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Alltagsleben im 19. Jahrhundert 138 Zwischen 1803 und 1850 stieg die Zahl der Aargauer Bevölkerung von 130000 um 53 Prozent auf 200000 Personen an. Diese Zu wach rate lag ein Drittel über dem schweizeri chen Durchschnitt und wurde von keinem anderen Kanton erreicht. Ab- solut ge ehen, hatte der Aargau die Waadt um die Jahrhundertmitte knapp überholt und befand sich bevölkerungsmässig hin- ter den Kantonen Bern und Zürich an drit- ter Stelle. Die Wachstumskurve begann allerdings schon vor 1850 abzuflachen. Der Aargau war zwar bereits stark indu- striali iert, aber die Erwerbsgrundlage von Landwirtschaft und Industrie reichte nicht, um die tark wachsende Bevölke- rung zu ernähren. Obwohl die Geburten- ziffern zurückgingen, fanden viele Aar- gauer kein Auskommen in ihrem Kanton. Der Wunsch, die Geburtenzahlen zu senken, bestand durchaus, liess sich aber schwer realisieren. Wirksame empfängni - verhütende Mittel existierten nicht, und auf Abtreibung standen schwere Strafen. Als ein indirektes Mittel zur Geburten- regelung diente die Massnahme der Ge- meinden, Eheschliessungen durch mate- rielle und rechtliche Vorbedingungen zu erschweren. Ehefrau und Kinder eines aargauischen Ortsbürgers erhielten das Bürgerrecht des Gatten und Vaters und hatten somit Anspruch auf Unterstützung bei Verarmung und auf die utzniessung des Gemeindevermögens. Deswegen be- mühten sich die Gemeinden, alle Perso- nen, die ihnen einmal zur Last fallen konnten, möglichst vom Bürgerrecht fern- zuhalten oder sie eine beträchtliche Ein- kaufssumme bezahlen zu lassen. ichtaar- gauische heiratswillige Frauen hatten um 1830 etwa das dreifache Jahreseinkommen einer erwach enen Fabrikarbeiterin in die Ehe mitzubringen. Aargauerinnen, die nicht aus dem gleichen Ort stammten wie der Bräutigam, mussten zugunsten de Schul- und Armenfond ein «Weiberein- zug geld» bezahlen, das die Höhe eines Fabrikjahresverdiensts erreichen konnte. Auch der Bräutigam entrichtete für den Schulfonds ein Heiratsgeld. Erst die revi- dierte Bundesverfassung von 1874 hob diese materiellen Ehehindernisse auf. Als Folge der einschränkenden Hei- ratspolitik stieg das durch chnittliche Hei- ratsalter auf zeitweise über dreissig Jahre an. Der Anteil der Ledigen nahm stark zu. Um 1860 blieben jeder sechste Mann und jede fünfte Frau unverheiratet. Mit dem hohen Heirat alter der Frau sank die Zahl von über vier Kindern pro Familie in der cf:>lcl1 Jalll hUIH.1cllhalftc auf uun:h:>chl1iu- lich dreieinhalb gegen Ende de Jahrhun- derts. Dafür stieg der Anteil unehelicher Geburten frappant. Zwischen 1850 und 1870 kamen auf 100 eheliche über 7 unehe- liche Geburten. Häufig heiratete ein Paar erst, wenn ein Kind «unterwegs» war. Um 1850 dürfte über die Hälfte aller aargaui- schen Bräute bei ihrer Hochzeit schwan- ger gewe en sein. Kleinräumigkeit und Ohnmacht Das Leben im Aargau des 19. Jahrhun- derts spielte sich wie zuvor vorwiegend im lokalen Rahmen ab. Wer nicht aus- wanderte, kam selten aus der Region her- aus. Heiraten ergaben sich meist zwischen Angehörigen derselben Gemeinde. Vom Tagesgeschehen wusste man lange Zeit nicht be onders viel und wenn, dann mei- stens aus dritter Hand. Selb t um die Jahrhundertmitte waren Zeitungen wenig verbreitet. Wollten Geistliche auf dem Land verstanden werden, mussten sie in

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Alltagslebenim 19. Jahrhundert

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Zwischen 1803 und 1850 stieg die Zahl derAargauer Bevölkerung von 130000 um53 Prozent auf 200000 Personen an. DieseZuwach rate lag ein Drittel über demschweizeri chen Durchschnitt und wurdevon keinem anderen Kanton erreicht. Ab­solut ge ehen, hatte der Aargau die Waadtum die Jahrhundertmitte knapp überholtund befand sich bevölkerungsmässig hin­ter den Kantonen Bern und Zürich an drit­ter Stelle. Die Wachstumskurve begannallerdings schon vor 1850 abzuflachen.Der Aargau war zwar bereits stark indu­striali iert, aber die Erwerbsgrundlage vonLandwirtschaft und Industrie reichtenicht, um die tark wachsende Bevölke­rung zu ernähren. Obwohl die Geburten­ziffern zurückgingen, fanden viele Aar­gauer kein Auskommen in ihrem Kanton.

Der Wunsch, die Geburtenzahlen zusenken, bestand durchaus, liess sich aberschwer realisieren. Wirksame empfängni ­verhütende Mittel existierten nicht, undauf Abtreibung standen schwere Strafen.Als ein indirektes Mittel zur Geburten­regelung diente die Massnahme der Ge­meinden, Eheschliessungen durch mate­rielle und rechtliche Vorbedingungen zuerschweren. Ehefrau und Kinder einesaargauischen Ortsbürgers erhielten dasBürgerrecht des Gatten und Vaters undhatten somit Anspruch auf Unterstützungbei Verarmung und auf die utzniessungdes Gemeindevermögens. Deswegen be­mühten sich die Gemeinden, alle Perso­nen, die ihnen einmal zur Last fallenkonnten, möglichst vom Bürgerrecht fern­zuhalten oder sie eine beträchtliche Ein­kaufssumme bezahlen zu lassen. ichtaar­gauische heiratswillige Frauen hatten um1830 etwa das dreifache Jahreseinkommeneiner erwach enen Fabrikarbeiterin in dieEhe mitzubringen. Aargauerinnen, dienicht aus dem gleichen Ort stammten wie

der Bräutigam, mussten zugunsten deSchul- und Armenfond ein «Weiberein­zug geld» bezahlen, das die Höhe einesFabrikjahresverdiensts erreichen konnte.Auch der Bräutigam entrichtete für denSchulfonds ein Heiratsgeld. Erst die revi­dierte Bundesverfassung von 1874 hobdiese materiellen Ehehindernisse auf.

Als Folge der einschränkenden Hei­ratspolitik stieg das durch chnittliche Hei­ratsalter auf zeitweise über dreissig Jahrean. Der Anteil der Ledigen nahm stark zu.Um 1860 blieben jeder sechste Mann undjede fünfte Frau unverheiratet. Mit demhohen Heirat alter der Frau sank die Zahlvon über vier Kindern pro Familie in dercf:>lcl1 Jalll hUIH.1cllhalftc auf uun:h:>chl1iu­lich dreieinhalb gegen Ende de Jahrhun­derts. Dafür stieg der Anteil unehelicherGeburten frappant. Zwischen 1850 und1870 kamen auf 100 eheliche über 7 unehe­liche Geburten. Häufig heiratete ein Paarerst, wenn ein Kind «unterwegs» war. Um1850 dürfte über die Hälfte aller aargaui­schen Bräute bei ihrer Hochzeit schwan­ger gewe en sein.

Kleinräumigkeit undOhnmacht

Das Leben im Aargau des 19. Jahrhun­derts spielte sich wie zuvor vorwiegendim lokalen Rahmen ab. Wer nicht aus­wanderte, kam selten aus der Region her­aus. Heiraten ergaben sich meist zwischenAngehörigen derselben Gemeinde. VomTagesgeschehen wusste man lange Zeitnicht be onders viel und wenn, dann mei­stens aus dritter Hand. Selb t um dieJahrhundertmitte waren Zeitungen wenigverbreitet. Wollten Geistliche auf demLand verstanden werden, mussten sie in

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0-19 20-59Jahre Jahre

Abb. /3/Ein Beispiel müh amenFrauenalltag um etwa 1890:Wa chtag auf dem «Inseli» inRheinfelden.

Abb. /32Altersverteilung der Bevölke­rung 1860 und 1988. Könntesich der Aargauer der Gegen­wart um hundert oder mehrJahre in die Vergangenheitzurückver etzen lassen, wür­de ihm eine ehr junge Gesell­schaft auffallen. Da hohe undweiterhin teigende Durch­schnitt alter der AargauerBevölkerung unterscheidetda au gehende 20. wesentlichvom 19. Jahrhundert.

Mundart predigen. Nach 1850 bessertenich die Verhältnis e. Die Verbreitung

von Zeitungen nahm zu Bibliothekenwurden gegründet, und der Besuch höhe­rer Schulen (Sekundar-, Bezirks-, Kan­ton schule) stieg. och in den achtzigerJahren erlangten allerdings jährlich blossetwa dreissig junge Männer einen MitteI­schulabschluss. Frauen besassen durch­schnittlich eine ebenso gute Volksschulbil­dung wie Männer. Dagegen blieb ihnender Zugang zu weiterer Ausbildung er­schwert. Die Männergesellschaft empfandeinen höheren oder gar akademischen Ab­schluss für Frauen schlicht als unnötigund unweiblich.

Die Menschen waren den Jahreszei­ten nach wie vor ausgeliefert. Im Winterver chieden mehr Menschen als im Som­mer, im März fast 50 Prozent mehr als imOktober. Die Leute starben nicht wie heu­te an Kreislauferkrankungen, Alters­schwäche und Unfällen, ondern in ersterLinie an akuten, damal unheilbarenKrankheiten, selbst wenn keine Seuchen

132

10

60

50

40

30

20

10

Prozent

52

39

25

D 1860

über 60Jahre

1988

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Ourchschnillliche Einkommen in den 1850er Jahren in Franken:

im eigentlichen Sinn mehr vorkamen. Sehrhäufig und gefährlich waren insbesondereErkrankungen der Atemwege (Lungenent­zündung, Bronchitis, Tuberkulose). Auch}(jnderkrankheiten wie Scharlach oderDiphtherie waren lebensbedrohend. Diebereits hohe Säuglingssterblichkeit stiegbis in die achtziger Jahre weiter an undgalt als naturgegeben. 1870 kam jede vier­te aargaui che }(jnd tot zur Welt oderstarb in einem er ten Leben jahr. Die er­sten Leben monate waren vor allem we­gen der falschen Ernährung mit Kuh- undZiegenmilch die gefährlichsten. Bis gegendie Jahrhundertmitte machten die Leuteunter 20 Jahren die Hälfte aller Einwoh­ner aus. Danach gewannen die 20-60jäh­rigen eine knappe Mehrheit. Keine zehnProzent waren über 60 Jahre alt. Bedingtdurch die hohe Säuglings terblichkeit lagdie Lebenserwartung noch um 1860 unterfünfzig Jahren.

Höherer Bankangesleiller

Kilo-(Liler-IPreis für wichligeNahrungsmillel in Rappenum 1850:

gen bei Preisen und Löhnen erlauben, galtim 19. Jahrhundert fast uneingeschränktdas Prinzip von Angebot und Nachfrage.

Nach 1850 stiegen zwar die Löhne,bis 1885 je nach Beruf und Region um25-50 Prozent, doch die Kaufkraft nahmwegen der Teuerung wenig zu. Um 1873versteuerten 35 Prozent der Steuerpflichti­gen weniger al 300 Franken jährlichesEinkommen, in gesamt 80 Prozent weni­ger als 800 Franken.

Selb t bei bescheidensten Ansprü­chen mu sten Frauen und }(jnder in einerFamilie meisten mitverdienen, sei e inder Landwirt chaft, der Heimindustrieoder der Fabrik. Selbst dann war das An­legen von Er parnissen kaum möglich.Kurzfristig stark teigende Preise, schlech­te Ernten oder sinkende Löhne genügtenchon, um zahlreiche Menschen unterstüt­

zungsbedürftig werden zu lassen.Gesamthaft nahm das Armenelend

zwischen 1820 und 1860 deutlich, nach1845 sogar explosiv zu. In den Notjahrenum 1850 waren Brot und Kartoffeln Man­gelware. Rübenbrei mu ste die hungrigenMäuler stopfen. Um 1855 waren überzwölf Prozent der Gesamtbevölkerung un­terstützung bedürftig, 1890 immer nochfünf Prozent. Um 1870 galt minde tenj t:<.1er runne mannli he E wC:\(;h eneals sehr arm. Mehr als die Hälfte allerSteuerpflichtigen be ass 1873 weniger als2000 Franken Vermögen.

Die Einkommens- und Vermögensun­terschiede zwischen Armen und Reichenwaren ausserordentlich gross, wenn auchkleiner al im ausgehenden 20. Jahrhun­dert. Die Kluft vergrösserte sich innerhalbder vier indu triereichsten Bezirke Aarau,Zofingen, Lenzburg und Baden gegenüberLaufenburg, Zurzach und Muri. Auf demLand lebten weniger Reiche als in derStadt. Trotzdem verzeichnete der Aargauim 19. Jahrhundert gesamthaft wenigerWohlhabende als andere Kantone. Geldund Grundbesitz waren breiter gestreut alsheutzutage. Um 1850 besass immerhin je­der sechste Einwohner - }(jnder einge­rechnet - ein Stück Land.

12.70

4.00 - 6.00

2.20 - 2.50

pro Jahr pro Tag

3800

650- 750

1200 -1800

Löhne und Besitz ­Armut und ReichtumSystematische Angaben über die Löhnever chiedener Berufsgruppen existierenfür da 19. Jahrhundert nicht. Zudem istder Dnrlohn hilufig ni ht 5chl'l:IU1>51:1gckJar­

tig, da bis ins 20. Jahrhundert hinein vieleArbeitsleistungen nicht ausschliesslich mitGeld, sondern teilweise mit Naturalien,Dienstleistungen oder Nutzungsrechtenentschädigt wurden. Für einen Vergleicherschwerend wirken ferner rie ige, auchkurzzeitige und regionale Prei - undLohnunterschiede. Während heute Ab­sprachen und taatliche Kontrollrnassnah­men keine beliebig grossen Schwankun-

3240

40-7080

140-160140 -160

4-610

Vorarbeiter

Landammann

BrmReisRindfleischZuckerBUllerKaffeeKanoffelnMilch

133

Bauernfamilie (3 Hektarenl 550 - 600 1.80 - 2.00

Primarlehrer

Fabrikarbeiter

400 - 600

400 - 450

1.30 - 2.00

1.30 - 1.50 Täglich Kartoffeln

134'-- -'

Abwan link!. freie Wohnungl

Kind in Fabrik

Frauen verdienten rund ein Drillei weniger als Männer

300

100- 150

1.00

0.35 - 0.501875 verschlangen ahrungsmittel undKleidung drei Viertel des Haushaltsbud­gets einer Arbeiterfamilie (1988 nur nochein Fünftel). Daher ist die Redensart «sa-

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Abb. /35Wochenmarkt in Lenzburgum 1900. Angesichts des oftbescheidenen Sortiments inden Lebensmittelläden hatteder Markt für Stadtbewohnereinen hohen Stellenwert.

Abb.136Das «Birischloss» in Vill­mergen mit seinen sämtlichen25 Bewohnern, Ende 19. Jahr­hundert. Das Foto vermittelteinen Eindruck der damalssehr bescheidenen und engenWohnverhältnisse. Auffallendsind die wenigen und kleinenFensteröffnungen. Im erstenStockwerk - hier nicht sicht­bar - gab es sogar nur winzigeSchiebefenster.

ge mir, was du isst, und ich sage dir, werdu bist» für das 19. Jahrhundert nicht vonder Hand zu weisen. Hauptbestandteilaller Mahlzeiten bei der Mehrzahl allerLeute waren Kartoffeln (gebraten, in einerWassersuppe gesotten oder als Brei) undZichorienkaffee mit gekaufter Kuhmilchoder Milch der eigenen Ziege. Brot warteuer und wurde sparsam genossen. Dörr­obst oder Gemüse aus dem eigenen Gar­ten brachten etwas Abwechslung in denmeist monotonen Speisezettel. Fleisch,Eier und Butter kamen bloss an seltenenFesttagen auf den Tisch.

Ernährung und körperliche Konstitu­tion stehen zweifelsohne in einem engenZusammenhang. Um 1870 waren nur20 Prozent der Aargauer Rekruten grösserals 170 Zentimeter. Über 40 Prozent der

erstmals Einrückenden wurden aus ge­sundheitlichen Gründen ausgemustert. DieDurchschnittsgrösse der Männer in den1880er Jahren betrug 163, hundert Jahrespäter dagegen 175 Zentimeter. Die heuteals sehr niedrig empfundenen alten Bau­ernstuben und Eingänge zu Bauernhäu­sern waren ihrer Zeit durchaus angepasst.

Wenn in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts auch viele schlecht er­nährt waren, brauchte doch niemand mehrzu verhungern. Der Speisezettel erweitertesich langsam. Reis wurde nach 1850 zuse­hends zum alltäglichen Nahrungsmittel,eben 0 andere Importartikel wie Kaffeeund Zucker. Nach 1860 kamen Nahrungs­mittelextrakte auf (Nestle, Maggi). Bieravancierte erst seit den 1870er Jahren, we­sentlich bedingt durch die stark wachsen­de Brauerei-Industrie, zum Volksgetränk.1891 zählte man im Aargau nicht wenigerals 46 Bierbrauereien. Mit dem Auf­schwung der aargauischen Tabakindustriestieg der Anteil der Raucher in der zweitenJahrhunderthälfte stark an.

Ähnlich bescheiden wie die Ernäh­rung waren die Wohnverhältnisse. Die bisheute erhaltenen, hablichen Bauernhäusersind rare Einzelfälle und dürfen nicht dar­über hinwegtäuschen, dass um die Jahr­hunderlwende dreimal weniger W hn­raum pro Person zur Verfügung stand alsheute. Einfache kleine Häuser waren dieRegel. Sie wiesen in der Stadt nicht mehrals zwei oder drei Stockwerke und einenbescheidenen Grundriss von 6 mal 12-15Metern auf. Die Platzverhältnisse auf demLand waren noch knapper, die Häuserpräsentierten sich ärmlicher und müssenteilweise als Hütten bezeichnet werden.Nur ausnahmsweise besass jedes Fami­lienmitglied ein eigenes Zimmer. Beson­ders die armen Leute wohnten auf sehrengem Raum. Bauernknechte und Taglöh­ner schJiefen nicht selten im Heu.

136141

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Abb.IJBeerdigung in Wegenstettenaus dem Jahr 1900. achdamaliger Mode trugen dieMänner Bärte. Im Hinter­grund sind zwei mittlerweilelängst verschwundene Stroh­dachhäu er zu sehen.

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Kleidung nach Regionen

Bis ins 19. Jahrhundert war die Herkunftsgegend vieler Aargauer aufgrund ihrerKleidung erschliessbar. Der Kantonsbibliothekar und Staatsarchivar Franz XaverBronner beschrieb dies 1844 wie folgt: «Ein kräftiger Menschenschlag bewohntdie alte Grafschaft Baden und die freien Aemter [ ...]. Die Volkstracht in diesenGegenden ist offenbar bunter als die in dem ehemaligen Berner-Gebiethe. Manschreibt diese Liebhaberei den Gemälden und Zierrathen der Kirchen zu. [ ...) Dermännliche Anzug, der ehemals grösstentheils aus Zwilch verfertigt ward, bestehtjetzt gewöhnlich aus gemeinen farbigen Wollentüchern und Halbtüchern. Dieeinst kurzen Hosen wurden seit der Revolution mit langen vertauscht; über dieseund das Hemd legt der junge Mann ein buntes Leibchen an, die Alten trugenlieber ein scharlachrothes. Das weibliche Geschlecht trägt Jüppen, die aus Rockund Leib tück bestehen. Die untere Hälfte des Rockes, der nur bis an die Wadenreicht, ist aus dichten senkrechten Falten, der obere Theil desselben aus nächernFalten von anderm Zeuge zusammen gefügt. [ ...) Hausfrauen bedecken dasHaupt mit Hauben und hüllen den Hals in Tücher, den Oberleib in Tschopen vonTuch ein. [ ...) Die Tracht [der Fricktaler), schlicht und einfach, nähert sich derKleidung der Schwarzwälder, denen das Frickthal mehrere hundert Jahre beige­zählt wurde. Zwilch und gröberes Wollentuch macht den Stoff aus. Die ehrbarenMänner zeichnen sich durch lange Kamisöler, meistens von dunkelroter Farbe,die Weiber durch Bandmaschen auf ihren Hauben über der Stirn aus. Auf derBrust jedes Mädchens hängt ein Heiligthum in Silber gefasst. Buntfärbig sind ihreKleider.»

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Abb.138Bevölkerungsentwicklung1850-1900. Der vor allem aus­wanderung bedingte Bevölke­rungsrückgang nach 1850 warbeträchtlich. Um 1888 wies derAargau als einziger SchweizerKanton weniger Einwohnerauf al um die Jahrhundert­mitte. Um 1900 betrug eineBevölkerung~zahl206000 Per­sonen und war damit lediglich3,3 Prozent höher als fünfzigJahre zuvor. Dabei fallen dieregionalen Unterschiede auf.Der Bevölkerungsschwundzeigt ich verstärkt in land­wirtschaftlich geprägtenRegionen. Zum Vergleich: Inder ganzen Schweiz betrug derBevölkerungszuwachs in derzweiten Jahrhunderthälfte39 Prozent (Kanton Zürich 72,

euenburg 79, Genf 107, Ba­sel-Stadt 278).

Flucht aus der ArmutDer Bevölkerung, die kein Auskommenmehr fand, blieb oft nur die Auswande­rung. Im Gegensatz zur heutigen Situationwar der Kanton Aargau im 19. Jahrhun­dert ein ausgesprochenes Auswande­rungsland. Dies traf zwar für die ganzeSchweiz zu, doch kehrten die aargaui­schen «Wirtschaftsflüchtlinge» ihrer Hei­mat in weit überdurchschnittlicher Zahlden Rücken. In der grossen Auswande­rungsweIle der 1850er Jahre betrug derAnteil der Aargauer an allen SchweizerEmigranten 20 Prozent, in den achtzigerJahren 10 Prozent, womit die Auswande­rungsquote immer noch um ein Drittel hö­her lag als in anderen Kantonen.

Wohin wandten sich nun jene, dieihre Heimat endgültig verliessen? Ein Teil

D 0,1-20%

D 21-40%

• mehr als 40 %

Bevö Ikerungsschwu nd

D 0-20%

D 21-40%

D

al 1870-1900b} 1880-1900cl 1888-1900

138

siedelte sich in industriereichen Gebietender Schweiz an, in erster Linie in den Städ­ten Zürich und Basel, die am ehesten Ar­beit garantierten. 1888 wohnten in derStadt Zürich mehr Aargauer als in Aarau,der um diese Zeit grössten Stadt des Kan­tons. Bereits 1860 lebten mehr Aargauerausserhalb ihres Heimatkantons als Nicht­aargauer im Aargau. Auch innerhalb desKantons äusserte sich diese Landflucht.Die Bevölkerungszahl der Städte nahmhier selbst in der Zeit des Bevölkerungs­rückgangs zwischen 1850 und 1890 zu.Diese Tendenz verstärkte sich in den fol­genden Jahren noch.

Zwischen 1850 und 1860 verliessenzwei von drei abwandernden Aargauernnicht nur ihren Kanton, sondern sogar deneuropäischen Kontinent. In Europa exi­stierten weder fast unbewohnte Gebiete

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Aargauische Auswanderungs­weIlen: 1816 kehrten rund3000 Personen dem AargauRichtung ordamerika denRücken, was etwa 2,5 Prozentder gesamten Kantonsbeväl­kerung entsprach, 1851-18558000 Per onen (4 Prozent) und1880-18854900 Personen(2,5 Prozent).

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noch verheissungsvolle grosse Industrie­zentren, die Arbeitskräfte benötigten. Inerster Linie lockte der Mittlere WestenNordamerikas, wo grosse Landreservenbestanden. Zudem unterschieden sich diedortigen politischen Verhältnisse nichtgrundlegend von den schweizerischen.Auch zwischen 1860 und 1870 und zwi­schen 1880 und 1890 zogen über 40 Pro­zent der Aargauer Auswanderer nachÜbersee. Wohl wanderten das ganze Jahr­hundert Aargauer aus, die meisten aller­dings in einer von drei grossen Wellen.

Die Ursachen waren jedesmal wirt­schaftlicher Natur. Nachdem im Sommer1816 auf das geschnittene Emd Schnee ge­fallen war, die Kornernte erst im Augustbegann, die Kartoffeln wegen der na skal­ten Witterung verfaulten und das Futtergrau wurde, führte die Lebensmittel­knappheit zu steigenden Preisen und da­mit zur letzten grossen Hungersnot imAargau. 1817 starb ein Viertel mehr Men­schen als in normalen Jahren, vorwiegendAlte, Kranke und Kinder. Die Not führtezur ersten Massenauswanderung.

1845-1847 verursachte die grassieren­de Kartoffelkrankheit immense Ernteaus­fälle. Dazu wogen die Kosten des Sonder­bundskriegs schwer, und die Industriestagnicl-tc. Wicdcrhollc Mis:>CllltClI :>lci­gerten die Not. Nicht etwa Arbeitsunfähi­ge oder Schmarotzer, sondern sesshafteund arbeitswillige Menschen verarmten inkurzer Zeit und benötigten öffentliche Un­terstützung. Um 1854 galt jeder achte Aar­gauer als arm.

In die Zeit der dritten Welle von1880-1885 fiel ebenfalls eine Reihe vonMissernten. Tieferliegende Gründe warendie wirtschaftlichen Strukturveränderun­gen. Billige Getreideimporte aus dem Aus­land machten den Ackerbau zusehendsunrentabel. Die kapitalintensive Umstel­lung auf die Milchwirtschaft war für vielearme Landwirte illusorisch. Auch derIndustriesektor wandelte sich. Die fort­schreitende Mechanisierung und die Kon­zentration der Arbeiter in Fabriken führ­ten zum Niedergang der Heimarbeit.

Der Exodus war in der zweiten Aus­wanderungswelle von 1851-1855 am gröss­ten. Im Spitzenjahr 1854 zog jeder sieb­zigste Aargauer nach Amerika. Insgesamtverzeichnete die Hälfte aller aargauischenGemeinden Auswanderer. Die regionalenUnterschiede waren allerdings beträcht­lich. Bewohner der Landwirtschaftsbe-

zirke (Rheinfeiden, 'Laufenburg, Zurzach,Muri) verliessen ihre Heimat in über­durchschnittlicher Zahl. Allein der BezirkLaufenburg verlor 1854 fünf Prozent sei­ner Bevölkerung. Die grösste Kollektiv­auswanderung betraf im selben Jahr Nie­derwil (heute Rothrist) mit 305 Personen.

Nicht etwa Kranke, Gebrechliche undHilflose reisten, sondern vor allem gesun­de, arbeitsfähige Erwachsene in jüngerenund mittleren Jahren, darunter auffallendviele ledige Männer, seltener ganze Fami­lien mit Kindern. Nach Berufsgattungenwaren Landwirte, Taglöhner und Hand­werker überdurchschnittlich vertreten.Der Kanton förderte die Auswanderungnicht speziell, billigte und schützte sie je­doch. Etwa drei Viertel der Emigrantenerhielten von der öffentlichen Hand einReisegeld. In den l850er Jahren zahltendie Gemeinden im Schnitt 110, der Kanton19 Franken pro Auswanderer. Fast alle Be­troffenen gingen in der Erkenntnis, dassihnen die Heimat kein Brot mehr bot. Al­lerdings schoben einzelne Gemeinden ge­legentlich mit mehr oder minder sanftemDruck missliebige Bürger ab, zum Beispielübel Beleumundete, Vaganten, Bettler,Alkoholiker, Dirnen oder Kriminelle. Un­verkennbar waren Gemeinden häufig ancincr AUSWl:1l1dCI ullg illl r Al I1lcl1 inttret>­siert, weil es kostengünstiger war, eineneinmaligen Betrag für die Reise aufzuwen­den als eine bedürftige Person dauernd zuunterhalten.

Der Weg ins Gelobte Land

Seit den 1830er Jahren bestanden Aus­wanderungsagenturen, private Organisa­tionen, die als eine Art Reisebüro für einenPauschalpreis die Beförderung des Aus­wanderers von seinem Heimatort bis zueinem überseeischen Hafen organisierten.Im Aargau war nur für den Transportstaatlich unterstützter Auswanderer eineKonzession nötig. In verschiedenen Ge­meinden existierten Unteragenturen, imAargau um 1883/84 nicht weniger als 50.Als Unteragenten fungierten häufig Leh­rer oder Gemeindeschreiber. Der Agentverpflichtete sich vertraglich zur Durch­führung des Transports nach einem derEinschiffungshäfen und von dort nachAmerika. Inbegriffen war meist die Ver­pflegung auf See, häufig auch Unterkunftund Kost auf der Landreise und in der

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Abb.139Basel Ende Mai 1805.Schweizer Amerika-Auswan­derer verlassen ihre Heimatauf der üblichen Reiserouteper Schiff. Einzelauswandereraus dem Aargau fanden sichzuerst an den Sammelplätzenin Tegerfelden oder Sisselnein, nach 1854 direkt in Basel.Grössere Gruppen holte derAuswanderungsagent anihrem Wohnort ab.

AG/'gauer in Amerika: Zu denwenigen Aargauern, welchein Amerika das grosse Glückmachten, gehört die FamilieGuggenheim aus Lengnau.Stammvater Simon MeyerGuggenheim (1792-1869)wanderte als Sohn eines bettel­armen jüdischen Schneiders1847 mit seiner Lebensgefähr­tin und zwölf Kindern in dieVereinigten Staaten aus. MitGlück und Geschick erwarb erdurch das Kupfergeschäft einRiesenvermögen, das seinesieben Söhne noch vermehr­ten. Seit den 1920er Jahrenzeichnete sich die Dynastiedurch ihre Förderung vonWissenschaft und Kultur aus.Bekannte Beispiele sind dasSolamon R. GuggenheimMuseum ew York und dasPeggy Guggenhcim MuseumVenedig.

Abb.140Endinger Übersee-Auswan­derer vor der Abfahrt ausihrem Heimatdorf, Anfang20. Jahrhundert. Zeitgenössi­sche Aufnahmen, welche dieAuswanderung dokumen­tieren, sind eine Rarität.

139

Hafenstadt. Die gesamte Reise erforderteum 1850 etwa 120 bis 180 Franken. Diewichtigste Hafenstadt für Schweizer Aus­wanderer war Le Havre, das man auf demRhein via Rotterdam und danach per Kü­stenschiff oder auf dem Landweg überMülhausen und Paris erreichte. Zollkon­trollen an den Grenzen entfielen, da derReisevertrag als Pass galt. Nur das Aller­nötigste an Gepäck wurde mitgenommen.Weil Dampfschiffe zu teuer waren, be­nutzten die Auswanderer Segelschiffe undreisten auf dem Zwischendeck. Die Über­fahrt war gefährlich, da Krankheitendrohten, und dauerte sehr lange. Wer dieReise von Le Havre bis New York in dreiWochen schaffte, konnte von Glück re­den. Je nach Wetter dauerte sie 50 Tage

oder länger. 1816/17 hatte sich die Fahrtnoch bis zu drei Monate hingezogen.

In New York angekommen, war derAuswanderer auf sich gestellt und musstedarauf bedacht sein, nicht sogleich voneinem dubiosen Vermittler ausgenommenund betrogen zu werden. Von der Küsten­gegend führte der Weg ins Landesinnere.Die spärlich vorhandenen Quellen verun­möglichen allerdings genaue Aussagenzum weiteren Schicksal der Auswanderer.Die Aargauer in Amerika arbeiteten zuBeginn wohl meistens als landwirtschaftli­che Lohnarbeiter. Zum Gutsbesitzer reich­te ihr Geld zumindest vorläufig nicht aus.

Fabrikarbeit im Zwielicht

140

Ein Industrieproletariat englischen Aus­masses existierte im Aargau glücklicher­weise nicht. Die Industrie war zwar regio­nal unterschiedlich verteilt, ballte sichaber nicht in und um ein einziges Zen­trum. Ferner ergab sich durch die Arbeits­weise eine Dezentralisierung der indu­striellen Tätigkeit. Die Statistik verzeich­net für das Jahr 1857 40300 Heim- und«nur» 10700 Fabrikarbeiter. IndustrielleTätigkeit fand also lange Zeit zur Haupt­sache in Dörfern statt. Fabrikarbeiterohne Nebenerwerb bildeten bis ins20. Jahrhundert hinein eine Minderheit.Viele besassen nebenbei etwas Land undeine Kuh im Stall.

Heimarbeit hielt sich, bis sie durchMechanisierung unrationell wurde, was

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Abb. 141Die I 37 gegründete und1904 abgebrannte BadenerBaumwoll pinnerei Wild­Solivo (später Spoerry) aufeiner Aufnahme von 1881. DieFabrik ist das oberste, unmit­telbar am Limmatkanal gele­gene Gebäude. Zwei Ko t­häu er, da oberste Gebäudelink und das unter te, halb­verdeckte Gebäude an derLimmat, stehen noch heute.Die beiden gro en mittlerenKo thäu er wurden dagegen1925 und 1955 abgeris en. Anihrer teile befindet ich derBrückenkopf der BadenerHochbrücke.

Lohn: Der Verdienst wurdenicht nur in der Industrie bisweit in 20. Jahrhundert hineinnormalerweise zweiwöchent­lich oder sogar wöchentlichin bar ausbezahlt, obwohl diePost bereits 1906 den Post­check- und Girodienst ein-führte. 141

Spinnerei Kunz: HeinrichKunz (1793-1859) aus Oetwilam See ZH ist ein Beispiel fürdie verschiedenen ZürcherFabrikherren, die an den grös­seren Flüs en im östlichenKantonstell fabnken emch­teten, in seinem Fall 1828 eineBaumwollspinnerei und-zwirnerei an der Reuss beiWindi ch. Dieser Betrieb galtum 1885 mit 877 Beschäftigtenals grösste Fabrik im Aargau.Dank diverser weiterer, aus­serkantonaler Spinnereienbe ader - durchaus im dop­pelten Wortsinn 0 genannte ­«grösste Spinner» Europasum die Jahrhundertmitte einImperium mit über 2000Ange teilten.

Kosthaus: In der ähe dergro en Fabriken wie umAarau, Baden, Rupper wil,Turgi, Windisch und Wet­tingen ent tanden Arbeiter­siedlungen. Etliche Fabrik­herren sahen sich gezwungen,in eigener Regie Wohnhäuserzu erstellen, um genügend Ar­beiterzu erhalten. 1891 bestan­den im Aargau hundert Fa­brikarbeiter-Wohnhäuser mit420 Ein- bis Dreizimmerwoh­nungen. Die meisten Woh­nungen verfügten mittlerweileüber einen eigenen Abort, unddie Küche diente nicht mehrals Schlafraum.

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in den verschiedenen Industriezweigenmit grossen zeitlichen Unterschieden ein­trat. Ein Heimarbeiter verdiente ehermehr als ein Fabrikarbeiter. Seine Ver­ri htungen w ren jedo h gen uso m no­ton. Da er im Akkord tätig war, unter­schied sich auch die tägliche Arbeitsdauervon zwölf und mehr Stunden nicht vonjener in der Fabrik. Wegen der sperrigenWebstühle und der empfindlichen Texti­lien wurde in feuchten, dunklen Kel1erngearbeitet. Gesundheitsschäden am Rük­ken, in den Augen und Atemwegen warenin Fabrik- und Heimarbeit gleichermas­sen bekannt, ebenso Mangelkrankheitenwegen schlechter Ernährung. Bezeichnen­derwei e stammten be onders vieledienstuntaugliche Männer aus industriali­sierten Gegenden.

Die Industriel1en des 19. Jahrhundertsdurchweg al Ausbeuter zu kennzeich­nen, wäre zweifel10s ungerechtfertigt. Esgab Arbeitgeber, die ihre Beschäftigtennicht nur korrekt behandelten, sondern zuihnen ein fast familiäres Verhältnis pfleg­ten. Anderseits existierten keine ge etzli­chen Schranken, welche die Arbeiter vorder skrupel10sen Habgier etlicher Fabrik­herren schützten. Vor al1em im östlichenKanton teil waren noch in der zweitenHälfte de 19. Jahrhunderts teilweiseschwere Missstände zu beklagen. Umstrit-

ten waren insbesondere die Zustände inden Baumwol1spinnereien, zum Beispielbei iederu ter ( iederrohrdorf), Hüner­wadel ( iederlenz), Spoerry (Baden) oderWild (Wettingen, Ncuenhof). I Iilufig klag­te man über miserable Entlöhnung, bruta­le Auf eher und gefährliche Arbeit instaubge chwängerter Luft. Fabrikordnun­gen glichen häufig selbstherrlichen Poli­zeireglementen. Der Fabrikherr trichBus engelder für Absenzen vom Arbeits­platz sofort und nicht selten in die eigeneTasche ein. Dagegen verspätete er sichgern bei der Lohnauszahlung. Fabrikkan­tinen erwie en sich für ihn oft als einträgli­ches Zusatzgeschäft, vor al1em wenn erselbst Wirt war und Alkohol au schenkte.

Für tägliche Arbeitszeiten von bis zu15 Stunden bei absoluten Hungerlöhnenwar die Baumwollspinnerei Kunz in Win­di ch berüchtigt. Die 1826 in Turgi gegrün­dete Spinnerei Bebie erregte durch diehoffnungslos überfül1ten Schlafsäle ihreKosthauses negatives Aufsehen. Zwei Er­wach ene und ein Kind mu sten sich zeit­wei e in ein Bett teilen. Die tägliche Ar­beitszeit in der Firma der Brüder Bebiedauerte von echs Uhr morgens bis neunUhr abends. Um immer bei der ersten Ta­ge hel1e beginnen und auf die e Wei e Ölfür die Beleuchtung sparen zu können,lie sen ie die Uhr zu jeder Jahreszeit bei

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Tagesanbruch sechs Uhr anzeigen, gleich­gültig ob die Sonne im Sommer schonbald nach vier Uhr oder wie im Januar umhalb acht aufging. 1850 setzte der KleineRat diesem Unwesen ein Ende.

Wohl erkannten die Zeitgenossenfrühzeitig die zahlreichen Probleme derFabrikarbeit. Entsprechende Massnah­men blieben jedoch aus. «Experten» führ­ten die oft zu pauschal diagnostizierten,mit vielen Vorurteilen behafteten Übel­stände wie Alkoholismus, Sittenlosigkeitund Verschwendungssucht meistens aufden schlechten Charakter der Arbeiterund nicht auf die strukturellen Mängel derFabrikarbeit zurück.

Kinder als Schwerarbeiter

Kinderarbeit war während fast des ganzen19. Jahrhunderts sehr verbreitet und wurdelange vorbehaltlos und beileibe nicht blossfür Fabriktätigkeit bejaht. Nur treten hierdie achteile am krassesten hervor. EinBericht von 1761 erwähnt lobend, dass imAargau Kinder, die für die Landwirtschaftzu schwach seien, in Tuchmanufakturenbeschäftigt würden. Selbst Pestalozzi ver­tral in seinen Frühschriflen die Meinung,man könne Kinder grundsätzlich vomsechsten Jahr an in der Industrie beschäf­tigen. Lange Zeit glaubte man, Armut seidurch sittliche Verdorbenheit bedingt. Alseinzige vorbeugende Massnahme komme

die frühe Gewöhnung zur Arbeit in Frage.Das Kind galt als kleiner Erwachsener.

Eltern hatten gegen die pädagogischabge tützte und finanziell einträgliche Fa­brikarbeit ihrer Kinder begreiflicherweisenichts einzuwenden. Im Gegenteil: Nichtnur Fabrikherren, sondern auch Fabrikar­beiter stellten Kinder an, die ihnen «ge­gen Entlöhnung in die Hand schaffen»mu ten.

Die zunehmende Mechanisierung er­höhte im 19. Jahrhundert das Ausrnass derKinderarbeit zusätzlich, denn die oft leichtzu bedienenden Maschinen forderten bil­lige Kinderarbeit geradezu heraus. EineZählung von 1824 verzeichnet in wenigenDutzend Fabriken des Kantons 433 arbei­tende Kinder. Lange Zeit fiel nicht auf,wie ungesund und schlecht diese Arbeiter­kinder aussahen. Es gibt - nicht nur imAargau - genügend Bei piele schreckli­cher Ausnutzung. Jugendliche standentäglich im Dunkeln auf, um wie die Er­wachsenen schon bei Tagesanbruch imunter Umständen kilometerweit entfern­ten Betrieb mit der Arbeit zu beginnen. Siegingen häufig den ganzen Tag barfuss, umein Ausgleiten auf den glitschigen, ölver­schmierten Böden zu verhüten. Gearbeitetwurde bis zum Einbruch der Dunkelheit,je na h Jahre zeit bis zu 15 Stunden. Inaargauischen Strohflechtereien Anfangdes 19. Jahrhunderts erhielten die Kinder30 bis 40 Rappen für die tägliche Tortur,was dem Gegenwert von zwei Pfund Brotoder einem Pfund Rindfleisch entsprach.

Frühe Stimmen gegen die Kinderarbeit

«Nicht nur werden solche Kinder grässtenteils dem Fabrikschulunterricht entzo­gen, sondern sie müssen sich bei ihren Arbeiten in grässlich dunstenden Zimmernaufhalten, das Gift der Farben einatmen, oft in Feuchtigkeit und nassen Kleiderntagelang verweilen. Ohne tiefer den Wirkungen dieser Lebensart nachzuspüren,liest man ihre Folgen schon augenscheinlich auf den blassen Gesichtern dieserKinder.» (Melchior Lüscher 1810, Regierungsrat 1808-1828)

Die Folge der Fabrikarbeit für Kinder ist «ein an Leib und Geist verkrüppel­tes Zwerggeschlecht, das aus den Spinnhählen hervorgeht; Knaben und Mädchen,die im Alter von 16-17 Jahren kaum die Grässe von Kindern von 9-10 Jahren errei­chen, der Wachstumssäfte durch anhaltende Anstrengung beraubt, und schondurch die hektische Gesichtsfarbe von der Auszehrung gezeichnet.» (PfarrerJohann Rohr vom Staufberg 1824)

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Arbeiterschutz im VerzugDer Aargau erwarb sich in der Fabrikge­setzgebung kein Ruhmesblatt. Die Kanto­ne Zürich und Thurgau, die bereits 1815wenigstens Kinderarbeit unter zehn Jah­ren verboten, den Arbeitstag auf 14 Stun­den beschränkten und Nachtarbeit fürKinder untersagten, gingen weit voraus,auch wenn dieses Gesetz oft keine Beach­tung fand. Ein gesetzlicher Schutz fehlteim Aargau bis zum Fabrik-Polizeigesetzvon 1862, das Fabrikarbeit für unter 13jäh­rige verbot und die Arbeitszeit für unter16jährige auf höchstens zwölf Stundentäglich festsetzte.

Erst das neugeschaffene Eidgenössi­sche Fabrikgesetz von 1877 brachte einendeutlichen Fortschritt. Es machte der du­biosen Institution der Fabrikschule ein

Ende, verbot Kinderarbeit unter 14 Jahren,untersagte die Nacht- und Sonntagsarbeit,schützte die Frauen besser und führte denIlstündigen Normalarbeitstag ein (65 Stun­den pro Woche). Allerdings waren auf Ge­such des Fabrikherrn monatelang längereArbeitszeiten möglich. Die Bestimmungenwurden öfter missachtet oder umgangen,zum Beispiel durch die Rückkehr zurHeimarbeit, die das Fabrikgesetz nicht er­fasste. Im Aargau rippten Frauen nochlange nach 1880 bis weit in die acht hin­ein Tabakblätter aus oder flochten für dieStrohindustrie. Nach 1890 lebten die Fa­brikherren ihren Pflichten besser nach,doch blieben die gesetzlichen Bestimmun­gen lückenhaft. Erst das Bundesgesetzüber die Beschäftigung jugendlicher Per­sonen in den Gewerben von 1922 regeltedie Kinderarbeit in der Heimindustrie.

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Fragwürdige Fabrikschulen

Nach 1810 entstanden die ersten Fabrikschulen. Das Schulgesetz von 1835 fordertezwei getrennt zu führende Jahrgangsklassen für Arbeiterkinder zwischen 13 und15 Jahren. Ganzjährig mussten wöchentJich mindestens sechs, nach 1865 minde­stens zwölf Stunden Unterricht angeboten werden. Alle Unkosten für das Schul­lokal (Einrichtung, Dchcizung, U ntcl halt) oblagcn JClll Fablik.bt;~itl.cl, Jel kcillSchulgeld verlangen oder Lohnabzüge vornehmen durfte. Oft umging er jedochdie Bestimmungen. Die Fabrikschule in Schafisheim war zum Beispiel eineNachtschule, damit die Jugendlichen in der Stoffdruckerei während des Tages«ungestört» 10-12 Stunden arbeiten konnten. Die glücklicherweise njcht allzuzahlreichen Fabrikschulen verschwanden nach dem Inkrafttreten des Eidgenössi­schen Fabrikgesetzes von 1877.