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Homöopathie KONKRET 65 1.08 Flugangst „geheilt“ innerhalb von 3 Monaten Erstanamnese am 24.04.06 Herr U.C. kam im April 2006 erstmals in meine Praxis: „Ich hatte mich wirklich auf den Urlaub gefreut, ich hatte gerade eine stressige Zeit hinter mich ge- bracht, das Semester war zu Ende gegangen, wegen der Lernerei auf Klausuren hatte ich schon mal die ein oder andere kurze Nacht gehabt. Und dann saß ich da in dem Flugzeug, und auf einmal ging nichts mehr. Herzklopfen, Schweißausbrüche, Schwin- del, ich wusste ja, dass es totaler Quatsch ist, aber irgendwie war ich mir sicher, das Flugzeug stürzt ab, auf einmal wollte ich nur noch raus. Ich wuss- te, jeden Moment könnte der Zeitpunkt kommen und sich das Flugzeug in Richtung Startbahn be- wegen, dann wäre es zu spät. Ich dachte nur noch, das kannst du keinen Moment länger aushalten. Ich habe dann wirklich die Stewardess gebeten, das Flugzeug verlassen zu dürfen. So etwas ist mir echt noch nie passiert.War mir auch total peinlich, aber irgendwie ging es nicht anders.“ Stephan Gerke Angstsyndrome in der homöopathisch-psychiatrischen Praxis Die von Hahnemann postulierte Heilungsgewissheit, wonach Heilung mit quasi natur- gesetzlicher Sicherheit durch Anwendung des „Simile-Prinzips“ erfolgen muss 1 , scheint bei der homöopathischen Behandlung psychischer Störungen oft nicht gegeben zu sein. Anhand dreier Kasuistiken von Patienten, die an Angstsyndromen litten, möchte ich darstellen, wie stark sich Behandlungsverläufe und Behandlungszeiträume auch bei psychischen Störungen unterscheiden können. Das Verständnis der psychiatrischen Krankheitslehre und der psychodynamischen Hintergründe hilft dabei u.U. sehr, Verlaufserwartungen schon im Voraus realistisch einzuschätzen. Das ist wichtig, um nicht vorschnell eine „Mißwahl“ 2 zu vermuten und die Gefahr zu vermeiden „spoiled cases“ zu verursachen. 1 Organon §§ 3, 25 und 53 2 Organon § 250 Foto: Heinz Kasper

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Homöopathie KONKRET 651.08

Flugangst „geheilt“ innerhalbvon 3 Monaten

Erstanamnese am 24.04.06

Herr U.C. kam im April 2006 erstmals in meinePraxis:„Ich hatte mich wirklich auf den Urlaub gefreut,ich hatte gerade eine stressige Zeit hinter mich ge-bracht, das Semester war zu Ende gegangen, wegender Lernerei auf Klausuren hatte ich schon mal dieein oder andere kurze Nacht gehabt. Und dann saß

ich da in dem Flugzeug, und auf einmal ging nichtsmehr. Herzklopfen, Schweißausbrüche, Schwin-del, ich wusste ja, dass es totaler Quatsch ist, aberirgendwie war ich mir sicher, das Flugzeug stürztab, auf einmal wollte ich nur noch raus. Ich wuss-te, jeden Moment könnte der Zeitpunkt kommenund sich das Flugzeug in Richtung Startbahn be-wegen, dann wäre es zu spät. Ich dachte nur noch,das kannst du keinen Moment länger aushalten.Ich habe dann wirklich die Stewardess gebeten, dasFlugzeug verlassen zu dürfen. So etwas ist mir echtnoch nie passiert. War mir auch total peinlich, aberirgendwie ging es nicht anders.“

Stephan Gerke

Angstsyndrome in der homöopathisch-psychiatrischen Praxis

Die von Hahnemann postulierte Heilungsgewissheit, wonach Heilung mit quasi natur-gesetzlicher Sicherheit durch Anwendung des „Simile-Prinzips“ erfolgen muss1, scheintbei der homöopathischen Behandlung psychischer Störungen oft nicht gegeben zu sein.Anhand dreier Kasuistiken von Patienten, die an Angstsyndromen litten, möchte ichdarstellen, wie stark sich Behandlungsverläufe und Behandlungszeiträume auch beipsychischen Störungen unterscheiden können. Das Verständnis der psychiatrischenKrankheitslehre und der psychodynamischen Hintergründe hilft dabei u.U. sehr,Verlaufserwartungen schon im Voraus realistisch einzuschätzen. Das ist wichtig, umnicht vorschnell eine „Mißwahl“2 zu vermuten und die Gefahr zu vermeiden „spoiledcases“ zu verursachen.

1 Organon §§ 3, 25 und 532 Organon § 250

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Herr U.C. war damals 26 Jahre alt, freundlich, of-fen, jovial. Er wirkte alles andere als verschrecktund ängstlich, sondern saß mir gelassen, entspanntund selbstsicher gegenüber.

Ein, zwei Wochen vor dem geschilderten Ereignis,während er eine Klausur in einem großen stickigenRaum zu schreiben hatte, ist es ihm auch schon sogegangen. Er hatte da „richtige Adrenalinstöße“bekommen. Nachdem er den Raum dann für eini-ge Minuten verlassen hatte, ging es wieder besser:„Schon allein der Gedanke, oh Gott, jetzt könntevielleicht wieder die Angst kommen, ist schon ganzschlimm.“Generell hat er Ängste, die Kontrolle zu verlieren,er hätte auch Ängste vor Vollnarkosen, Ängstebeim Einschlafen, dann die Kontrolle nicht mehrzu haben. Es passiert auch, dass er während derNacht aus dem Schlaf aufschreckt. Er hat auchÄngste an hochgelegenen Orten. Das erste Panik-erlebnis liegt sieben Jahre zurück, damals hatte ergemeinsam mit seinem Bruder etwas Marihuanageraucht. Ein befreundeter Arzt hatte ihm danneine Dosis Valium gespritzt, dann war es vorbei. Inden folgenden Monaten hatte er allerdings immerwieder mit „Unwohlgefühlen“ in der U-Bahn zukämpfen gehabt.

Analyse der Akutsymptome

Folgende Rubriken kommen in Betracht: ➔ Abb. 1

Bei der Auswertung stehen Arg-n. und Cann-i. an vor-deren Stellen, an beide Mittel kann man sicherlich zurBehandlung der Akutsymptomatik denken. Anderer-seits ergibt sich aus der geschilderten Symptomatikkeine klare Präferenz. Am ehesten hätte ich in Anbe-

tracht der Vorgeschichte (Auslösung der ersten Panik-attacke durch Marihuana) noch an Cann-i. gedacht,allerdings berichtete der Patient nicht die ansonstenbei Cannabis indica häufig anzutreffenden ausgepräg-ten Entfremdungsgefühle (ich werde später in diesemArtikel darauf noch einmal zu sprechen kommen).Natürlich lässt die unmittelbare Vorgeschichte der in-tensiven Prüfungsvorbereitungen und des damit ver-bunden Schlafmangels auch an Nux-v. denken, wennsich jedoch in einer korrekten Repertorisation derAkutsymptomatik ein Polychrest wie Nux-v. erst an16. Stelle zeigt, dann lässt einen das in der Verschrei-bung zumindest zögern.

Exkurs Fallanalyse

An dieser Stelle sei ein kurzer, keineswegs er-schöpfender Exkurs über die Art, wie ich einenFall analysiere gestattet. Ich repertorisiere dieAkutsymptome eines Falles und die chronischenSymptome, auch die schon vor Ausbruch derAkutsymtomatik bestehenden Geistes- und Ge-mütssymptome in getrennten Ablagen. Wenn sichaus der Repertorisation der Akutsymptome deut-lich ein Arzneimittel zeigt, dann werde ich im All-gemeinen dem deutlichen Akutmittel den Vorzuggeben gegenüber dem Mittel, das sich bei Auswer-tung der chronischen Symptome zeigt. Der ho-möopathische Idealfall ist natürlich, wenn sowohlAkutsymptome als auch die chronischen Sympto-me das gleiche Arzneimittel indizieren. Nur wennsich kein deutliches Akutmittel zeigt oder die „Es-senz des Falles“ und die chronischen Symptomesehr deutlich ein chronisches Mittel indizieren,dann werde ich dem „chronischen Arzneimittel“den Vorzug geben. Häufig mache ich die Beobach-

Abb. 1: Repertorisation der Angstsymptome: „Flugangst“ (Synthesis 9.1)

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tung, dass nach Besserung der Akutsymptomedann die verbliebenen Symptome das vorherschon vermutete chronische Mittel indizieren.Dass Hahnemann schon genau so vorgegangenist, stellt Hanspeter Seiler in seinem sehr lesens-werten Buch Die Entwicklung von Hahnemannsärztlicher Praxis3 dar. Auch André Saine legt beider Analyse seiner Fälle großen Wert auf die Ent-stehungsgeschichte der Symptome und versucht,die Symptome, die zum gegenwärtig bestehendenLeiden gehören, von vergangenen Symptomenabzugrenzen4. Und natürlich entspricht diesesVorgehen auch, last but not least, der Methode, dieGeorge Vithoulkas in seiner WissenschaftlichenHomöopathie darstellt, indem er das „Zwiebel-schalenmodell“ der chronischen Erkrankungenpropagiert. In diesem Modell ist die obersteSchicht mit den entsprechenden zuletzt aufgetre-tenen Symptomen als erstes zu behandeln, dannerst kann aufgrund der dann vorhandenen nochverbliebenen Symptome eine nächste Verschrei-bung getroffen werden, die dann eine nächsteSchicht heilt. Natürlich ist genau dieses Vorgehenauch schon bei Hahnemann5 beschrieben.Zeigt sich allerdings ein Akutmittel nicht deutlich,beherzige ich § 221 Organon, demzufolge psychi-sche Akutkrankheiten als eine von der chroni-schen Psora auflodernde Flamme gesehen wer-den, die mit dem antipsorischen chronischen Mit-tel behandelt werden sollten.

Ein Akutmittel zeigt sich also in diesem Fall meinerMeinung nach nicht deutlich.Aus der Vorgeschichte ergeben sich Hinweise, dasserste Symptome der jetzt zu behandelnden Krankheitbereits vor sieben Jahren aufgetreten sind, also könntees sein, dass dem Patienten mit einer Verschreibung,die die chronischen Symptome mit einbezieht, bessergeholfen werden kann.

„Ich bin eigentlich ständig auf einem angespann-ten Level. Ich habe gerne die Kontrolle über alles,es ist mir wichtig, dass meine Belange gut durch-organisiert sind. Ich plane immer die nächste Wo-che im Voraus. Ich könnte nie einen Tag beginnen

und sagen, o.k., schaun wir mal was so passiert.So einfach konzeptlos in den Tag hinein zu lebenkäme mir fast langweilig vor.“

Die Neigung, alles planen zu wollen, lässt natürlich anArs. und Nux-v. denken. Wenn der Patient jedoch wei-ter berichtet, dass es ihm fast langweilig wäre, einmaleinfach so in den Tag hinein zu leben, dann wird deut-lich, dass es sich nicht um das Arsen-typische ängstli-che Vorausplanen handelt,

Gemüt – Vorausplanend – alles im Voraus; plantARS.mrr1 kali-s.fd4.de nat-m.vh tritic-vg.fd5.de

sondern eher um die Lust am Pläne schmieden

Gemüt – Pläne – macht, schmiedet viele Pläneadam.srj5 agar.zzz aloezzz anac.bg2,k ang.bg2,k arg-n.k ari-zon-l.nl2 carc.zzh Chin.b7.de,bg2,k,mtf33 Chinin-s.k chir-fl.gya2 Coff.b7.de,bg2,k cortico.tpw7 crot-c.zzz cupr.zzzHam.fd3.de hydrog.srj2 ignis-alc.es2 Kali-s.fd4.de lach.zzzlec.oss nat-m.zzz nux-v.k olnd.bg2,k op.k plb.zzz polys.sk4rutafd4.de sep.bg2,k sul-ac.mrr1 Sulph.k,mtf33 tab.bg2 tritic-vg.fd5.de ulm-c.zzz vanil.fd5.de visc.jl3

„Beim Sport verlieren ging nicht – früher habe ichschon mal den Tennisschläger heftig in den Bodengedroschen. Ich war einer von den peinlichen Leu-ten, die Andere immer nerven, wenn sie auf demSportplatz nebenan sind.“

• Gemüt – Ehrgeiz – erhöht, vermehrt, sehr ehrgeizig• Gemüt – Wutanfälle• Gemüt – Witzig, geistreich

„Wenn ich weiß, dass der andere besser ist, dannkann ich ganz gut verlieren, es regt mich nur auf,wenn es an meiner eigenen Unkonzentriertheitliegt, dass ich verliere.“

• Gemüt – Tadelt sich selbst, macht sich Vorwürfe• Gemüt – Zorn – Fehler, über seine

„Ich habe einen Anspruch an mich, kasteie michdann aber nicht selbst, wenn ich meinen Ansprü-

3 In dem Fall 32 „Akute Psychose bei einem pubertierenden Mädchen“ S. 215 ff.4 A. Saine: Psychiatric Patients, Band I und II5 Insbesondere in den §§ 168, 170, 171, 181, 182 und 221

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chen nicht genüge. Es ist schon die Tendenz da,überall zu den Besten zu gehören. Wenn mich et-was interessiert, dann will ich der Beste sein, wennmich etwas nicht interessiert, dann kann ich es mirauch gut nachsehen, wenn meine Leistungen nichtso toll sind. Ich habe auch absolut Sinn für die an-genehmen Seiten des Lebens: mit Freunden weg-gehen, im Biergarten sitzen, Fußball spielen imenglischen Garten, in Cafés sitzen, eine gute Zeithaben, genießen, da steh ich schon drauf.“ „Ich kann mich eher schwer unterordnen, ich kannden Chef schon Chef sein lassen, aber ich möchte,dass meine Leistungen gesehen werden. Ich binnicht derjenige, der sich im Hintergrund hält. Hin-tergrund ist nicht mein Ding. Ich bin nie irgendwoim Hintergrund. Wenn ich umziehe, kenne ichnach ein paar Monaten alle Verkäufer in meinerGegend, ich habe dann zu allen ein bisschen einVerhältnis aufgebaut.“

Aus diesen Äußerungen sprechen meiner Ansichtnach keine Symptome, eher schon eine „charakteris-tische Art von Gesundheit“ die einige Arzneimittel, andie man bei dem Patienten sicher auch denken könn-te (wie etwa Nux-v., Lyc. oder Aur.) eher weniger pas-send erscheinen lassen.

Insgesamt hat der Patient ein freundliches, jovialesWesen, wirkt wie einer, der freundlich zu sich ist undfreundlich zu anderen. Er steht gerne im Mittelpunkt,was ihm sicher oft gelingt, ohne dass er sich dafür be-sonders anzustrengen braucht.➔ Abb. 2

Bei Auswertung der „überdauernden Geistes- und Ge-mütssymptome“ zeigt sich Sulph., das auch einige derAkutsymptome deckt. Es scheint mir ganz gut mitdem Gesamteindruck des Patienten überein zu stim-men, die nachgefragten Allgemeinsymptome

• Heiße Füße, streckt sie nachts aus dem Bett heraus• Verlangen scharf gewürzte Speisen• Verlangen kalte Getränke• Früher einmal Warzen an den Fußsohlen

bestätigen die Arzneimittelwahl. Interessant ist, dassCarc. an dritter Stelle steht. Allerdings erscheint mirCarc. mit 858 Eintragungen im Kapitel Gemüt, beiinsgesamt 2258 Eintragungen (zum Vergleich Sulph.:1437 Einträge im Kapitel Gemüt, insgesamt 16757Eintragungen) inzwischen sehr zahlreich repräsen-tiert. Carc. muss also bei Repertorisation von Geistes-und Gemütssymptomen wie ein „großes Mittel“ ge-wertet werden. Dementsprechend ist ein dritter Platzin einer solchen Repertorisation nicht so erstaunlich.Natürlich habe ich eine ausführliche biographische,Krankheits- und Familienanamnese erhoben. Dabeiergaben sich aber keine Hinweise, die ein anderes Arz-neimittel indiziert hätten.

Diagnose: Agoraphobie mit Panikstörung F 40.01nach ICD 10

Sulph. Q Potenzen (Q 1 für 14 Tage, dann Q 2 für 14 Tage, dann Q 3 für 14 Tage entsprechend § 246 Or-ganon).

Weitere Maßnahme: Gestuftes Expositionstraining,d.h. der Patient wird angewiesen, sich in systematischabgestufter Form auf die Furcht auslösenden Situatio-nen einzulassen.

Weiterer Verlauf

Follow-Up vom 29.06.06„Ich habe ja einen Freund, der einen Flugschein hat.Der hatte mir angeboten, dass ich einmal mit ihm inder Cessna mitfliegen kann. Inzwischen hatte ich auchschon öfter den Turm des „Alten Peter“ bestiegen6. Ichhabe mir gedacht, was soll’s, irgendwann musst du jamal wieder anfangen mit der Fliegerei. Natürlich habeich im Flieger zuerst gedacht, ich sterbe. Aber nach 20 Minuten war ich dann von meiner eigenen Angst sogenervt, dass ich meinen Freund gebeten habe, ob ichnicht selber einmal für ein paar Runden das Steuerübernehmen könnte. Na, das ging dann ganz gut. DieFliegerei traue ich mir jedenfalls jetzt wieder zu, undgestern war ich auch noch einmal auf dem „Alten Pe-ter“, das ging auch ganz gut.“

6 Anmerkung für Nicht-Münchner: 300 Stufen führen auf den äußerst engen Kirchturm zu einer 56 Meter hohen Aussichtsplatt-form. Der Alte Peter wird deshalb von den Verhaltenstherapeuten der umliegenden psychosomatischen Kliniken gern als besonde-re Herausforderung in das Expositionstraining eingebaut.

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Follow-Up vom 10.01.08Es geht weiterhin gut, es sind seit damals keine Pa-nikattacken mehr aufgetreten. Die Sulph.-Einnahmewurde im Sommer 2006 ausgesetzt.

Diskussion

Natürlich habe ich in der Überschrift den Begriff „Hei-lung“ ganz bewusst in Anführungsstriche gesetzt.Aberdass ein Patient, der noch im März ein Flugzeug kurzvor dem Start verlassen musste, drei Monate späterselbst den Steuerknüppel übernimmt, ist schon rechterstaunlich. Wenn das nur immer so gehen würde!

Warum konnte man schon im Vorhinein auf einengünstigen Verlauf hoffen?

• Der psychologische Hintergrund für die Angst-symptomatik ist aus lernpsychologischer Sicht

eine schlichte „klassische Konditionierung“, mit-hin eine Art von psychischer Störung, die norma-lerweise relativ leicht wieder aufzulösen ist. Müh-samer sind in der Regel psychische Störungen zubehandeln, in denen die Symptomatik nur wie dieSpitze eines Eisberges herausragt, während zumVerständnis der tieferen Ursache der Störung einekomplexe Psychodynamik geklärt werden muss.Ein Beispiel für einen solchen Behandlungsverlaufwerde ich in der 3. Kasuistik geben.

• Der Patient ist eigentlich gesund. Außer der Angst-symptomatik liegen keine schwerwiegenden, langanhaltenden Symptome vor. Wenn es eine familiä-re Belastung gibt, dann hat sie sich bisher nochnicht in schwerwiegenden Symptomen geäußert.

• Die Akutsymptomatik ist noch nicht chronifiziert.Obwohl erste Angstsymptome schon 7 Jahre vorBehandlungsbeginn aufgetreten sind und seither

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Beginn

10. - 12. Oktober 2008

Abb. 2: Repertorisation der überdauernden Gemütssymptome, Fall „Flugangst“ (Synthesis 9.1)

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immer wieder, ist die Flugangst, die jetzt im Zen-trum steht, erst kurz vor der Behandlung neu auf-getreten.

• Oft führt die Hilflosigkeit den Angstsymptomengegenüber dazu, dass Patienten sich mit der unbe-quemen Situation arrangieren – sich in ihr „ein-richten“, indem sie einen sekundären Krankheits-gewinn aus ihr ziehen.

So berichtete mir beispielsweise einmal eine Patientin,die eine Angst vor dem Autofahren entwickelt hatte,dass sie es eigentlich ganz praktisch fände, dass ihrEhemann sie jetzt überall hinfahren würde.Damit bekommt die Situation dann „auch etwas Gu-tes“. Dieser Patient hat dies nicht getan. Vielmehr hater sich offensiv mit seiner Symptomatik auseinander-gesetzt, hat sich mutig dem Stress ängstigender Situa-tionen ausgesetzt.

Exkurs: Klassische Konditionierung

Mit der „klassischen Konditionierung“ hat es Folgen-des auf sich: Lernen hat etwas damit zu tun, dass aufeinen bestimmten Reiz eine bestimmte Reaktion erfol-gen soll. Manchmal versuche ich mir diese Reaktionenmühsam anzutrainieren – während der Klavierübun-gen versuche ich, ein bestimmtes Notenbild mit einermotorischen Aktion meines Mittelfingers zu verknüp-fen, manchmal ergeben sich aber auch zufällig oderaufgrund einer bestimmten Versuchsanordnung Ver-knüpfungen. Zum Beispiel kann ein Kind, dem nachdem Genuss einer Wassermelone schlecht wird, jahre-lang Wassermelone verweigern, obwohl der eigentli-che Verursacher eine Ansteckung mit einem Virus beieinem befreundeten Kind war. Im Falle des Patientenlag durch Schlafentzug, Lernstress, unregelmäßigeLebensweise ohnehin ein labiler vegetativer Zustandvor. Durch das beengte Sitzen im Flugzeug – was beivielen Menschen zu einer leicht erhöhten Anspannungführt und die vegetative Labilität des Patienten kam esnun zu einer ungewöhnlich heftigen Reaktion in Formvon Herzklopfen und Schweißausbrüchen. Jetzt wer-den die Signale: enges Flugzeug und Herzklopfen,Schweißausbrüche, vermehrte Anspannung miteinan-

der verknüpft. Dazu kommt dann vielleicht noch derGedanke: Luft hat keine Balken.Für den Bruchteil einer Sekunde, vom Patienten kaumbemerkt, huschen vor dem inneren Auge die Fernseh-bilder einer letzten Flugzeugkatastrophe vorbei. DieEmpfindungen Schreck und Angst werden ausgelöst,schon ist ein pathogenes Gebräu entstanden, panikar-tige Ängste sind jetzt mit der Situation ich sitze in ei-nem Flugzeug verbunden. Die körperlichen Reaktio-nen „Herzklopfen, Schweißausbruch“ haben dabeinach der James-Lange-Theorie7 die wichtige Funkti-on, ein Angsterleben zu „bahnen“.

So könnte die Verknüpfung Flugzeug → Herzrasen →Angst erlernt worden sein und so kann sie auch wiederverlernt werden. Denn wenn der Patient immer wiederdie Erfahrung macht: ich sitze im Flugzeug, ich bekom-me Angst, aber ich merke, die Angst ist auszuhaltenund sie ist unberechtigt, denn wenn ich sie aushalte,merke ich,es passiert gar nichts,dann kann diese Angstlangsam auch wieder verlernt werden, die Verknüp-fung Flugzeug-Angst wird wieder „gelöscht“. Solangeder Patient Situationen, in denen es zu Ängsten kom-men könnte vermeidet, kann er diese Erfahrung nichtmachen! Er wird nicht herausfinden, dass die Angstauszuhalten ist, sogar bei jedem Mal weniger wird, unddass überhaupt nichts Katastrophales passiert, wenn erdie Situation buchstäblich aussitzt.Wenn so ein geziel-tes Training nicht erfolgt, dann haben solche Ängsteeine starke Tendenz, zu chronifizieren und auch aufandere, ähnliche Situationen überzugreifen (zu gene-ralisieren).

Ängste, „geheilt“ in 6 Monaten

Erstanamnese im März 2007

Patientin L.T. geb. 1966:„Im Herbst hatte ich mir eine ganz schön heftigeGrippe geholt. Der Arzt hat mir dann sogar einAntibiotikum verschrieben, das muss ein ziemli-ches „Hammermittel“ gewesen sein. Mir ging esdann erst einmal wieder gut, aber dann hatte ichplötzlich so einen Anfall. Ich bekam auf einmalHerzrasen, einen fiesen Druck auf der Brust, einBeklemmungsgefühl, eiskalte, schwitzige Hände,einen trockenen Mund, viel Durst. Ich hatte das

7 Meyer, W.-U., Schützewohl, A. und Reisenzein, R. (2001):Einführung in die Emotionspsychologie. Band 1, 2. Auflage,Hans Huber Verlag, Bern (Kap. 3)

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Gefühl, ich muss ganz langsam und tief durchat-men. Ich war unruhig, wie getrieben, und hattewirklich unheimliche Angst, ich dachte, das istjetzt ein Herzinfarkt, das ist sicher ein Herzinfarkt,so fühlt es sich an, wenn man einen Herzinfarkthat. Meine Güte, dachte ich, jetzt musst du ster-ben. Ich habe dann wirklich geschaut, dass ich soschnell wie möglich bei der nächsten Klinik in dieNotaufnahme komme. In der Notaufnahme ha-ben sie aber nichts weiter feststellen können, siehaben mir ein Beruhigungsmittel gespritzt undmich wieder nach Hause geschickt.Während der Ängste habe ich dann auch so einHitzegefühl in der Brust, da schnürt sich alles zu-sammen, da ist auch so ein Druck, wie von einerFaust in der Brust. Wenn ich mich hinlege, wird esschlimmer, ich muss langsam gehen, dann wird esbesser.Ich hatte dann immer wieder so Anflüge von sol-chen Anfällen, aber so schlimm wie beim erstenMal ist es nicht mehr geworden.“

Bis hierher könnte dies die Schilderung eines typi-schen Angstanfalles im Rahmen einer „Herzneurose“sein oder, wie es im ICD 10 heißt, eine somatoformeautonome Funktionsstörung des kardiovaskulärenSystems (F 45.30).

Aufgrund der Schilderung kann man ohne weiteres16 Rubriken finden:

• Gemüt – Furcht – Herz – Erkrankung des Herzens;vor

• Gemüt – Furcht – Tod; vor dem – plötzlichem Tod;vor

• Gemüt – Tod – Vorahnung des Todes• Gemüt – Tod – Gewißheit des (eigenen) Todes• Gemüt – Wahnideen – sterben – Zeit zum sterben

sei gekommen• Gemüt – Furcht – Tod; vor dem – Herzens; bei Be-

schwerden des• Gemüt – Wahnideen – Herz – Erkrankung des

Herzens – werde am Herz erkranken und sterben;er

• Gemüt – Wahnideen – Herz – Erkrankung desHerzens – habe eine; er

• Gemüt – Ruhelosigkeit – ängstlich• Extremitäten – Kälte – Hände – eisige Kälte• Gemüt – Angst – Gehen – amel.

• Gemüt – Angst – Gehen – Freien, im – amel.• Brust – Hitze – Herzgegend, in der• Brust – Schmerz – drückend• Brust – Schmerz – drückend – Gewicht; wie durch

ein• Mund – Trockenheit – Durst; mit

Die Rubrik, die die Symptomatik am genausten trifftist:Gemüt – Wahnideen – Herz – Erkrankung des Her-zens – werde am Herz erkranken und sterben; erarn.k2,st germ-met.srj Kali-ar.vh lac-c.k lach.st podo.k2

Doch weiter mit dem Bericht der Patientin:„Eigentlich ist das aber gar nicht mein Hauptpro-blem im Moment. Anfang März hatte ich auf ein-mal einen totalen Zusammenbruch, ich bin nurnoch da gesessen und habe geheult, ich war völligverzweifelt, es gab eigentlich gar keinen speziellenGrund. Immer wieder kamen diese Heulattacken.In der Arbeit ging es noch am besten, da war ichwenigstens abgelenkt. Aber irgendwie war die Lufttotal raus. Ich konnte mich eigentlich nur noch sograde in die Arbeit schleppen. Zu Hause habe ichdann ganze Tage lang nur noch geheult. Ich wardann natürlich auch beim Hausarzt, der hat mireine Psychotherapie empfohlen. Ich fühle michjetzt eigentlich total überfordert, da reichen schonKleinigkeiten und ich denke mir, wie soll ich dasnur schaffen. Einladungen zum Abendessen sindganz schwierig. Neulich waren wir auf einem Ski-fahrwochenende, da kam ich mir die ganze Zeitvor, als würde ich da nicht hin gehören, ich kammir fremd vor, ich wäre am liebsten sofort wiedernach Hause gefahren. Es gibt Tage, da kann ichmich an gar nichts freuen – Vogelgezwitscher, Son-nenschein, alles egal, nicht mal an Lukas (der 3-jährige Sohn der Patientin) kann ich mich dannfreuen. Eigentlich geht das auch schon so seit dreiMonaten; es gibt Tage, an denen ich mich am liebs-ten möglichst früh ins Bett zurückziehe. Ich gehedann schon um halb acht ins Bett, ich will danneinfach nichts mehr merken vom Tag. Es gibt aberauch Tage, da fühle ich mich fast ganz gesund, damerke ich fast gar nichts von all dem.

Ich hatte so etwas schon einmal vor 10 Jahren undeinmal auch vor 15 Jahren.“

Homöopathie KONKRET 711.08

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Vor 15 JahrenDamals hatte sie ohne äußeren Anlass starke Ängs-te bekommen, sie hatte viele medizinische Unter-suchungen durchführen lassen (Herz-/Kreislauf-Checks), damals passierte es leicht, dass der linkeArm „einschlief“, sie hatte damals auch Schmerzenin der Brust, dachte an einen Herzinfarkt. Sie hatsich dann einen Hund angeschafft, nachdem siefestgestellt hatte, dass sie sich einsam und unglück-lich fühlte. Mit dem Hund ging es dann ganz gut.Die damalige Episode hat etwa sechs Monate ge-dauert. Sie hatte „wahnsinnige Angst vor dem Al-leinsein“, hatte Angst, wenn sie alleine sei, müssesie nachts sterben.Psychisch hatte sie damals unter einer unglückli-chen Liebe gelitten. Die Therapeutin hatte emp-fohlen, dass sie sich trennen sollte. Sie hat die The-rapie dann nach wenigen Stunden abgebrochen.Jetzt lebt sie mit ihrem damaligen Freund zusam-men und sie haben ein gemeinsames Kind.

Vor 10 Jahren„Ein Freund war an einem Herzinfarkt gestorben.Ich bin ein ängstlicher Mensch, besonders bezogenauf meine Familie. Ich bin in einen Laden gegan-gen, wollte eine Tiefkühlpizza kaufen, dann ka-men plötzlich die starken Ängste und ich habe ge-dacht, es hat eh keinen Sinn, stirbst eh.“Der Arzt verschrieb ihr Betablocker, die hat sie einpaar Mal genommen, dann wurde es wieder besser.10 Jahre lang hatte sie dann gar keine Problememehr.Auch diese Episode dauerte sechs Monate.

Schulmedizinische Diagnose:Freudlosigkeit, gedrückte Stimmung, Antriebshem-mung, Rückzugsneigung – das sind typische Sympto-me einer Depression. Der phasenhafte Verlauf mit je-weils völliger Symptomfreiheit im Intervall stützt dieDiagnose einer mittelschweren rezidivierenden de-pressiven Störung (F 33.1 nach ICD 10).

Homöopathisch ist interessant, dass die massivenHerzängste bereits genauso bei der ersten Episode vor15 Jahren aufgetreten waren, wie sie von der Patientinfür die aktuelle Episode geschildert wurden. Das Be-dürfnis, sich im Anfall zu bewegen, könnte ein Hin-weis auf die Gelsemium-typische Angst sein:

Furcht, das Herz würde aufhören zu schlagen, wennsie nicht ständig in Bewegung ist. – Digitalis hat dasGegenteil: Furcht, das Herz könnte aufhören zuschlagen, wenn sie sich bewegt. – aus Allen A.C., TheTherapeutics of intermittend Fever.Das Bedürfnis nach Bewegung entspringt aber beider Patientin mehr einer inneren Ruhelosigkeit alsder Vorstellung, das Herz würde aufhören zu schla-gen, sobald sie zur Ruhe kommt. Das Gefühl des un-mittelbar bevorstehenden Todes, verbunden mit demHerzklopfen, könnte ein Hinweis auf Aconit sein. Eintypischer Auslöser für eine Aconit-Krankheit könnteein Schockerlebnis sein, das wurde aber von der Pa-tientin, auch auf Nachfrage, nicht berichtet. Und na-türlich lässt die Symptomatik auch stark an Arsendenken.

Vielleicht ergeben sich weitere Hinweise für die Arz-neimittelwahl, wenn wir versuchen, etwas mehr überden Menschen zu erfahren.

Selbstcharakterisierung:„Ich bin ein sehr häuslicher Mensch – ich braucheSicherheit, ich will mit 60 Jahren etwas zum Woh-nen haben. Man muss sich irgendeine Grundlageim Leben schaffen. G. (ihr Partner) will den Spaß-faktor in seinem Leben ausleben.Er hatte aber auchAngst vor der Zukunft, es war klar, dass er mit demLebensstil keine tolle Perspektive für’s Alter hat. Erhat den ersten Mietvertrag gar nicht mit unter-schrieben, wollte sich nicht festlegen. Dann habenwir das Haus gekauft – dadurch ergab sich derZwang, ein regelmäßiges Einkommen zu erzielen.Ich habe auf die Bremse getreten, wollte diesen Le-bensstil so nicht mehr. Ich war schon immer häus-lich, ich war aber auch verrückt und spontan. Eswar für mich auch schon immer klar, dass ich einKind haben wollte, eigentlich zwei Kinder, zweiMädchen.Ich bin zuverlässig geworden, ich war das als Ju-gendliche noch nicht. Ich habe als Jugendliche im-mer Angst gehabt, erwischt zu werden. Ich habenie Hausaufgaben gemacht, nie gelernt, immer dasGefühl gehabt irgend etwas vertuschen zu müssen,immer Angst, dass etwas heraus kommt. Ich binjemand, der unter Druck gut funktioniert. DenDruck haben meine Eltern mir nicht gegeben. Bei-de Eltern sind immer erst um sieben Uhr nach

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Psychiatrie

Hause gekommen, ich habe mich trotzdem nichtvernachlässigt gefühlt.Bei G. komme ich mir manchmal vor wie eineSpinne, die ihn umgarnt, ihn eingewoben hat. Ichglaube, er hat auch die Familie und das Kind ge-braucht, um sein Leben auf die Reihe zu kriegen.Einerseits vermisst er sein Vagabundenleben, an-dererseits ist er auch froh, nicht mehr Angst vorder Zukunft haben zu müssen.“

Also eine Spinne?

„Ich habe die schwierigen Chefs trotz ihrer Schwie-rigkeiten sehr ins Herz geschlossen. Es waren im-mer kleine Firmen, in denen ich gearbeitet habe.Ich funktioniere besser in kleinen Firmen. Ich kanneinerseits auf den Tisch hauen, kann sagen, so gehtes nicht. Anderseits ist meine Leidensbereitschaftgrößer als bei den meisten anderen Menschen – ichwerde überdurchschnittlich bezahlt, weil ich gutbin: Ich bin 1000% identifiziert mit der Firma; ichreiße mir für die Firma den Arsch auf, bin Tag undNacht da drin. Ich arbeite sehr schnell.“

Also Tarentula hispanica?

„Ich bin einerseits chaotisch, aber ich kann gutschlecht lösbare Sachen lösen; bin sehr wendig imKopf und auch in der Arbeit. Ich kann gut mit Men-schen umgehen – arbeite auf einer persönlichenEbene. Ich weiß zu geben und zu nehmen, halte dasganz gut in der Waage; die Chefin kann mich anru-fen, wann immer sie will, im Urlaub, egal.Ich war immer jemand der sich schlecht verkaufenkonnte.“

Ängste?

„Vor Schlangen, in engen Räumen, vor dem Flie-gen in einem Flugzeug.“

Sexualität?

„Früher sehr wichtig, jetzt eigentlich immer nochgerne, aber oft zu müde, es kommt jetzt nur nochselten dazu.“

Also doch nicht Tarentula?

Die weitergehende biographische Anamnese unddie Allgemeinsymptome liefern leider auch keinenentscheidenden Beitrag mehr für die Arzneimit-telwahl.

Körperlich:Sie hat letzte Woche eine schlimme Hämorrhoidebekommen. Hat immer wieder mal Hämorrhoi-den, etwa 3 – 4 × im Jahr. Außen und innen,die Schmerzen sind beim Gehen besondersschlimm.

Analyse

Es ist im Moment kein Arzneimittel zu sehen, das alskonstitutionelles Mittel wirklich überzeugen würde.Bei Betrachtung der Krankheitssymptome fällt auf,dass eine Herzangstsymptomatik als überdauerndesMerkmahl sehr prominent ist.

Ein Mittel hatte George Vithoulkas immer als beson-ders wichtig für die Behandlung von Herzängsten he-rausgestellt:

„Es sind sehr kontrollierte Menschen, sehr akkurat,sehr pflichtbewusst. Man vermutet bei diesen Men-schen nicht, dass es eine innere Angst, eine innereFurcht gibt, die ihr eigenes Überleben, ihre eigene Ge-sundheit betrifft. Es sind kritische Menschen. Ge-schäftsmänner, Banker, Industrielle; man erwartet beisolchen Menschen nicht diese Furcht, die sie fastlähmt. Furcht, einen Herzanfall zu bekommen. Manwird es häufig mit Ars. oder Phos. verwechseln. Siebrauchen Gesellschaft und sind verbessert in Gesell-schaft. Diese Menschen können Panikattacken haben,die etwas Metaphysisches an sich haben. Sie fühlensich auf einmal so alleine, als ob jemand gestorbenwäre und sie in völliger Isolation wären. Sie müssendann mit jemandem sprechen. Ernste Menschen, kri-tisch, misstrauisch, nicht offen, nicht wie Phos. Siemüssen nicht ihre wirklichen Gefühle vermitteln, siemüssen nur mit jemandem sprechen, sie sprechen,um der Angst und der Furcht zu entgehen. Die Ge-fühle sind eher kalt, sie sind misstrauisch, haben eineNeigung zur Depression. Ängstlich, ruhelos, nervös,schlaflos. Ängste und Furcht vor etwas, was sie nichtgenau beschreiben können. Depression mit Angst

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und Furcht – sie wollen darüber nicht sprechen, siewollen nicht, dass andere das wissen.In späteren Stadien werden sie depressiv, indifferent.Sehr logisch denkende Menschen, bodenständigeMenschen, sie gehen zum Spezialisten, sie werden sichmit ihren Ängsten nicht der Mutter oder der Familieanvertrauen. Es sind die Menschen mit den meistenEKGs. Wenn sie zu dir kommen, haben sie jede MengeEKGs dabei.“8

„Die enorme Angst, die wir in diesem Arzneimittelfinden, steht im Allgemeinen wie bei Arsenicum al-bum in Verbindung mit der Gesundheit. Die beidenMittel können leicht miteinander verwechselt werden.Die Angst hier konzentriert sich jedoch eher auf dasHerz und gipfelt häufig in anfallsartigen Angstzustän-den oder einem hysterischen „Herzinfarkt“. DieserAspekt fällt umso mehr auf, wenn man den eherkonservativen und reservierten Charakter berücksich-tigt . . . “9

„Das bestimmende Gefühl bei dieser Arznei ist, dasssie sich auf die Menschen, deren Hilfe sie braucht,nicht verlassen kann. . . . Sie sucht die Unterstützungder Familie oder der Gruppe. Ohne sie ist sie schwachund abhängig. Obwohl sie Zweifel hat, ob man sich aufdiese Familie oder Gruppe wirklich verlassen kann,braucht sie doch die Familie, und die Harmonie unddas Wohl der Familie werden zu ihrer größten Sorge.Sie kümmert sich sehr um die Familie, unterstützt sieund achtet sehr auf sie. Sie macht einen zuversichtli-chen und selbstsicheren Eindruck. Das ist der kom-pensierte Zustand. Aber sie können auch ängstlichsein, so ängstlich, dass sie fast verrückt werden vorAngst.“10

Die Situation, einen Freund zu haben, der mehr am„Spaßfaktor“ im Leben interessiert ist, als an einemstabilen Zuhause, kann schon an diese Analyse vonSankaran erinnern.

Die Zitate sind der Materia medica von Kalium arse-nicosum entnommen.Wenn man die Selbstcharakterisierung der Patientin

betrachtet, dann meint man, in der Sorge um die Fa-milie, in dem Wunsch nach Geborgenheit und Sicher-heit, in der großen Zuverlässigkeit und Loyalitätdurchaus Züge von Kalium zu erkennen. Die starkenÄngste, die ängstliche Ruhelosigkeit, besonders aberdie charakteristischen Herzängste haben für michdann den Ausschlag für Kalium arsenicosum gegeben.Dass Kali-ars. auch in der Rubrik: Rektum – Hämor-rhoiden – Gehen – agg. zu finden ist, ist noch eine klei-ne zusätzliche Bestätigung.

➔ Abb. 3

Wenn in dieser Repertorisation sechs Rubriken für dieHämorrhoiden der Patientin aufgeführt sind, so istdas natürlich übertrieben. Allerdings können körper-liche Symptome, die zuverlässig nur dann auftreten,wenn gleichzeitig bestimmte psychische Symptomeerscheinen, ein wichtiges Konkomittant sein, das dannden Rang eines §153-Symptomes bekommen kann. Sohat mich mehr als einmal ein bläschenförmiger Haut-ausschlag, der vor Beginn einer psychotischen Erkran-kung aufgetreten war, zu Anacardium geführt.

In diesem Fall ist interessant, dass Kali-ars. immerhinvier der sechs Hämorrhoidensymptome deckt. Hätteman sich nur auf die große Rubrik Hämorrhoiden –schmerzhaft verlassen, so hätte man Kali-ars. verloren.In der Rubrik Rektum – Hämorrhoiden – Gehen agg. istKali-ars. zu finden, in den anderen Rubriken, die eineModalität beschreiben, nämlich kaltes Baden amel.steht Kali-ars. nicht.

Gerade wenn man ein relativ kleines Mittel ver-schreiben möchte, erhöht es meiner Meinungnach die Verschreibungssicherheit, wenn man an-hand einer solch „breiten“ Repertorisation sehenkann, bei welchen anderen Symptomen eineWirksamkeit der Arznei erwartet werden kann.Das erhöht auch die Sicherheit bei der Verlaufsbe-urteilung, die bei „psychischen Fällen“ immer einbesonderes Problem darstellt, wie ich auch in die-ser Kasuistik noch zeigen möchte.

8 Aus meinen Alonissos-Seminarmitschriften9 Morrison, Roger: Handbuch der homöopathischen Leitsymptome und Bestätigungssymptome, Kai Kröger Verlag, Groß Wittensee10 Sankaran, Rajan: The Soul Of Remedies

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Psychiatrie

Weiterer Verlauf19. März 2007

Kali-ars. Q 1

Wenn mir im Laufe des ständigen Repertorisierensund der Materia-medica-Vergleiche während der An-amneseerhebung das Mittel noch nicht klar gewordenist11, lege ich mir zum Zwecke der Arzneimittelfin-dung mitunter eine zusätzliche Ablage „wahlanzei-gende Symptome“ an, in der ich dann noch einmaleine Auswahl der wichtigsten Rubriken zusammen-stelle.

Bevor ich eine Anamneseerhebung abschließe, macheich mir gemeinsam mit den Patienten noch Gedankenüber die wichtigsten Symptome, anhand derer eineBesserung des Zustandes festgestellt werden kann. Ichbitte die Patienten, das Ausmaß ihrer Beeinträchti-gung in Prozent abzuschätzen, wobei ich die Skalenmöglichst so gestalte, dass 100% den guten Zustandbedeutet.

11 Nicht umsonst nehme ich mir in der Regel für eine Anamneseerhebung vier Stunden Zeit.

Verlaufsparameterliste• wieder die schönen Dinge im Leben wahrnehmen,

wieder Freude empfinden 40–50%

• Weinkrämpfe 14–19:30 Uhr, für 2–3 Tage, alle 14 Tage

• Angst vor Herzerkrankung nicht wichtig im Moment

• Belastbarkeit arbeitet normal zur Zeit, geht früh ins Bett

• Hitzegefühl in der Brust nicht wichtig im Moment

• Zusammenschnürungsgefühl manchmal

• Beengungsgefühl, wie von Faust in der Brust manchmal

Abb. 3: Repertorisation: „Herzangst“ (Synthesis 9.1)

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Psychiatrie

Beurteilung der Arzneimittelwirkung

Zunächst sieht alles nach einer deutlichen Besserungunter Kali-ars. aus. Was könnte die Besserung einerDepression besser anzeigen als wieder gewonnene Le-bensfreude? Eine Verbesserung von 40–50% auf 80%innerhalb einer Behandlungsdauer von etwa vier Wo-chen ist ein Resultat, das auch mit üblichen Antide-pressiva kaum zu übertreffen ist. Allerdings: die vor-ausgegangenen depressiven Episoden hatten jeweilsetwa sechs Monate gedauert, die jetzige Phase hatte imDezember begonnen – inzwischen war es Mai gewor-den. Es könnte sich also auch einfach um einen „ho-möopathisch begleiteten Spontanverlauf“ handeln . . .

Welche Argumente sprechen doch für eine Wirksam-keit von Kali-ars.?

• Die Patientin hatte Akne im Gesicht bekommen.Dies ist eine Ausscheidungsreaktion entsprechendder Hering’schen Regel.

• Die Patientin berichtete spontan eine Verschlech-terung nach Kaffeegenuss.

Die Hämorrhoiden waren inzwischen übrigens wie-der verschwunden, aber das ist nun tatsächlich nichtvon einem Spontanverlauf abzugrenzen.

Im weiteren Verlauf kam es innerhalb der nächsten dreiMonate zu einer praktisch vollständigen Remissionder depressiven Symptomatik. Die Patientin fühlt sichpraktisch vollständig gesund. Wegen V. a. Periarthro-pathia humeroscapularis erhielt die Patientin späternoch einmal Medorrhinum M, darunter kam es zu ei-ner langsamen Besserung der schon seit Monaten be-stehenden Beschwerden im Schultergelenk. Nachdemdie Patientin weitgehend beschwerdefrei war, konntesie sich vorerst noch nicht zu einer Weiterführung derhomöopathischen Behandlung im Sinne einer „anti-psorischen Kur“ entschließen.Vor kurzem hatte ich diePatientin wieder am Telefon, es geht ihr weiterhin gut,ohne aktuelle homöopathische Behandlung.

Diskussion

Ich wollte diesen Behandlungsverlauf schildern, umzu zeigen, wie wichtig es sein kann, sich über diepsychiatrische Diagnose im Klaren zu sein, um einen

Verlaufsparameterliste• wieder die schönen Dinge im Leben wahrnehmen,

wieder Freude empfinden 80%

• Weinkrämpfe nur einmal in 14 Tagen

• Angst vor Herzerkrankung keine!

• Belastbarkeit geht gut, aber Chefin ist schwierig

• Hitzegefühl in der Brust manchmal

• Zusammenschnürungsgefühl manchmal

• Beengungsgefühl, wie von Faust in der Brust manchmal

Follow-Up vom 02.05.07Am 29.03.07 hatte sie mit Kali-ars. Q 1 angefangen, in-zwischen ist sie bei der Q 3. Sie meint, es sei ihr über-wiegend gut gegangen, gelegentlich hätte sie noch einpaar Rückschläge erlitten. Sie ist noch nicht „die su-perlebensfrohe lustige L.“ wie sie das kenne – aber80% (!) davon.Sie kommt jetzt ganz gut über den Tag, wenn es nichtirgendetwas Besonderes gibt. Als die Eltern auf eine

Flugreise gegangen sind, hat sie wieder unter Beklem-mungen und Ziehen in der Brust gelitten. Seit sie mitdem Mittel angefangen hat, gab es nur wenige Tage, andenen es nicht gut war. Nachdem sie sich wieder siche-rer gefühlt hat, hat sie sich in der Früh wieder ihrenKaffee gegönnt, danach ist es wieder deutlich schlech-ter geworden. Sie hat dann natürlich mit dem Kaffeewieder aufgehört. Unter Kali-ars. hat sie jetzt deutlichmehr Pickel im Gesicht bekommen.

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Homöopathie KONKRET 771.08

Psychiatrie

Behandlungsverlauf und die Arzneimittelwirkungrichtig einschätzen zu können. Normalerweise würdeman bei einer so schwerwiegenden Angstsymptoma-tik auch schwerwiegende psychische Konflikte im Hin-tergrund vermuten, mit einem entsprechend schwie-rigen homöopathischen Behandlungsverlauf. Bei ei-ner vorausgegangenen Phase vor 10 Jahren hatte diePatientin den richtigen Instinkt und das Glück, dassdie Phase ohnehin im Abklingen war, als sie einepsychotherapeutische Behandlung abgebrochen hat-te, bevor es zu schwerwiegenderen und völlig über-flüssigen Schädigungen in ihrem Privatleben gekom-men war. Natürlich findet man bei genauerer Unter-suchung im Leben nahezu jedes Menschen psychischeKonflikte. Aber es ist wichtig, sich darüber klar zuwerden, ob diese psychischen Konflikte tatsächlichkrankmachend sind, oder ob „. . . die Übel der grö-bern Körper-Organe auf die fast geistigen, von kei-nem Zergliederungs-Messer je erreichten oder erreich-baren Geistes- und Gemüths-Organe gleichsam über-getragen und auf sie abgeleitet werden“ (§ 216) – obes sich also um eine Körperkrankheit handelt, dieeben nur eine einseitige Ausprägung der Symptoma-tik im Geistes- und Gemütsbereich zeigt.Früher wurde in der Psychiatrie von „endogenen De-pressionen“ gesprochen, im Gegensatz zu den „psy-chogenen Depressionen“. Diese ältere, psychiatrischeNosologie liegt viel näher an den von Hahnemann be-schriebenen Konzepten von den „Übeln der Körper-Organe, die sich in die Geistes- und Gemütsorganehinein erstrecken“. Im Gegensatz dazu postuliert Hah-nemann ja auch noch eine zweite Art, auf die es zuGeistes- und Gemütserkrankungen kommt12.Bei einer „körperlichen psychischen Krankheit“, ins-besondere bei „körperlichen Depressionen“ im Hah-nemannschen Sinne, müssen die Symptome, je nachSchwere der Erkrankung, innerhalb von 6 Wochen bis3 Monaten deutlich gebessert sein, und häufig ist dasmit einer rein homöopathischen Behandlung zu errei-chen. Gelingt dies aber nicht, dann muss, je nachSchwere des Leidens, mit dem Patienten auf alle Fälledie Notwendigkeit einer antidepressiven Behandlungdiskutiert werden. Ich spreche mit den Patienten dieseMöglichkeit immer schon zu Beginn der Behandlung

ganz offen an, damit der Patient selbst entscheidenkann, ob und wann er einen zusätzlichen Behand-lungsversuch mit Antidepressiva unternehmen will.Nach meiner Erfahrung und der meiner psychiatrischund homöopathisch qualifizierten Kollegen ist dabeikeine Unterdrückung zu befürchten. Es wird lediglichschwieriger, die Wirksamkeit der homöopathischenArzneimittel zu beurteilen.Übrigens: natürlich wäre es schön, wenn ich diese Ka-suistik nach einer Beobachtungszeit von einigen Jah-ren berichten könnte. Aller Voraussicht nach wird esder Patientin aber die nächsten fünf Jahre gut gehen.Die beste Prognose des zukünftigen Spontanverlaufeseiner psychiatrischen Erkrankung ergibt sich aus derBeobachtung des bisherigen Verlaufes.Anhand der psychischen Symptome würde man alsowenig Aufschluss darüber gewinnen können, ob einArzneimittel tatsächlich bei der Patientin wirksam ist.Eine längere Verlaufsbeobachtung hätte also bezüglichder psychischen Symptomatik frühestens in fünf oder10 Jahren zu greifbaren Ergebnissen geführt, da vorhereine Wiederkehr der depressiven Symptomatik unternormalen Umständen nicht zu befürchten ist.Selbstverständlich wäre es dennoch sinnvoll, eine „an-tipsorische Kur“ zu versuchen, und die Arzneimittel-reaktionen anhand subtiler Beobachtung der körper-lichen Symptomatik zu beurteilen.

Bei der folgenden Patientin ist der Verlauf deutlichlänger.

Therapieresistente chro-nifizierte Angsterkrankung –„Heilung“ nach drei Jahren

Die Überschrift lässt natürlich den Kundigen schonstutzen – „Heilung“ nach drei Jahren? Irgendwannwerden Ängste ja auch von alleine mal besser. Wenn daeiner nach einem dreijährigen Verlauf (insgesamt wer-de ich von einem 8-jährigen Verlauf berichten) von„Heilung“ durch Homöopathie spricht, dann ist erzumindest erst einmal beweispflichtig, in wie weit es

12 § 225: „Es giebt dagegen wie gesagt, allerdings einige wenige Gemüths-Krankheiten, welche nicht bloß aus Körper-Krankheitendahin ausgeartet sind, sondern auf umgekehrtem Wege, bei geringer Kränklichkeit, vom Gemüthe aus, Anfang und Fortgangnehmen, durch anhaltenden Kummer, Kränkung, Ärgerniß, Beleidigungen und große, häufige Veranlassungen zu Furcht undSchreck.“ . . .

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sich nicht schlicht um einen „homöopathisch beglei-teten Spontanverlauf“ handelt – so könnte ein erfah-rener Leser einwendenEtwas anders könnte sich die Situation darstellen,wenn man erfährt, dass die Ängste bei der Patientin,über die ich im Folgenden berichten möchte, so mas-siv waren, dass sie sich in derartigen Angstzuständenimmer wieder bis an den Rand des Selbstmordes ge-trieben fühlte.

Die Ängste bestanden bereits seit über 15 Jahren.Schon in der Kindheit litt die Patientin unter starkenÄngsten.Auch während einer 21/2-jährigen psychoanalytischenBehandlung besserten sich die Ängste nicht. Ebensovermochte eine hoch dosierte antidepressive Pharma-kotherapie (Trimipramin®, bis 100 mg, ein trizykli-sches Antidepressivum) der Patientin nicht zu helfen.Wenn man bei einer solchen Patientin, die unter einerderart chronifizierten und hochgradig therapieresis-tenten Angststörung leidet, innerhalb von drei Jahreneine tief greifende und nachhaltige Besserung des psy-chischen Zustandes erreichen konnte, dann scheintmir das Argument eines „homöopathisch begleitetenSpontanverlaufes“ etwas blass zu werden.

Erstanamnese im Juli 1999

„Das schlimmste sind diese Anfälle, ich fühle michdann auf einmal wie in einem Film, alles wird aufeinmal so irreal, es ist, als sei ich wie in einer ande-ren Welt. Ich habe dann auch das Gefühl, dass ichgar keinen richtigen Kontakt mehr zu meinemKind bekomme. Ich bin dann irgendwie innerlichwie abgeschaltet, ich komme mir vor wie ein Ro-boter, ich funktioniere einfach nur noch. Ich habedann immer das Gefühl, ich drehe gleich durch,ich schnappe gleich über. Herr Gerke, ich sage Ih-nen, das ist so schrecklich, am liebsten würde ichmich dann vom Balkon stürzen, nur damit dieserschreckliche Zustand endlich aufhört. Es kommtmir dann so vor, als ob alles besser sei, als diesenschrecklichen Zustand auch nur noch eine Sekun-de länger zu ertragen. Ich stand auch schon einpaar Mal wirklich auf dem Balkon, na ja, 5. Stock,das hätte schon gereicht. Das einzige, was michdann zurückhält ist wirklich, dass ich mir denke,das kann ich meinem Kind einfach nicht antun.“

Frau M. ist damals 38 Jahre alt, freundlich, geist-reich, attraktiv, gelegentlich blitzt eine Spur Selbst-ironie auf.

„Das kommt so alle paar Tage, wenn es ganz gutläuft, dann habe ich vielleicht einmal 14 Tage Ru-he. So ein Zustand geht dann über Stunden. Eskann auch vorkommen, dass ich in so einem Zu-stand ins Bett gehe, und am nächsten Morgen binich immer noch in diesem Zustand. Das kann biszu zwei, drei Tagen anhalten. Ich habe dann auchimmer wahnsinnige Panik, manchmal überkommtmich auch die blanke Wut, da muss ich manchmalrichtig würgen vor lauter Übelkeit. Diese Fremd-heitszustände sind ganz grauenerregend. Ich fangedann auch immer so an, über alles mögliche nach-zugrübeln, was ist der Sinn des Lebens, was ist derSinn, dass ich hier auf der Erde bin, dass es über-haupt Menschen gibt, dass das Stofftier auf demRegal ist, lauter so Zeugs geht mir dann durch denKopf. Ich bin dann auch richtig unzufrieden mitmir und der Welt, vor allem auch mit meiner Be-ziehung, ich finde dann die ganze Welt und dieMitmenschen einfach nur noch zum Kotzen. Ichentwickle dann einen Hass, ich würde am liebstenalles zertrümmern, würde am liebsten hier alle ab-knallen. Das würde ich natürlich nie tatsächlichtun.“

Schulmedizinische DiagnostikDie schulmedizinische Diagnose ist klar: die Sympto-matik erfüllt alle wesentlichen Kriterien einer Panik-störung (F 41.0 nach ICD 10). Ungewöhnlich ist aller-dings, dass die Panikattacken so lange anzuhalten schei-nen. Das von der Patientin geschilderte Entfrem-dungserleben ist oft eine Begleiterscheinung emotio-naler Extremzustände. Oft lässt sich so eine Sympto-matik durch Gabe eines Antidepressivums gut bes-sern. Dies bekam die Patientin auch schon seit länge-rem in hoher Dosierung, ohne Effekt. Auch die psy-choanalytische Behandlung hatte der Patientin bisherbezüglich ihrer Angstsymptomatik nicht sehr viel wei-ter helfen können.

Für das für die Patientin im Vordergrund stehendemassive Entfremdungserleben gibt es im Repertoriumeine ganze Fülle von Rubriken, die in der folgendenRepertorisation gezeigt werden.

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Psychiatrie

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Homöopathie KONKRET 791.08

Psychiatrie

Die Rauschdrogen Cann-i., Op. und Nux-m. sind hierwichtig, und natürlich auch die „Psychosemittel“Stram., Hyos. und Verat. Aber auch Med. und Staph.sind häufig in den Rubriken vertreten. Die wichtigsteFurcht der Patientin ist die Furcht, verrückt zu wer-den, die Kontrolle zu verlieren. Beide Symptome sindziemlich typisch für Angsterkrankungen, wenngleichdas ungewöhnlich stark ausgeprägte Entfremdungser-leben schon eine Besonderheit darstellt. Was aller-dings höchst ungewöhnlich für die Schilderung einerAngstsymptomatik ist, sind die Gedanken über denSinn des Lebens, was vor allem an Calc. und Sulph.denken lassen könnte. Wenn dann aber noch in einerReihe neben den großen Fragen der Menschheits- undPhilosophiegeschichte so etwas unterschiedslos undskurril anmutend die Frage aufgeworfen wird: „Wasist der Sinn, dass das Stofftier auf dem Regal ist“, dannerscheint das Ergebnis der folgenden, natürlich denk-bar unvollständigen Repertorisation gar nicht un-plausibel: ➔ Abb. 4

Mit 18 Jahren hat sie begonnen Haschisch zu rau-chen. Über Jahre hatte sie jeden Tag eine, sogarmehrere Pfeifen geraucht, bis sie dann vor 8 Jah-ren mit dem Haschisch ganz aufgehört hatte, weilsie den Eindruck hatte, dass es ihr nicht gut täte.Natürlich habe ich auch noch die weitere biografi-sche Anamnese erhoben. Die Ängste begannenübrigens schon während der Kindheit. Besondersist ihr eine Angst vor fremden Männern in Erinne-rung. Als 4-jähriges Kind hatte sie sich oft stun-denlang im Schrank versteckt, wenn beispielswei-se der Postbote erwartet wurde.Um die jetzige (1999) Situation der Patientin zuverstehen, ist es wichtig, dass sie sich von ihrem

Partner und Vater ihres Kindes wohl zu Rechtvöllig unzureichend unterstützt fühlt. C. ist ein gutaussehender, charmanter Südländer, aber nicht zu-letzt wegen seiner auch gegenwärtig gefrönten Lei-denschaft für Haschisch haarsträubend unzuver-lässig. Aus Sicht der Patientin ist sie „schlechterdran, als eine allein erziehende Mutter“, weil C.mit schöner Regelmäßigkeit Vereinbarungen ver-gisst, wenn es beispielsweise darum geht, sich ein-mal um die Tochter zu kümmern. Die Patientinhält also als quasi Alleinverdienerin die kleine Fa-milie materiell über Wasser, muss neben ihrer frei-beruflichen Tätigkeit auch noch die Aufsicht fürdie 3-jährige Tochter organisieren sowie ihre Ge-fühle ohnmächtiger Wut kontrollieren, wenn C.einmal mehr sich als sorg- und verantwortungs-loser Vater erwiesen hat.

Das würde natürlich auch an Mittel wie Staph.oder garAnac. denken lassen. Allerdings bestand die Angster-krankung ja bereits vor der Beziehung mit C.Natürlichist es nicht zu entscheiden, ob die Patientin ohne denmassiven Cannabisabusus nicht auch eine Angster-krankung entwickelt hätte.Nachdem die Symptomatikaber recht gut zum Arzneimittelbild von Cannabis in-dica passt, bin ich davon ausgegangen, dass sich bei derPatientin eine Cannabis-Krankheit entwickelt hatte.

Cannabis indica Q Potenzen, die Trimipraminbe-handlung wird vorerst mit 100 mg / Tag weitergeführt.

Weiterer Verlauf

November 1999Beginn mit Cann-i. Q 1. Die Patientin hat den Ein-druck, auf die Tropfen sehr stark zu reagieren. Cann-i.

Abb. 4: Repertorisation: „Panikstörung“ (Synthesis 9.1)

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Homöopathie KONKRET80 1.08

Psychiatrie

Abb. 5: Repertorisation: „Panikstörung“ vom April 2001 (Synthesis 9.1)

Q 2 folgte daraufhin aus dem 3. Glas, danach etwasruhigerer Verlauf.

Dezember 1999Die Antidepressiva werden von der Patientin abge-setzt, die psychotherapeutische Behandlung (bei einerKollegin) wird beendet. Wieder häufigere Panikatta-cken und Entfremdungsgefühle. Nachdem C. sie im-mer wieder durch sein verantwortungsloses Verhaltengegenüber der gemeinsamen Tochter enttäuscht, ent-schließt sich die Patientin, für ihre Tochter und sicheine eigene Wohnung zu suchen. Die Patientin hat fi-nanzielle Sorgen und hält die Aufgabe, eine ausrei-chende Aufsicht für die Tochter zu gewährleisten undin ihrem freien Beruf sehr wechselnde Dienstpläne zuhaben, für nahezu unlösbar. Die Trimipraminmedika-tion wird von der Patientin innerhalb von sechs Wo-chen von 100 mg / Tag auf 0 mg abgesetzt.13

Mai 2000Unter weiterer Behandlung mit Cann-i. Q-Potenzenist eine seit Jahren bestehende leichte Stressinkonti-nenz nicht mehr aufgetreten. Ebenso hat sie schon seitMonaten nicht mehr unter Atemnotgefühlen gelitten,die Schlafstörungen haben sich deutlich gebessert. Be-züglich der Angstsymptomatik nach wie vor wechsel-hafter Verlauf. In einer 3-wöchigen Einnahmepausekam es allerdings zu einer deutlichen Verschlechte-rung des psychischen Zustandes, so dass für die Pa-

tientin deutlich wird, Cann-i. ist eine wirksame Ver-schreibung für sie, trotz immer wieder auftretenderkrisenhafter Zuspitzungen bis hin zu Suizidgedanken.

November 2000Weiterhin Cann-i. Q-Potenzen, weiterhin sehr wech-selnder Verlauf. Die Patientin ist jetzt entschlossen,sich von C. zu trennen.

Dezember 2000Die Patientin bespricht mit der viereinhalbjährigenTochter, sich von C., ihrem Vater, zu trennen.

Januar 2001Weiterhin Cann-i. Q-Potenzen. Seit 1. Januar ist C.ausgezogen, 14 Tage später kommt es zu einer massi-ven Verschlechterung des psychischen Zustandes derPatientin, vorübergehend muss tageweise 25 mg Tri-mipramin® und auch Diacepam® bis 4 mg verordnetwerden, um akute suizidale Spitzen abzufangen.

April 2001Vor wenigen Tagen heftige Auseinandersetzung mitC. Sie hat ihm dabei ins Gesicht geschlagen. Sie leidetunter starker Übelkeit, denkt, sie muss „jeden Augen-blick loskotzen“, friert leicht, Durchfälle im Wechselmit Verstopfung. Nachdem der psychische Zustandder Patientin seit Anfang des Jahres unter Cann-i. Q-Potenzen nicht mehr befriedigend zu stabilisierenwar, entschließe ich mich zu einer neuen Verschrei-bung.➔ Abb. 5

Nux-v. Q-Potenzen

13 Die Patientin hatte die Reduktion eigenständig durchge-führt. Ich empfehle ein sehr viel vorsichtigeres Vorgehenmit „ausschleichendem“ Absetzen, nachdem psychischeStabilität erreicht werden konnte und in Zeiträumen vonmindestens 3–6 Monaten.

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Homöopathie KONKRET 811.08

Psychiatrie

Eine Woche späterGeht ganz gut mit der neuen Arznei.

Mai 2001Seit fünf Tagen ist die Arznei ausgegangen, seitdemgeht es deutlich schlechter.

Juni 2001Seit sie wieder regelmäßig die Tropfen nimmt, geht eswieder deutlich besser.

August 2001Starke Schwäche, immer übel, dachte, sie muss ster-ben, Kind wird ihr zuviel.

Sep. Q-Potenzen

Ende August 2001Fühlt sich entspannt und relativ ausgeglichen.

Oktober 2001Seit fünf Wochen keinen schlechten Tag mehr.

Januar 2002Geht gut mit Sepia.

Ende Februar 2002Seit zwei Wochen wieder „wie auf Trip“, wieder massi-ve Entfremdungsgefühle, vor drei Tagen zum erstenMal ein gutes Gespräch mit C. Bei jetzt im Vorder-grund stehendem Kummer und vorausgegangenerguter Wirkung von Sep., jetzt Entscheidung für einekomplementäre Arznei.

Nat-m. M und Nat-m. M als Schüttelpotenz14

Anfang März 2002Entfremdungsgefühle deutlich gebessert.

Mitte März 2002Extrem reizbar, Gefühl gleich überzuschnappen.Beurteilung: möglicherweise Prüfsymptomatik.

Nat-m. Pause, wenn wieder agg., dann Nat-m. Q-Potenz

Ende Mai 2002Wieder schlechter.

Anfang Juni 2002Unter Nat-m. Q-Potenz deutliche Besserung.

Juli 2002Wieder sehr reizbar, Neid, Eifersucht, Hass, Entfrem-dungserleben.Nachdem jetzt bei der Patientin wieder das Entfrem-dungserleben deutlich in den Vordergrund getretenist, kehre ich doch noch einmal zu Cann-i. zurück,nachdem ihr dieses Mittel in der Vergangenheit beidiesem Symptom deutlich geholfen hatte.

Cann-i. Q-Potenzen

August 2002Langsame Besserung und Stabilisierung.

Oktober 2002Weiter Besserung, aber immer noch starke Gefühlevon Wut, Trauer, Leid.

Die Patientin hatte bis Oktober 2003 weiterhin regel-mäßig Cann-i. Q-Potenzen eingenommen, was zu ei-ner langsamen, aber stetigen Verbesserung ihres psy-chischen Zustandes führte. Bei einer akut auftreten-den Blasenentzündung erwies sich Cann-i. dann lei-der nicht als wirksam. Die Patientin hatte sich dannbis November 2007 nicht mehr bei mir gemeldet. Dieakute Blasenentzündung war damals antibiotisch be-handelt worden. In der Zwischenzeit war ihr psychi-sches Befinden, auch ohne weitere homöopathischeBehandlung (und ohne neuen Partner), weitgehendstabil geblieben. Rückblickend war es im Juli 2002zum letzten Mal zu starkem Entfremdungserleben ge-kommen.

14 Damals experimentierte ich, ähnlich wie das von A. Geukens und C. Càmpora (ZKH 2/2007, S. 52) beschrieben wird, mit häufigenWiederholungen von verschüttelten Hochpotenzen. Ich bin davon wieder abgekommen, nachdem ich bei meinen Patienten keinedeutlich besseren Wirkungen gesehen habe, als beispielsweise von der Kombination einer einmaligen Gabe einer Hochpotenz mitunmittelbar anschließender Gabe einer Q-Potenz. Dagegen war es für mich schwierig, wenn bei den wiederholten Gaben derSchüttelpotenz die erhoffte „Wunderheilung“ ausblieb, Symptome der Krankheit von einer immerhin möglichen Arzneimittelprü-fung zu differenzieren. Gemäß dem Prinzip „primum nihil nocere“ – vor allem nicht schaden – bin ich deswegen von der Anwen-dung häufig wiederholter Hochpotenzen wieder abgekommen.

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Homöopathie KONKRET82 1.08

Psychiatrie

Diskussion

Ich habe die Behandlung einer mittlerweile 46-jäh-rigen Patientin geschildert, die seit 15 Jahren unterschweren Angstzuständen mit starkem Entfremdungs-erleben gelitten hatte. Trotz zweieinhalbjähriger tie-fenpsychologisch orientierter Psychotherapie bei einererfahrenen Kollegin und trotz antidepressiver Behand-lung war es nicht gelungen, den psychischen Zustandder Patientin befriedigend zu stabilisieren. Neben denAkutsymptomen der Angstzustände war auch die An-amnese eines über viele Jahre betriebenen, massivenCannabis-indica-Abusus wegweisend für die Ver-schreibung von potenziertem Cannabis indica. Nach-dem sich Cannabis indica über 11⁄2 Jahre immer wie-der als wirksame Verschreibung herausgestellt hatte, esdann aber unter gleicher Medikation zu einer anhal-tenden Verschlechterung der Symptomatik kam15,musste das Arzneimittel gewechselt werden. Nux vo-mica und Natrium muriaticum erweisen sich jeweilsals nur kurzfristig wirksame Verschreibungen. Übermehrere Monate konnte Sepia mit gutem Erfolg gege-ben werden. Dann verlangte die Symptomatik der Pa-tientin jedoch eine erneute Verordnung von Cannabisindica.Die Entwicklung der akuten Blasenentzündunghätte möglicherweise wieder einen Wechsel zu Sepiaindiziert.Nachdem die Patientin die Behandlung dannaber für einige Jahre unterbrochen hatte, war diese Hy-pothese nicht mehr zu prüfen. Interessant ist, dass dieantibiotische Behandlung bei der ansonsten sehr sen-sibel reagierenden Patientin offenbar ohne gravieren-de negative Folgen für die Psyche toleriert werdenkonnte.

Ein aktuell (Dezember 2007 – Januar 2008) vorliegen-der Zustand von starker Reizbarkeit verbunden mitstarker Erschöpfung, ist derzeit mit Nux vomica gut zubessern.

Nachdem ich vorher zwei Patienten dargestellt habe,bei denen eine befriedigende Stabilisierung des psy-

chischen Zustandes innerhalb weniger Monate gelun-gen war, stellt sich bei dieser Patientin natürlich dieFrage, warum es hier fast drei Jahre gedauert hat, biseine gewisse psychische Stabilität erreicht werdenkonnte.

Ich meine, der wichtigste Grund bestand zunächst, indem von Vithoulkas so genannten „Husband-Syn-drom“. Es ist sicher eine der schwierigsten Entschei-dungen, die auf einen Menschen zukommen können,sich von dem Partner zu trennen, mit dem einen eingemeinsames Kind verbindet.Der zu Recht nicht ganz unumstrittene Bert Hellingerspricht in solchen Zusammenhängen auch mahnendvon den Kosten der „leichtfertigen Trennung“.16

Andererseits betont Hahnemann in einer für seineVerhältnisse ungewohnt bildhaften Ausdrucksweisedie Gefahren einer „unglücklichen Ehe“.17

Die Patientin hing sehr an ihrem Partner. Dessen no-torische Unzuverlässigkeit machten ihn für sie, dieschon wegen der Erziehung der gemeinsamen Toch-ter auf einen zuverlässigen Partner angewiesen war,als Partner ungeeignet. Dies umso mehr, als sie sel-ber aufgrund ihres ausgeprägten Verantwortungsbe-wusstseins eher wenig Begabung für einen lässigenUmgang mit den Erziehungsverpflichtungen mit-bringt. Nachdem etliche Versuche, mit dem Partnereine Art „Minimalkonsens“ auszuhandeln, geschei-tert waren, muss die Beziehung also als das gesehenwerden, was Hahnemann eine „unglückliche Ehe“nennt. Trotz allem hätte die Patientin wahrscheinlichnoch über viele Jahre an der Beziehung festgehalten,wenn sie durch die Symptomatik nicht so massivdarauf hingewiesen worden wäre, dass etwas ganzEntscheidendes in ihrem Leben noch nicht stimmt.In dieser Situation auf eine tief greifende Besserungdurch ein homöopathisches Arzneimittel zu hoffen,ist analog dem bekannten Histörchen zu sehen:Kommt ein Patient zum Homöopathen: „Ich habe sol-che Schmerzen im Rektum.“ Homöopath verschreibtNit-ac., nichts passiert. Patient geht zum nächsten

15 Auch nach vorübergehendem Absetzen der Cannabis-indica-Medikation, um eine „Spätverschlechterung“ laut Organon § 248auszuschließen.

16 „Wenn sich ein Partner leichtfertig trennt, im Sinne von: ‚Ich mache das jetzt zu meiner Selbstverwirklichung, und was mit euchist, das ist euere Sache, das geht mich nichts an’, dann bringt sich häufig ein Kind um. Die leichtfertige Trennung wird erlebt wieein Kapitalverbrechen, für das dann einer sühnen muss.“ (B. Hellinger: Ordnungen der Liebe; Carl Auer 2000 S. 165)

17 „. . . mit weit weniger Beeinträchtigung der Gesundheit kann der unschuldige Mensch 10 Jahre in der Bastille oder auf der Galee-re körperlich qualvoll verleben, als etliche Monate, bei aller körperlichen Bequemlichkeit, in einer unglücklichen Ehe oder mit ei-nem nagenden Gewissen.“ (Hahnemann: Chronische Krankheiten)

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Psychiatrie

Homöopathen, der verschreibt Aesculus, wieder nichts,dann geht er zum dritten Homöopathen, der schaut sichdie Sache an, findet den Splitter, entfernt ihn, Patientgeheilt.18

Mit anderen Worten: es gibt mechanische Heilungs-hindernisse, es gibt aber auch psychische Heilungshin-dernisse. Eine „unglückliche Ehe“ zählt dazu.Wenn eine „schicksalhafte Beziehung“ getrennt wird,dann muss man nach meiner Erfahrung (und nach derErfahrung des Volksmundes) noch ein Jahr lang miteiner deutlich vermehrten psychischen Belastungrechnen. Solange darf es schon dauern, bis die Zeit dieWunden heilt.Genau dieser Verlauf lässt sich auch bei der Patientinbeobachten. Nachdem sie sich im Dezember 2000 vonihrem Partner getrennt hatte, kam es dann ab Mitte2001 insgesamt zu einer gewissen Beruhigung derSymptomatik, nicht ohne heftige Krisen, meistens imZusammenhang mit erneuten Begegnungen mit demEx-Partner. Durch das gemeinsame Kind waren sol-che Begegnungen fast unvermeidlich.Weitere Gründe dafür, dass die Behandlung bei dieserPatientin so einen langen Verlauf nahm, ist natürlichdie schon jahrelange Chronifizierung der Beschwer-den.Bei psychischen Symptomen kann man sich das mitHilfe eines Modelles erklären, das mein Kollege N.Hock und ich in Anlehnung an die neurophysiologi-schen Phänomene von Bahnung und Kindling als„endomorphe Reaktion“ formuliert haben19. Angst-gefühle und Entfremdungserleben sind von dem Ge-hirn der Patientin über Jahrzehnte gelernt, die ent-sprechenden synaptischen Verbindungen in den neu-ronalen Netzwerken des limbischen Systems dürften„breit“ gebahnt sein. Das Angst- und Entfremdungs-erleben wird also wie eine psychische „Achillesferse“für das Gehirn bei jeglicher Art von Stress abrufbar.Man fühlt sich wie auf einem „Horrortrip“, obwohlder letzte Drogenkonsum schon Jahre zurücklag, ein-fach weil das Gehirn inzwischen „Horrortrip“ gelernthat.

Ich habe diese Behandlungsverläufe geschildert um zuzeigen, welch komplexe Betrachtungen im Einzelfall

angestellt werden müssen, um die Wirksamkeit einerhomöopathischen Behandlung richtig zu beurteilen.Dies gilt auch dann, wenn sich Erfolge erfreulich rascheinstellen (im Falle des Patienten mit der Flugangst hatdas energische eigene Training des Patienten mindes-tens einen genauso maßgeblichen Anteil an der ra-schen Besserung der Symptomatik wie die homöopa-thische Verschreibung).Im Falle der zweiten Patientin war eine Besserung derSymptomatik aufgrund des bisher beobachteten „na-türlichen“ Krankheitsverlaufes zu erwarten.Dass sich eine komplexe Betrachtung lohnt, hoffe ichaber gerade auch mit der Schilderung der Behandlungder letzten Patientin gezeigt zu haben, wenn also derVerlauf einen mehr als einmal an der Richtigkeit derverordneten Verschreibung zweifeln lässt. Bei einergenauen Betrachtung wird dann oft genug deutlich,dass eben trotz wirksamer Verschreibungen mehr imMoment nicht „drin“ ist. In einer solchen Situationder Versuchung zu erliegen, hektisch die Mittel zuwechseln, heißt, ein wirksames Mittel zu verlassenund zu riskieren, das Leiden der Patienten durch we-niger wirksame Verschreibungen unnötig in die Län-ge zu ziehen.Mit anderen Worten: Bei (durch Heilungshindernisseund Chronifizierung) verkomplizierten homöopathi-schen Behandlungen psychischer Störungen ist es im-mer lohnend, genau hinzuschauen, auch wenn der Pa-tient nicht von eindrucksvollen Besserungen berich-tet. Eine genaue Analyse wird häufig erweisen, dass diegetroffene Verschreibung gar nicht so schlecht war.Solange ein besseres Mittel sich nicht überzeugendzeigt, ist man häufig besser beraten, bei dem „altenMittel“ zu bleiben – vor allem wenn wichtige verblie-bene Symptome dieses Mittel noch indizieren.

Dr. med. Stephan GerkeArzt für Psychiatrie, Psychotherapie und HomöopathieKillerstraße 282166 Gräfelfing

[email protected]

18 Leider weiß ich nicht mehr, wo ich die Geschichte gelesen habe, wahrscheinlich bei André Saine.19 Quak/Geisler: Leitfaden Homöopathie, Elsevier Verlag München