natura anführt, gebrauchte Leibniz in der Tat den uralten Vergleich physikalischer Atome mit den Buchstaben des Alphabets. Um aber hieraus noch in verstärktem Maße Argumente zugunsten der Wiederholung von Zyklen aufeinanderfolgender Zustände derselben Welt gewinnen zu können (vielmehr als aus der Vielzahl verschiedener koexi- stenter Welten, die eine ganz andere und im Grunde entgegengesetzte Idee bildet), muß die metaphorische Verwandlung atomarer Kombinationen in eine alphabetische Schrift entscheidend abgeändert werden. Das Modifikationsprinzip wird Hume sehr klar zu Beginn des achten Teils seiner Dialogues concerning natural religion aussprechen:

„Instead of supposing matter infinite, as EPICURUS did; let us suppose it finite. A finite number of particles is only susceptible of finite transpositions: and it must happen, in an eternal duration, that every possible order or position must be tried an infinite number of times. This world, therefore, with all its events, even the most minute, has before been produced and destroyed, and will again be produced and destroyed, without any bounds and limitations. No one, who has a conception of the powers of infinite, in comparison of finite, will ever scruple this determination"25.

Genauer gesagt bedeutet dies, daß man, um die regelmäßige Wiederkehr in einer alphabetischen Umgestaltung der epikureischen Welt ausdrücken zu können, den Cha- rakter einer solchen Welt mit zwei Neuinterpretationen auszustatten hat. Zunächst legt man die maximale Länge der Ausdrücke und auch der Bücher fest, so daß deren Anzahl endlich wird; man erfährt auf diese Weise, durch die Schrift, „l'horizon de la doctrine humaine". Sodann setzt man die Grundmenge der Atome, verstanden als Urelemente von Tatsachen oder Ereignissen, genau einem endlichen Alphabet gleich; damit erhält man das physikalische und kosmologische Modell universaler Apokatastasis. Man verbindet eine radikal-analytische Konzeption, die jeden komplexen Satz auf eine Folge von Buchstaben reduziert, mit einem ebenso radikalen Atomismus der Fakten oder Ereignis- se: der rhetorische und der chrono-kosmologische Sinn der Periode können dann im Ausdruck des gleichen Kreislaufs zusammenfließen. Nur so kann Leibniz darauf kom- men, mit Geschichte als Reihe „erinnerungswürdiger" öffendicher und privater Tatsa- chen, deren Berichte archiviert werden, die Idee und das Wort „Apokatastasis" zu verbinden, das die Stoiker mit der organischen Einheit einer Welt verknüpft hatten, die regiert wird durch den Xóyoç und beseelt vom nveöjia .

4. Die Idee der ewigen Wiederkehr übt ihre Faszination bei den Alten wie bei Nietz- sche genau in dem Maße aus, wie sie auch die aufeinanderfolgenden identischen Leben desselben Individuums bestimmt:

„Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen, - eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du

25 Zitiert nach Thomas Hill Green und Thomas Hodge Grose (Hrsg.): David Hume: The philosophical works, vol. 2, reprint of the new edition London 1886, Aalen 1964, S. 426.

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geworden hist, im Kreislaufe der Welt wieder zusammenkommen. [. . .] Und in jedem Ring des Menschen-Daseins überhaupt giebt es immer eine Stunde, wo erst einem, dann vielen, dann allen der mächtigste Gedanke auftaucht, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge: - es ist jedesmal für die Menschheit die Stunde des Mittags "26.

War es also für Leibniz die Stunde des Mittags, als er 'ATiOKatáaxaatç návxov konzipierte? So könnte es scheinen, wenn man die erstaunliche Passage liest, die uns seine Feder im ersten Entwurf eröffnet und die keinen Eingang in die durchgesehene und ergänzte Fassung finden wird:

„[...] äff ore tempus quo singulorum edam vita minutatim per easdem circumstantias redeat. Ego ipse verbi gratia sedens in urbe Hanovera dieta, ad Leinam fluvium sita, occupatus in Brunsvicensi Historia, scribens literas ad amicos eosdem, sensibus iisdem"27.

Es ist so bemerkenswert wie erfrischend, daß Leibniz die Vision seiner eigenen Wie- derkunft in die Erarbeitung der Schrift einbezogen hat, und dies noch im besonderen in seiner zweifachen Rolle als Historiker, Autor der An nal en des Deutschen Reiches, und als Verfasser von Briefen, im perspektivischen Zentrum eines dichten Kommunika- tionsnetzes. Es gibt „une infinité de figures et de mouvemens presents et passés qui entrent dans la cause efficiente de monecriturepresente [Hervorhebung von mir] , et il y a une infinité de petites inclinations et dispositions de mon ame, presentes et passées qui entrent dans la cause finale" (§ 36), und dies ist für die Monadologie das Beispiel par excellence einer Tatsachenwahrheit. Doch übersetzt der Akt des Schreibens solch dop- pelte Unendlichkeit in finite Zeilenfolgen und wiederholte Spiele mit demselben Zeichen- satz: Insofern sie transzendiert, um aufzugehen in geschriebener Spur, begrenzt die geistige Monade sich auf das Endliche ihres deutlichen Ausdrucks von heute. Wie also die Wiederkunft der Ereignisse durch den Nachweis der ausschöpfbaren Menge aller möglichen Bücher vorgegeben ist, so erscheint seine eigene Rückkehr Leibniz als eine Wiederholung im Verfassen der gleichen Schriften, welche die Vergangenheit des Rei- ches, die Erfindung der Infinitesimalrechnung, die Reunion der Kirchen, Petersen, Overbeck und die anderen enthalten werden, alle in einem Kreislauf gefangen, in dem der Akt des Schreibens selbst das Ereignis wird, aus dem alle anderen die Regel ihrer Reproduktion beziehen. Die öffentlichen Geschichten von Staaten, die nachlesbaren Leben der Individuen wiederholen sich nur insofern, als sie ein Schreiber beständig nochmals schreibt, dessen monotone Handlung sich durch alle Zeiten zieht. Niemand anders als Leibniz hätte seine eigene Dauer so rigoros mit diesem Depot schriftlicher Spuren gleichsetzen können, das eine Phase des Nachdenkens in der Geschichte bezeugt.

Bleibt, daß Leibniz, als er seinen Text nachlas und überarbeitete, diese außergewöhn- lichen Zeilen nicht bewahren wollte; doch gewinnt die Streichung ihren ganzen Sinn, sobald man sie im Gesamtzusammenhang der Abänderungen betrachtet, die ein Ver- gleich beider Fassungen der Apokatastasis-Schrift erkennbar werden läßt.

Neben den Abwandlungen, die vor allem einen Zuwachs an Erläuterungen der ersten Version gegenüber erbringen, enthält die zweite und für uns definitive Fassung zugleich bedeutsame Auslassungen und Ergänzungen, die den Schwerpunkt des Textes erheblich verschieben. Die einen wie die anderen erzeugen letztlich die gleiche Wirkung auf den Sinn, indem sie in den Vordergrund stellen, was der erste Entwurf noch skizzierend wie

26 Friedrich Nietzsche: Aus der Zeit der fröhlichen Wissenschaß (Aufzeichnungen aus dem Nach- laß), III, 1, zitiert nach Gesammelte Werke, Musarionausgabe, Bd 11, S. 183.

27 LBr 705, Bl. 71 v°; S. 64 meiner Edition.

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eine eher marginale Milderung der These von der Wiederkehr behandelt: Die zweite Fassung betont nachdrücklich und in erster Linie die Unterordnung der Berechnungs- struktur endlicher Kombinatorik unter die metaphysischen Bedingungen ihrer Über- schreitung.

Abgesehen von den schon zitierten Zeilen verschwinden in der zweiten Version alle, in denen die genaue Wiederholung der gleichen individuellen Existenzen uneingeschränkt bejaht wird. Die Rückkehr dessen, was den Gegenstand der Geschichte bildet, ist inso- fern nicht mehr die desselben numerisch identischen Individuums, sondern eines ande- ren, das in alldem ähnlich ist, was eine endliche Beschreibung liefern kann, und nur darin. Daher vielleicht auch die Änderung des Titels mit der Streichung von flávxcov : es gibt in Wirklichkeit Wiederherstellung weder aller Dinge noch in jeder Hinsicht.

Genau daher rührt die Verbindung der Annalen universal-öffentlicher Geschichts- schreibung mit der Auf summierung aller individuellen Lebensläufe, die zum Zusammen- bruch des Bedingungssystems führt, in dem die Apokatastasis als vollständige Wiederher- stellung der gleichen Welt wortwörtlich genommen werden konnte. Hielte man sich allein an die Annalen, so ließe sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen, wie dieser Konklusion zu entgehen wäre, da sie in der Tat durch das Verzeichnen erinnerungswür- diger Ereignisse, die auf öffentlichen Akten basieren, hinreichend (suff icienter) beschrie- ben werden können: In der Größenordnung der berichteten Fakten gibt es hier Überein- stimmung zwischen ihrer tatsächlichen Abfolge und den Büchern, zwischen Dingen und deren Beschreibung. Für die individuellen Leben liefern dagegen die Bücher das Mittel einer bloß bruchstückhaften (minutatim) Darstellung, deren Einklang mit dem Gegen- stand der Geschichte nur partiell ist. Diese Beschreibung setzt in der Tat eine Wahl voraus, die eine endliche Uste von Prädikaten, Phänomenen und Ereignissen auf dem Hintergrund eines beliebig disponiblen Unendlichen isoliert, das weiterer Präzisierung stets noch dienen kann. Solch eine berechenbare Teilmenge von Prädikaten erfaßt nur ein „vages"28 Individuum, ohne die numerische Identität des entsprechenden Subjekts bestimmen zu können. Führt also das erneute Zusammentreffen gleicher Teilmengen zur Wiederholung, so ist diese das Ergebnis der Entstehung eines Berichts, der auf der Auswahl eines diskontinuierlichen und endlichen Rasters beruht. Aber für die realen Subjekte, individuelle Substanzen und vollständig bestimmte Individuen, macht das bestmögliche Gesetz ihrer Konstitution und der Zugehörigkeit zur Welt Wiederholung zunächst unwahrscheinlich und verwirft sie schließlich. Hans Blumenberg kann daher treffend äußern, daß für Leibniz der geordnete Aufbau eines Buches keine Metapher der Realität selbst, sondern allein ihrer endlichen Beschreibung ist29.

Für die Universalgeschichte liefe es im übrigen auf das gleiche hinaus, wenn man sich nicht mit einem annalistischen Bericht, der die Chronologie offizieller Ereignisse wieder- gibt, begnügen und vielmehr auch hier in die Details kausaler Beziehungen eintreten wollte. Dieselbe Verknüpfung und dieselbe Teilung der Materie bewirken, daß kein „esprit borné, quelque penetrant qu'il soit", hier reüssieren könnte:

„Une petite bagatelle en apparence peut changer tout le cours des affaires generales. Une balle de plomb, allant assez bas rencontrera la teste d'un habile General, et cela fera perdre la bataille; un melon mangé mal à propos fera mourir un Roy. Un certain Prince ne pourra pas dormir cette nuit à cause de la nourriture qu'il aura prise le soir. Cela luy donnera des pensées chagrines, et le fera prendre une resolution violente sur les matières d'estat. Une étincelle fera sauter un magazin, et cela

28 Im Sinne des „Adam vague", vgl. GP II, 42. 29 Blumenberg (vgl. Anm. 3), S. 140.

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fera perdre Belgrade ou Nice. Il n'y a ny diable ny ange, qui puisse prévoir toutes ces petites choses dont naissent de si grands evenemens, par ce que rien n'est si petit, qui ne naisse d'une grande varieté de circomstances encor plus petites, et ces drcomstances encor d'autres, et cela à l'infini" (A 1, 7, 35).

Man täusche sich nicht und sehe in diesem Text nur eine geistreiche Auslegung des Spruchs „kleine Ursachen, große Wirkungen", denn „on manquerait en Philosophie comme en Politique, en négligeant to uiKpóv, les progrés insensibles" (NE, Préface; A VI, 6, 57). Hier ist, wie die Fortsetzung des Briefes zeigt, just die Anwendung des Kontinuitätsprinzips auf die historische Realität im Spiel, als deren Konsequenz die „Naturalisierung" dieser Wirklichkeit erscheint30:

„Les Microscopes font voir que les moindres choses sont enrichies de varietés à proportion des grandes. De plus toutes les choses de l'univers ont une si étroite et si merveilleuse connexion entre elles, que rien ne passe icy, qui n'ait quelque dépendance insensible des choses qui sont à cent mille lieues d'icy. Car toute action ou passion corporelle, en quelque petite partie de son effect, depend des impressions de l'air et autres corps voisins, et ceux cy encor de leur voisins plus avant, et cela va par un enchaînement continuel à quelque distance que ce soit. Ainsi tout événement particulier de la nature depend d'une infinité de causes, et souvent les ressorts sont tellement montés comme dans un fusil, que la moindre petite action qui survient fait que toute la grande machine se décharge" (A I, 7, 35).

Man wird sagen, daß die An nal en nur von „Entladungen" großer Maschinen berichten und den dunklen Hintergrund „kleiner Geschehnisse" im Ungewissen lassen; doch ballen sich in diesem dunklen Hintergrund die künftigen Entwicklungen zusam- men, welche die exakte Wiederkehr verhindern werden.

Der Schluß von Apokatastasis panton bekräftigt dies und führt gleichzeitig die Konse- quenzen weiter aus, deren Intention De l'horizon de la doctrine humaine lediglich umris- sen hatte. Durch die Bestimmung eines Horizonts war die Konklusion der Endlichkeit historischen Wissens und somit der Wiederholung aller Fakten, die dessen Gegenstand ja bilden, prinzipiell ermöglicht worden; die These von der Wiederkehr kann aber insofern dann verworfen werden, als Wissen einem Fortschritt überliefert wird, der sich auf der Ebene analysierbarer und desgleichen im Bereich historisch-kontingenter Aussagen voll- zieht. Den kommenden Aufschwung der Geister definiert der Charakter der Wahrhei- ten, die sie je erreichen können: Was die reine, analytische Wissenschaft betrifft, so werden sie zu Theoremen gelangen, deren Darlegung ins jenseits dessen wachsen wird, was wir zur Zeit verstehen können; was die Tatsachenwahrheiten angeht, so erlangt der Begriff von Geschichte seine traditionelle Bedeutung zurück. In diesem Sinne stellt auch der Schluß von Apokatastasis nicht mehr die Frage nach einem Verzeichnis der Ereignisse in Staaten und individuellen Leben, sondern behandelt zunehmend differenzierte Des- kriptionen von Realitätsbereichen: Der Fortschritt der Geister bestimmt sich hier durch

30 Vgl. insbesondere Werner Schneiders: Aufklärung durch Geschichte. Zwischen Geschichtstheolo- gie und Geschichtsphilosophie: Leibniz, Thomasius, Wolffy in: Albert Heinekamp (Hrsg.): Leibniz als Geschichtsforscher (- Studia Leibnitiana, Sonderheft 10), Wiesbaden 1982, S. 79-99: „Wenn aber Geschichte nur eine Sammlung von Einzelaussagen über partikulare Fakten ist, dann bedeutet der Unterschied zwischen vérité de fait und vérité de raison eigentlich keine Theorie der Historizität in irgendeinem engeren Sinne, sondern nur eine Theorie der FaktizitäL Es geht gar nicht um menschli- che Geschichte als Handlung und Ereignis, sondern um Daten überhaupt bzw. Datensammlungen. Die gelegentliche Gleichsetzung von fait und histoire führt weniger zu einer allgemeinen Historisie- rung der Wirklichkeit als zu einer Reduzierung der Geschichte auf Tatsachen und Prozesse nach Art der Natur" (S. 84).

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den Erwerb einer stets noch anwachsenden Fähigkeit, die Merkmale und Charaktere natürlicher Arten aufzuzählen (was genau definieren heißt) und diese Arten weiter und weiter zu spezifizieren und einzugrenzen31. Das hier vorgebrachte Paradigma einer konstruktiven Definition, welche die Struktur von Fliegen explizieren könnte, bestätigt den erwähnten erkennmistheoretisch-ontologischen Primat der Naturgeschichte32.

Für den Moment macht der endliche Charakter unserer Beschreibungen sie proviso- risch:

„Et lorsque nous croyons d'avoir bien décrit une plante, on en pourra apporter une des Indes qui aura tout ce que nous aurons mis dans nostre description, et qui ne laissera pas de se faire connoistre d'espèce differente. Ainsi nous ne pourrons jamais determiner parfaitement species Ínfimas, les dernières Espèces" (NE II, 29, § 2; A VI, 6, 255).

Es ist diese Art von Eventualität, die der Fortschritt reduzieren muß, indem er die Gegenstände der Geschichte durch eine Untersuchung erneuert, welche die Details der Fakten stärker als bisher erhellt und aus der Tiefe der verworrenen Ideen, die wir davon jeweils haben, die Charakteristik der „contexture ou constitution intérieure" natürlicher Dinge erschließt (NE III, 3, § 18; A VI, 6, 294). So würden wir, statt lediglich aus Beobachtungen gewonnene Merkmale aneinanderzureihen, einer apriorischen Erkennt- nis der Produktion der Dinge sehr viel näher kommen.

Gleichwohl muß man hier bedenken, daß die universale Geltung von Einheit und Zusammenhang der stets noch zu vertiefenden Erforschung des Besonderen ein unbe- grenztes Feld erschließt, das den Horizont heutigen Wissens von beschränkten Geistern übersteigt und zweifellos nie an ein letztes Einzelnes gelangen läßt, dessen Quelle uns die Praxis ist. Geht man den Dingen auf den Grund, so eröffnet schon der kleinste Stein, wie die Marmorkugel auf Archimedes' Grab, eine Unendlichkeit von Perspektiven:

„C'est pourquoy dans les considerations individuelles ou de practique, quae versantur circa singularia , outre la forme de la sphere, il y entre la matière dont elle est faite, le lieu, le temps, et les autres circonstances, qui par un enchaînement continuel envelopperoient enfin toute la suite de l'univers, si on pouvoit poursuivre tout ce que ces notions enferment" (Remarques sur la lettre de M. Arnaud-, GPU, 39).

Daher ist es nicht eine Philosophie der Geschichte, sondern ganz im Grunde sogar die Idee von dem, was die Natur sei, und von der Art, in der wir sie erkennen und erkennen werden, zugleich mit anderen, mächtigeren Geistern, über deren Kräfte wir derzeit nicht verfügen, welche sich der Annahme einer „Apokatastasis" entgegenstellt, die bloße "Wie- derholung wäre. Wo der Kalkül seine Grenzen erreicht, öffnet sich das Feld metaphysi- scher Hypothesen: der Fortschritt des Universums, seine laufend prolongierte Neuerung sind die wahrscheinlichsten. Durch ihren Einklang mit der universellen Harmonie wer- den sie als bewiesen gelten, einer Harmonie, die im übrigen mehrere Fortschrittsmodelle zuläßt, zwischen denen es keinen bestimmenden Grund zu wählen gibt, sei nun der

31 Kant wird mit vollem Recht zur Geltung bringen, daß das Prinzip der Kontinuität (lex continui in natura) ein logisches Gesetz (lex continui specierum logicarum) begründet, vermöge dessen wir der höchsten Mannigfaltigkeit von Arten und von Unterarten in unendlich vielen Schritten nachzugehen trachten können. Zu vermerken bliebe hier, daß auch Kant in diesem Kontext die Metapher eines Horizonts gebraucht, und zwar im Hinblick auf den Umfang von Begriffen, die stets noch „kleinere Horizonte" enthält, deren Untersuchung systematischer Erkennt- nis des Ganzen der Natur ein unbegrenztes Feld eröffnet (Kritik der reinen Vernunft, A 657-661, B 685-689).

32 LBr 705, Bl. 74 v°; S. 76 meiner Edition.

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Fortschritt kontinuierlich oder sprunghaft, sei er durch Perioden des Rückgangs unter- brochen oder nicht (GP III, 582, 589).

5. Das schließlich ist die Ironie, die Leibniz' Wahl des Titels 'ATiOKaxaaxaaic návTcav enthält: Eine Formulierung des Orígenes dient hier dazu, die Konzeption von Wiederkehr, die der bekämpfte, aufzufrischen. Gleichzeitig verbindet sich die Wieder- aufnahme der stoischen Auffassung mit einer „epikureischen" Übersetzung. In diesem subtilen Spiel, in dem Worte und fachgerechte Bedeutungen ihre Dispositionen tauschen, bringt Leibniz vielleicht eine Art von Zaudern zum Ausdruck. Ohne Zweifel läßt die Ablehnung der Apokatastasis im Sinne von Wiederkehr Raum frei, wenn nicht für die freizügige Annahme, so doch zumindest für eine nachsichtige Behandlung der Apokata- stasis im Sinne von Wiederherstellung. Hat Leibniz sich daher die Lehre von der »allge- meinen Erlösung" angeeignet? Freilich geht eine solche Frage über die Deutung der Apokatastasis allein hinaus; dennoch führen Tenor und Titel der Schrift dazu, sie zumin- dest am Rande der Interpretation zu stellen.

Wie dem auch sei, die Apokatastasis bewegt sich in ähnlichen Begriffen, wie man sie in anderen metaphysischen Fragmenten, vornehmlich in De remm originatione radicali findet, um einen Fortschritt anzurufen, der zunächst nur die menschliche Seele und den Lauf der Welt in der profanen Zeit der Geschichte und ihrer Bücher zu betreffen scheint. Wie aber das Menschengeschlecht nicht absolut privilegiert und herausgenommen wer- den kann in einen Gottesstaat oder in ein Reich der Geister, von dem es „n'est qu'un fragment, qu'une petite portion" ( Théod. II, § 146; GP VI, 196), so ist das gegenwärtige Leben eines Menschen im besonderen selbst bloß ein „fragment" aus „la vie entière et perpétuelle" in dem es nur „changement de theatre" gibt (A I, 13, 86). Auch Leibniz' Beschwörung des Fortschritts läßt sich nicht zerlegen und bringt gleichzeitig alle Entspre- chungen seiner Metaphysik der Natur und des Geistes sowie seiner religiösen Inspiration in Bewegung. Eine Analyse würde hier die Untersuchung dreifachen Aufschwungs erfor- dern: von Welti Menschheit und Individuum, wobei zu beachten wäre, daß die Texte ihre Zwecke in der Regel gelehrt kontrapunktieren und vermengen. Jedenfalls bewirkt allein die Summierung individueller Progressionen das Fortkommen des Menschengeschlechts, so wie die Entwicklung der Substanzen, der Monaden sich dem Gesamtverlauf der Welt einreiht. Ich beschränke mich im folgenden auf wenige Bemerkungen zum geistigen Fortschritt der Individuen.

Klaus-Rüdiger Wöhrmann hat zu Recht den Gedanken hervorgehoben, daß der innere Fortschritt des Geistes zu immer neuen Perzeptionen konstitutiv sei für die Individuatdon und eine ontologische Bedeutung habe: „varia a me cogitantur" meint „nova [semper a me cogitantur]", und das heißt, mein Ich zu sein33. Die Wiederkehr des gleichen Individuums „dans un autre lieu [. . .] ou dans un autre temps" ist durch das Prinzip der Ununterscheidbaren ausgeschlossen. Das psychologische Ichbewußtsein („conscienciosité") schafft keine Identität des Subjekts, weil es den Grund von Individua- lität, in Perzeptionen eingebunden, die nicht wahrzunehmen sind, lediglich umreißen kann. Andernfalls bliebe zu fragen, „comment s'empêcher de dire que [. . .] deux person- nes qui sont en même temps dans [. . .] deux globes ressemblons mais éloignées l'un de l'autre d'une distance inexprimable ne sont qu'une seule et même personne. Ce qui est

33 Klaus-Rüdiger Wöhrmann: Leibniz* metaphysische Begründung der an inveniendi, in: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses. Hannover, 17.-22. Juli 1972, Bd IV (= Studia Leibnitiana, SuppL XV), Wiesbaden 1975, S. 46-47.

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pourtant une absurdité manifeste". Leibniz' Auffassung der Idealität von Zeit und Raum, die als solche keinerlei reale Unterscheidung zwischen den Dingen dulden, ermöglicht nun den Perspektivenwechsel: Was hier von zwei Individuen gesagt wird, die zugleich an verschiedenen Orten wären, gilt ebenso für zwei Subjekte, die zeitlich aufeinanderfolgten (ggf. am gleichen Ort)34. Im einen wie im anderen Fall muß eine wirkliche innere Differenz die Einzigartigkeit der Subjekte in der Natur begründen. Zudem enthält die partielle Äquivalenz unterschiedlicher Perzeptionen von zwei einander sehr ähnlichen Personen eine reale individuelle Verschiedenheit, die „consiste au moins dans les consti- tutions insensibles, qui se doivent développer dans la suite des temps" (NE II, 27, § 23; A VI, 6, 245-246). Und ferner ist im Verlauf solcher Entwicklungen die Rückkehr des gleichen Individuums zum selben Zustand in sich widersprüchlich, falls es wahr ist, daß das „Übergehen zu Neuem [. . .] die Weise [ist], wie sich für das Ich Individuation ursprünglich vollzieht", wie Wöhrmann deutlich formuliert35.

Der Fortgang des Fortschritts impliziert die Ewigkeit der Subjekte:

„Car c'est une vérité certaine que chaque substance doit arriver à toute la perfection dont elle est capable, et qui se trouve déjà dans elle comme enveloppée. Il est encor bon de considérer que dans cette vie sensible nous vieillissons après estre meuri, parce que nous approchons de la mort, qui n'est qu'un changement de theatre; mais la vie perpétuelle des ames estant exemte de mort, est aussi exemte de vieillesse. C'est pourquoy elles avancent et meurissent continuellement comme le monde

luy mesme dont elles sont les images" (GP Vu, 543).

Geschieht dies gelegentlich auch um den Preis, daß man sich zurückbewegt, um letztlich besser fortzuschreiten, so liefert ewiger Progreß nun die Gewähr, daß kein Geist Grenzen zukünftigen Wissens hat: „[...] nous ne savons pas jusqu'où nos connoissances et nos organes peuvent estre portés dans toute cette éternité qui nous attend" (NE II, 21, § 42; A VI, 6, 194). So ist das ewige Leben kein Zustand, sondern unbegrenztes Werden36.

Dasselbe Gesetz, welches das Einzelschicksal jedes Geistes, der die Wahrheit kennt und sucht, bestimmt, drückt sich in einer Ordnung aus, nach der die Geister einander „auf dieser Bühne" in genealogischer Reihe folgen. Alles spielt sich dort so ab, als folgte die Kette von Subjekten im Verlaufe der Geschichte konsequent dem gleichen Aufstieg, den jede Seele in ihrer Ewigkeit schon für sich allein vollzieht: „Evolution und Apokalyp- se konvergieren", so nennt dies Hans Blumenberg37. Hier schiebt sich nun die eher suggerierte als bekräftigte Vermutung von der Ablösung des Menschengeschlechtes durch höhere vernünftige Wesen in den Vordergrund, durch erleuchtetere Geister also, nach und über dem Menschen, die den Horizont ewiger Wiederkehr unweigerlich durchbrächen. Für diese posthumane Vernunft würden sich die Theoreme reiner Wissen-

34 Und umgekehrt: „Quae de diversis temporibus eorundem locorum seu earundem rerum, extendí edam possunt ad diversa loca ejusdem temporis [...]" (LH IV, 5, 9, Bl. 7 r°; S. 58 meiner Edition). Hierin liegt auch begründet, daß Leibniz ex hypothesi die Doktrin der Vielzahl gleichzeitiger Welten und der ewigen Wiederkehr aufeinanderfolgender Zyklen ein und derselben Welt als äquivalent begreifen kann.

35 Wöhrmann (vgl. Anm. 33), S. 47. 36 Vgl. Jean Baruzi: Leibniz, Paris 1909, S. 97; vgl. auch Dietrich Mahnke: Leibnizens Synthese von

Univenalmathematik und Individualmetaphysik, Halle 1925, der mit Görland und Cassirer betont, „daß Leibniz nicht einen Optimismus des Seins, sondern des Werdens und der Schaffensfreude vertritt" (S. 246, Anm. 69).

37 Blumenberg (vgl. Anm. 3), S. 143.

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schaft grenzenlos erweitern und asymptotisch den unendlichen Details der contingenta futura und den untersten natürlichen Arten annähern.

Aus dieser Idee vom Fortschritt und ihrer Ausarbeitung ergibt sich die scheinbar paradoxe Folgerung, daß er nicht durch äußeren Zuwachs, sondern von innen heraus durch Aufklärung geschieht. Der Fortschritt ist nicht extensiv und kumulativ, sondern intensiv und expressiv. Die Repräsentation, die ein Geist von seiner Welt enthält und die seine Substanz als Perspektive bildet, ist umf angsgleich mit der Gesamtheit von Dingen, die er stets sowohl mehr oder weniger verworren als auch mehr oder weniger deutlich perzipiert:

„Grâce à Pinf ini enveloppé en chacun de nous, notre »point de vue* est inrecommençable. Mais ce point de vue ne peut pas cesser, ni non plus se transformer tout d'un coup et radicalement"38.

In der Folge solcher Zeilen betont Jean Baruzi den Reichtum und die Tiefe der Idee vom Detail, die im Brennpunkt von Leibniz' Denken steht. Nun war es, wie wir sahen, auch der Übergang zum Detail (minutatim) individueller Leben, der die Verdeut- lichung des besonderen Charakters von Geschichte als Repräsentation unendlich kom- plexer Verkettungen durch einen endlichen Blickpunkt ermöglichte. Wie minutiös eine narrative und chronologische Geschichtsschreibung auch sein mag, stets läßt sie die Fülle von Details, die bis ins Unendliche sich zieht und die Individualität und Unwiederholbar- keit von Akteuren und Ereignissen begründet, außerhalb jeder Zugriffsmöglichkeit.

Die Originalität und Kraft von Leibniz' These offenbart sich so in der Auswertung von Ideen und Themen, die er überträgt und umgestaltet in vollkommener Strenge des Gedankens und der Schrift. Die schöpferische Kraft des Paradoxons bewirkt, daß Horizont und Apokatastasis unter seiner Feder zu Stützpunkten einer brillanten Umkehr des Für und Wider werden, und zwar dergestalt, daß die letzte Zeile der definitiven Fassung der Apokatastasis negativ auf die alte Frage nach den Grenzen des menschlichen Geistes antworten kann: Ganz sicher gibt es nicht einmal für beschränkte Geister einen Horizont des Umf angs von zukünftigem Wissen39.

Eine letzte und einfache Beobachtung läßt erkennen, daß Leibniz zu keiner Zeit die ewige Wiederkehr zugelassen hätte als mehr denn eine theoretische Möglichkeit und er nie hat glauben wollen, sie könne sich wirklich ereignen. In der Tat bedeutet ja die Annahme, die ewige Wiederkehr sei wahr, nichts anderes, als daß sie schon immer stattgefunden hat:

„Welchen Zustand diese Welt auch nur erreichen kann , sie muss ihn erreicht haben, und nicht einmal, sondern unzählige Male. So diesen Augenblick: er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren [...]** 40.

Nun ist aber Leibniz' ganze Argumentation auf die Zukunft gerichtet, und die Wieder- holung des Gleichen hat er niemals anders formuliert denn als zukünftig zu erreichenden Zustand: „Tempus affuturum esse quo [. . .]".

Wenn Leibniz keine retrospektive Vorstellung über die Wiederkehr hegt, so deshalb, weil er an eine Schöpfung glaubt, im Hinblick auf die wir uns noch im Kindesalter dieser Welt befinden (vgl. Grua 1, 272). Wenn aber, was heute ist, weder dem Wortlaut noch der Sache nach eine Kopie dessen sein kann, was früher war, so ist kaum glaubhaft, daß, was

38 Baruzi (vgl. Anm. 36), S. 99. 39 „Et quaevis mens horizontem praesentis suae circa scientias capacitaos habet, nullum futurae"

(LBr 705, Bl. 74 v°; S. 76 meiner Edition). 40 Nietzsche (vgl. Anm. 26), S. 183.

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sein wird, seinerseits die Reproduktion dessen wäre, was ist Wenn die Rückschau leer ist, so ist der Blick in die Zukunft blind, wie es im übrigen bereits der formale Charakter der Rechnungen in De l'horizon de la doctrine humaine hinreichend deudich werden läßt Die Antizipation der Wiederholung, deren Wiedererinnerung als unmöglich sich erweist, entpuppt sich so endgültig als das, was sie wirklich ist: eine Fiktion.

Doch bleibt hier wie anderswo, daß „ces fictions bizarres ont leur usage dans la speculation, pour bien connoitre la nature de nos Idées" (NE III, 6 § 22; A VI, 6, 314) 41.

41 „Mais pour mieux entrer dans la nature des choses, il est permis de faire des fictions" (Médita- tion sur la notion commune de la justice, in: Georg Mollat (Hrsg.): Mittheilungen aus Leibnizens

ungedruckten Schriften, Leipzig 21893, S. 59).

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