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Ernst Grünfeld – Ein Leben zwischen Innovation und Verfolgung Reinhold Sackmann 1. Leben 2. Werk 3. Rezeption Vortrag bei der Tagung „Die Merkmale der Genossenschaft aus der Sichtweise von Ernst Grünfeld – eine Bestandsaufnahme im 21. Jahrhundert“, Halle, 27.1.2017 Kontakt: [email protected]

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Ernst Grünfeld – Ein Leben zwischen Innovation und Verfolgung

Reinhold Sackmann 1. Leben2. Werk3. RezeptionVortrag bei der Tagung „Die Merkmale der Genossenschaft aus der Sichtweise von Ernst Grünfeld – eine

Bestandsaufnahme im 21. Jahrhundert“, Halle, 27.1.2017

Kontakt: [email protected]

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1. Leben

Ernst-Grünfeld-Weg, in Halle, Weinberg-Campus, nahe IAMOLandwirt?

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1. Leben

Ernst Grünfeld-  1883 Geburt in Brünn (Brno)-  1902 Studium Landwirtschaft in Wien-  1903-1906 Studium Landwirtschaft, Nationalökonomie und Staatswissenschaften

in Halle-  1906-1908 Promotion „Die Gesellschaftslehre von Lorenz von Stein“, Universität

Halle-  1908-1910 Studium Nationalökonomie in Leipzig und Wien-  1910-1912 Assistent an der Südmandschurischen Bahn AG, Tōkyō-  1913 Habilitation Nationalökonomie in Halle „Die Hafenkolonien in China“-  1914-1918 österreichischer Offizier, an Front und im Ministerium-  1919-1920 Reichsministerium des Inneren, Berlin-  1920-1929 Lehrauftrag für Genossenschaftswesen, Universität Halle-  1929-1933 ordentlicher Professor für Genossenschaftswesen, Universität Halle-  1933 Entlassung-  1933-1938 arbeitslos in Berlin-  1938 Suizid, Berlin

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1. Leben

Staatlich bewilligter Terror: 29.5.1933 „Die Deutsche Studentenschaft hat sich für den BoykoM der drei Hallenser Professoren entschieden, wird aber morgen, (Dienstag, den 30. d.M.) vor Übersendung der MiMeilung beim Kultusministerium noch einmal telefonisch anfragen, ob hier schon SchriMe unternommen worden sind, bzw. besonders geartete Fälle vorliegen.…Grünfeld.Juristische Fakultät.

Jude, Marxist, der Fakultät oktro/yiert.Kein Verständnis für Deutschtum. Se^te nationale Belange stets herab.“

(Brief von Krüger/Schimmerohn an Ministerium 1933, korrigierter Tippfehler im Original, nach Drost 2013: 142ff.)Welche der fünf Merkmalszuschreibungen von Grünfeld sind richtig?

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1. Leben

VerfolgungAusgangskonstellation Weimar: Mehrheitlich reaktionäre hallische Universität gegen demokratisches preußische Ministerium: z.B. Juristen der „Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät“ protestieren 1919 gegen Ruf an den Staatswissenschaftler Grünfeld wegen mangelnder juristischer Kenntnisse (Prokoph 1985). Mehrheitlich nationalsozialistische Studentenschaft ab 1930/31 (Eberle 2002). Aber: Leistung: 1929 Professur; 1932 Dekan.Demokratische Insel der ordentlichen professoralen Staatswissenschaften in Halle wurde zu 100% zerschlagen: Aubin, Grünfeld, Her^ 1933, Jahn 1937. (DurchschniM 16% in Deutschland, Bruch 2013).Entlassung und Demütigung: Beurlaubung Mai 1933, Entlassung wegen politischer Betätigung September 1933, Ausbürgerung März 1934, Juli 1934 zumindest Ruhegehalt, Mai 1938 En^ug der 8jährigen Adoptivtochter wegen Rassengese^, Mai 1938 Suizid.

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2. Werk

Ernst Grünfeld (1910): Lorenz von Stein und die Gesellschaftslehre. Jena: Fischer.„Nicht nur begründete er [Grünfeld] die deutsche Stein-Forschung und wies damit zugleich der Soziologiegeschichtsschreibung innovative Wege“ (Papcke 1993: 101; vgl. Salomon 1921).In seiner sehr gründlichen Dissertationsschrift würdigt Grünfeld von Stein, der 1842 die Gesellschaftslehre in Reaktion auf die soziale Frage begründet habe. Von Stein sehe die geschichtliche Entwicklung als Dialektik von Staat und Gesellschaft, wobei der Staat eine höhere Natur aufweise als die Gesellschaft, weswegen er mehr als eine Klasse aufnehmen würde.Von Steins Pioniertat wird von Grünfeld auch wertgeschä^t, weil er die Nationalökonomie durch die Hereinnahme soziologischer Themen zu einer „Staatswissenschaft“ im Sinne der historischen Schule weitet, anstaM die Sozialwissenschaften wie in Amerika oder Frankreich zu spalten.„Aber wie vielfältig sind die Wirkungen, die von jenen Neuerern ausgegangen sind,…. Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik, Rechts- und Staatslehre, Politik stehen heute noch in engstem Zusammenhang mit dem Erbe jener Männer“ (Grünfeld 1910: 257).

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2. Werk

Ernst Grünfeld (1913a): Die japanische Auswanderung. Tōkyō: Druck der Hobunsha.Ernst Grünfeld (1913b): Hafenkolonien und kolonieähnliche Verhältnisse in China, Japan und Korea. Jena: Fischer.Kurz vor Ende der ersten großen Weltvergesellschaftungswelle werden materialreiche Analysen (z.B. japanisch) vorgelegt zu Verlauf, institutioneller Struktur und Konflikten dieser Austauschprozesse zwischen Ostasien, USA und Europa.Z.B. Japaner werden von Regierung migriert oder von dubiosen VermiMlungsfirmen verschoben, integrieren sich in den USA nicht und werden nach dem großen Erdbeben in San Francisco massiv im Bildungssystem diskriminiert.Z. B. Obwohl die Hafenkolonie Hongkong nicht profitabel für den britischen Staat sei, habe sie sich zum driMgrößten Hafen der Welt entwickelt. Die dort ansässigen Bildungseinrichtungen haben nicht-intendiert die chinesischen Führungspersönlichkeiten der Revolution von 1911 erzogen.China sei eine große kulturelle Macht. Durch die Öffnung sei es in „größter Unruhe, die sich voraussichtlich noch lange nicht legen wird“. „Nach vielen Jahren darf man wohl von China den Auyau einer neuen Kultur erwarten“(Grünfeld 1913b: 99)

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2. Werke

Ernst Grünfeld (1939): Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie. Amsterdam: Noord-Hollandsche Uitgevers Mij.

„[H]at Grünfeld frei nach der Quasiformel Raumdistanzierung = (f) Sozialdistanzhürde zugleich den vielleicht wichtigsten Beitrag jener Jahre zur Soziologie des Exils geliefert“ (Papcke 1993: 102)

Das postum erschienene Buch analysiert Relationen zwischen den als Periphere zusammengefassten zwei Gruppen („Fremde“ und „(nichtfremde) ausgesonderte Periphere“) und ihrer gesellschaftlichen Umwelt. In dieser formalen Analyse wird relational und dynamisch ein Prozess analysiert, an dessen Ende Angleichung steht.

Wie man peripher wird? Freiwillig oder unfreiwillig. „Immer entsteht durch Distanzierung, Isolierung und Fremdwerden eine innere Wandlung zum Peripheren“ (Grünfeld 1939: 27).

Die Beziehungen zwischen Peripheren und altem Umkreis sind ambivalent.

Die Beziehungen zwischen Peripheren und neuem Umkreis sind durch Beweglichkeit charakterisiert. Alle Ausgesonderten haben starke Neigung zu Assimilation, so sie nicht in geschlossenen Siedlungen wohnen oder durch Überlieferungen gebunden sind.

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2. Werke

Ernst Grünfeld (1939): Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie. Amsterdam: Noord-Hollandsche Uitgevers Mij.

Verhältnis neuer Umkreis zu Peripheren: „[A]lles, was um den Fremden herum vorgeht, [ist] durch eine Wolke des Unausgesprochenen und Mißverständlichen beschaMet“ (ebd.: 70).

Stellung der Peripheren in der Gesellschaft: Es umgibt sie Wolke von Mißverständnis und Geheimnis. Sie erbringen als VermiMler und Innovatoren positive Leistungen (z.B. Japan nach 1868; Glaubensflüchtlinge als frühe Unternehmer etc.). [Wie Prometheus]: „Nicht Himmelssöhne sind die Lichtbringer, … sondern oft unscheinbare, unansehnliche Menschen, die unter Verfolgungen und schweren Mühen ihren Weg gehen. … [D]ie ärgste Verfolgung kommt von denen, zu denen sie Licht und Wohlstand bringen wollen“ (ebd.: 84). Dennoch: Resultat Kulturwandel.

Am Ende des Prozesses häufig Assimilation. Aber Teil will nicht assimiliert werden.

„Fremde können immer eine Bedrohung darstellen, wenn sie in größerer Zahl auftreten. Die ersten europäischen Einwanderer in Amerika haben die dort bestehenden Gemeinschaften aufgelöst und vernichtet und schließlich zu einem Land der Weissen gemacht“ (ebd.: 96).

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3. Rezeption

Die Verfolgung von Grünfeld hat wie bei fast allen von den Nazis Entlassenen, die nicht in jüngerem Alter im Exil berühmt wurden, zu einer späteren VerschüMung des Wissens über Werk und Wirken geführt.

Beispiel Rezeption „Die Peripheren“:

-  Holländischer Verlag, der v.a. naturwissenschaftliche Exilliteratur herausgibt und nach deutscher Besa^ung 1940 diese Tätigkeit aufgibt.

-  AMeslander (1956) hält es für ein Buch über Nomaden.

-  Dahrendorf (1965) denkt der Autor sei Carl Grünberg.

-  König (1959), Albrecht (1984), Lepsius (1981) und Dahrendorf (1965) unterstellen, dass der Autor im Exil gewesen sei.

-  Hagenmüller (1966) referiert das Leben Grünfelds, weiß aber nicht, dass er Autor des Buches „Die Peripheren“ ist.

-  Dennoch würdigen Fürstenberg (1965), König (1959), Dahrendorf (1965) und Papcke (1993) das Buch als einen Meilenstein sozialwissenschaftlicher Literatur.

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4. Fazit

Ernst Grünfeld war vor und nach seiner Forschungstätigkeit zum Genossenschaftswesen ein innovativer, weltbewanderter Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler, der mit nüchternem Blick den Dingen auf den Grund ging. Barbarisch der deutschen Wissenschaft entrissen, die bis heute darunter leidet: Späte Wiedergutmachung.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

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5. Literatur

Albrecht, Richard: Wissenschaftler im Exil. In: Tribüne 23 (1984), 96-106.AMeslander, Peter M.: Probleme der sozialen Anpassung. Köln 1956.Bruch, Rüdiger vom: Die Universität Halle im Kontext. Entlassung und Vertreibung von Hochschullehrern in der NS-Zeit. In: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Zum Gedenken an die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-WiMenberg. Halle 2013, xxiii-xxxvi.Drost, Yvonne: Ernst Grünfeld. In: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Zum Gedenken an die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-WiMenberg. Halle 2013, 134-146.Fürstenberg, Friedrich: Randgruppen in der Gesellschaft. In: Soziale Welt 16 (1965), 236-245.Grünfeld, Ernst: Lorenz von Stein und die Gesellschaftslehre. Jena 1910.Grünfeld, Ernst: Die japanische Auswanderung. Tōkyō 1913.Grünfeld, Ernst: Hafenkolonien und kolonieähnliche Verhältnisse in China, Japan und Korea. Jena 1913.Grünfeld, Ernst: Die Peripheren. Amsterdam 1939. Reprint Halle 2015, mit einem Nachwort von Reinhold Sackmann.Hagenmüller, Karl Friedrich: Grünfeld, Ernst. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Neue Deutsche Biographie. Siebenter Band: Grassauer – Hartmann. Berlin 1966, 197-198.König, René: Die Situation der emigrierten deutschen Soziologie in Europa [1959]. In: Wolf Lepenies (Hg.): Geschichte der Soziologie. Bd. 4, Frankfurt/M. 1981, 115-158.Lepsius, M. Rainer: Die sozialwissenschaftliche Emigration und ihre Folgen. In: Ders. (Hg.): Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. Sonderheft 23 (1981) der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 461-500.Papcke, Sven (1993): Distanz als soziologisches Problem. Ernst Grünfeld über Erfahrungen der Aussonderung (1939). In: ders.: Deutsche Soziologie im Exil. Frankfurt/M.: Campus. S. 100-120.Prokoph, Werner: Der Lehrkörper der Universität Halle-WiMenberg zwischen 1917 und 1945. Halle 1985.Salomon, GoMfried: Vorwort des Herausgebers der 2. Auflage. Lorenz von Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage. München. Reprint Berlin 2016, 23-49.