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DIE GESCHICHTE DER OSTEOPSATHYROSIS (OSTEOGENESIS IMPERFECTA) von Bruno Valentin* Die Osteopsathyrosisl ebenso wie die Osteogenesis irnperfecta sind schon seit iiber 200 Jahren in der medizinischen Literatur bekannt; unzahlige Arbeiten sind dariiber veroffentlicht worden, die Mehrzahl von ihnen rein kasuistischen Inhalts. Die Krankheit ist weit verbreitet, so liegen z. B. auch aus Sudamerika bereits viele Veroffentlichungen vor, aus Brasilien allein 13 Arbeiten uber 20 Falle. Ich selber konnte vor einigen Jahren zwei Fiille aus einer Familie (Bruder und Schwester) hier in Rio de Janeiro beobachten, in meinem friiheren Arbeitsgebiet in Deutschland (Hannover) hatte ich anhand von ca. 30 Fallen hinreichend Gelegenheit, die Osteogenesis imperfecta und die Osteopsathyrosis zu studieren, mit- unter war es moglich, mit Hilfe von Stammbaumen die auch schon von anderen Autoren beobachtete Vererbung nachzuweisen. Ueber einen Teil dieser Falle liegen Publikationen vor von meinen Schulern Strote und Holler, sowie aus einem gemeinsamen Arbeitskreis mit Gg. B. Gruber (M. Fuchs, Weber). Gruber hat im Schwalbe’schen Werk iiber die Morphologie der Missbildungen manche Beobachtungen von mir ver- wertet. Es ist aber nicht der Zweck dieser Arbeit, auf das klinische Bild naher einzugehen oder etwa die vielen aufgetauchten Probleme wiederum zu besprechen, sondern vielmehr die Geschichte dieser so interessanten Veranderung zu schildern. Zum besseren Verstandnis des Folgenden seien nur einige kurze Bemerkungen iiber das Wesen der Osteogenesis irnperfecta und der Osteopsathyrosis vorausgeschickt. Emil Looser (1877-1936) wies 1906 auf Grund eingehender Unter- * Prof. Dr., Rio de Janeiro. Centaurus 1955: vol. 4: no. 2: pp. 132-147

DIE GESCHICHTE DER OSTEOPSATHYROSIS (OSTEOGENESIS IMPERFECTA)

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D I E GESCHICHTE D E R OSTEOPSATHYROSIS (OSTEOGENESIS IMPERFECTA)

von

Bruno Valentin*

Die Osteopsathyrosisl ebenso wie die Osteogenesis irnperfecta sind schon seit iiber 200 Jahren in der medizinischen Literatur bekannt; unzahlige Arbeiten sind dariiber veroffentlicht worden, die Mehrzahl von ihnen rein kasuistischen Inhalts. Die Krankheit ist weit verbreitet, so liegen z. B. auch aus Sudamerika bereits viele Veroffentlichungen vor, aus Brasilien allein 13 Arbeiten uber 20 Falle. Ich selber konnte vor einigen Jahren zwei Fiille aus einer Familie (Bruder und Schwester) hier in Rio de Janeiro beobachten, in meinem friiheren Arbeitsgebiet in Deutschland (Hannover) hatte ich anhand von ca. 30 Fallen hinreichend Gelegenheit, die Osteogenesis imperfecta und die Osteopsathyrosis zu studieren, mit- unter war es moglich, mit Hilfe von Stammbaumen die auch schon von anderen Autoren beobachtete Vererbung nachzuweisen. Ueber einen Teil dieser Falle liegen Publikationen vor von meinen Schulern Strote und Holler, sowie aus einem gemeinsamen Arbeitskreis mit Gg. B. Gruber (M. Fuchs, Weber). Gruber hat im Schwalbe’schen Werk iiber die Morphologie der Missbildungen manche Beobachtungen von mir ver- wertet.

Es ist aber nicht der Zweck dieser Arbeit, auf das klinische Bild naher einzugehen oder etwa die vielen aufgetauchten Probleme wiederum zu besprechen, sondern vielmehr die Geschichte dieser so interessanten Veranderung zu schildern. Zum besseren Verstandnis des Folgenden seien nur einige kurze Bemerkungen iiber das Wesen der Osteogenesis irnperfecta und der Osteopsathyrosis vorausgeschickt.

Emil Looser (1877-1936) wies 1906 auf Grund eingehender Unter-

* Prof. Dr., Rio de Janeiro.

Centaurus 1955: vol. 4: no. 2: pp. 132-147

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suchungen nach, dass pathologisch-anatomisch die intrauterin auftretende Osteogenesis imperfecta congenita mit der erst postnatal sich bemerkbar machenden idiopathischen Osteopsathyrose identisch ist :

DES kann keinem Zaeifel unterliegen, dass die Osteogenesis imperfecta und die Osteopsa- thyrosis ein und dieselbe Krankheit sind und sich nur durch den Zeitpunkt ihres Auftretens voneinander unterscheiden.

Diese Auffassung Looser’s setzte sich allmahlich durch und wurde ziemlich allgemein angenommen. In neuerer Zeit haben aber einzelne Autoren, namentlich in der Schweiz, an erster Stelle Glanzmann (1936), sich gegen eine Idenmerung der beiden Erscheinungsformen gewand t. Die angef uhrten Griinde sind vor allem klinischer Natur, da histologisch an einer weitgehenden Uebereinstimmung nicht zu zweifeln ist. U. Cochi (1952) ist noch einen Schritt weitergegangen, denn er unterscheidet sogar drei Typen, namlich die >>Osteogenesis imperfecta fetalis Vrolikc(, die >)Osteopsathyrosis Lobstein<( (mit 2 Untertypen) und die >)Trias der fragilitas ossium hereditaria<<. In der von ihm aufgestellten Tabelle (p. 696) sind aber ausser den blauen Skleren und der (nicht konstanten) Schwerhorigkeit bei der ))Trias fragilitas ossium hereditariacc keine Unter- schiede zwischen den beiden letztgenannten Typen zu konstatieren. Auch sind nach seinen eigenen Angaben sowohl das Rontgenbild wie auch der pathologisch-anatomische Befund wollkommen ubereinstimmend<( bei diesen beiden Typen.

Die Osteogenesis imperfecta ist eine Storung der Knochenentwicklung, und m a r im besonderen der Knochenneubildung. Charakterisiert wird der Prozess durch eine mangelhafte Apposition von Knochensubstanz bei ungestorter und geordneter Wucherung des Knorpels und der iibrigen Anteile der enchondralen Ossifikation. Also : Minderwertigkeit der kno- chenbildenden Elemente, d. i., der Osteplasten, Mange1 an Apposition bei lebhafter (vermehrter ?) Resorption. Das Ergebnis ist eine die Festigkeit des Knochens beeintrachtigende Porositiit. Durch den ganz diirftigen, in schweren Fallen unzusammenhangenden Bau der Kortikalis ist der Wider- stand gegen Biegungsbeanspruchung besonders herabgesetzt. Die Folge sind zahlreiche, entweder schon intrauterin erfolgende, mitunter bei der Geburt schon wieder verheilte, oder postnatale Frakturen an den Knochen der Gliedmassen und an den Rippen. Dass es nicht an der Verkalkung fehlt, dafiir spricht die Harte der gebildeten Knochenbalkchen und die tadellose Kallusbildung mit Festigkeit der Bruchenden (nach Gg. B. Gruber 1937). Derselbe Autor ist in einer neueren Arbeit nach der Unter-

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suchung einer grossen Serie von angeborener Knochenbriichigkei t zu folgendem Ergebnis gekommen: es handelt sich urn eine schon in utero oder erst im Sauglingsalter nachweisbare pathologische Entitaet. Die Zusammengehorigkeit der kindlichen Osteogenesis irnperfecta mit der tardiven Osteopsathyrose zu ergriinden, sei vor allem Sache antlicher anthropologischer Familien-Forschung ; und diese spreche fiir die Zu- gehorigkeit auch der erst im spateren Leben auftretenden Erscheinungs- form zur friihkindlichen Knochenbfichigkeit (Gg. B. Gruber 1949).

Und nun zur

Geschichte der Osteogenesis irnperfecta und der Osteopsathyrosis! Von medizinischem und kulturhistorischem Interesse sind die friihesten

in der Literatur nachweisbaren Falle von Osteopsathyrose, weil sie ein getreues Spiegelbild der jeweiligen Zeitanschauungen geben. So gleich der erste, 1674 von Nicolas Malebranche (1 638-171 5) publizierte Fall, der etwas ausfuhrlicher mitgeteilt sei (nach Witkowski, p. 174) :2

nll y a sept ou huit ans passes, qu'on vit un jeune homrne k I'hapital des incurabfes, un idiot, dont Ie corps 6tait rompu aux mdrnes endroits oh I'on rompt Ies criminels. I1 a v6cu vingt ans dam cet &at, et il a et6 vu de plusieures personnes. La cause d'un rnalheur si terrible fut que sa mere, apprenant qu'on devait rouer un crirninel, voulut en voir I'execution. Les enfants voient ce que leurs meres voient, entendent Ies mdmes cris, ils reFoivent les memes impressions des objets et sont emus par les memes passions. Les coups qu'on donna au malfaiteur frapperent l'imagination de la mere, et, par contre-coup, Ie tendre cerveau de l'enfant dont les fibres, ne pouvant resister au torrent des esprits, furent rompues. C'est pour cette raison qu'il vint au monde idiot. Le mouvement impetueux des esprits animaux de la mere dilata avec force son cerveau et se communiqua aux diverses parties de son corps, qui respondaient a celles du criminel. Mais, comrne les 0s de la mbre purent resister a I'imp6tuosit6 des esprits, ils ne furent point blesses. Peut-ttre qu'eIIe ne sentit point la mondre douleur. Mais ce cours rapide des esprits a 6tb capable d'emporter ou de briser cette tendre partie des 0s de I'enfant. Et il faut observer que si cette mtre eQt d6tourn6 le mouvernent des esprits vers quelque autre partie de son corps, en se cha- touillant avec force Ie dem&e, par exemple, son enfant n'aurait point eu Ies os rompus.((

Die nachsten Autoren, Nicolas Hartsoeker (1656-1725) und Wyer G. Muys (1 682-1744) waren noch in dem gleichen Aberglauben befangen, indem auch sie der Schwangeren die Schuld fur die intrauterinen Frakturen zuschoben.

K'est une chose &range, que Ies imaginations dbrtgltes des femmes peuvent changer etrangement les foetus qu'elles portent dans leur sein. Une Dame de qualit6 de Paris. ayant par hazard assist6 a un pareil spectacle dans Ie tems de sa grossesse, mit au monde une f i k tout rompue, qui vivoit encore en I'annQ 1692. agee alors de 32 ou 33 ans. Le

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mari de la femme qui allaita en ce tems un de mes enfans, avoit t t t Laquais dans la maison oh cette fille fat gardet assez secretement, et c'est de lui que je tiens cette hist0ire.e (Hart- soeker 1708).

Muys (1738) berichtet einen ahnlichen Fall, der ihm von Govert Bidloo (1649-1713) erzahlt und von anderen Leuten bestiitigt wurde: Eine Frau, im 7. Monat der Graviditat, wohnhaft in Leyden, ging nach Harlem eigens zu dem Zweck, um dort dem Spektakel des Raderns eines Diebes beizuwohnen. Nach ihrer Ruckkehr sprach sie noch tagelang uber alle Einzelheiten des grausigen Schauspiels. Am nonnalen Ende der Schwan- gerschaft brachte sie ein Kind zur Welt, dessen Glieder an den gleichen Stellen gebrochen gewesen seien, wie die des geraderten Diebes (s. Abb. 1). Muys fugt dieser Schilderung noch einige kritische Worte uber das Versehen der Schwangeren him, aber so ganz uberzeugt ist er von der Deutung und Erklarung der Frakturen bei dem Neugeborenen schon nicht mehr.

Wahrend diese Falle entweder noch recht ungenau beschrieben oder iiberhaupt nicht selber von den Autoren beobachtet sind, ist der 1714 von Pierre Amand (1 6 ? ?-1720) aus eigener Beobachtung, daher vie1 besser und objektiver geschildert; auch ist er in seiner Meinung iiber den ur- sachlichen Zusammenhang noch kritischer und skeptischer als Muys.

))Nous trouvlmes (sc. bei einem im IV. oder V. Schwangerschaftsmonat totgeborenen Kind) qu'aux parties moyennes. c'est-&-dire, au milieu des avant-bras, des cuisses et des jambes ; il y avoit des impressions entierement semblables B celles que fait la barre de fer sur les membres d'un patient auquel on fait souffrir le supplice de la roue; dans ces en- droits, les parties de ce foetus avoient du mouvement comme dans les autres articles naturels des bras, des cuisses, et des jambes, les 0s dtoient distinctement sdparez de m&me que si on les avoit rompus a dessein, et ils n'etoient joints que par la peau. Je n'entreprens point icy de decider, si l'attention de la mere B voir executer en public quelque malheureux Criminel, ou si I'exces de sa surprise dans un pareil spectacle, peut-etre meme impred, et si en mtme temps sa piti6 avoit pQ lui causer des mouvernens dans l'imagination, capables de d6terminer les esprits ?i faire sur I'enfant des impressions si funestes.cc

Schon ganz dem 18. Jahrhundert gehort George Louis Leclerc Buffon an (1707-1788); in seinem grandiosen, 1749 erschienenen Werk )>Histoire naturellec geht er auch auf das Versehen der Schwangeren im allgemeinen ein und lehnt insbesondere jede Einwirkung der Mutter auf das Entstehen der intrauterinen Frakturen auf das Entschiedenste ab.

))Je croirai tout aussi volontiers, ou tout aussi peu I'histoire de la force de l'imagination de cette femme qui, ayant VS rompre les membres a un criminel, mit au monde un enfant dont les membres 6toient rompus. 11 se peut naturellement, et sans que I'imagination de

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la mere y ait part, qu’il soit nt un enfant dont les membres ttoient rompus; il se peut mdme que cela soit arrivt plus d’une fois, et il se peut enfin encore plus naturellement, qu’une femme qui devoit accoucher de cet enfant, ait ttt6 au spectacle de la roue, et qu’on ait attribuk i ce qu’elle y avoit v0, e t a son imagination frappke, le dtfaut de conformation de son enfant.cc

Diesen klaren hsserungen des grossen Buffon reiht sich eine Beobach- tung an, welche Toussaint Bordenave (1728-1782) in der Acadkmie des Sciences in Paris 1763 bekanntgab; er beschreibt nuchtern und exakt, ohne sich auf Spekulationen einzulassen, den Befund, wie er ihn bei der Zergliederung eines 7-Monats-Foetus vorfand. Auf der Abbildung kann man die fiir Osteogenesis irnperfecta typischen multiplen Frakturen der Extremitiiten sehen und ohne Schwierigkeiten die Diagnose stellen. Dern- nach ist dieser Fall als der erste in der Weltliteratur zu bezeichnen, der unseren heutigen wissenschaftlichen Anforderungen hinsichtlich der Mog- lichkeit einer Nachpriifung sowohl in der Beschreibung wie auch der bildlichen Darstellung des Befundes vollauf entspricht (s. Abb. 2). Am Ende des 18. Jahrhunders (1788) veroffentlichte ein Schwede,

Olaus Jacobus Ekmann (1764-1839) in Upsala eine These, die deswegen besonders erwahnt werden muss, weil hier zum ersten Male eine erbliche Veranlagung fiir Spontan-Frakturen exakt beschrieben und weil ferner ausser auf die multiplen Frakturen aus geringsten Anlassen auch schon auf die eigenartige Konstitution der Befallenen hingewiesen wird, wie: Zwergwuchs im Gegensatz zu dem auffallend grossen Schadel, monstrose Verunstaltungen usw.

An diesen zuletzt angefiihrten Beispielen zeigt sich recht deutlich der Einfluss des Aufklarungszeitalters auf die game Denk- und Arbeitsweise der damaligen Menschen. Und so nimmt es nicht Wunder, dass die nach 1800 veroffentlichten Falle von Osteogenesis irnperfecta und von Osteopsa- thyrosis so exakt beobachtet und beschrieben wurden, dass man an sie durchaus den heutigen Masstab fur eine wissenschaftliche Publikation anlegen kann; denn es fehlt weder die Wiedergabe des objektiven Befundes noch die Schilderung der Autopsie. Ein klassisches Beispiel fur das Gesagte ist die Arbeit von Francois B. Chaussier (1746-1828), welcher 1813 zwei Fane von Osteogenesis irnperfecta publizierte. Im ersten Fall handelte es sich urn einen Foetus, der die Geburt nur wenige Stunden iiberIebte und 43 Frakturen aufwies, Aes unes rkentes, les autres dans un &.at de rkunion ou de consolidation plus ou moins avanc&.(< Das Praparat wurde in der Sammlung des b e f i b t e n Gynakologen Jean Louis Baudelocque (1745-1810) in Paris aufbewahrt und spiter nochmals

Abb. 1 : Folterszene (RBdern) aus Edgar Gold- schrnid: Entwicklung und Bibliograpliie der pathologisch-anatomischen Abbildung. Leipzig

1925. Tafel 7. Abbildung 14.

. __I- -. I I Abb. 2: Erste bildliche Darstellung einer Osteogenesis imperfecta (Foetus von 8 Mo-

naten). Bordenave 1763.

Abb. 3: Johann Friedrich Lobstein (1777- 1835). Das Original (Oelbild) befindet sich im Besitz der Familie Lobstein in Heidel-

berg.

Abb. 4: Johann Friedrich Lobstein nach der Marmor-Buste (Philipp Grass sculp.), aufgestellt am 29. Oktober 1877 in Strass- burg, z. Zt. dort in der ))Salle des Actes de

la Faculte de Medecinecc.

Abb. 5: aus Carl Breus & Alexander Ko- lisko Bd. I. p. 306. Skelett eines 19jiihri- gen Miidchens mit Osteopsathyrosis.

Schwester von Abb. 6.

Abb. 6: aus Carl Breus &Alexander Ko- lisko Bd. I. p. 307. Skelett eines 24jiih- rigen Mgdchens mit Osteopsathyrosis.

Schwester von Abb. 5.

Abb. 7: Honor6 de Balzac nach einer Federzeich- nung von E. Delacroix aus Stefan Zweig: Balzac.

Stockholm 1950.

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von Charles Chr6tien Henry Marc (1 77 1-1 841) beschrieben. Der zweite von Chaussier beschriebene Fall ist als Massisch zu bezeichnen, cia er in der Literatur immer wieder Zitiert wird. Er verdient es auch, nicht nur wegen der ausgezeichneten objektiven klinischen Beschreibung, sondern auch, weil sich bei der Autopsie nicht weniger als 113 (!) Frakturen nachweisen liessen, davon allein an den Rippen 70. Der beriihmte Biologe Isidore Geofioy Saint-Hilaire (1 805-1 861) schreibt uber diesen Fall : ~Cas vraiment singulier, et presque incroyable, s’il n’6tait attest6 par un physiologkte d‘une aussi grande auto&, et conf1rm6 par plusieurs autres faits moins remarquables, mais analogues.<< (1 836, Vol. 111, p. 51 1 .)

Auch von Johann Friedrich Meckel(l781-1833) stammt aus dem Jahre 1822 eine sehr exakte Beschreibung eines weiblichen Foetus mit typischer Osteogenesis irnperfecta (43 Rippenbriiche, auch sonst noch multiple Frakturen an den Extremitiiten).

Unter den weiteren Beobachtungen uber Osteopsathyrosis - sie werden meist als ratselhafte, keiner Erklarung zugangliche Erkrankung ver- zeichnet - sei besonders erwahnt der Fall eines Arztes, Edmund Axmann, der selber von dem Leiden befalIen war, ebenso wie seine zwei jungeren Briider. M e drei wurden gesund geboren, zeigten aber, bei sonst guter Gesundheit, im Kindes- und Jiinglingsalter eine merkwiirdige Disposition zu Knochenbriichen. Durch Fall auf ebenem Boden im Zimmer erlitt er eine, ein Bruder vier, und der andere sogar neun Frakturen; alle heilten binnen 4-5 Wochen leicht. Nach vollendetem Wachstum ereigneten sich keine Frakturen mehr. Besonders wichtig ist, dass diese Familie in der Jugend von dem behandelnden Arzt (Strack, 1806) beschrieben wurde und 25 Jahre spater (1 83 1) nochmals ausfuhrlich von einem der Befallenen, eben dem schon genannten Arzt Axmann, in vorzuglicher Selbstbeobach- tung; so gelang es ihm, einige neue Symptome an sich selber zu entdecken und diese als erster zu veroffentlichen (s. spater). In der Folgezeit wurden dam wiederholt ganze Familien beschrieben,

in welchen die Knochenbruchigkeit erblich auftrat, so z. B. 1844 von Friedrich Pauli (1804-1868) in 3 Generationen, von Gibson (1835) etc.

Und nun kommen wir zu Johann Friedrich Lobstein (1777-1835), welcher im Vol. 11, p. 204 seines leider unvollendet gebliebenen Standard- werkes : ))Truite‘ d’dnutornie Puthologiquecc (Pans u. Strasbourg 1829 U. 1833) der Erkrankung den Namen >)Osteopsathyrosis idioputhica<< gab. Er wies u. a. nachdriicklich auf die Bedeutung der Erblichkeit und auf das familiare Auftreten hin. Der Artikel ist iiberschrieben: >)De la fragilit6 des OSK Lobstein schon gebraucht den Ausdruck xasser comme du

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verrecc, Gurlt (1857) >>Fragilitas vitreaa und spater (1928) nennt Apert die mit dieser Krankheit Behafteten Aes hommes de verrecc, die Italiener entsprechend ngli uomini de vetrocc (Abruzzini 1932).

Da in vielen Landern die Osteopsathyrosis bezeichnet wird als >>maladie de Lobsteincc, so sei es gestattet, mit einigen Worten auf Johann Georg Christian Friedrich Martin Lobstein etwas naher einzugehen (s. Abb. 3 & 4). Er war auf Veranlassung von G. L. Chr. Fr. Cuvier (1769-1832) seit 18 19 Inhaber des ersten franzosischen Lehrstuhls fiir pathologische Ana- tomie in Strassburg. Den zweiten franzosischen Lehrstuhl erhielt 1836 Jean Cruveilhier (1791-1874) in Paris aufgrund eines Legates von Du- puytren (1777-1 835). Die erste ausserordentliche Professur fiir patholo- gische Anatomie in Wien wurde 1821 Lorenz Biermeyer ubertragen, der seit 18 12 als Prosektor des Allgemeinen Krankenhauses wirkte. In Deutschland ging Leipzig voran; dort wurde 1839 die Prosektur des Jakobspitals mit einer Professur fur pathologische Anatomie verbunden. Kurz danach betraute man in Gottingen Bernhard Langenbeck (1810- 1887) mit derselben Aufgabe, und in Wiirzburg wurde 1842 Adam Bern- hard Mohr (1809-1848) mit einer ausserordentlichen, 1845 mit einer ordentlichen Professur fur pathologische Anatomie belehnt. Als Mohr's Nachfolger hat Rudolf Virchow (1821-1902) 1849 diesen Lehrstuhl iiber- nommen (W. Fischer und Gg. B. Gruber).

Lobstein war ein minutioser Beobachter. Von ihm stammt die Be- zeichnung >>Arteriosklerose(c ; er hat in seinem oben zitierten Lebenswerk den Stoff der pathologischen Anatomie zum ersten Male nach dem anatomischen Charakter der Veranderungen in streng systematischer Weise eingeteilt, warend noch Morgagni's Werk: >)De sedibus et causis morborurm (1 761) ganz nach klinischen Gesichtspunkten aufgebaut war.

Viele Fiille von Osteogenesis imperfecta congenita aus der alteren, namentlich der deutschen Literatur findet man seit 181 7, dem Erscheinen der klassischen Arbeit von Moritz Romberg (1795-1873): >>De rachitide congenitaa, unter dem Stichwort der foetalen oder congenitalen Rachitis (s. z. B. Mansfeld 1833). Und noch im Jahre 1882 bringt Richard Volk- mann (1 830-1 889) in seinem Beitrag zum Handbuch von Pitha-Billroth eine Abbildung aus einer Arbeit von R. Krause (1858), die von beiden Autoren als Rachitis congenita gedeutet wird ; aber zweifellos handelt es sich um einen Foetus mit Osteogenesis imperfecta, wofur allein schon die zahlreichen intrauterinen Frakturen sprechen.

Die intrauterin entstandene, also kongenitale abnorme Knochen- briichigkeit hat im Jahre 1849 William Vrolik (1801-1863) genauer

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studiert und sie von der Rachitis getrennt; er nannte die Erkrankung nach ihrem hervorstechendsten Symptom Osteogenesis impeflecta. S i n e ullo dubio singularis haec sceletti conditio est derivanda ex imperfecta osteo- genesi et quoad forman et quoad contextum osseum. ((

Und so werden von nun an, d. h. nach Bekanntwerden der Arbeit von Vrolik, diese Falle meist richtig gedeutet. Als Beispiel sei Carl Hecker (1827-1882) angefuhrt, der in seiner 1864 erschienenen ))Klinik der Geburtskunde<c bei der Erklarung einer totgeborenen Frucht mit multi- plen Frakturen schreibt :

nWenn ich mich entscheiden soll, ob ich fur das eben beschriebene Skelett den Namen >>Rachitis congenita oder foeta l i s~ beibehalten wissen will, so mijchte ich diesen am liebsten fallen lassen und mich dem von Vrolik gewiihlten >)Osteogenesis imperfectacc anschliessen.tc

Aber mehr Schwierigkeiten machte die Einreihung der uberlebenden Falle, eben solcher, die wir seit Lobstein als ))Osteopsathyrosis(( bezeich- nen. Noch 1904 haben Breus und Kolisko in ihrem beruhmten Werk: uDie pathologischen Beckenformen<< im Vol. I. p. 304 die Skelette zweier Schwestern genauer beschrieben und abgebildet (19 und 24 Jahre), die zahlreiche Frakturen und Infraktionen der Rippen, der Beckenknochen, der Claviculae, der Extremitatenknochen usw. aufwiesen. Hanns Chiari (1851-1916), der im Jahre 1879 den Sektionsbefund der einen Schwester publizierte, fasste die vorliegende Anomalie auf als eine ungewohnlich lange florid gebliebene Rachitis, schreibt aber selber am Schluss : >)gewiss ein sehr seltenes Vorkommen.(( Und Breus und Kolisko kommen bei der Deutung des zugrundeliegenden Prozesses zu dem Ergebnis : MNach unseren heutigen Kenntnissen laisst sich also vorderhand immer noch diese Wachstumsanomalie am besten als chronische Rachitis bezeichnen. <(

Entsprechend unserer heutigen Auffassung sind die beiden Falle jedoch in das Kapitel der Osteopsathyrosis einzureihen (s. Abb. 5 & 6).

Dass man bei totgeborenen Fruchten Achondroplasie (Chondrodystro- phie) nicht von Osteogenesis imperfecta zu unterscheiden wusste, sei nur nebenbei bemerkt, denn diese Verwechslung ereignet sich auch heute noch gelegentlich.

Auch als (infantile) Osteomalacie wurde die Krankheit gedeutet, so 1788 von 0. J. Ekmann (s. oben), aber auch noch 1845 von H. W. Berend (1 809-1 873), obgleich Seifert schon 1 834 im Rust’schen Handbuch der Chirurgie geschrieben hatte : ))Die sog. Osteopsathyrose ist yon der Osteomalacie wesentlich verschieden. G

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Wie bei so vielen Missbildungen eines ganzen Systems, z. B. des Bewegungsapparates, kann man auch bei der Osteopsathyrosis die Beobachtung machen, dass zu dem einen, deswegen zuerst wahrgenom- menen, weil am meisten in die Augen springenden Merkmal, bei naherer Kenntnis noch weitere hinzutreten ; diese Merkmale miissen gleichfalls als zugehorig und als wesentlich betrachtet werden. Seit uber 200 Jahren war ein Teilsymptom bekannt, eben die abnorme Knochenbriichigkeit, bis man als weitere Symptome die Blaufarbung der Skleren und die Schwerhorigkeit kennen lernte.

Die Blaufarbung der Skleren bei Osteopsathyrosis hat als erster Axmann (s. oben) 1831 nicht nur beschrieben, sondern auch richtig gedeutet:

nDiese Zartheit der Organisation des Fasersystems trat ausserdern noch besonders auffallend im Auge hervor. Die Sklerotika ist narnlich bei allen Briidern so ungernein diinn und zart, dass die darunterliegende Chorioidea durchschimmert, wodurch das Weisse des Auges eine tiefblaue FBrbung erhBlt.cc

Aber diese so genaue Selbstbeobachtung Axmann's blieb vollkommen unbekannt, sodass im Jahre 1896 Spurway die Blaufarbung als neues Symptom bei Knochenbriichigkeit beschrieb, nach ihm nochmals Eddo- wes 1900 und schliesslich nochmals Peters 1913, alle drei ohne Kenntnis voneinander bezw. von den betreffenden Arbeiten. Und so wird in der gesamten Weltliteratur bis heute Spurway als derjenige bezeichnet, wel- cher den Symptomenkomplex Knochenbruchigkeit - blaue Skleren zuerst beschrieben habe (s. z. B. Cocchi 1952). Die Gerechtigkeit gebietet aber, diesen Irrtum zu korrigieren und statt dessen in Zukunft Axmann zu nennen, denn er hat schon 65 Jahre vor Spurway diese Kombination klar und deutlich geschildec und richtig gedeutet.

Als drittes Hauptsymptom ist das Auftreten von Schwerhorigkeit erst- malig von Adair Dighton 1912 bemerkt worden; diese ist aber nicht so h a ~ g anzutreffen wie die blauliche Verfarbung der Skleren. Das beweist allein schon der von Dighton veroffentlichte Stammbaum. Denn nur ein Mitglied der Familie von 4 Generationen zeigte dieses Symptom. Die Schwerhorigkeit wird meist als Otosklerose aufgefasst, eine Ansicht, die durch E. Ruttin's Untersuchungen auch histologisch bestatigt wurde. 1937 wurde von Cornil eine Blaufarbung des Trommelfells beschrieben ; diese konnte auch P. Funk in vier von seinen sechs Fiillen nachweisen.

Schon oben wurde kurz bemerkt, dass einer der ersten Autoren, der die spontane Knochenbriichigkeit beschrieb (Ekmann 1788) bereits auf

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die allgemeine Konstitution der Befallenen hinwies, insbesondere auf den aufallend grossen Schadel. Diese konstitutionelle Besonderheit blieb uber 100 Jahre unbeachtet, weil eben der Blick der Ante fur solche Zusammen- hange noch nicht geschult war. Hier hat erst die Neuzeit Wandel ge- schaffen dank der Pionierarbeit von Friedrich Martius (1 850-1923), Julius Bauer und Friedrich Curtius. Neuerdings hat sich Apert (1928) mit dieser charakteristischen Schadelanomalie befasst ())crlne A rebord(0, so dass man jetzt, wo man darauf zu achten gelernt hat, wohl in den meisten hblikationen diese Verbildung auf den beigegebenen Abbildun- gen sofort bemerken wird.

Ein weiteres Symptom - damit ist aber die Liste noch nicht erschopft - ist die bei den Kranken mit Osteopsathyrosis mitunter beobachtete Gelenkschlaflheit (hyperlaxitb articulaire). Als Folge davon kann es zu habituellen Luxationen kommen. Auch hier wieder muss Axmann ge- nannt werden, der als erster schon 1831 diese Besonderheit der Osteopsa- thyrotiker an sich selber beschrieb :

>>Die Ligamente aller Artikulationen waren so ungemein schlaff und nachgiebig, dass die Bewegungsfahigkeit der miteinander verbundenen Gelenktheile weit uber die gewohn- liche Grenze ausgedehnt werden konnte, wodurch aber auch zugleich zu hhfigen Verren- kungen und Verstauchungen Gelegenheit gegeben war.(<

Vortrefflich illustrieren das Gesagte die beiden nachstehenden Zitate:

>>Dam certaines farnilles osttopsathyrosiques la frtquence des luxations et des entorses ne le cede en rien a celles des fractures. Elles sont dues B la laxitt ligamenteuse; elle permet. surtout aux jeunes enfants, de prendre de vtritables positions acrobatiques. On a contd i'histoire de cet homme qui mettait ses pieds dans ses poches, celle de cet autre qui dtait capable de marcher les talons en avant et les orteils en arri6re.a (Turchini, p. 20.)

Das andere Beispiel ist nicht der medizinischen, sondern der Memoiren- Literatur entnommen. Die Furstin Pauline Metternich schreibt in ihren Memoiren (1925, p. 41) von ihrem Vater, dem ungarischen Magnaten Moritz Graf Sandor folgendes :

>>Seine Gesundheit war das Phanomenalste, was man sich nur denken kann. Wenn er zu Bett liegen musste, so geschah dies nur in Folge von Beinbruchen, welche er sich un- zahlige Male durch Sturze vom Pferd oder aus dem Wagen zugezogen hatte. Er brach dreimal das rechte Bein, ein paarrnal die beiden Arme und unzahlige Male die Schliissel- beine und Rippen. Das Bein wurde so schwach, dass es beim geringsten Anlass aus der Kugel kam und eingerichtet werden musste. Wie oft dies geschehen, weiss ich nicht genau; allein das weiss ich, dass es alle Augenblicke hiess >>Papa hat sich das Bein ausgekugelt.cc

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Beim Einrichten verzog er nie auch nur eine Miene, und wenn die Leute nicht fest genug gezogen hatten, sagte er ganz ruhig: ))Nur herzhaft, ich bin ja nicht von Glass!(( Dieses ungluckselige Bein trug er jahrelang in einern eisernen Schienenverband, und Velpeau in Paris und Astley Cooper in London wollten es ihm amputieren, da sie sagten, es kame der Schwund dazu und die Gefahr des Brandes sei sehr gross. Ein alter Bauer im Gebirge bei Blumbach hat meinen Vater ohne Operation ganz hergestellt.cc

Als Erganzung zu diesen Beispielen sei das Folgende angefuhrt: Der grosse franzosische Schriftsteller Honor6 de Balzac (1 799-1850) war wohl auch Trager dieser Krankheit. Authentisches habe ich dariiber nicht finden konnen; so ist in der 1950 erschienenen Biographie Balzac’s von Stefan Zweig nichts davon envahnt, aber eine Notiz von H. Tecoz durfte ein Hinweis sein fur denjenigen, der der Sache auf den Gmnd gehen will:

,Sa personne d’abord, puisque des ttmoignages curieux de I’Cpoque permettent, a I’aide des remarques faites, de diagnostiquer chet lui, avec quelque certitude, le ma1 que I’on dtsigne maintenant sous le norn de maladie de von Amrnon-Lobstein. Tous les con- ternporains s’accordent sur I’intensite du regard de Balzac et I’extraordinaire eclat de ses y e w ; mais c’est Thtophile Gautier qui remarque que ((la sclerotique en ttait bleultre comme celle d‘un enrant)). C‘est aussi Gautier qui, facile adrnirateur de Gall, a not6 le crane i rebords, les protubtrances ccqui formaient une saillie trts prononcte au-dessus des arcades soucillitres)). On sait enfin la fragilitt osseuse de Balzac qui a tte victime, ou manqut de I’ttre, de fractures strieuses. Ces trois symptbrnes, particulitrement la scltrotique infantile, sont caractCristiques de la maladie de Lobstein, dont il est probablement mort.cc ..E-

In der Tat zeigt eine Federzeichnung Balzac’s von E. Delacroix die typische Schadelbildung, wie wir sie immer wieder bei Patienten mit Osteopsathyrosis antreffen (abgebildet bei Stefan Zweig: Balzac. Stock- holm, Bermann-Fischer Verlag 1950, p. 96) (s. Abb. 7).

Auch der Maler Henri de Toulouse-Lautrec (18661901) scheint mit dem Leiden behaftet gewesen zu sein. So schreibt Seedorff:

vHenri de Toulouse-Lautrec, the painter, may have been affected with the disease, a t least he is known to have fractured both femora after slight trauma, and his appearance, both as child and at the adult age (to judge from pictures) as well as his medical past history seem to argue in favour of this hypothesis, a hypothesis which for the present must be put to the author‘s account.((

Von forensischem Interesse sind gelegentlich die Falle von Osteogenesis imperfecta congenita. Namentlich in der Zeit, als man die Krankheit noch nicht genauer kannte, machten die Geburtshelfer, welche ja diese Friih- f a e zuerst zu Gesicht bekommen, darauf aufmerksam, wie wichtig, gerade auch fur den praktischen Arzt, die Einsicht in das Wesen der Krankheit sei. So schreibt 1834 d’outrepont (1776-1 845) :

DIE GESCHICHTE DER OSTEOPSATHYROSIS 143

))Man ist imrner geneigt, die Knochenbriiche, die man bei Neugeborenen antrifft, als die Wirkung einer stattgehabten ausseren Gewalttatigkeit anzusehen. Und trifft man sie unglucklicherweise bei Neugeborenen an, welche durch eine geburtshilfliche Operation zur Welt befardert sind, so saurnt man gewohnlich nicht sie als Folge der Ungeschicklich- keit und Roheit des Geburtshelfers oder der Hebarnme zu bezeichnen.u

Aber nicht nur zu seinem eigenen Schutze, sondern auch urn die Mutter vor Verlaumdungen und ungerechtfertigten Beschuldigungen zu bewahren, ist es fur den zustiindigen Arzt notig, sich mit diesem ja gar nicht so extrem seltenen Leiden zu befassen; dies urn so mehr, als die Friihfalle (Osteogenesis imperfecta congenita) entweder schon tot geboren werden oder bald nach der Geburt sterben. Gerade das Zusammentreffen von Totgeburt mit multiplen Frakturen kann naturlich bei Laien leicht den falschen Verdacht erwecken, dass beide als Folge einer verbrecherischen Handlung anzusehen sind. Dieser Verdacht wird dann urn so leichter auftauchen, wenn es sich urn eine illegitime oder Spontangeburt ohne Zuziehung eines Arztes oder eine Hebamme handelt. Schon W. G. Plouc- quet (1744-1814) hat 1794 darauf hingewiesen, und in einer aus dem Jahre 1 822 datierten Arbeit nUber Knochenbriiche der ungeborenen Fruchte ohne ausserliche Veranlassungcc fiihrt d’outrepont lehrreiche Falle aus seiner Praxis an und erhebt die warnenden Worte:

~Ungliickliche Schwangere, welche ihre Geburt verheirnlichen, kannen beschuldigt werden, als hatten sie an ihren Kindern Gewalttatigkeiten ausgeubt und dadurch Knochen- briiche veranlasst, welche die Neugeborenen schon irn Mutterleib konnen gehabt haben. Wie lehrreich und winkevoll sind nicht diese Falle fur den gerichtlichen Arzt! Wie leicht ist es moglich, dass man der Mutter oder der Hebamme die Schuld eines solchen Knochen- bruches oder einer Verrenkung, ohne dass die geringste aussere Gewalttatigkeit geschehen ist, beimisst! Wohl leicht ist der Fall denkbar, dass ein ungluckliches Geschopf, welches durch Scharn und Ehrgefuhl und durch rnissliche Farnilienverhaltnisse bestirnrnt wird, die Schwangerschaft und die Geburt zu verheirnlichen, ein Kind rnit solchen Knochen- bruchen und freiwilligen Luxationen geblhrt, deshalb als Missetaterin bezeichnet wird, und dann die Schuld und Schande eines nicht begangenen Verbrechens tragen muss.<<

Und dazu noch ein lehrreiches Beispiel: 1891 hat A. Paltauf (1860- 1893) folgenden Fall mitgeteilt: Eine ledige Person gebar nach kaum ein- stiindigen Wehen ohne Hindernis ein Kind, welches sich nach der Geburt etwas bewegte, die Augen aufschlug, aber alsbald verschied. Bei der Autopsie des Foetus wurden am Kopfe und an einzelnen Extremitiiten Knochenbriiche konstatiert, was im Widerspruch mit der leichten Ent- bindung stand, weshalb auch die amtliche Obduktion veranlasst wurde. Die gerichtsarztliche Begutachtung stellte dann einwandfrei fest, dass der

144 BRUNO VALENTIN

Tod auf naturlichem Wege als Folge einer angeborenen abnormen Kor- perbildung eingetreten sei; eben diese Art von Missbildung habe auch die Briichigkeit der Knochen und die multiplen Frakturen verursacht.

Hierher gehort ferner die ofter konstatierte Zartheit der Haut solcher Foeten mit Osteogenesis imperfecta, die vielleicht mit der oben beschriebe- nen abnormen Gelenkschlafheit dieser Individuen aetiologisch a d einen Nenner zu bringen ist. Die Haut kann so dunn sein, dass sie durch das Geburtstrauma Zerreissungen erleidet. Stilling (1 889) beschreibt solche Einrisse am Hake und uber dem Scheitel. Bei einem der Gg. B. Gruber zur Wntersuchung von mir iibergebenen Foeten fand sich ein ihlicher Einriss der Kopfhaut, aber auch an anderen Korperstellen war die Verdunnung der Haut ganz ausserordentlich. So brach z. B. der Finger schon bei leichtem Druck auf das Abdomen in die Bauchhohle ein. Und weiter weist Gruber auf einen Fall hin, wo eine Puerpera vor der Anklage schwerer Kindesverletzung (beabsichtigte Kindstotung) durch das Urteil des Sachverstiindigen geschutzt wurde; denn dieser wies mit Recht auf die ubermassig zerreissliche Haut der mit Osteogenesis irnperfecta con- genita behafteten Foeten hin. (Vergl. dam auch die Dissertation von Margarethe Fuchs 1943).

Fur Geburtshelfer ist es ferner von Wichtigkeit, die nKartenherzformc< des Beckens bei Frauen mit Osteopsathyrosis zu kennen, weil diese Fehl- form eine normale Geburt sicher erschwert oder wohl ganz unmoglich macht. Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen, so Esch, Heid- sieck u. a. Ferguson (1943) bringt das Rontgenbild eines solchen Beckens mit folgender Beschreibung : 1Collaps of the pelvis in osteopsathyrosis causes medial protrusion of the acetabulum in which most of the in- nominate bone participates. ((

Dass schliesslich auch vom militararztlichen Standpunkt die Osteopsa- thyrosis von Interesse sein kann, beweist ein von Cosnier (1937) mit- geteilter Fall: Ein 23jahriger Kanonier mit blauen Skleren, der schon vor seiner Einstellung zum Militar mehrere Frakturen anlasslich mini- maler Gewalteinwirkungen gehabt hztte, erlitt einen Bruch des 7. Brust- wirbels sowie beider Fersenbeine. Diese >>Glasmenschenc< sind naturlich untauglich zum Militardienst. Bei der Musterung sind Leute mit blauen Skleren, welche schon friiher Knochenbruche gehabt haben, heraus- zufinden und auszumustern.

DIE GESCHICHTE DER OSTEOPSATHYROSIS 145

A N M E R K U N G E N

1. ,Osteopsathyrosiscc (griech.), abgeleitet von nOsteoncc = Knochen und )>psathyrosa = zerbrechlich.

2. In der von mir eingesehenen 4. Ausgabe (Amsterdamm 1688 p. 149 und 153) ist der Text etwas anders, ebenso in der 1920 erschienenen deutschen ubersetzung. Ich lasse aber, da mir die Ausgabe von 1674 nicht zugiingig war, das Zitat von Witkowski hier stehen.

3. Stammbaum dieser Familie mit 5 Generationen s. bei Rischbieth u. Barrington Plate 57, Fig. 781, und mit 4 Generationen bei Seedorff p. 18. In der Arbeit See- dorff's (p. 14-21) ist nicht nur der wichtigste Teil dieser Dissertation im lateinischen Originaltext und in englischer ubersetzung abgedruckt, sondern auch das Titelblatt dieser seltenen und schwer zugilnglichen Arbeit. In der Niedersachsischen Staats- und Universitits-Bibliothek Gattingen z. B. findet sich die Arbeit unter dem Convolut der durch Joh. G. Acre1 (1741-1801) inaugurierten Dissertationen.

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