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- 219 -- Vergiftungsf~lle. A 878 Aus der Inneren Abteilung des Elisabeth-Krankenhauses Bochum (Chefarzt Dr. Johannes Miiller). Ein ungewiihnlicher Fall yon Morphium-VergiRung. Von Johannes Miiller. (Nach einem Vortrag in der Med. Gesellschaft Bochum am 11. 12. 40.) Am 15. 2. 1939 gegen 171/2 Uhr kam ein etwa 3 Jahre altes M~idchen in allerschwerstem Zustand, tiof comatSs, moribund zur Auf- nahme. Es war derart cyanotisch, dal] es geradezu blau-schwarz aus- sah. Die Atmung war ganz oberfl~chlich, sehr unregelm~ii~ig und setzte oft fill" Minuten ganz aus. Die Haut fiihlte sich kalt an, alle Reflexe waren erloschen, die Pupillen waxen stecknadelkopfeng. Der Puls war schwach, aber noch rel~tiv gut flit die S~hwere des Zustandes. Bei diesem eindeutigen Befund war an der Diagnose zentrale Atem- l~hmung inIolge Morphiumvergiftung:kein Zweifel. Nach sofort yon uns eingeleiteter kiinstlicher Atmung, Analepticis (Lobelin, Cardiazol) wurde die Atmung voriibergehend besser; das Sensorium hellte sich fiir wenige Augenblicke auf. Dann verfiel ie- doch das Kind wieder in tiefstes Coma. Unter weiterer Anwendung yon Lobelin, Coramin und Atropin (in Mengen yon 0,1--0,2 rag), mehrfachen Magenspiilungen mit Kal. permanganat (0,1O/oig) sowie Tierkohleapplikation durch die Magensonde, um noch etwa im Magen vorhandenes oder wieder in den Magen ausgeschiedenes Morphium zu einem ungiftigen Produkt zu oxydieren, wurde schliel~lich im Verlauf der n~ichsten Stunden die Atmung allm~ihlich regelm~il~ig; die Cya- nose schwand damit. Und gegen 23 Uhr erwachte das Kind, um sich nunmehr endgiiltig zu erholen. Es wurde am niiehsten Tage be- reits wieder nach Hause geholt.

Ein ungewöhnlicher Fall von Morphium-Vergiftung

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Page 1: Ein ungewöhnlicher Fall von Morphium-Vergiftung

- 219 - - Vergiftungsf~lle. A 878

Aus der Inneren Abteilung des Elisabeth-Krankenhauses Bochum (Chefarzt Dr. J o h a n n e s Miiller).

Ein ungewiihnl icher Fall yon Morphium-VergiRung.

Von J o h a n n e s Miil ler .

(Nach einem Vortrag in der Med. Gesellschaft Bochum am 11. 12. 40.)

Am 15. 2. 1939 gegen 171/2 Uhr kam ein etwa 3 Jahre altes M~idchen in allerschwerstem Zustand, tiof comatSs, moribund zur Auf- nahme. Es war derart cyanotisch, dal] es geradezu blau-schwarz aus- sah. Die Atmung war ganz oberfl~chlich, sehr unregelm~ii~ig und setzte oft fill" Minuten ganz aus. Die Haut fiihlte sich kalt an, alle Reflexe waren erloschen, die Pupillen waxen stecknadelkopfeng. Der Puls war schwach, aber noch rel~tiv gut flit die S~hwere des Zustandes. Bei diesem eindeutigen Befund war an der Diagnose zentrale Atem- l~hmung inIolge Morphiumvergiftung:kein Zweifel.

Nach sofort yon uns eingeleiteter kiinstlicher Atmung, Analepticis (Lobelin, Cardiazol) wurde die Atmung voriibergehend besser; das Sensorium hellte sich fiir wenige Augenblicke auf. Dann verfiel ie- doch das Kind wieder in tiefstes Coma. Unter weiterer Anwendung yon Lobelin, Coramin und Atropin (in Mengen yon 0,1--0,2 rag), mehrfachen Magenspiilungen mit Kal. permanganat (0,1O/oig) sowie Tierkohleapplikation durch die Magensonde, um noch etwa im Magen vorhandenes oder wieder in den Magen ausgeschiedenes Morphium zu einem ungiftigen Produkt zu oxydieren, wurde schliel~lich im Verlauf der n~ichsten Stunden die Atmung allm~ihlich regelm~il~ig; die Cya- nose schwand damit. Und gegen 23 Uhr erwachte das Kind, um sich nunmehr endgiiltig zu erholen. Es wurde am niiehsten Tage be- reits wieder nach Hause geholt.

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Zur V o r g e s c h i c h t e gab der Vater an, der das Kind ge- bracht hatte, daf~ es vor 4 Wochen Masern gehabt babe; sonst sei es immer gesund gewesen. Die Aufnahme der nRheren Vorgeschichte gestaltete sieh auf~erordentlich schwierig. Erst auf mehrfacll wieder- holtes und schliefllicl~ ganz minuziSses Befragen, ob denn das Kind nicht irgendein Medikament oder dergleichen genommen habe, wo- yon der ietzige schwere Zustand herriihren miisse, kam dann folgen- des heraus:

Am Morgen des Erkrankungstages war das Kind noch munter herumgelaufen. Gegen 14 Uhr besuchte es rdie in der N~he wohnen- den GrolSeltern, yon denen es etwa vnach 21/2 Stunden mit einem klei- hen Medizinfl~schchen in der Hand zuriickkehrte. Es war kaum 5--10 Min. wieder zu Hause, als es sehr schl~ifrig und miide wurde und deshalb zu Bett gebracht wurde. Um 16,30 Uhr bemerkte der Vater, daft die Kleine ,,etwas r6chelnd" 'atmete. Als sie dann gegen 17 Uhr gar blau aussah und sich kalt anfiihlte, wurde unverziiglicl~ der Arzt gerufen, der das Kind wegen der Sehwere des Zustandes so- fort mit seinem Wagen zu uns brachte.

Aus dem Medizinfliischchen, das die Kleine bei ihrer Riickkehr mitbrachte, hatte sie bei den GrolSeltern Zitronensaft getrunken. Das Fl~chchen sei leer gewesen und nieht vor Einffillung des Zitro- nensaftes gespiilt worden. Eine Signatur war an dem Fl~chchen, als der Vater es uns vorzeigte, nicht mehr vorhanden. Da der Grol~ rater des Kindes aber noeh eine ganze Anzahl gleicher Fl~chchen, in denen dieselbe Medizin gewesen war, zu Hause hatte, so konnte uns der Vater leieht noeh einige weitere Flasehen besorgen. Sie waren leer, zeigten aber an der Innenwand zahlreiche, festhaftende, feine, braune, nadelfiirmige Kristallbiischel und roehen noeh nach Anis. Die Signatur der Fl~schchen lautete: Morpl~. muriatie 0,1, Elixir pectoral, ad 15,0. Elixir pectorale ist die ~ltere Bezeich- hung fiir das Elixir e succo liquiritiae, wie das Brustelixir~nach dem Deutschen Arzneibuch heute benannt ist und enthiilt:

Suce. liq. 20,0 Liq. Ammon. caustic. 3,0 01. anisi O1. Foenicul. ~ 0,5 8piritus 16,0 Aq. dest. ad 100.

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Der wichtigste Bestandteil, der uns bier interessiert, ist die Ammoniakfliissigkeit, die dem Brustelixier alkalische Reaktion ver- leiht. In alkalischem Medium ist abet Morphium hydrochloric, nicht 15slich; es wird vielmehr in die wasserunlSsliche Morphinbase iiber- gefiihrt und f~llt als solehe aus. So geschah es auch hier. Ein Teil der bier ausgefiillten Morphinbase setzte sich an der Innenwand des Fl~chchens ab. Durch die Zitronens~iure, welche die GrolSmutter mit dem Zitronensaft hineinfiillte, wurde die Morphinbase wieder ge- ISst und konnte so zu der schweren Vergiftung des Kindes fiihren.

Interessant w ~ e es nun z~ erfahren, wieviet Morphium das Kind genommen hat. Sicheres l~i~t sich dariiber natiirlich nicht sagen. In der Annahme iedoch, daft die eingenommene Morphium- menge yon ~hnlicher Gr5fle war, wie in den anderen Fl~ischchen, die der Vater uns mitbrachte und die gleiche LSsung und gleiche Men- gen Morphium enthalten batten, liel5 ich den angetrockneten brau: nen Wandbeschlag eines dieser Fl~schehen durch Herrn Apotheker Dol l yon der Falkenapotheke quantitativ analysieren. Dabei er- gab sich, dal~ die Menge des als Morphinbase durch das Ammoniak ausgef~illten, zum Teil an der Innenwand abgesetzten Morphiums 0,016 g, d. i. nahezu 1/6 der urspriinglich verordneten Morphiummenge

betrug. Diese Menge wiirde sicher ausgereieht haben, um bei dem 11,7 kg schweren und noch nicht ganz 3 Jahre alten M~idchen die schwere Vergiftung hervorzurufen.

Die Morphiumanwendung, die ia im S~iuglingsalter g~inzlieh zu unterlassen ist, erheischt auch ira Kleinkindesalter bekanntlich noch grS~te Vorsieht. Die therapeutischen Dosen, die nach F e e r fiir ein 2--6 i~ihriges Kind 1--3 mg betragen, wurden bei diesem Kinde wahrscheinlich um das Fiinffache iiberschritten. Unter Zugrunde- legung der Dosis toxiea fiir den Erwachsenen yon 0,05 Morphium wiirde bei dem noch nicht 3 Jahre alten M~idchen, dessen toxische Dosis nach der Formel

Anzahl der Jahre

Anzahl der'~Iahre -~ 12

mit I/5 yon 0,05 ---- 0,01 Morphium anzusetzen w~e, diese Dosis erheblich iiberschritten sein. Wahrscheinlich liegt aber die Dosis toxica fiir ein 3 i~hriges Kind noch unter 0,01 Morphium.

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Eine wichtige Lehre ffir d i e P r a x i s gibt uns dieser schwere

Vergiftungsfall: Morphium nicht mit alkalisch reagierenden Flfissig-

keiten zusammen zu verordnen.

Anschrift des Verfassers: Chefarzt Dr. J o h. M ii 11 e r , Inn. Abt.

des Elisabeth-Krankenhauses Bochum.