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Das „VER-rückt“-Werden als KRISE und CHANCE Menschen mit Demenz in ihrem lebendigen Entwicklungsprozess bis zum Ende kreativ begleiten und versorgen Referentin: Melanie M. Klimmer „Palliative Geriatrie“ - Hauptstadtkongress, 30. Sept. 2016

Das „VER rückt“-Werden als KRISE und CHANCE€¦ · Stanislav Grof (Prager Medizinphilosoph, Bewusstseinsforscher, Psychotherapeut und Psychiater) Bei ungewöhnlichen Bewusstseinszuständen

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Das „VER-rückt“-Werden als KRISE und CHANCE

Menschen mit Demenz in ihrem lebendigen Entwicklungsprozess

bis zum Ende kreativ begleiten und versorgen

Referentin: Melanie M. Klimmer

„Palliative Geriatrie“ - Hauptstadtkongress, 30. Sept. 2016

Wichtiger Hinweis: Dieses Dokument unterliegt dem Urheberrecht.

Seine Vervielfältigung oder Nutzung, auch in Auszügen, unterliegt der

vorherigen Einwilligung und schriftlichen Genehmigung seitens der Autorin

©Melanie M. Klimmer 2016, Würzburg, Kontakt: [email protected].

copyright Melanie M. Klimmer 2016

Zitat

„FRÜHER HAT MAN

MEINEN GEBURTSTAG IMMER

AM 15. OKTOBER GEFEIERT.

JETZT WIRD ER AM 15. MÄRZ GEFEIERT. –

MAN KANN SICH HEUTE

AUF NICHTS MEHR VERLASSEN.“

Katharina Frank zur Autorin, März 2015 (Name geändert)

copyright Melanie M. Klimmer 2016

Darstellung: ©Melanie M. Klimmer 2016

VER-rücken

Leben vor der Demenz

Leben mit Demenz

Darstellung: ©Melanie M. Klimmer 2016

Die fünf Säulen der Identität in Anlehnung an Hilarion Gottfried Petzold

LEIBLICH-KEIT

SOZIALES NETZ-WERK

ARBEIT UND

LEISTUNG

MA-TERIELLE SICHER-

HEIT

WERTE

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WESENS-EINHEIT

Darstellung: ©Melanie

M. Klimmer 2016

von oben:

copyright Melanie M. Klimmer 2016

„Ich bin, was ich besitze.“ Das „Ich“ als ein

besitzbares „Etwas“

Wissen Können

Sozialer Status

Überzeugungen Darstellung: ©Melanie M. Klimmer 2016

Körper

Ego Materieller Besitz

SELBSTOPTIMIERUNG

„PANZERUNG“

Korrigierendes Verhalten entfällt

Gehören bestimmte Darstellungsformen zu – unserem Beruf, z.B. ein immer freundliches Lächeln, oder zu

– einem erfolgreich wirkenden Leben in der Gesellschaft,

so wie es gefällt, nützlich und konform ist,

– Wir wollen dazugehören!–

muss sich i.d.R. unser Fühlen anpassen und Anpassungsleistungen erbringen. Diese Möglichkeit kann im Alter (und speziell bei Demenz) entfallen.

copyright 2016, Melanie M. Klimmer 8

Im Rahmen individuell-menschlicher Entwicklung und Individuation zum Lebensende hin, ändern sich die Maximen des eigenen Lebens. Der alternde Mensch nimmt häufig eine Werte-Neudefinition und neue Sinndeutungen vor und beginnt das Leistungsprinzip, soziale Rollen und Statussymbole zu hinterfragen. Das kann in den meisten Fällen in einen „sozialer Tod“ münden. Die bisherige Zugehörigkeit greift nicht mehr.

Melanie M. Klimmer

copyright 2016, Melanie M. Klimmer 9

„Leben ist nicht effizient und lässt sich nicht optimieren.“

Harald Welzer

Sozialpsychologe und Philosoph

copyright 2016, Melanie M. Klimmer 10

Foto: ©Melanie M. Klimmer, 2016

Die Psyche versucht unerträgliche Konflikte und Erinnerungen in einem Prozess der „Metanoia“ selbst zu regulieren und sich selbst zu heilen – z.B. durch das/ein VER-rücken.

Nicht angenommene Krisen oder ihr Wegdrücken wachsen sich dagegen zu manifesten Störungen aus.

(vgl. Ken Wilber und Roberto Assagioli in: Hofmann/Heise 2017)

copyright Melanie M. Klimmer 2016

„Psychosynthese“

nach Roberto Assagioli

copyright Melanie M. Klimmer 2016

Darstellung: © Melanie M. Klimmer 2016

Selbstaktualisierung horizontal

Selb

stve

rwir

klic

hu

ng

vert

ika

l

Das Wesen des Lebendigen ist seine Entwicklungsfähigkeit. Es geht um die Integration aller Anteile des Seins: INDIVIDUATION

Entwicklung bis zum Lebensende höchste erreichbare Entwicklungsstufen

Entwicklung unseres Denkens Postformal-operatives/transrationales Denken/visionäre Logik (Piaget): zirkuläres Denken, das Einnehmen von mehreren Blickwinkeln, Wechselbeziehungen herstellen.

Moralentwicklung: Post-konventionelle Moral = 7. Stufe (Kohlberg): Rädchen in einem Ganzen zu

sein, ganzheitliche Gefühle, feste Wertnormen lösen sich auf. Bewusstseinsentwicklung: Integrales Bewusstsein (Wilber): kann mehrere Perspektiven einnehmen (A-Perspektive), Sowohl-als-Auch werden verbunden.

Persönlichkeitsentwicklung: Non-duale Persönlichkeit: Eintauchen in die Vielfalt alles Lebendigen, in den Urgrund allen Seins, das Nicht-Verhaftet-Sein und Nicht-mehr-Leiden.

copyright 2016, Melanie M. Klimmer 13

Ungewöhnliche Bewusstseinszustände

Stanislav Grof (Prager Medizinphilosoph, Bewusstseinsforscher, Psychotherapeut und Psychiater)

Bei ungewöhnlichen Bewusstseinszuständen handelt es sich nicht automatisch um pathologische Prozesse bzw. um Symptome einer Krankheit.

Diese Bewusstseinszustände sollten daher nicht durch eine routinemäßige Verabreichung von Medikamenten unterdrückt werden. PERSÖNLICHES FAZIT DER AUTORIN

Vielmehr braucht der Mensch in dieser letzten Phase der Durcharbeit und im Individuationsprozess zum Tode hin eine kompetente und nicht selbst an konventionelle Normen gebundene, kreative Begleitung.

copyright Melanie M. Klimmer 2016

Verlust des Menschen wie er war

KRISE

• für den Menschen selbst in seinem anderen Wahrnehmungsmodus

• für das nahe Umfeld und

• für die Gesellschaft

copyright Melanie M. Klimmer 2016

Auslöser von „Verhaltensauffälligkeiten“ bei Demenz

1. Medikamentennebenwirkungen von a. Morphin-Präparaten b. Neuroleptika c. Benzodiazepinen d. Antidementiva e. Antiepileptika Medikamentengabe geht von einem pathologischen Zustand des Menschen aus.

copyright Melanie M. Klimmer 2016

Zuwachs von 780 Prozent: Tagesdosen für gängige Psychopharmaka in den Jahren 2000 bis 2009 um 47 Mio. gestiegen

(vgl. Stolze, 2011; Klimmer, 2013)

Drei Viertel der Patienten mit irrtümlicher Demenz-Diagnose durch einen Hausarzt: Das ist Ergebnis einer 2009 veröffentlichten Studie deutscher und österreichischer Forscher über einen 3-Jahreszeitraum (vgl. Pentzek et al., 2009)

copyright 2016, Melanie M. Klimmer 17

Demenzdiagnosen häufig Fehldiagnosen

Auslöser von „Verhaltensauffälligkeiten“ bei Demenz

2. Umgebungsfaktoren wie z.B.

a. Fremdbestimmter Umgang

b. Stigmatisierungen

c. Unehrlichkeit im Umgang

e. Licht/Lärm/…, u.a.

copyright Melanie M. Klimmer 2016

copyright 2016, M.A. Melanie M. Klimmer 19

Fazit: 1. Ohne Lebenserfahrung kein Entwicklung des Kohärenzgefühl

2. Ohne Stressoren (Krisenauslöser) keine Entwicklung

3. Die Umwelt spielt eine wesentliche Rolle im Hinblick auf unsere Selbstwahrnehmung

Darstellung: ©Melanie M. Klimmer 2016

Wie sind „Verhaltensauffälligkeiten“ im Krisenverlauf und bei Demenz einzuordnen ?

3. Aggressionen oder Depressionen können „verhindertes Wachstum“ aufzeigen (vgl. Erich

Fromm), d.h. ein verhindertes „Produktiv- Sein“, „Sich-Erneuern-Dürfen“ oder „- Können“, ein „Nicht-Weiter-Kommen“. „Sein ist Leben“. Auch Menschen mit Demenz haben ein existentielles Wissen und Produktiv-Sein.

Sie brauchen Brückenbauer/innen.

copyright Melanie M. Klimmer 2016

Auseinandersetzung mit Verlust und Tod

M.K.: „Wie geht es heute dem Eisbär Knut?“

L.N.: „Schlecht!“

M.K.: „Was hat er denn?“ - Ich sehe ihr trauriges Gesicht.

„Ist er traurig?“

L.N.: „Ja.“ – Der ganze, eigene, im Eisbär Knut personifizierte Schmerz bricht jetzt aus ihr heraus. Sie beginnt zu weinen.

M.K.: „Weil er so alleine ist?“

L.N.: „Ja!“ – Ihr ganzer Körper bebt unter ihrem Schluchzen.

Nachdem sie mein volles Verständnis erfahren hat, sagt sie:

„Spielen wir „Mensch ärgere dich nicht?““

Den Dialog führte Melanie M. Klimmer, 2015 Emotionen sortieren helfen, nicht bekämpfen!

copyright Melanie M. Klimmer 2016

Psychische Potentiale

Psychopharmaka und andere psychotrope Substanzen erschweren die psychische Verarbeitung und lähmen emotionale Potentiale von Menschen mit Demenz, sich mit existentiellen Krisen auseinanderzusetzen.

Krisen sollten vielmehr (als Chance) erkannt und in einer zugewandten, unterstützenden Weise begleitet werden, so dass Erfahrungen im Jetzt und Hier konstruktiv verarbeitet werden können. Melanie M. Klimmer

copyright Melanie M. Klimmer 2016

Foto: © Melanie M. Klimmer 2010

copyright Melanie M. Klimmer 2016

„[…] sie wird erst dann

den mit dem Tod

Kämpfenden seelisch in

Betäubungsmitteln

ertrinken lassen, wenn sein

gewaltiger Vorrat an

geistigen und emotionalen

Lösungen verbraucht ist.

Die neue Ethik wird das

Gaukelspiel der mühelos

gefundenen

Scheinlösungen

überwinden müssen. Dies

alles betrifft jedoch

hauptsächlich den sozialen

Aspekt des Problems.“

K.R. Eissler (1978)

„Meine Tasche ist barfuß!“

„Wo ist der Wasserzopf ?“

Sprache sollte nicht allein an Kognition ansetzen, sondern vielmehr an allen Ausdrucksformen

menschlicher Kommunikation, denn:

Menschen mit Demenz reagieren differenziert und individuell auf jede Kontaktaufnahme ihres Umfeldes.

Die eigene Sprache sollte vor allen Dingen authentisch, empathisch, gewaltfrei und kreativ sein.

copyright Melanie M. Klimmer 2016

Literatur

Adl-Amini, Bijan (2002): Krisenpädagogik Bd. 1: Veränderung und Sinn, Darmstadt. Eissler, K.R. (1978): Der sterbende Patient. Zur Psychologie des Todes, Stuttgart. Fromm, Erich (1976): Haben oder Sein, Stuttgart. Goffman, Erving (1975): Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main. Hochschild, Arlie (1990): Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle. 13. Band der Reihe aus „Theorie und Gesellschaft“, von Axel Honneth, Hans Joas und Claus Offe (Hrsg.), Campus-Verlag Frankfurt a.M./New York. Hofmann, Liane und Patrizia Heise (Hrsg., 2017): Spiritualität und spirituelle Krisen. Handbuch zur Theorie, Forschung und Praxis, Stuttgart. Kegan, Robert (1994): Die Entwicklungsstufen des Selbst, München. Klimmer, Melanie M. (2013): „Demenzsymptome noch lange kein Hinweis auf eine Demenzerkrankung. Fehleinschätzung mit fatalen Folgen“, In: CAREkonkret, Die Wochenzeitung für Entscheider in der Pflege, Ausg. 42, vom 18.10.2013, S. 5, Teil 1. Diess. (2013): „Psychopharmaka als Mittel gegen Personalnotstand und erhöhten Betreuungsaufwand. Tagesdosen um 780 Prozent gestiegen“, In: CAREkonkret, Die Wochenzeitung für Entscheider in der Pflege, Ausg. 43, Vincentz Network-Verlag, vom 25.10.2013, S. 4, Teil 2. Kohlberg, Lawrence (2000): Die Psychologie der Lebensspanne. Frankfurt am Main. Lamp, Ida (2010): Umsorgt sterben: Menschen mit Demenz in ihrer letzten Lebensphase begleiten, Stuttgart. Lessenich, Stephan (2009): Die Neuerfindung des Sozialen: Sozial-Politik im flexiblen Kapitalismus, In: Neuerfindung des Sozialen, 2. Ausg. (1. Ausg. 2008), Bielefeld. Neckel, Sighard (2008): Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt am Main. Schüle, Christian: Der optimierte Tod, In: Die ZEIT ONLINE, Gesellschaft, vom 02. Oktober 2013, 17.14 Uhr, S. 1 – 5, http://pdf.zeit.de/gesellschaft/2013-10/spaetmoderner-mensch-sterben-optimierter-tod.pdf Stolze, Cornelia (2013): Vergiss Alzheimer – Die Wahrheit über eine Krankheit, die keine ist, Freiburg im Breisgau. Pentzek et al. (2009): American Journal of Geriatric Psychiatry , 17(11): 965-975. Wilber, Ken (2001): Eros, Kosmos, Logos, Frankfurt am Main. copyright 2016, Melanie M. Klimmer 25

MELANIE M. KLIMMER, M.A.

E t h n o l o g i n M . A . – E x a m i n i e r t e G e s u n d h e i t s - u n d K r a n k e n p f l e g e r i n

Z e r t i f i z i e r t e K o n f l i k t b e r a t e r i n n a c h d e m Tr a n s c e n d - V e r f a h r e n

Fachvorträge- Fachgespräche- Seminarkonzeptionen- Moderationen- Fachjournalismus (DFJV)

Beraterin für Konflikttransformation (hyper-mediative Verfahren), Politikberatung

Lehrbeauftragte im Bereich Weiterbildung (Bamberger Akademien)

Lehrbeauftragte für Klinische Soziologie und Kultursoziologie (Universität Jena)

Lehrbeauftragte für Betriebliches Gesundheitsmanagement (IHK Würzburg/Schweinfurt)

Kontakt: [email protected]

copyright Melanie M. Klimmer 2016