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KLIO I 81 I 1999 | 1 | 68-94 HERBERT HEFTNER (Wien) Die Rede für Polystratos ([Lysias] XX) als Zeugnis für den oligarchischen Umsturz von 411 v. Chr. in Athen I) Die Rede für Polystratos und ihre Problematik Im Corpus Lysiacum ist uns an zwanzigster Stelle ein Stück der Verteidigungsrede für einen Athener Bürger namens Polystratos erhalten, der in der nach dem oligarchischen Zwischenspiel von 411 wiederhergestellten Demokratie wegen seiner Mitgliedschaft im Rat der Vierhundert vor Gericht gezogen wurde. 1 Schon durch die Datierung erweist sich die Zuweisung des Textes an Lysias, der seine Tätigkeit als Logograph bekanntlich erst nach 403 aufgenommen hat, 2 als ein Ding der Unmöglichkeit; überhaupt sprechen die Unebenheiten des logischen Aufbaues und ge- wisse Mängel des Stils dafür, 3 daß es sich hier nicht um das Produkt eines berufsmäßi- gen Logographen handelt. Gerade in diesen Schwächen liegt indessen der klarste Beweis dafür, daß wir in der Polystratosrede keine rhetorische Übung, sondern das authentische Zeugnis eines realen Gerichtsprozesses vor uns haben, eines Prozesses, der einigen An- deutungen in der Rede selbst zufolge in die Zeit bald nach der Wiederherstellung der vollen Demokratie im Sommer 410 zu datieren ist. 4 1 Daß Polystratos' Zugehörigkeit zu den Vierhundert den Hauptvorwurf der Anklage darstellte, geht aus den Bemühungen der Verteidigung klar hervor (s. bes. §§ lf.; 13f. und 17); ob er auch formal deswegen und nur deswegen angeklagt wurde, ist umstritten; vgl. F. Blass, Die attische Beredsamkeit I, Leipzig 3 1887, 504 Anm. 2 und L. Gernet in L. Gernet/M. Bizos (Hgg.), Lysias. Discours II, Paris 2 1955, 56. 2 Blass (Anm. 1) 347; W. Plöbst, s.v. Lysias, RE XIII, 2, 1927, 2534. 3 Für die stilistischen Mängel der Polystratosrede s. C. M. Francken, Commentationes Lysiacae, Utrecht 1865, 144—146 und Hoffmeister, De quibusdam locis XX orationis Lysiacae, Programm des kgl. und Grö- nig'schen Gymnasiums Stargard 1872, 5—16; fur eine Charakteristik ihrer sprachlichen Eigenart im Vergleich zur unbestritten lysianischen Eratosthenesrede (Lys. XII) s. K. J. Dover, Lysias and the Corpus Lysiacum, Berkeley/Los Angeles 1968, 133;138;143 und zusammenfassend 147. 4 Anders U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Aristoteles und Athen II, Berlin 1893, 361 m. Anm. 13f., der den Prozeß in das Frühjahr 410, noch vor Alkibiades' Sieg bei Kyzikos (März/April 410), setzen möchte: „daß man den handel des Polystratos noch weiter herunterrückt, ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil die Erfolge des Alkibiades und die dadurch ganz veränderte Stimmung nirgends zu spüren sind". Dagegen spricht jedoch der Wordaut in § 17 νϋν δε ήνίκα αυτός έαυτφ εύνούστατός έστιν ό δήμος, ..., was man wohl zu Recht auf die Wiederherstellung der vollen Demokratie zu beziehen pflegt (s. etwa Gernet [Anm. 1] 66, Anm. 1; anders Wilamowitz 361, Anm. 13). Da die Wiederaufrichtung der Demokratie aller Wahrscheinlich- keit nach erst in den Sommer 410 zu datieren ist (P. J. Rhodes, A Commentary on the Aristotelian Athenaion Politeia, Oxford 1981, 415), gewinnen wir hiermit einen terminus post quem für die Polystratosrede. Ein eindeutiger terminus ante quem läßt sich der Rede nicht entnehmen (vgl. Dover [Anm. 3] 44), doch sprechen einige indirekte Hinweise, nicht zuletzt auch die oben zitierte Passage aus § 17, dafür, daß die Rede nicht lange nach der Wiederherstellung der Demokratie gehalten wurde (G. Ε. M. de Ste. Croix, The Con- stitution of the Five Thousand, Historia 5, 1956, 13). Wir werden daher mit Gernet (Anm. 1) 58 davon Brought to you by | Brown University Rockefeller Library Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/5/14 11:50 PM

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KLIO I 81 I 1999 | 1 | 68-94

HERBERT HEFTNER (Wien)

Die Rede für Polystratos ([Lysias] XX) als Zeugnis für den oligarchischen Umsturz von 411 v. Chr. in Athen

I) Die Rede für Polystratos und ihre Problematik

Im Corpus Lysiacum ist uns an zwanzigster Stelle ein Stück der Verteidigungsrede für

einen Athener Bürger namens Polystratos erhalten, der in der nach dem oligarchischen

Zwischenspiel von 4 1 1 wiederhergestellten Demokratie wegen seiner Mitgliedschaft im

Rat der Vierhundert vor Gericht gezogen wurde.1

Schon durch die Datierung erweist sich die Zuweisung des Textes an Lysias, der seine

Tätigkeit als Logograph bekanntlich erst nach 403 aufgenommen hat,2 als ein Ding der

Unmöglichkeit; überhaupt sprechen die Unebenheiten des logischen Aufbaues und ge-

wisse Mängel des Stils dafür,3 daß es sich hier nicht um das Produkt eines berufsmäßi-

gen Logographen handelt. Gerade in diesen Schwächen liegt indessen der klarste Beweis

dafür, daß wir in der Polystratosrede keine rhetorische Übung, sondern das authentische

Zeugnis eines realen Gerichtsprozesses vor uns haben, eines Prozesses, der einigen An-

deutungen in der Rede selbst zufolge in die Zeit bald nach der Wiederherstellung der

vollen Demokratie im Sommer 4 1 0 zu datieren ist.4

1 Daß Polystratos' Zugehörigkeit zu den Vierhundert den Hauptvorwurf der Anklage darstellte, geht aus den Bemühungen der Verteidigung klar hervor (s. bes. §§ lf. ; 13f. und 17); ob er auch formal deswegen — und nur deswegen — angeklagt wurde, ist umstritten; vgl. F. Blass, Die attische Beredsamkeit I, Leipzig 31887, 504 Anm. 2 und L. Gernet in L. Gernet/M. Bizos (Hgg.), Lysias. Discours II, Paris 21955, 56.

2 Blass (Anm. 1) 347; W. Plöbst, s.v. Lysias, RE XIII, 2, 1927, 2534. 3 Für die stilistischen Mängel der Polystratosrede s. C. M. Francken, Commentationes Lysiacae, Utrecht 1865,

144—146 und Hoffmeister, De quibusdam locis XX orationis Lysiacae, Programm des kgl. und Grö-nig'schen Gymnasiums Stargard 1872, 5—16; fur eine Charakteristik ihrer sprachlichen Eigenart im Vergleich zur unbestritten lysianischen Eratosthenesrede (Lys. XII) s. K. J. Dover, Lysias and the Corpus Lysiacum, Berkeley/Los Angeles 1968, 133;138;143 und zusammenfassend 147.

4 Anders U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Aristoteles und Athen II, Berlin 1893, 361 m. Anm. 13f., der den Prozeß in das Frühjahr 410, noch vor Alkibiades' Sieg bei Kyzikos (März/April 410), setzen möchte: „daß man den handel des Polystratos noch weiter herunterrückt, ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil die Erfolge des Alkibiades und die dadurch ganz veränderte Stimmung nirgends zu spüren sind". Dagegen spricht jedoch der Wordaut in § 17 νϋν δε ήνίκα αυτός έαυτφ εύνούστατός έστιν ό δήμος, . . . , was man wohl zu Recht auf die Wiederherstellung der vollen Demokratie zu beziehen pflegt (s. etwa Gernet [Anm. 1] 66, Anm. 1; anders Wilamowitz 361, Anm. 13). Da die Wiederaufrichtung der Demokratie aller Wahrscheinlich-keit nach erst in den Sommer 410 zu datieren ist (P. J. Rhodes, A Commentary on the Aristotelian Athenaion Politeia, Oxford 1981, 415), gewinnen wir hiermit einen terminus post quem für die Polystratosrede. Ein eindeutiger terminus ante quem läßt sich der Rede nicht entnehmen (vgl. Dover [Anm. 3] 44), doch sprechen einige indirekte Hinweise, nicht zuletzt auch die oben zitierte Passage aus § 17, dafür, daß die Rede nicht lange nach der Wiederherstellung der Demokratie gehalten wurde (G. Ε. M. de Ste. Croix, The Con-stitution of the Five Thousand, Historia 5, 1956, 13). Wir werden daher mit Gernet (Anm. 1) 58 davon

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Wenngleich die Polystratos-Verteidigung in den Lysias-Handschriften als eine einzige Rede überliefert ist, legen einige Auffälligkeiten die Deutung nahe, daß wir es hier mit den Fragmenten zweier von verschiedenen Personen gehaltenen Reden zu tun haben: einerseits fällt auf, daß sich die in §§ 6—8 gebotenen Argumente zugunsten des Polystra-tos in §§ 15—17 wiederholen, andererseits wird von § 11 an Polystratos als Vater des Sprechers kenntlich gemacht (s. etwa §§ 11.13), während er am Beginn der Rede (§ 1) namentlich bezeichnet wird. Dazu kommt eine auffallende Zäsur zwischen § 10 und 11 des Textes (die sich freilich auch durch die Annahme einer Lücke erklären ließe).

Aufgrund dieser Unstimmigkeiten hat Wilamowitz, dem wir die grundlegende Unter-suchung zur Polystratosrede verdanken, den ersten Teil des Textes (§§ 1 — 10) einem un-bekannten Fürsprecher des Polystratos zugeschrieben, während der größere zweite Teil (§§ 11—36) einen der Söhne des Angeklagten zum Sprecher habe.5

All dies bezeugt einen schlechten Überlieferungszustand des Werkes, und in die glei-che Richtung deutet eine Anzahl sprachlich anstößiger Stellen, die sich am einfachsten durch die Annahme erklären lassen, daß hier ganze Passagen des ursprünglichen Textes ausgefallen sind.6

Angesichts dieser Phänomene kann es als wahrscheinlich gelten, daß dieser ausgespro-chen kunstlose und obendrein höchst unvollständige Text seine Publikation nicht irgend-welchen literarischen Qualitäten, sondern seinem Inhalt verdankt: Wir dürfen wohl davon ausgehen, daß es die Angehörigen des Polystratos selbst waren, die für die Herstellung und Verbreitung der uns bei Lysias vorliegenden Auszüge gesorgt haben, um — unabhän-gig vom Ausgang des Prozesses — den guten Ruf ihres Familienoberhauptes vor der athenischen Öffentlichkeit wiederherzustellen.7

Die zu diesem Zweck herangezogenen Reden der Gerichtsverhandlung sind, wie oben erwähnt, gekürzt, aber in ihrem Inhalt offenbar nicht wesentlich verändert worden. Zwar scheint an manchen Stellen ein in der Rede genannter Eigenname durch eine Umschrei-bung ersetzt worden zu sein, aber eben in diesem Bestreben, reale Persönlichkeiten nicht namentlich anzuführen, liegt, wie Wilamowitz zurecht feststellt, ein Argument dafür, daß wir im übrigen den Text der tatsächlich gehaltenen Rede vor uns haben.8

In der dergestalt überlieferten Fassung konzentriert sich der Text auf zwei Themen-komplexe: 1) die politische Rechtfertigung von Polystratos' Verhalten während des Jahres 411 (§§ 1—22), vor allem seine Verteidigung gegen die wegen seiner Mitgliedschaft im Rat der Vierhundert erhobenen Vorwürfe. Die recht eingehende Behandlung dieses Themen-

ausgehen dürfen, daß der in unserer Rede dokumentierte Prozeß des Polystratos in der „zweiten Hälfte des Jahres 410, und zwar eher am Anfang als am Ende" stattgefunden hat.

5 Wilamowitz (Anm. 4) 363 f; akzeptiert von A. W. Gomme/A. Andrewes/ K. J. Dover, A Historical Com-mentary on Thukydides V. Book VIII, Oxford 1981, 201; skeptisch dagegen Gernet (Anm. 1) 60 f.

6 Aufgelistet bei Wilamowitz (Anm. 4) 364—366. 7 So Wilamowitz (Anm. 4) 362; vgl. Gomme/Andrewes/Dover (Anm. 5) 201: „Someone wanted these pieces

to have a continuing circulation, possibly the .consultant' if P. was acquitted, but one may doubt if a speech-writer at any stage of his career would wish to put them out as an advertisement of his powers, whereas P.'s family might wish to give wider circulation to his justification". Die gleiche Absicht könnte auch anderen im Rahmen des Corpus Lysiacum erhaltenen Texten zugrundeliegen, man vergleiche etwa Lys. XVIII und XXI, wo aus den auf spezielle Gerichtsfälle bezogenen Reden nur mehr die allemeinen Teile erhalten sind, in denen Prozeßparteien über ihre loyale Haltung zur Polis Rechenschaft ablegen.

8 Wilamowitz (Anm. 4) 366 f. vermutet dies etwa für den άνήρ έξαιτούμενος von §19 und for den §26 genannten Συρακόσιος.

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70 Η. HiiFTNF.R, Rede für Polystratos

komplexes (man beachte die Wiederholung der Argumente in §§ 1 und 8 f.) zeigt, wel-chen Wert der Redaktor unseres Textes gerade auf die Zurückweisung dieses Anklage-punktes gelegt hat. Wir dürfen daher die Vermutung wagen, daß die auf Polystratos' Zugehörigkeit zu den Vierhundert bezüglichen Argumente der Verteidigung im publizier-ten Text vergleichsweise ausführlich und erschöpfend wiedergegeben sind. 2) die Verdienste, die sich der Angeklagte und seine Söhne um die Stadt Athen erworben haben (§§ 23—29), eine Passage, die unter anderem historisch interessante Streiflichter auf die ,Nachgeschichte' der sizilischen Katastrophe fallen läßt, für unsere Untersuchung jedoch außer Betracht bleiben muß.

Wir wollen uns im folgenden auf die den Umsturz von 411 betreffenden Aussagen der Polystratosrede konzentrieren; ehe wir aber die darauf bezüglichen Redestellen einzeln ins Auge fassen, ist es erforderlich, ganz allgemein auf die Fragestellung einzugehen, ob und wieweit wir die in unserer Rede enthaltenen Angaben überhaupt als historische Zeugnisse ernstnehmen können.

II) Der historische Aussagewert der Polystratosrede

Die Rede für Polystratos ist in der Forschung bislang kaum jemals als ernstzunehmende und eigenständige Quelle für die Ereignisse von 411 herangezogen worden. Der proble-matische Zustand des Textes, die Unklarheit gerade der für die Geschichte des Umstur-zes relevanten Stellen, dazu die schon durch den Redezweck offenkundige apologetische Tendenz haben viele Gelehrte dazu veranlaßt, den Angaben unserer Rede a priori größte Skepsis entgegenzubringen.9

Diese Mißachtung einer Quelle, der wir prinzipiell schon aus chronologischen Gründen ein hohes Maß an Authentizität zuerkennen müssen, scheint jedoch angesichts der sonsti-gen Überlieferungslage kaum gerechtfertigt. Von Antiphons nur in Bruchstücken erhaltener Apologie und zwei gleichfalls fragmentarischen Inschriften abgesehen,10 führt uns keines der erhaltenen schriftlichen Zeugnisse so nahe an das Geschehen von 411 heran wie die Polystratosrede, die vor einem Publikum gehalten wurde, das den Sturz der Demokratie und die Herrschaft der Vierhundert noch unmittelbar in Erinnerung gehabt haben muß. Daß die Rede der historischen Interpretation größte Schwierigkeiten entgegenstellt, läßt sich freilich nicht bestreiten: zum einen sind die meisten der darin enthaltenen Anspielungen auf das historische Geschehen von 411 für uns nicht von vornherein durchsichtig, zum anderen hat man natürlich damit zu rechnen, daß der Umgang des bzw. der Verfasser mit den Fakten durch den Redezweck, die Reinwaschung des Angeklagten Polystratos, bestimmt ist. Der einzig gangbare Weg, unserer Rede Erkenntnisse abzugewinnen, die über das aufgrund der Parallelquellen Gesicherte hinausführen, liegt angesichts dieser Umstände in der unvorein-genommenen Einzelprüfung der in ihr enthaltenen historisch relevanten Angaben.

Den grundsätzlichen Maßstab für die Zuverlässigkeit der einzelnen Behauptungen muß dabei die Frage bilden, welchen Informationsstand der Sprecher bei seinem Publikum voraussetzen konnte. Denn wenngleich die von ihm gebotene Schilderung der Ereignisse

9 S. besonders F. Taeger, Rezension zu: U. Wilcken, Zur oligarchischen Revolution in Athen vom Jahre 411 v. Chr., Gnomon 13, 1937, 352 und C. Hignett, A History of the Athenian Constitution to the End of the Fifth Century B.C., Oxford 1952, 364. Vgl. Gomme/Andrewes/Dover (Anm. 5) 205.

10 Zu Antiphons Apologie s. Gomme/Andrewes/Dover (Anm. 5) 198—201, zu den Inschriften R. Meiggs/D. Lewis, A Selection of Greek Historical Inscriptions to the End of the Fourth Century B.C., Oxford 21988, Nr. 80 und 81.

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KLIO 81 (1999) 1 71

selbstverständlich durch den Redezweck bestimmt war, so mußte doch jeder Versuch, die historischen Tatsachen zu verdrehen, dort an seine Grenze stoßen, wo er mit der Rück-erinnerung der Geschworenen und mit ihrer Wertung der Geschehnisse in Konflikt gera-ten wäre. Zwar stand einem Logographen stets die Möglichkeit offen, unerfreuliche Tat-sachen zu übergehen oder herunterzuspielen und den handelnden Personen beliebig erfundene Motive zu unterstellen, doch grobe Verdrehungen eines allen Zeitgenossen bekannten Geschehens, so häufig sie auch in Fällen angewendet zu werden pflegten, wo eine Gerichtsrede auf zeitlich weiter zurückliegende und dem eigentlichen Prozeßgegen-stand fernerliegende Ereignisse rekurrierte,11 konnten sich einem kritischen und zeitna-hen Publikum gegenüber leicht als allzu gewagtes Spiel erweisen.

Was Blass bezüglich eines Widerspruches zwischen der lysianischen Eratosthenesrede und der späteren historiographischen Uberlieferung feststellt — „ . . . über eine große und wichtige, in voller Öffentlichkeit vorgekommene Sache ein Jahr nachher wiederum in voller Öffentlichkeit gröblich zu lügen brachte, glaub' ich, weder Lysias noch sonst je-mand fertig, während als Androtion lange nachher darüber schrieb, sein Papyrus geduldig war"12 — kann m. E. ebensogut von unserer Polystratosrede gelten.

Wir dürfen demnach davon ausgehen, daß der Verfasser der Rede die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf Kenntnis- und Urteilsstand seiner Zuhörer von vorneherein in sein Kalkül einbezogen hat. Dadurch verdient die Verteidigung des Polystratos über die reinen Sachinformationen hinaus für den Historiker besonderes Interesse: sie zeigt, wie beteiligte und betroffene Zeitgenossen ein Jahr nach den Ereignissen in Athen über den Umsturz geurteilt haben.

Die Polystratosrede bietet somit einen Abglanz unmittelbaren Erlebens, den wir in der aus dem Abstand von achtzig Jahren verfaßten aristotelischen Athenaion Politeia verge-bens suchen würden, und der auch im Bericht des zeitgenössischen Exilanten Thukydi-des in vielen Punkten durch eine bewußt geformte und stilisierte Darstellung übertüncht wird (s. u., S. 89f.).

Eine neue, eingehende Untersuchung der auf den Umsturz von 411 bezüglichen Aus-sagen der Polystratosrede scheint daher gerechtfertigt. Zuvor jedoch ist es vonnöten, uns die Berichte unserer beiden Hauptquellen, des Thukydides und der Athenaion Politeia, mit ihren Divergenzen vor Augen zu rufen.

III) Der Umsturz von 411 bei Thukydides und in der Athenaion Politeia

Thukydides läßt die Verfassungsumwälzung von 411 in vier Stufen ablaufen: 1) Während die demokratischen Institutionen noch bestehen und tätig sind, führt eine oligarchische Verschwörerclique mit Unterstützung gleichgesinnter Hetairien einen Ter-ror- und Propagandafeldzug für eine Verfassung der .leistungsfähigsten' Bürger, an der nicht mehr als fünftausend beteiligt sein sollen (8,65,3—8,66,1).

11 Zum verzerrenden Umgang mit den Fakten im Corpus Lysiacum s. jetzt die ausführliche Studie von M. Wei-ßenberger, Die Dokimasiereden des Lysias, Frankfurt/M. 1987, passim, bes. 255—261. Im Zusammenhang unseres Themas wäre etwa auf die Tatsache zu verweisen, daß spätere Redner unbedenklich von einer Ein-setzung der Vierhundert durch den Demos sprechen, während die Polystratosrede diese Behauptung selbst dort vermeidet, wo es dem Verteidigungszweck dienlich hätte sein können, s. dazu u., S. 83 und Anm. 42.

12 F. Blass, Die attische Beredsamkeit 111,2, Leipzig 31898, 373. Es geht dabei um die Diskrepanz zwischen Lys. 12,73—76, wo Theramenes seine Befürwortung der Einsetzung der Dreißig zum Vorwurf gemacht wird, und den (von Blass vermutungsweise auf Androtion zurückgeführten) gegenteiligen Aussagen in Ath. Pol. 34,3 und Diod. 14,3,6, wo Theramenes als Opponent dieser Maßnahme erscheint.

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72 Η. Hkftnkr, Rede für Polystratos

2) Auf Antrag der Verschwörer beschließt das Volk die Einsetzung von zehn συγγραφείς zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes, der an einem gegebenen Tag verkündet werden soll (8,67,1). 3) Am vorgesehenen Termin wird eine Volksversammlung auf dem Kolonos einberufen; dort beantragen die συγγραφείς nichts anderes als die Aufhebung der γραφή παρανόμων: jedermann solle es freistehen, zu beantragen, was ihm gutdünke. Danach werden ver-schiedene Anträge vorgebracht, unter ihnen auch der des Peisandros, der die Bestellung eines Rates von vierhundert Männern vorsieht (zit. u., S. 86). Diese sollen ins Buleute-rion einziehen, mit Vollmacht herrschen und die Fünftausend [über deren Konstituierung im vorangegangenen nichts gesagt ist] einberufen, wann immer es ihnen beliebe. Die Versammlung billigt diesen Antrag (8,67,2—3. 8,69,1). 4) „Später" ziehen die Vierhundert mit bewaffnetem Anhang vor das Buleuterion, ver-treiben die noch amtierende (demokratische) Bule und konstituieren sich selbst mit ei-nem feierlichen Opfer und der Auslosung einer Prytanie (8,69,1—70,1).

Die Athenaion Politeia kennt folgende Etappen: 1) Auf Antrag des Pythodoros von Anaphlystos beschließt das Volk, zu den bestehenden zehn Probuloi zwanzig andere Männer hinzuzuwählen; diese Dreißig sollten ausarbeiten, was ihnen zur Rettung der Stadt am geeignetsten schiene (Ath. Pol. 29,1—3). 2) Nach Vollendung ihrer Arbeit heben die Dreißig zuerst die γραφή παρανόμων auf, sodann legen sie einen Verfassungsentwurf vor, demzufolge die Staatsführung auf Dauer des Krieges in die Hände der leistungsfähigsten' Bürger, an der Zahl nicht weniger als Fünftausend, gelegt werden soll. Aus jeder Phyle sollen zehn Männer genommen werden, die einen Katalog dieser Fünftausend erstellen sollen. Die Ekklesie bestätigt diese Vor-schläge (Ath. Pol. 29,4-30,1). 3) [Die Bestellung der καταλογεΐς, die Auswahl der Fünftausend und ihre Konstituie-rung werden in der Athenaion Politeia nicht ausdrücklich erwähnt, sind aber vorausge-setzt, da die Fünftausend im folgenden als bestehende Körperschaft auftreten], 4) Die Fünftausend wählen hundert Männer zur Ausarbeitung einer [definitiven] Verfas-sung. Diese legen zwei Entwürfe vor: einen ,für die Zukunft ' , einen ,für die Gegenwart'. In der Zukunftsverfassung ist unter anderem die Leitung der Regierung durch die Fünf-tausend vorgesehen, die Gegenwartsverfassung legt alle Macht in die Hände eines Rates der Vierhundert. Diese sollen aus Vorgewählten genommen werden, je vierzig aus jeder der zehn Phylen (Ath. Pol. 30,1—31,3). 5) Nachdem dieser Entwurf von den Fünftausend beschlossen und, so wird impliziert, die Wahl der Vierhundert vollzogen ist, wird am 14. Thargelion die alte Bule aufgelöst, am 22. treten die Vierhundert ihr Amt an (Ath. Pol. 32,1).

Die Unterschiedlichkeit der beiden Versionen, die schon aus dieser — zwangsläufig verkürzenden — Aufstellung in aller Deudichkeit hervorgeht, hat in der Forschung zu mannigfachen Lösungsvorschlägen Anlaß gegeben, ohne daß man zu einer allgemein ak-zeptierten Rekonstruktion der Ereignisse gelangt wäre.13

Neben den offensichtlichen Diskrepanzen in der Darstellung der Ereignisse unterschei-den sich die beiden Versionen auch in der grundlegenden Bewertung des Geschehens:

13 Als Wegweiser durch den Dschungel der älteren Forschungsliteratur über die Ereignisse von 411 sei hier lediglich auf die Standardkommentare zu den beiden Hauptquellen verwiesen: Gomme/Andrewes/Dover (Anm. 5) 163—256; Rhodes (Anm. 4) 362—410 sowie M. Chambers, Aristoteles. Staat der Athener, Darm-stadt 1990, 274-299.

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KLIO 81 (1999) 1 73

Bei Thukydides ist der Umsturz als putschartige Aktion einer machtbewußten, terroristi-schen Verschwörerclique dargestellt, deren Legitimität selbst unter formalrechtlichen Ge-sichtspunkten als fraglich erscheint.14 Der Bericht der Athenaion Politeia hingegen er-weckt den Eindruck eines staatsrechtlich korrekten, stufenweisen Uberganges von der einen Verfassungsordnung zur nächsten. Jeder Schritt von der überkommenen Demokra-tie weg folgt planmäßig auf den vorangegangenen, jeder findet seine Rechtfertigung in einem Beschluß der dazu legitimierten Staatsorgane, zunächst der demokratischen Ekkle-sie, dann der Fünftausend.15

Wir werden noch sehen, daß die Polystratosrede auch im Hinblick auf diese Bewer-tungsdiskrepanz wertvolle Hinweise zu bieten hat. Zunächst jedoch wollen wir jene Pas-sagen aus unserer Rede ins Auge fassen, die geeignet scheinen, den äußeren Ablauf der Ereignisse zu erhellen.

IV) Polystratos' Aktivitäten während des Umsturzes von 411 und die Frage nach der Bestellung der Vierhundert

Von den für den Problemkomplex des Ablaufes der Ereignisse von 411 relevanten Stel-len unserer Rede wollen wir zunächst die beiden wichtigsten ins Auge fassen.

Die erste von ihnen steht im § 2 des überlieferten Textes. Im Anschluß an die Fest-stellung, daß von den Mitgliedern der Vierhundert nur einige Feinde des Demos gewe-sen seien und daß Polystratos keineswegs zu diesen gehört habe, kommt der Verteidiger auf einen Punkt zu sprechen, der seiner Meinung nach als klarer Beweis für die Volks-freundlichkeit des Angeklagten zu werten sei:

Ου μοι δοκεΐ χρήναι όργίζεσθαι ύμδς τφ ονόματι τφ των τετρακοσίων, άλλά τοις έργοις ένίων. οί μέν γάρ έπιβουλεύσαντες [ήσαν] αύτών, οί & ϊνα μήτε τήν πόλιν μηδέν κακόν έργάσαιντο μήθ' ύμών μηδένα, άλλ' εύνοι δντες εισήλθον εις τό βουλευτήριον, ων εϊς ων ούτοσϊ τυγχάνει Πολύστρατος. [2] ούτος γάρ ήρέθη μέν ύπό των φυλετών ώς χρηστός ών άνήρ και περί τούς δημότας και περί τό πλήθος τό ύμέτερον κατηγοροΰσι δέ αύτοΰ ώς ούκ ευνους ήν τφ πλήθει τω ύμετέρω, αίρεθείς ύπό των φυλετών, οϊ άριστ' [αν] διαγνοΐεν περί σφών αύτών όποιοι τινές εΐσιν. „Es erscheint mir nicht angemessen, daß ihr gegen den Namen der Vierhundert einen Haß tragt, den nur die Taten einiger von ihnen rechtfertigen. Denn es gab zwar übelgesinnte unter ihnen, die anderen aber hatten weder gegen die Stadt noch gegen irgendeinen einzelnen von euch irgendein Unrecht im Sinne, sondern in guter Gesinnung zogen sie ins Rathaus ein. Zu diesen nun gehört auch Polystratos. Denn er wurde von seinen Phylengenossen gewählt als ein Mann, der sich sowohl seinen Demengenossen als auch euch, der breiten Masse, nützlich erwiesen hatte. Und doch klagen sie ihn an, daß er euch, der Masse, nicht wohlgesinnt gewesen sei — ihn, der von den Phyleten gewählt wurde, die am besten beurteilen können, wie einer ihnen ge-genüber gesinnt ist!"

14 Man berücksichtige etwa den Tenor von Thukydides' Ausführungen in 8,66,1 f., wo eindringlich dargelegt wird, wie die regulären demokratischen Organe unter dem Druck des von den Verschwörern ausgeübten Terrors zu bloßen Werkzeugen des Umsturzes wurden.

15 Zu dieser Diskrepanz s. etwa Chambers (Anm. 13) 274 f.

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74 Η. HE-:FTNKR, Rede für Polystratos

Der Kontext der Stelle macht klar, daß die Wahl, auf die sich der Sprecher hier beruft, mit Polystratos' Funktion als Ratsherr im Zusammenhang stehen muß: Polystratos ist in irgendeiner Weise von seinen Phylengenossen in den Rat der Vierhundert hineingewählt worden. Gegen diese Angabe steht jedoch der Bericht des Thukydides, der für die Be-stellung der Vierhundert einen ganz andersgearteten Modus angibt (8,67,3): ihm zufolge sind in der entscheidenden Ekklesie auf dem Kolonos (dazu u., S. 83—89) zunächst fünf πρόεδροι bestellt worden, die dann nach dem Kooptationsprinzip hundert Männer aus-wählen sollten, worauf von den Hundert jeder einzelne drei weitere hinzuwählte und so die Vierhundert vollzählig machte (8,67,3, zit. u., S. 86).

Zur Lösung des offenkundigen Widerspruches hat man die Vermutung ins Spiel gebracht, es sei von den Phyleten nur eine Vorwahl durchgeführt worden, die eigentliche Wahl aber dann nach dem von Thukydides beschriebenen Kooptationsverfahren erfolgt.16 Diese Lösung paßt indes weder zum Bericht des Thukydides, demzufolge sich die Ekklesie nach Bestätigung des Beschlusses über die Bestellung der 400 sogleich auflöste, und der Demos im Laufe der folgenden Ereignisse nicht mehr als handelndes Kollektiv auftrat (8,69,1), noch zum Charakter des Auswahlverfahrens selbst, dessen Mehrstufigkeit sich mit der Vorstellung einer Vorwahl durch die Phyleten schlecht verträgt (welche der bei Thukydides genannten Gruppen hätte dann aus den Vorgewählten genommen werden sollen, die ersten Hundert oder die folgenden Dreihundert?). Vor allem aber wäre das Argument der Verteidigung, Polystratos' Wahl durch die Phyleten beweise seine demokratische Gesinnung, weitgehend entwertet gewesen, wenn es sich dabei nur um eine Vorentscheidung handelte, während die eigentliche Selektion in den Händen einer von den oligarchischen Verschwörern gelenkten Clique lag. Die Verteidigung hätte in diesem Fall eine Erklärung dafür anbieten müssen, daß der Angeklagte offensichtlich nicht nur bei seinen Phyleten, sondern auch beim oligarchi-schen Wahlmännerkommittee Unterstützung genoß (dazu u., S. 80f.).

Wollen wir das Zeugnis unserer Rede nicht von vornherein als wertlos ansehen, so müssen wir davon ausgehen, daß die Phyletenwahl die rechtlich entscheidende Grundlage für Polystratos' Eintritt in den Rat der Vierhundert darstellte.

Nun zeigt unsere Rede, daß Polystratos während des Verfassungsumsturzes neben der Zugehörigkeit zu den Vierhundert noch eine weitere offizielle Funktion bekleidet hat. In §§13 und 14 erfahren wir, daß er als καταλογεύς mit der Erstellung der Liste der Fünf-tausend beschäftigt war:

Πώς & αν (τις) γένοιτο δημοτικώτερος, ή δστις ύμών ψηφισαμένων πεντακισχιλίοις παραδοΰναι τά πράγματα καταλογεύς ών ένακισχιλίους κατέλεξεν, ί'να μηδεΐς αύτφ διάφορος εΐη των δημοτών, αλλ' ίνα τόν μέν βουλόμενον γράφοι, εί δέ τω μή οιόν τ εΐη, χαρίζοιτο. καίτοι ούχ οϊ αν πλείους τούς πολίτας ποιώσιν, ούτοι καταλύουσι τόν δήμον, άλλ' οϊ αν έκ πλειόνων έλάττους. [14] ούτος δέ οϋτε όμόσαι ήθελεν οΰτε καταλέγειν, άλλ' αύτόν ήνάγκαζον, έπιβολάς έπιβάλλοντες και ζημιοΰντες· έπεϊ δέ ήναγκάσθη καϊ ώμοσε τόν δρκον, οκτώ ήμέρας είσελθών εις τό βουλευτήριον έξέπλει εις Έρέτριαν, και έδόκει έκεΐ τήν ψυχήν ού πονηρός είναι έν ταΐς ναυμαχίαις, και τετρωμένος δευρ' ήλθε, καϊ ήδη μετεπεπτώκει τά πράγματα.

16 Als Möglichkeit in den Raum gestellt von J. E. Sandys, Aristotle's Constitution of Athens, London 1893 im Komm, zu Ath. pol. 31,1, übernommen u. a. von G. Busolt, Griechische Staatskunde I, München 1920 (HabA IV1.1.1) 74f. und Ε. M. Harris, The Constitution of the Five Thousand, HSPh 93, 1990, 261.

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KLIO 81 (1999) 1 75

„Wie könnte jemand volksfreundlicher sein als ein Mann, der, als ihr beschlossen habt, die Regierung den Fünftausend anzuvertrauen, als καταλογεύς neuntausend aufgeschrieben hat, damit keiner seiner De-moten ihm gram sei, sondern damit er jeden, der es wollte, eintrage, und auch, wenn jemand die Qualifikationen nicht erfüllte, ihm entge-genkomme.17 ,Und es sind doch gewiß nicht jene, welche die Zahl der Bürger vergrößern, die Verfassungsumstürzer, sondern diejenigen, die eine größere Bürgerzahl reduzieren. Er aber wollte weder schwören noch als καταλογεύς tätig sein, doch sie zwangen ihn, indem sie ihm Bußen und Geldstrafen auferlegten [oder wohl richtiger: aufzuerlegen androhten?]. Als er dann dem Zwang nachgegeben und den Eid gelei-stet hatte, da segelte er schon acht Tage nach seinem Eintritt in das Buleuterion nach Eretria ab und bewies dort in den Seekämpfen, daß es ihm nicht an Mut mangelte. Und er kam verwundet heim, als sich das politische System bereits wieder verändert hatte."

Die Stelle lehrt uns zunächst, daß man im Zuge des Verfassungsumsturzes von 411 ernst-hafte Anstrengungen unternommen hat, eine Liste jener fünftausend Bürger zu erstellen, die nach dem Programm der Umsturzbetreiber das herrschende Element im Staat bilden sollten.

In der Tat weiß die Athenaion Politeia zu berichten, daß anläßlich des Beschlusses über die Einsetzung der Fünftausend in der Ekklesie auch beschlossen worden sei, „es sollten aus jeder Phyle zehn über vierzig Jahre alte Männer gewählt werden, die einen Katalog der Fünftausend erstellen sollten".18 Die Athenaion Politeia berichtet nichts von der Durchführung dieses Beschlusses, impliziert sie aber insofern, als im folgenden von der realen Existenz der Fünftausend ausgegangen wird.

Dem stehen die Angaben des Thukydides gegenüber, der zwar in seinem Bericht von der Einsetzung der Vierhundert die Existenz der Fünftausend vorauszusetzen scheint,19

an späterer Stelle jedoch dezidiert angibt, daß die Körperschaft der Fünftausend in der Realität bis zum Sturz der Vierhundert niemals existiert habe.20

Wie haben wir angesichts dessen das Zeugnis unserer Rede zu bewerten? Im Lichte unserer obigen Feststellungen über die historische Glaubwürdigkeit der Rede tun wir gut

17 Die hier in Anlehnung an Th. Thalheim, Des Lysias Rede für Polystratos. Programm des St. Elisabet-Gym-nasiums zu Breslau 1875/76, Breslau 1876, 27 f. gegebene Ubersetzung erscheint mir aus sachlichen Gründen gegenüber der von Francken (Anm. 3) 149 gebotenen Deutung (s. u.) den Vorzug zu verdienen: Es war für die demosfreundliche Gesinnung des Polystratos ein wirksames Argument, wenn man sagen konnte, daß er Bür-ger ungeachtet ihrer mangelnden Hopütenqualifikaöon (daß wir die Phrase εί δέ τψ μή οίόν τ εΐη so verstehen können, zeigt Thalheim a. Ο.) in die Reihen der 5000 aufnahm. Franckens vom rein Sprachlichen her durchaus ansprechende Interpretation, derzufolge Polystratos zunächst eine übergroße Zahl von Kandidaten auf die Liste der Fünftausend gesetzt hätte, um späterhin alle streichen zu können, denen die Aufnahme etwa unwill-kommen gewesen wäre (delegerat maiorem numerum, ut qui nollent collegia adscribi recusare possent, iisque tum exemtis e catalogo, numerus tarnen sujßciens superesset), gibt der Stelle einen Sinn, der die Argumentation des Sprechers, daß die Aufnahme von neun- statt fünftausend Personen in die Liste als Beweis für die demos freundliche Gesin-nung des Polystratos zu gelten habe (vgl. καίτοι ούχ οϊ αν πλείους τοϋς πολίτας ποιώσιν, ούτοι καταλύουσι τόν δήμον, άλλ' οϊ αν έκ πλειόνων έλάττους), von vornherein entwerten hätte müssen.

18 Ath. Pol. 29,5: έλέσβαι S έκ της φυλής έκαστης δέκα άνδρας ύπέρ τετταράκοντα έτη γεγονότος, οϊτινες καταλέξουσι τούς πεντακισχιλίους . . . .

19 Nach Thuk. 8,67,3 ist auf dem Kolonos unter anderem auch beschlossen worden, daß es in der Kompe-tenz der Vierhundert liegen solle, τούς πεντακισχιλίους δέ ξυλλέγειν οπόταν αύτοΐς δοκή.

20 Thuk. 8,92,11, dazu Gomme/Andrewes/Dover (Anm. 5), 314; vgl. Thuk. 8,93,2; zu der sinngemäß gleich-lautenden Passage in Ath. Pol. 32,3 vgl. Rhodes (Anm. 4) 409 und Chambers (Anm. 13) 296.

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76 Η. Hkftnkr, Rede für Polystratos

daran, die Schilderung, die der Sprecher von den καταλογεύς-Aktivitäten des Polystratos gibt, mit einer gewissen Skepsis zu betrachten: die apologetische Tendenz der Passage liegt of fen zu Tage. Auf der anderen Seite ist es kaum denkbar, daß der Sprecher die Katalogisierung der Fünftausend erfunden haben soll: Diese Episode ließ sich nur dann als Argument für die Verteidigung des Polystratos verwenden, wenn es für die Zuhörer keinen Zweifel gab, daß seinerzeit die Erstellung einer Liste der Fünftausend tatsächlich in Angriff genommen worden war und daß statt fünftausend neuntausend Personen in diese Liste aufgenommen wurden.21 Wir haben demnach keinen Grund, diese Katalogi-sierungsbemühungen in Zweifel zu ziehen, ebensowenig die Beteiligung des Polystratos.

Of fen bleibt jedoch, wie sich die καταλογεύς-Tätigkeit des Polystratos in den zeitlichen Ablauf des Geschehens einfügen läßt. Eine Eingrenzung des möglichen Zeitraumes er-gibt sich zunächst aus der Angabe der Rede, daß Polystratos acht Tage nach seinem Ein-tritt in den Rat nach Eretria absegelte und erst von dort zurückkehrte, als die Herrschaft der Vierhundert bereits zusammengebrochen war. Sein Wirken als καταλογεύς muß daher entweder in die Zeit vor der Bestellung der Vierhundert bzw. in die ersten acht Tage ihrer Herrschaft oder in die Zeit nach ihrem Sturz gesetzt werden.2 2

Die letztgenannte dieser Alternativen, derzufolge man Polystratos als καταλογεύς des auf die Vierhundert folgenden Ubergangsregimes ansehen müßte, hat selbst dann wenig Wahr-scheinlichkeit für sich, wenn man mit Beloch annehmen möchte, daß „es mit der Verwun-dung [des Polystratos] nicht so arg gewesen sein"23 wird. Einerseits ist es fraglich, ob nach dem Sturz der Vierhundert überhaupt ein Katalog der Fünftausend erstellt wurde,24 aber

21 Daß der Verteidiger „hier, wo es sich um eine offenkundige Tatsache handelt, die Wahrheit nicht falschen konnte" betont zurecht bereits K. J. Beloch, Griechische Geschichte 11,2, Straßburg 21916, 324. Die Zwei-fel von Harris (Anm. 16) 262 scheinen demgegenüber unbegründet. Ein mögliches Rekonstruktionsmodell für den technischen Ablauf der Katalogisierung der Fünftausend bietet F. Hurni, Comment les Cinq-Mille furent-ils selectionnes en 411? MH 48, 1991, 224 m. Anm. 23.

22 Neuerdings vertritt G. E. Pesely (Andron and the Four Hundred, ICS 20, 1995, 76, Anm. 70) die Auffas-sung, daß Polystratos' καταλογεύς-Aktivitäten an das Ende der Herrschaft der Vierhundert zu setzen seien: „I would assign Polystratos' eight days' service as registrar of the Five Thousand (ps.-Lysias 20,13—14) to the final days of the Four Hundred, following the promise reported in Thuc. 8.93.2". Im Lichte des Wort-lautes der oben (S. 74) zitierten Stelle betrachtet, würde diese Rekonstruktion jedoch voraussetzen, daß die Vierhundert wenige Tage vor der Thuk. 8,95,3—7 berichteten Seeschlacht bei Eretria eine Bestellung von καταλογεϊς zur Katalogisierung der Fünftausend und zugleich eine Ergänzung ihres Rates vorgenommen hätten, wobei gemäß § 2 unserer Rede die Phylen an der Bestellung der Neumitglieder ihren Anteil hatten. Dies ist a priori wenig wahrscheinlich (vgl. bereits Thalheim [Anm. 17] 3 f.), vor allem aber widerspricht die zugrundeliegende Rekonstruktion von Polystratos' Aktivitäten ganz klar den Angaben in § 16 f. unserer Rede, wo über seinen Abgang nach Euböa in einer Weise gesprochen wird, die zeigt, daß Polystratos nicht im Zuge von Thymochares' Flottenausfahrt (vgl. Thuk. 8,95,2 f.), sondern offensichtlich bei einer anderen Gelegenheit nach Euböa ausfuhr, anscheinend in offizieller Funktion: ... εϊ πέρ τι νεωτερίζειν έβούλετο εις τό ύμέτερον πλήθος, ούκ άν ποτ' έν όκτώ ήμέραις, είσελθών εις τό βουλευτήριον, φχετο έκπλέων. άλλ' εϊποι άν τις δτι κερδαίνειν έπιθυμων έξέπλευσεν, ώσπερ ένιοι ήρπαζον και εφερον. ουδείς τοίνυν αν ε'ίποι τι δπως των υμετέρων έχει, άλλά πάντα μάλλον κατηγοροΰσιν ή εις τήν άρχήν. Richtig bereits G. Gilbert, Beiträge zur innern Geschichte Athens im Zeitalter des Peloponnesischen Krieges, Leipzig 1877, 315.

23 Beloch (Anm. 21) 324. 24- Nach Thukydides 8,97,1 ist anläßlich des Sturzes der Vierhundert beschlossen worden, daß alle Bürger, die den

Hoplitenzensus erfüllten, zu den Fünftausend gehören sollten: είναι ... αυτών όπόσοι και οπλα παρέχονται. Die Erstellung einer formellen Liste war unter dieser Voraussetzung kein zwingendes Erfordernis, vor allem aber ergab sich dabei die deutliche Überschreitung der Richtzahl aufgrund der demographischen Verhält-nisse gewissermaßen von selbst (zur Zahl der οπλα παρέχοντες im Jahre 411 s. Gomme/Andrewes/Dover [Anm. 5] 329) und konnte einem unterrichteten Publikum nicht als politisch motivierte Entscheidung des καταλογεύς Polystratos präsentiert werden.

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auch wenn dies der Fall gewesen sein sollte, steht die Annahme einer damaligen καταλοθ γεύς-Tätigkeit des Polystratos im Widerspruch zu der Aussage in § 21 f. unserer Rede, daß sich jener unmittelbar nach dem Sturz der Vierhundert und der Flucht zahlreicher Exponenten des radikalen Oligarchenflügels einem Gerichtsprozess zu stellen hatte.25 An-gesichts dieses eindeutigen Zeugnisses müssen wir die in § 13 unserer Rede erwähnten Bemühungen um die Katalogisierung der Fünftausend in die Anfangsphase der Verfas-sungsumwälzung von 411 datieren. Polystratos' καταλογεύς-Tätigkeit gehört demnach in die zeitliche Nähe seines Eintrittes in den Rat der 400.

V) Wilamowitz' ,Zweistufenmodell' für die Bestellung der Vierhundert

Liest man §§13 und 14 unserer Rede vor dem Hintergrund jener Stellen, in denen Poly-stratos gegen die wegen seiner Zugehörigkeit zu den Vierhundert erhobenen Anklagen verteidigt wird (§§ 1 f.; 7—10; 15 f.), so erhält man den Eindruck, daß die nur hier er-wähnte Tätigkeit als καταλογεύς der Fünftausend dem Angeklagten keineswegs in glei-cher Weise zum Vorwurf gemacht worden ist, da es der Sprecher sogar wagen kann, die Art, in der Polystratos diese an sich zweifellos demokratiewidrige Funktion ausübte, als Beweis für dessen demokratische Gesinnung geltend zu machen.

Angesichts dieses bemerkenswerten Phänomens drängt sich die Frage auf, in welchem Verhältnis die beiden Funktionen zueinander gestanden haben?

Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in der Deutung der Phrase οϋτε όμόσαι ήθελεν οϋτε καταλέγειν. Offenkundig ist hier zunächst, daß es sich, wie schon Wilamo-witz erkannte, bei dem im Verbum όμόσαι implizierten Eid um keinen anderen handeln kann als um den zwei Zeilen weiter erwähnten ορκος;26 dieser aber stehe mit Polystratos' Tätigkeit als Ratsmann in ursächlichem Zusammenhang (έπεϊ δέ ήναγκάσθη και ώμοσε τόν δρκον, όκτώ ημέρας είσελθών εις τό βουλευτήριον).27

Im Hinblick darauf hat Wilamowitz für die Bestellung der Vierhundert ein Rekonstruk-tionsmodell in Vorschlag gebracht, das der auffälligen Verknüpfung von καταλογεύς-Funktion und Ratseintritt in § 14 unserer Rede ebenso Rechnung zu tragen versucht wie dem Widerspruch zwischen Polystratos' Wahl durch die Phyleten und dem von Thukydides beschriebenen Kooptationsverfahren: Seiner Ansicht nach sind die hundert καταλογεΐς des Aristoteles mit den έκατόν άνδρες des thukydideischen Verfahrens identisch; sie sei-en zunächst gemäß dem in Ath. Pol. 29,5 überlieferten Beschluß28 phylenweise gewählt

25 Die von Beloch (Anm. 21) 324 vertretene Auffassung, daß ευθύς μετά τά πράγματα in § 22 auch auf die Zeit der Wiederherstellung der vollen Demokratie bezogen werden kann, hat wenig Wahrscheinlichkeit fur sich, wenn man den vorangehenden Paragraphen in Betracht zieht.

26 So Wilamowitz (Anm. 4) 356 f.; keineswegs zwingend ist jedoch Wilamowitz's Gleichsetzung des hier er-wähnten ορκος mit dem Eid, der gemäß dem in Ath. Pol. 29,5 wiedergegebenen Volksbeschluß von den καταλογείς geleistet werden sollte; s. dazu u., S. 78 f.

27 Dies bestreitet J. Kriegel, Der Staatsstreich der Vierhundert in Athen 411 v. Chr., Diss. Bonn 1909, 32 f. mit dem Argument, der erzwungene Eid könne sich nur auf den Amtsantritt als καταλογεύς beziehen: „Denn wenn auch der Eintritt in den Rat erzwungen gewesen wäre, so würden die Ausführungen § 3.4 gegenstands-los sein, die nachzuweisen suchen, dass Polystratos nicht um persönlicher Vorteile willen in den Rat eingetreten sei. Das hatte nur Sinn, wenn der Eintritt freiwillig erfolgt war." Diese Deutung scheitert daran, daß es sich bei den in § 3 f. gebotenen Ausführungen gar nicht um Polystratos' Eintritt in den Rat, sondern um seine politische Gesinnung im allgemeinen handelt. Zum Verhältnis von καταλογεύς-Eid und Buleuteneid s. u., S. 79.

28 Zu dem in Ath. Pol. 29,5 erwähnten Volksbeschluß s. o., Anm. 18. Nach Wilamowitz (Anm. 4) 357 f. ist die dort erwähnte Ekklesie mit der von Thuk. 8, 67,2 f. geschilderten Versammlung auf dem Kolonos gleich-zusetzen, s. jedoch u., S. 87—89.

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78 Η. HEFTNER, Rede für Polystratos

worden, um die Katalogisierung der Fünftausend durchzuführen; erst einige Zeit später hätte dann ein weiterer Volksbeschluß bestimmt, daß sich die καταλογεΐς durch Koopta-tion von je drei weiteren Personen auf Vierhundert ergänzen und in dieser Form als Bule fungieren sollten. Die nur bei Thukydides genannten fünf πρόεδροι seien kein offizielles Gremium; man könne sie sich am ehesten als inoffizielle Führungsjunta der oligarchi-schen Verschwörer denken.29

Dieses Wilamowitz'sche Modell der Bestellung der Vierhundert, das wir im folgenden der Kürze halber als ,Zweistufenmodell' bezeichnen wollen, hat in der älteren Forschung einigen Anklang gefunden,30 wird aber von den Neueren mit großer Skepsis aufgenom-men: Selbst wenn man einen derartigen Ansatz nicht geradezu für unmöglich hält, möchte man sich die Gremien der vierhundert Buleuten und der hundert καταλογεΐς doch lieber als unabhängig voneinander entstanden denken. Polystratos' Doppelfunktion beweise nicht mehr, als daß es zwischen diesen beiden Funktionärsgruppen personelle Überschneidungen gegeben habe.31

Die skeptische Haltung der neueren Forschung scheint bei näherer Betrachtung weni-ger durch substantielle Einwände motiviert zu sein als vielmehr durch den Unwillen, der Polystratosrede einen mit den Berichten des Thukydides oder der Athenaion Polit-eia vergleichbaren Quellenwert einzuräumen. Ist man hingegen, wie oben (S. 70 f.) darge-legt, bereit, der Polystratosrede einen potentiell hohen Zeugniswert zuzugestehen, so scheint es angebracht, das von Wilamowitz entworfene Zweistufenmodell nicht einfach von der Hand zu weisen, sondern die dafür und dagegen sprechenden Indizien zu-nächst anhand der einschlägigen Passagen unserer Rede von neuem kritisch zu überprü-fen. Wir wollen dabei mit zwei Stellen den Anfang machen, die auf den ersten Blick Anhaltspunkte für mögliche Einwände gegen das Wilamowitz'sche Modell zu bieten scheinen.

VI) Mögliche Einwände gegen das Zweistufenmodell

Mustern wir die auf den Umsturz von 411 bezüglichen Passagen der Polystratosrede im Hinblick auf ihre Verträglichkeit mit dem oben vorgestellten Wilamowitz'schen Zweistu-fenmodell, so finden sich zwei Stellen, die auf den ersten Blick gegen die Gleichsetzung der καταλογεΐς mit den εκατόν άνδρες des Vierhunderter-Rates zu sprechen scheinen.

Der erste, bereits von Hackl vorgetragene Einwand betrifft Wilamowitz' Deutung der Phrase οϋτε όμόσαι — οΰτε καταλέγειν in § 14 der Rede: In der Vorstellung, daß όμόσαι und καταλέγειν auf dieselbe Funktion zu beziehen seien, will Hackl eine unzu-lässige sprachliche Härte erkennen; es sei demgegenüber „viel natürlicher, in οΰτε-ουτε dem gewöhnlichen Sprachgebrauch entsprechend eine Gegenüberstellung zu sehen und anzunehmen, daß es sich um zwei verschiedene Dinge handelt — erstens um den Rats-

29 Wilamowitz (Anm. 4) 357 f. 30 Ed. Meyer, Forschungen zur Alten Geschichte II, Halle 1899, 428 f.; Beloch (Anm. 21) 315 f.; besonders

entschieden E. Cavaignac, Les Quatre-Cents. Thucydide, Aristote et le discours pour Polystratos, RUB 31, 1925/26, 319 f., der die hundert καταλογεΐς nicht nur mit der Kerngruppe der Vierhundert, sondern auch mit den Ath. Pol. 30,1 erwähnten άναγράψοντες τήν πολιτείαν εκατόν άνδρες für identisch hält.

31 Für Skepsis gegen Wilamowitz s. etwa Hignett (Anm. 9) 365—367; Gomme/Andrewes/Dover (Anm. 5) 204 f. und Rhodes (Anm. 4) 385. M. Lang, The Revolution of the 400, AJPh 69, 1948, 287 nimmt an, die Oligarchen hätten bei der Konstituierung der Vierhundert aus politischen Erwägungen dafür gesorgt, daß alle καταλογεΐς im neugebildeten Rat Aufnahme fanden, „in order that their cataloging activities might be kept in check".

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KLIO 81 (1999) 1 79

herreneid und zweitens um die Tätigkeit als καταλογεύς. Das hat auch darum mehr Sinn, weil es sich von selbst verstand, daß die καταλογεΐς schwören mußten, und wenn Poly-stratos sich geweigert hat zu katalogisieren, so brauchte der Verteidiger nicht unnötiger-weise noch hinzufügen, er habe auch den dafür vorgeschriebenen Eid nicht leisten wol-len."32

Hackls Einwand ist vom rein Sprachlichen her nicht völlig stichhaltig (man könnte die .unnötige Hinzufügung' in οΰτε όμόσαι ούτε καταλέγειν an sich auch als bewußt gesetz-tes Hendiadyoin auffassen, vgl. etwa έπιβολάς έπιβάλλοντες και ζημιοϋντες im selben Paragraph), läßt sich aber im Hinblick auf die Logik der Aussage nicht ohne weiteres von der Hand weisen: Wir haben schon gesehen, daß nach Wilamowitz die hundert καταλογεΐς ursprünglich nicht als Buleuten, sondern zunächst nur zur Katalogisierung der Fünftausend vorgesehen waren; zu Ratsherrn wurden sie seiner Auffassung nach erst, als sich späterhin nach Zuwahl dreihundert weiterer Männer die Bule der Vierhundert konstituierte. In die-sem Fall mußten die dreihundert Hinzugewählten jedenfalls einen Antrittseid schwören, und es liegt nahe, daß dann auch die ersten Hundert diesen Buleuteneid ablegten: Zwar hatten sie aller Wahrscheinlichkeit nach schon beim Antritt ihres καταλογεύς-Amtes ge-schworen, aber jener Eid war ja auf eine durchaus andersgeartete Tätigkeit bezogen.

Wir müssen daher, auch wenn wir unserer Rekonstruktion das Wilamowitz'sche Zwei-stufenmodell zugrunde legen, davon ausgehen, daß Polystratos im Rahmen seiner Aktivi-täten während des Umsturzes zweimal einen Eid zu leisten hatte, zunächst als καταλογεύς, später dann als Mitglied im Rat der Vierhundert. Das όμόσαι von § 14 ist aber, wie sich aus dem Zusammenhang der folgenden Passage ergibt (s. o., S. 77), auf den späteren, den Buleuteneid, zu beziehen.

Zwar muß man konzedieren, daß bei dieser Deutung die etwas abrupte Verknüpfung der zwei Funktionen des Polystratos durch das Konjunktionenpaar οϋτε-οϋτε auf den ersten Blick als sprachliche Härte erscheinen mag, aber eben nur auf den ersten Blick. Betrachtet man die Stelle im Kontext der vorangegangenen Passage und des Redezwek-kes, ergibt gerade diese abrupte Anknüpfung einen guten Sinn: Durch die Schilderung von Polystratos' Tätigkeit als καταλογεύς beweist der Sprecher die Volksfreundlichkeit des Angeklagten und impliziert damit dessen Distanz zu den politischen Zielen der stren-gen Oligarchen; nun mußte es ihm aber darauf ankommen, die Relevanz dieses Faktums auch für den gegen Polystratos erhobenen Hauptvorwurf herauszustellen. Dazu bringt er dann ganz unvermittelt dessen Zugehörigkeit zu den Vierhundert ins Spiel (zur stärkeren Hervorhebung in Form eines ύστερον πρότερον): sein Eintritt in den Rat der Vierhun-dert sei ebenso unfreiwillig erfolgt wie die καταλογεύς-Tätigkeit.

§ 14 unserer Rede legt uns also insofern eine Modifikation von Wilamowitz' Ansichten nahe, als wir unter dem dort erwähnten Eid nicht den Antrittseid der καταλογεΐς, son-dern denjenigen der Buleuten verstehen möchten. Wird mit dieser Erkenntnis eines der von Wilamowitz für die Gleichsetzung der in Ath. Pol. 29,5 erwähnten καταλογεΐς mit den εκατόν άνδρες von Thuk. 8,67,3 angeführten Indizien hinfällig, so bietet andererseits der Text von § 14 nach unserer Deutung auch keinerlei Beweis g e g e n die Möglichkeit dieser Gleichsetzung.

Eine im Sinne des Zweistufenmodells problematische Passage findet sich auch in § 16 der Polystratosrede:

32 U. Hackl, Die oligarchische Bewegung in Athen am Ausgang des 5. Jahrhunderts v. Chr., Diss. München 1960, 37 f.

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80 Η. HEFTNF.R, Rede für Polystratos

κατηγοροΰσι μεν των τετρακοσίων, οτι ήσαν κακοί· καίτοι ύμεϊς αύτοί πεισθέντες ύπό τούτων παρέδοτε τοις πεντακισχιλίοις, και εΐ αύτοΐ τοσούτοι δντες έπείσθητε, ένα έκαστον των τετρακοσίων ού χρην πεισθηναι; άλλ' ούχ ούτοι άδικοΰσιν, αλλ' οϊ ύμας έξηπάτων καί κακώς έποίουν. „Man wirft den Vierhundert vor, sie seien .Schädlinge' gewesen. Und doch habt Ihr selbst euch von diesen Leuten überreden lassen, [die Regie-rungsgewalt] den Fünftausend zu übergeben. Und wenn Ihr, die Ihr so viele seid, euch habt bereden lassen, wie hätte da jeder einzelne von den Vierhundert sich nicht bereden lassen sollen? Aber nicht sie taten un-recht, sondern diejenigen, die euch getäuscht und mißhandelt haben."

Beziehen wir das Demonstrativpronomen in ύπό τούτων auf die vorher genannten τετρα-κόσιοι, so müßten wir annehmen, daß der Rat der Vierhundert schon bestanden hätte, als das Volk — auf sein Betreiben — beschloß, den Fünftausend die Regierungsgewalt zu übergeben. Der Folgesatz zeigt indes, daß der Sprecher hier (wie schon in §§ 1 f. und 8) die .gewöhnli-chen' Mitglieder der Vierhundert gleichermaßen als Opfer einer Clique von Übelgesinnten (§ 1: έπιβουλεύσαντες) hinzustellen versucht. Diese allein seien die wirklichen Übeltäter, die das Volk „betrogen und mißhandelt" hätten. Logischerweise kann daher die Phrase ύπό τούτων nur auf diese Clique, nicht auf die Gesamtheit der Vierhundert, bezogen werden.

Wen wir uns unter den ούτοι, die wir wohl mit den εκείνοι von § 8 f. gleichsetzen dürfen, vorzustellen haben, läßt unser Sprecher offen; ziehen wir dafür das Zeugnis des Thukydides heran, so wird klar, daß es sich hier nur um jene oligarchischen Verschwörer (ξυνεστώτες) handeln kann, die der Historiker als treibende Kraft hinter den Umsturzbe-strebungen des Frühjahrs 411 charakterisiert.33 Thukydides' Bericht bestätigt, daß die Agitation dieser Gruppe vordergründig auf ein Regime der Fünftausend gerichtet war (in Wirklichkeit freilich hätten sie die Macht selbst in der Hand behalten wollen),34 was gut zur Angabe der Polystratosrede paßt, sie hätten den Demos dazu überredet, die Macht in die Hände der Fünftausend zu legen (§ 16, zit. o.).

Nun läßt Thukydides keinen Zweifel daran, daß diese Verschwörer schon lange vor der Konstituierung des Vierhunderter-Rates als informelle Aktionsgruppe aktiv waren (8,65,2—66,5); daher kann ihre Erwähnung im Zusammenhang mit dem Volksbeschluß zur Einsetzung der Fünfttausend kein zwingendes Argument für eine Datierung dieses Ereignisses erst nach der Einsetzung der Vierhundert darstellen.

VII) Bietet die Polystratosrede positive Evidenz für das Zweistufenmodell?

Schon bei isolierter Betrachtung unserer Rede sticht die Inkonsequenz ins Auge, mit der die Verteidigung einerseits Polystratos' Wahl zum Mitglied des Rates der Vierhundert als demokratisches Vertrauensvotum der Phyleten wertet,35 ihn aber dann als einen Mann

33 Hier nur eine kleine Blütenlese der von Thukydides zur Bezeichnung dieser Verschwörer gebrauchten Aus-drücke: εταίροι (8,65,2); οϊπερ καί μεθιστάναι έμελλον; ξυνεστώτες (beides in 8,66,1); τό ξυνεστηκός (8,66,2 und 3); οί ξυνκαταλύοντες τόν δήμον (8,68,4).

34 Thuk. 8,65,1—66,1, s. bes. 65,3: λόγος τε έκ του φανερού προείργαστο αύτοίς ώς ... οϋτε μεθεκτέον των πραγμάτων πλείοσιν ή πεντακισχιλίοις, καί τούτοις οϊ αν μάλιστα τοις τε χρήμασι καί τοις σώμασιν ώφελεΐν οίοι τε ώσιν. Vgl. u., Anm. 58.

35 Wieviel Gewicht der Sprecher gerade auf dieses Argument legt, zeigt die zweimalige Erwähnung von Poly-stratos' Wahl durch die Phyleten in ein- und demselben Paragraphen: ήρέ·^η μεν ύπό των φυλετών . . . αίρεθεϊς ύπό των φυλετών (§ 2).

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hinstellen möchte, der den Eintritt in den Rat am liebsten verweigert und nur dem Zwang gehorcht hätte. Noch größerer Anlaß zur Verwunderung bietet sich, wenn man zum Vergleich Thukydides' Schilderung der politischen Situation heranzieht: Bekanntlich stellt der Historiker die Zeit vor dem Umsturz als gänzlich vom Terror der zielbewußten oligarchischen Verschwörer bestimmt dar; zwar seien die Ekklesie und der Rat der 500 immer noch zusammengetreten, hätten aber nichts anderes zu beschließen gewagt, als was den Verschwörern gut schien.36 Ein solches Bild läßt sich mit dem, was in § 2 unse-rer Rede impliziert wird, nur schwer vereinbaren. Hätte das politische Klima der Schilde-rung des Thukydides zur Gänze entsprochen, so hätte sich der oligarchische Terror auch bei der Wahl als bestimmender Einfluß manifestieren müssen, zumal die Abstimmung vermutlich nicht geheim war,37 und es wären dann vornehmlich Vertrauensleute der Ver-schwörer zum Zug gekommen.

Unter solchen Umständen gewählt zu werden, hätte natürlich in den Augen miterle-bender Zeitgenossen keinen Beweis für demokratische Gesinnung darstellen können, und es hätte in diesem Fall für Polystratos' Verteidiger nahegelegen, entweder über den Wahl-akt still hinwegzugleiten oder sowohl die Wähler wie auch den Gewählten zugleich als unwillige Opfer oligarchischen Zwanges darzustellen, analog zur Linie der Verteidigung in § 13 f. Wenn nun der Verteidiger des Polystratos vor einem solchen Publikum die Behauptung wagt, sein Mandant sei ώς χρηστός ών άνήρ και περϊ τούς δημότας και περί τό πλήθος τό ύμέτερον gewählt worden (§ 2; zit. ο., S. 73), so läßt sich dies nur so ver-stehen, daß er darauf bauen konnte, die angesprochene Wahl werde in der Rückerinne-rung der demokratischen Richter kein negativ gewertetes Faktum darstellen — im Gegen-satz zur eigentlichen Bestellung des Rates der Vierhundert.

Der Widerspruch löst sich indes ganz zwanglos, wenn wir unserer Rekonstruktion der Ereignisse das Wilamowitz'sche Zweistufenmodell zugrunde legen und davon ausgehen, daß zwischen der Bestellung der hundert καταλογεΐς und dem Beschluß, dieses Kollegium durch Kooptation in eine vierhundertköpfige Bule umzuwandeln, geraume Zeit verstrichen ist — und daß sich im Verlauf dieser Zeitspanne das innenpolitische Klima in Athen in einer Weise gewandelt hatte, die zur Zeit des Polystratosprozesses den Athenern noch bewußt war.

Die Vorstellung einer längerfristigen Entwicklung findet sich in der Athenaion Politeia, wo die Machtübernahme der Vierhundert, wie wir gesehen haben, am Ende eines in mehreren Etappen verlaufenden Prozesses verfassungsändernder Rechtsakte steht (vgl. o., S. 72f.). Wieweit wir den einzelnen in der AP angeführten Entwicklungsstufen des zur Oligarchie hinführenden Entwicklungsprozesses Historizität zuerkennen dürfen, hat sich trotz einer zeitweise sehr intensiv geführten Forschungsdiskussion nicht eindeutig klären lassen;38 wichtig für uns ist die Gesamttendenz des dort berichteten Ereignisablau-

36 Thuk. 8,66,1. Der Terror der Oligarchen wird auch in der Polystratosrede angesprochen, wenn der Verteidi-ger in § 8 f. feststellt, daß diejenigen, die den εκείνοι widersprachen, teils ins Exil getrieben, teils getötet wurden (των γαρ λεγόντων εναντία εκείνοι οί μέν εφευγον, οί δε άπέθνησκον . . . τούς μέν γάρ έξήλαυνον αύτών, τούς δέ άπεκτίνυσαν).

37 Beamtenwahlen pflegten durch Handheben durchgeführt zu werden, s. E. S. Staveley, Greek and Roman Voting and Elections, London 1972, 88. 93. Die Vorwahlen in den Demen waren ohnehin anfällig für Beeinflussung und korrupte Praktiken aller Art, s. Ath. Pol. 62,1, dazu R. Osborne, Demos: The Discovery of Classical Attika, Cambridge 1985, 81. Für einen vergleichbaren Fall von Abstimmungsbeeinflussung unter den Dreißig vgl. Lys. XIII,37.

38 S. dazu (um nur von den neueren Arbeiten die wichtigsten zu nennen) Lang (Anm. 31), 282—284; D. Flach, Der oligarchische Staatsstreich in Athen vom Jahr 411, Chiron 7, 1977, 9—33; Gomme/Andrewes/ Dover (Anm. 5) 212-251 und Rhodes (Anm. 4) 370-389; Chambers (Anm. 13) 274-296.

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82 Η. Heftnkr, Rede für Polystratos

fes: die Entwicklung von der als zeitweilige Maßnahme propagierten (Ath. Pol. 29,5: έως αν ό πόλεμος ή) Modifikation des überkommenen demokratischen Systems hin zur Ein-richtung des autokratisch regierenden Vierhunderter-Rates setzt eine stetige Zunahme des Einflusses der radikalen oligarchischen Richtung voraus. Verbinden wir diese Vorstel-lung einer etappenweisen Entwicklung hin zur Oligarchie mit der oben (S. 73) zitierten Angabe unserer Rede über die demokratisch legitime Wahl des Polystratos einerseits, mit Thukydides' Zeugnis über den Terror der Oligarchien andererseits (vgl. o., Anm. 36), so spricht viel dafür, daß dieser Terror und die sich daran knüpfenden Manipulationen erst im letzten Stadium der Entwicklung endgültig und offensichtlich zum beherrschenden Element des Geschehens wurden. Die in den Anfangsphasen der Reformbewegung ge-setzten Rechtsakte, vor allem der Beschluß zur Einsetzung der Fünftausend mit allen sich daran knüpfenden Staatsakten, waren zwar gleichfalls aufgrund der Agitation der oligarchischen ξυνωμόται, aber in einem freien und nach den Kriterien der Demokratie akzeptablen Verfahren zustandegekommen, sie konnten daher auch in der wiederherge-stellten Demokratie von 410 im Rückblick als Ausdruck des legitimen Volkswillens ge-wertet werden, ebenso die Wahl der καταλογεΐς durch die Phyleten.

Ein weiteres Indiz zugunsten des Zweistufenmodells bietet uns der Vergleich zwischen den in § 2 unserer Rede gebotenen Angaben über diese Wahl und dem Bericht der Athe-naion Politeia über die Einsetzung der Fünftausend.

Wir haben bereits jenen Passus des in Ath. Pol. 29,5 berichteten Volksbeschlusses zi-tiert, demzufolge die zur Katalogisierung der Fünftausend zu bestellenden καταλογεΐς „aus den Phylen gewählt" werden sollten. Zwar geht, wie Hignett zurecht bemerkt, aus dem έλέσθαι 8 έκ της φυλής εκάστης der Athenaion Politeia-Stelle nicht explizit hervor, daß die Wahl durch die Phylenangehörigen selbst vorgenommen werden sollte,39 aber wenn man bedenkt, daß es sich um insgesamt hundert Personen handelte, so erscheint ein solcher Modus doch als der wahrscheinlichste, wahrscheinlicher jedenfalls als etwa die Vorstellung, daß jeder einzelne dieser hundert Männer von der gesamten Ekklesie gewählt worden sei. Gehen wir von Wilamowitz' Modell aus, in dem die καταλογεΐς den Kern des Rates der Vierhundert bildeten, so fügt sich die zitierte Bestimmung gut zu der Angabe in § 2 unserer Rede, daß Polystratos aufgrund einer Wahl durch die Phyleten in den Rat der Vierhundert gelangt sei.

Die voranstehenden Überlegungen zeigen, daß uns die Polystratosrede immerhin eini-ge Indizien zugunsten der Wilamowitz'schen Rekonstruktion in die Hand gibt. Zu diesen Indizien tritt nun eine Überlegung allgemeiner Natur hinzu: Das von Thukydides in 8,67,3 beschriebene Kooptationsverfahren der Auswahl der Vierhundert ist in seiner komplizierten Mehrstufigkeit nicht unmittelbar einleuchtend. So wie Thukydides die Lage schildert, hätte es für die Betreiber des auf dem Kolonos gestellten Antrages an sich am nächsten gelegen, alle Buleuten durch die fünf πρόεδροι auswählen zu lassen. Weshalb dann also die unnötige Zwischenschaltung der εκατόν άνδρες? Wenn aber zu diesem Zeit-punkt bereits in den καταλογεΐς eine Hundertschaft angesehener und qualifizierter älterer Männer zur Verfügung stand, von denen, wie Wilamowitz zurecht feststellt, die Mehrzahl wohl auf jeden Fall in den Rat aufgenommen worden wäre,40 so erscheint es nur als logisch, daß man den Entschluß faßte, sich bei der Bildung des neuen Rates dieses Kol-legiums in toto zu bedienen und ihnen die Aufgabe der Kooptation der restlichen Mit-

39 Hignett (Anm. 9) 366. 40 Wilamowitz (Anm. 4) 357.

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glieder anzuvertrauen, für die sie durch ihre Katalogisierungstätigkeit die besten Voraus-setzungen mitbrachten. Da die καταλογεϊς seinerzeit phylenweise gewählt worden waren, konnte man zugleich darauf hoffen, mit diesem Verfahren eine geographisch ausgewoge-ne Repräsentation der Phylen im Rat der Vierhundert zu erzielen.

Was die von Thukydides berichtete Funktion der fünf πρόεδροι bei der Auswahl der εκατόν άνδρες betrifft, müssen wir allerdings annehmen, daß sich der Historiker in dieser Hinsicht geirrt hat; die πρόεδροι dürften, wie schon der Name andeutet, als permanentes Leitungsgremium des zu schaffenden Vierhunderterrates gedacht gewesen

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sein. All dies berechtigt uns, das Wilamowitz'sche Zweistufenmodell der Bestellung der

Vierhundert, wenngleich wir es mangels fester Beweise nicht als gesichert ansehen kön-nen, doch als einen wahrscheinlichen Lösungsvorschlag für die Diskrepanzen zwischen unseren Quellen anzusehen, wahrscheinlicher jedenfalls als der von Thukydides für die Vierhundert berichtete Bestellungsmodus.

VIII) Die Rolle des Demos beim Verfassungsumsturz und die Ekklesie auf dem Kolonos

Liest man die Polystratosrede vor dem Hintergrund der Parallelüberlieferung, so sticht die Tatsache ins Auge, daß der Sprecher zweimal expressis verbis das Volk für die Ein-setzung der Fünftausend verantwortlich macht,42 aber kein Wort darüber fallen läßt, daß — wie wir nach Thukydides und anderen Autoren annehmen müssen — ja auch die Kon-stituierung der Vierhundert selbst formal durch einen Volksbeschluß abgesegnet worden ist.43 Dies zu erwähnen, hätte sich für die Verteidigung gerade im Kontext der oben (S. 80) zitierten Passage in § 16 angeboten, wo zur Endastung des Polystratos auf die Mitwirkung des Volkes am Verfassungsumschwung hingewiesen wird. Da die Mitglied-schaft im Vierhunderter-Rat den Hauptvorwurf gegen Polystratos darstellte, hätte sich sein Verteidiger eine Gelegenheit, die Mitwirkung des Volkes an der Einsetzung gerade dieses Gremiums zur Sprache zu bringen, eigentlich nicht entgehen lassen dürfen. Daß er dieser Versuchung widersteht und es vorzieht, den Beschluß über die Einsetzung der Vierhundert mit Schweigen zu übergehen, haben wir daher als Indiz dafür zu werten, daß die Volksversammlung, auf der jener folgenschwere Beschluß gefällt wurde, in der Sicht des Publikums als vom demokratischen Standpunkt aus anfechtbar und daher irre-gulär betrachtet wurde.

Die Frage, welche Umstände diese Wertung bestimmt haben könnten, findet in unse-rer Rede keine Antwort, und auch die Parallelüberlieferung läßt uns hier weitgehend im Stich. Immerhin gibt uns Thukydides den wichtigen Hinweis (8,67,2), daß die besagte Volksversammlung außerhalb der Stadt, im Poseidonheiligtum auf dem Kolonos Hippios, stattfand. Die auffällige Tatsache, daß der Historiker es in seinem an sich knapp gehalte-

41 So bereits Gilbert (Anm. 22) 307. Für die Existenz eines solchen Fünfmännergremiums während des oligar-chischen Intermezzos in Athen 411/10 scheint die fragmentarisch erhaltene Eingangsformel des Proxenie-dekretes für Pythophanes (IG I3 98) zu sprechen; es ist jedoch nicht ganz sicher, ob dieses Dekret wirklich der Periode der Vierhundert zuzurechnen ist, s. Gomme/Andrewes/Dover (Anm. 5) 196 f. und Meiggs/ Lewis (Anm. 10), S. 249.

42 Außer in § 16 auch noch § 13: ύμών ψηφισαμένων πεντακισχιλίοις παραδοΰναι τά πράγματα. 43 Thuk. 8,67,3 f.; vgl. Lys. XII,65 und Xen. hell. 2,3,45 (beide Stellen zitiert u., Anm. 49). In der Ath. Pol.

(32,1) wird der Verfassungsentwurf über die Bule der Vierhundert ύπό τοΰ πλήθους bestätigt, worunter allerdings auch die Gesamtheit der Fünftausend verstanden werden kann, s. Rhodes (Anm. 4) 404.

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84 Η . HEFTNF.R, Rede für Polystratos

nen Bericht für nötig erachtet, gerade diese Ekklesie ausdrücklich zu lokalisieren, zeigt,

daß hinter der Wahl dieses Versammlungsortes gewichtige politische Implikationen ge-

steckt haben müssen. In der Forschung hat man denn auch seit jeher in der Einberufung

der Versammlung auf den Kolonos einen Versuch der Oligarchen gesehen, einen auf der

Linie ihrer Intentionen liegenden Beschluß sicherzustellen, sei es durch die psychologi-

sche Wirkung der ungewohnten Ortlichkeit bzw. die ideelle Bedeutung des Kolonos als

Heiligtum der athenischen Ritterschaft44 oder auch durch Zuziehung eines im Vergleich

zu den regulären Versammlungen beschränkten Personenkreises.45 All diese Möglichkei-

ten bleiben freilich im Bereich der Hypothese, aber allein die Tatsache, daß die oligarchi-

schen Verschwörer imstande waren, in eigener Initiative eine Ekklesie einzuberufen und

dafür (sicher nicht ohne Hintergedanken) einen bislang ungebräuchlichen Versammlungs-

ort festzulegen,46 zeigt deutlich, wie sehr die Radikalen in diesem Stadium der Ereignisse

bereits das Heft in der Hand hielten.

Ziehen wir dazu nun das auffällige Schweigen unserer Rede über die Einsetzung der

Vierhundert und den politischen Charakter der auf dem Kolonos gefaßten Beschlüsse in

Betracht, so können wir die Vermutung wagen, daß sich der Einfluß der radikalen Oli-

garchen auf der Kolonosversammlung derart unübersehbar zur Geltung brachte, daß es

ihnen — sei es durch Beschränkung der Teilnehmerzahl, sei es durch of fene Einschüchte-

rung4 7 — gelang, die Beschlüsse der Ekklesie in ihrem Sinne zu lenken,48 und daß dies

den miterlebenden Zeitgenossen klar bewußt war.

44 E. Kirsten, Ur-Athen und die Heimat des Sophokles, WS 86, N. F. 7, 1973, 15; P. Siewert, Poseidon Hippi-os am Kolonos und die athenischen Hippeis, in: G. W. Bowersock/W. Burkert/M. J. Putnam (Hgg.) Ark-touros. Hellenic Studies presented to Bernard Μ. W. Knox on the occasion of his 65th Birthday, Ber-lin—New York 1979, 286-9.

45 G. Busolt, Griechische Geschichte III, 2, Gotha 1904, 1478 m. Anm. 2; U. Kahrstedt, Der Staatsstreich von 411, in: ders., Forschungen zur Geschichte des ausgehenden fünften und des werten Jahrhunderts, Berlin 1910, 243 f.; E. Meyer, Geschichte des Altertums VII, 9. Aufl., bearb. v. H.-E. Stier, Essen o. J. 548 f.; Kriegel (Anm. 27) 49; skeptisch dagegen Lang (Anm. 31) 280 und Gomme/Andrewes/Dover (Anm. 5) 167. Hingegen rechnet P. J. Rhodes, The Five Thousand in the Athenian Revolutions of 411 Β. C., JHS 92, 1972, 117 Anm. 21 sogar mit der Möglichkeit, daß sich die auf dem Kolonos Anwesenden während der Sitzung ad hoc als „die Fünftausend" konstituiert hätten, womit die Behauptung der Ath. Pol., daß die Fünftausend bei der Einsetzung der Vierhundert schon bestanden hätten, eine Erklärung fände.

46 Kahrstedt (Anm. 45) 244, Anm. 11 macht wohl zurecht darauf aufmerksam, daß Thukyidides' Formulierung επειτα επειδή ή ήμερα έφήκε, ξυνέκλησαν τήν έκκλησίαν ές τόν Κολωνόν darauf schließen läßt, daß für die betreffende Ekklesie ursprünglich nicht der Kolonos Hippios, sondern ein anderer Versammlungsort vorge-sehen war.

47 Man vergleiche etwa die Schilderung, die Lysias in der Eratosthenesrede (§§ 72—76) von der Einsetzung der Dreißig gibt.

48 In diese Richtung argumentiert besonders entschieden Kahrstedt (Anm. 45) 244, der in der Kolonosver-sammlung geradezu eine irreguläre „secessio" einer vom Oligarchenklüngel kontrollierten Minderheit erken-nen möchte: „Die Verschworenen, gefolgt von ihren Anhängern und natürlich ein paar anderen, teils terro-risierten, teils düpierten Bürgern zogen auf und davon, verließen die Bannmeile der Stadt und konstituierten sich auf dem Kolonos als das souveräne Volk von Athen, . . . " Die Gegenposition vertritt am entschiedensten Harris (Anm. 16), 268—270, der zwar die Existenz oügarchischen Terrors im Vorfeld des Verfassungsumsturzes nicht bestreitet, wohl aber dessen Bedeutung als Motiv für die auf dem Kolonos gefallene Entscheidung in Zweifel zieht: Die finanzielle und militärische Notlage des Staates und die Hoff-nung auf persische Hilfe seien für die Mehrheit der Athener Grund genug gewesen, eine Reform der Verfassung anzustreben. Die Vierhundert seien somit auf friedlichem Wege zur Macht gelangt; erst später-hin hätten sie, „um ihre Gegner zu eliminieren und die Opposition zu entmutigen", zu den Mitteln des Terrors gegriffen. Dem können wir nach den obigen Ausführungen im Hinblick auf die Anfangsstadien des Verfassungsumsturzes durchaus zustimmen, nicht jedoch bezüglich der Kolonosversammlung und der

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Unter diesen Umständen wird verständlich, weshalb der Sprecher der Polystratosrede es nicht wagen konnte, den Demos für den Beschluß zur Einsetzung der Vierhundert verantwortlich zu erklären — im Gegensatz zu späteren Autoren, die dank des zeitlichen Abstandes und des Verblassens der konkreten Rückerinnerung keinen Grund mehr hat-ten, auf die Sensibilität eines zeitgenössischen, demokratisch gestimmten Publikums Rücksicht zu nehmen.49

IX) Die chronologische Einordnung der Kolonos-Ekklesie

Im Zusammenhang mit der politischen Bewertung der Versammlung auf dem Kolonos Hippios stellt sich zwangsläufig auch das Problem ihrer chronologischen Stellung im Rahmen der Ereignisse von 411; dieses ist seinerseits wieder untrennbar mit der Frage verknüpft, was auf dem Kolonos eigentlich beschlossen wurde.

Die überwiegende Mehrheit der neueren Forschung geht davon aus, daß Thukydides' Ko-lonosversammlung mit der in der Ath. Pol. 29,5 berichteten Ekklesie identisch sein müsse, da sich zwei der dort angeblich gefaßten Beschlüsse, die Aufhebung der γραφή παρανόμων und die Abschaffung der Ämterbesoldung, im Bericht des Thukydides wiederfinden. Um die Kraft dieses Arguments besser bewerten zu können, wollen wir zunächst die fraglichen Partien der beiden Autoren nebst ihrem unmittelbaren Kontext nebeneinanderstellen:

Thuk. 8,67,1-3 [§ 1: Bestellung einer Kommission von zehn ξυγγραφής zur Verfassungsreform]

(2) επειτα επειδή ή ήμερα έφήκε, ξυνέκλησαν τήν έκκλησίαν ές τόν Κολωνόν . . . και έσήνεγκαν οί ξυγγραφής άλλο μεν ούδέν,

Ath. pol. 29,4f. [29,1 f.: Einsetzung einer Verfassungsre-form-Kommission von dreißig Männern]

(4) οί & αίρεθέντες . . . τάς των παρα-νόμων γραφάς καϊ τάς ε ι σ α γ γ ε λ ί α ς και τάς π ρ ο σ κ λ ή σ ε ι ς ά ν ε ϊ λ ο ν , δπως

Machtübernahme der Vierhundert (gegen die auch von Harris [Anm. 16] 267 geteilte Ansicht, daß die Kolonosversammlung mit der in Ath. Pol. 29,5 geschilderten Ekklesie identisch sei und demnach in ein frühes Stadium der Verfassungsumwälzung gehöre s. u., S. 85—89).

49 Ein Beispiel für diese mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand hervortretende Tendenz, das Vierhunder-ter-Regime als auf demokratische Weise vom Volk eingesetzt darzustellen, bietet bereits Lysias, wenn er in der Eratosthenesrede dem Theramenes den Vorwurf macht, das Volk zur Annahme der Verfassung der Vierhundert überredet zu haben (XII,65: [Θηραμένης] πείσας ύμδς τήν επί των τετρακοσίων πολιτείαν έλέσθαι καϊ ό μέν πατήρ αύτοϋ των προβούλων ών ταϋτ' επραττεν, ...). Auch Xenophon läßt Theramenes in seiner Verteidigungsrede vor den Dreißig behaupten, daß die Verfassung der Vierhundert vom Demos beschlossen worden sei: τήν μέν γάρ έπί των τετρακοσίων πολιτείαν και αυτός δήπου ό δήμος έψηφίσατο, διδασκόμενος ώς οί Λακεδαιμόνιοι πάση πολιτεία μάλλον αν ή δημοκρατία πιστεύσειαν (hell. 2,3,45), ebenso Diodor: ό δήμος αθυμήσας έξεχώρησεν εκουσίως τής δημοκρατίας, έλόμενος δέ άνδρας τετρακοσίους . . . 13,34,2; vgl. 13,36,2: έλόμενοι δέ τετρακοσίους άνδρας, τούτοις έδωκαν τήν έξουσίαν αυτοκράτορα διοικεϊν τά κατά τόν πόλεμον. Im Falle der Lysias-Stelle spricht die Erwähnung von Theramenes' Vater Hagnon dafür, daß der Redner in dieser Passage nicht speziell die Kolonos-Versammlung, sondern die Verfassungsumwälzung von 411 in ihrem Gesamtverlauf im Auge hat, denn nach dem Bericht der Ath. Pol. (29,2) haben die Probuloi, zu denen Hagnon gehörte, mir in der ersten Phase der Verfassungsänderung eine aktive Rolle gespielt. In der bei Xenophon geschilderten Redesituation hinwiederum lag es im Interesse des Sprechers Therame-nes, die Mitverantwortung des Demos am Verfassungsumschwung zu betonen; es ist daher kein Wunder, wenn er die Kolonosversammlung als reguläre Ekklesie wertet. Ahnliches mag auch für Diodor gelten, dessen Darstellung der athenischen Geschichte im späten 5. Jh. durch eine eindeutige Theramenesapologe-tische Tendenz charakterisiert ist (s. C. Bearzot, Teramene tra storia e propaganda, RIL 113, 1979, 196 f.).

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86 Η. Hrftnbr, Rede für Polystratos

αύτό δέ τοΰτο, έ ξ ε ΐ ν α ι μ ε ν ' Α θ η ν α ί ω ν ά ν α τ ε ί ε ϊ π ε ΐ ν γ ν ώ μ η ν ήν αν τ ι ς β ο ύ λ η τ α ΐ ' ή ν δέ τ ι ς τ ό ν ε ί π ό ν τ α ή γ ρ ά ψ η τ α ι π α ρ α ν ό μ ω ν ή ά λ λ ω τ φ τ ρ ό π φ β λ ά ψ η , μ ε γ ά λ α ς ζ η μ ί α ς έπ έ θ ε σ α ν . (3) ενταύθα δή λαμπρώς έλέγετο ήδη μήτε αρχήν άρχειν μηδεμίαν έτι έκ τοϋ αύτοΰ κόσμου μ ή τ ε μ ι σ θ ο φ ο ρ ε ΐ ν προέδρους τε έλέσθαι πέντε άνδρας, τούτους δέ έλέσθαι έκατόν ανδρας, και των εκατόν εκαστον πρός εαυτόν τρεις' έλθόντας δέ αύτοϋς τετρακοσίους δντας ές τό βουλευτή-ριον άρχειν δπη αν άριστα γιγνώσκωσιν αύτοκράτορας, και τούς πεντακισχιλίους δέ ξυλλέγειν οπόταν αύτοΐς δοκή

(2) „Als hierauf der vorbestimmte Tag her-ankam, drängten sie [die Verschwörer] die Volksversammlung im Kolonos zusammen, . . . und dort beantragten die Συγγραφείς nichts anderes als dies: daß es jedem Athe-ner freistehen solle, ungestraft zu beantra-gen, was er wolle. Falls aber jemand einen Antragsteller unter der γραφή παρανόμων anklagen oder sonstwie schädigen sollte, setzten sie schwere Strafen darauf. (3) D a wurde denn ohne Umschweife verkündet, daß kein Amt nach der alten Ordnung ver-waltet werden noch besoldet sein solle, daß man fünf Männer wählen solle, diese wiederum hundert weitere und von den Hundert ein jeder drei hinzuwählen solle. Diese sollten, vierhundert an der Zahl, ins Rathaus einziehen, mit Vollmacht regieren, wie es ihnen am besten dünke, und sie sollten die Fünftausend versammeln, wann immer es ihnen geraten scheine."

αν o i έ θ έ λ ο ν τ ε ς ' Α θ η ν α ί ω ν σ υ μ β ο υ -λ ε ϋ ω σ ι π ε ρ ί των π ρ ο κ ε ι μ έ ν ω ν ' έ ά ν δ έ τ ι ς τ ο ύ τ ω ν χ ά ρ ι ν ή ζ η μ ι ο ϊ ή π ρ ο σ -κ α λ ή τ α ι ή ε ί σ ά γ η ε ι ς δ ι κ α σ τ ή ρ ι ο ν , έ ν δ ε ι ξ ι ν α ύ τ ο ΰ ε ί ν α ι κ α ι ά π α γ ω γ ή ν π ρ ό ς τ ο ύ ς σ τ ρ α τ η γ ο ύ ς , τ ο ύ ς δέ σ τ ρ α τ η γ ο ύ ς π α ρ α δ ο ΰ ν α ι τ ο ι ς έ ν δ ε κ α θ α ν ά τ φ ζ η μ ι ώ σ α ι . (5) μετά δέ ταΰτα τήν πολιτείαν διέταξαν τόνδε (τόν) τρόπον τά μεν χρήματα (τά) προσιόν-τα μή έξεΐναι άλ-λοσε δαπανήσαι ή εις τόν πόλεμον, τάς δ' ά ρ χ ά ς ά μ ί σ τ ο υ ς ά ρ χ ε ι ν άπάσας έως άν ό π ό λ ε μ ο ς ή, πλήντών έννέα άρχόντων και των πρυτάνεων οϊ άν ώσιν' . . . τήν & άλλην πολιτείαν έπιτρέψαι πάσαν Αθη-ναίων τοις δυνατωτάτοις και τοις σώμασιν και τοις χρήμασιν λητουργεΐν μή έλαττον ή πεντακισχιλίοις, έως άν ό πόλεμος ή' . . . " έλέσθαι 8 έκ της φυλής εκάστης δέκα άνδ-ρας ύπέρ τετταράκοντα έτη γεγονότος, οϊ-τινες καταλέξουσι τούς πεντακισχιλίους όμόσαντες καθ' ιερών τελείων.

(4) „die Gewählten . . . setzten sodann die Bestimmungen über γραφή παρανόμων-Kla-gen, Eisangelien und Prokieseis außer Kraft , damit alle Athener, die es wollten, sich zur Lage äußern könnten. Wenn aber einer aufgrund eines derartigen Rechtsti-tels [jemanden] mit einer Buße belege oder anklage oder ins Gefängnis führe, solle man ihn den Strategen vorführen und an-zeigen; die Strategen sollten ihn den Elf-männern zur Hinrichtung übergeben. (5) Danach ordneten sie den Staat folgender-maßen: es solle nicht erlaubt sein, die Einnah-men anders als für den Krieg zu verwenden, alle Staatsämter sollten unbesoldet sein mit Ausnahme der neun Archonten und der ge-rade amtierenden Prytanen . . . Die gesamte übrige Regierungsmacht solle man, solange der Krieg dauere, denjenigen Athenern an-vertrauen, die am ehesten imstande seien, dem Gemeinwesen zu dienen mit Gut und Blut, nicht weniger als Fünftausend an der Zahl. . . . Aus jeder Phyle seien zehn Männer über vierzig Jahre zu wählen, welche die Liste der Fünftausend erstellen und einen Eid auf makellose Opfertiere ablegen sollten."

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Die Nebeneinanderstellung zeigt deutlich, daß die beiden Berichte zwar bezüglich des einleitenden Aktes der beschriebenen Ekklesie (Aufhebung der γραφή παρανόμων durch eine Kommission von συγγραφείς50 und des Beschlusses über die Ämterbesoldung51

übereinstimmen, im übrigen aber völlig voneinander abweichen: Bei Thukydides ist von der Einsetzung des Rates der Vierhundert die Rede, in der Athenaion Politeia hingegen werden die Vierhundert im Kontext mit keinem Wort erwähnt; hier geht es um Uber-tragung der Regierungsgewalt an eine aus den „Leistungsfähigsten" zusammengesetzte Körperschaft der (mindestens) Fünftausend und um die Festlegung eines Verfahrens zur Konstituierung dieses Gremiums.

Die communis opinio möchte diese Diskrepanz durch die Annahme erklären, daß so-wohl Thukydides als auch der Verfasser der Athenaion Politeia ihren jeweiligen Interes-sen entsprechend nur einen Ausschnitt aus dem komplexen tatsächlichen Geschehen ge-boten hätten: in diesem Sinne habe sich der Historiker auf die Genese der Vierhundert konzentriert, während die Verfassungsschrift nur vom Beschluß über die Fünftausend Notiz nehme.52

Der anhand unserer Rede gewonnene Befund spricht jedoch gegen diese Erklärung: Wir haben im vorangegangenen Abschnitt festgestellt, daß die unterschiedliche Wertung einzelner Aspekte des Geschehens von 411 als Indiz für einen etappenweisen Ablauf des Verfassungswandels zu werten ist, und daß innerhalb dieses Prozesses der Volksbeschluß über die Fünftausend und die καταλογεΐς zeitlich um einiges früher angesetzt werden muß als jener über die Konstituierung des Rates der Vierhundert (s. o., S. 81 f.).

Wir haben schon ausführlich dargelegt, daß Wilamowitz diesen Sachverhalt klar er-kannt und mit seinem Zweistufenmodell ein Rekonstruktionsschema entwickelt hat, das die damit gegebenen Voraussetzungen berücksichtigt (s. o., S. 77f.; 81 f.). In einem Punkt allerdings scheint seine Rekonstruktion einer Korrektur zu bedürfen: Wilamowitz setzt Thukydides' Kolonosversammlung mit der früheren der beiden von ihm angenommenen Ekklesien gleich und nimmt daher an, daß auf dem Kolonos die Übergabe der Macht an die Fünftausend und die Wahl der hundert καταλογεΐς beschlossen wurde. Die Auswei-tung des καταλογεΐς-Kollegiums zum Rat der Vierhundert sei auf einer späteren, an einem nicht identifizierbaren Ort gehaltenen Versammlung beschlossen worden.

Nach dem, was wir oben über die in der Ortswahl liegenden politischen Implikationen festgestellt haben (S. 83—85), ist es jedoch viel wahrscheinlicher, daß die Konstituierung

50 Trotz der Differenz in den Zahlenangaben dürfte es sich bei den zehn ξυγγραφής des Thukydides und den dreißig αίρε·9έντες der Ath. Pol. um ein- und dasselbe Gremium handeln, vgl. Rhodes (Anm. 4) 363—365 und 373 sowie Chambers (Anm. 13) 276 f. (gegen Lang [Anm. 31] 276-280).

51 Daß nach Thukydides a l le Ämter unbesoldet sein sollen, während nach der Ath. Pol. die Archonten und Prytanen weiterhin Sold bekommen sollten, wird man eher auf das Konto von Thukydides' verknappender Darstellungsweise (vgl. u., S. 89 f.) setzen als daß man hier mit fundamentalen Differenzen der Überliefe-rung rechnen müßte (vgl. Gomme/Andrewes/Dover [Anm. 5] 168 zu Thukydides' verkürzender Darstel-lung der Kolonos-Beschlüsse).

52 Eine konzise Zusammenfassung dieser Position bietet Rhodes (Anm. 4) 380: „Most probably the two texts do refer to the same occasion but both are incomplete: the assembly at Colonus resolved to base the constitution on a powerful boule of Four Hundred and a residual assembly of Five Thousand. Thucydides concentrates on realities, and omits the appointment of the Five Thousand, because he has already mentio-ned them in his account of the oligarchs' programme (VIII 65. iii) and their ,appointment' on this occasion did not take effect (VIII 92. xi, 93. ii, cf. 89. ii); A.P. concentrates on formalities, and includes the appoint-ment' of the Five Thousand in its place but omits the immediate appointment of the Four Hundred, which seemed to conflict with the constitution for the immediate crisis that he reports in 31."

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88 Η. Heftnf.r, Rede für Polystratos

der Vierhundert auf den Kolonos gehört. Die zeitlich früheren Beschlüsse über die Ein-setzung der Fünftausend und die Wahl der καταλογεΐς hingegen, die noch unter .demo-kratischen' Vorzeichen zustandekamen, dürften auf einem der unter der Demokratie ge-bräuchlichen Versammlungsplätze gefällt worden sein, also auf der Pnyx, vielleicht auch im Perischoinisma-Qe.teich der Agora.53

Setzen wir demnach den Beschluß über die Einsetzung der Vierhundert auf den Kolo-nos, so müssen wir die verbreitete, auch von Wilamowitz geteilte Ansicht zurückweisen, daß die Kolonosversammlung in Thuk. 8,67,2f. mit der in Ath. Pol. 29,4f. genannten Ekklesie identisch ist; wie aber läßt sich dann die Ubereinstimmung beider Quellen in Bezug auf die Aufhebung der γραφή παρανόμων erklären?

Die Möglichkeit, daß bei Ath. Pol. 29,4 f. und Thuk. 8,67,2 f. von zwei verschiedenen Volksversammlungen die Rede sei, ist in der Forschung bislang, so weit ich sehe, nur von Lang und Hackl vertreten worden, deren Rekonstruktionsversuche allerdings unter der a priori wenig wahrscheinlichen Voraussetzung leiden, es müsse zwei verschiedene συγγραφεΐς-Kollegien gegeben haben, ein dreißigköpfiges bei der früheren Versammlung (=Ath. Pol. 29,4f.), ein zehnköpfiges auf dem Kolonos (= Thuk. 8,67,2f.); beide Male sei auf Antrag dieser Kommissionen hin zunächst die Aufhebung der γραφή παρανόμων be-schlossen worden.54

Dem läßt sich seitens der Vertreter der communis opinio mit Recht entgegenhalten, daß einen solchen Antrag „zweimal einzubringen . . . jeglicher Anlaß gefehlt" hätte.55 In der Tat läßt sich kein plausibler Grund finden, weshalb die Athener eine aufgrund eines früheren Beschlusses bereits außer Kraft gesetzte Bestimmung noch einmal ausdrücklich aufheben hätten sollen, zumal wenn im Gefolge der ersten Aufhebung bereits eine so einschneidende Verfassungsänderung wie die Einsetzung der Fünftausend beantragt und beschlossen worden war.

Wenn es aber nur e i n e n derartigen Beschluß gab, so muß dieser an den Beginn des Verfassungsumbaues gehören, da eine Maßnahme wie die Aufhebung der γραφή παρανόμων ihrer ganzen Natur nach eine Situation voraussetzt, in der die demokratischen Strukturen noch intakt sind und bislang kein auf Abkehr von der herkömmlichen Demokratie gerichte-ter Antrag in der Ekklesie gebilligt worden ist;56 er muß daher dem Beschluß zur Übergabe der Macht an die Fünftausend vorangegangen sein, dessen antidemokratischer Gehalt den Verfechtern der radikalen Demokratie durchaus eine Handhabe zur Klageerhebung nach der γραφή παρανόμων geboten hätte.57

War aber mit der Einsetzung der Fünftausend die Abkehr von der Demokratie einmal rechtsgültig in die Wege geleitet, ohne daß eine γραφή παρανόμων es verhindert hatte, so gab es späterhin keinen Grund, die weiteren Schritte des Verfassungsneubaues durch

53 Zu den Versammlungsorten der athenischen Ekklesien s. G. Busolt, Griechische Staatskunde II, bearbeitet von H. Swoboda, München 1926 (HdbA IV.1,1.2), 990f.

54 Lang (Anm. 31) 275—282 und 288 f. rechnet zwischen dem ersten Beschluß einer Verfassungsreform und der endgültigen Einsetzung der Vierhundert mit insgesamt fünf Ekklesien, deren vierte die Kolonosver-sammlung gewesen sei; vgl. Hackl (Anm. 32) 19—34, bes. 29—34.

55 Flach (Anm. 38) 12. Vgl. auch Gomme/Andrewes/Dover (Anm. 5) 255. 56 Ansonsten hätte die Aufhebung der γραφή παρανόμων rückwirkende Geltung haben müssen, was weder die

Athenaion Politeia noch Thukydides im geringsten andeuten. 57 Die Beantragung der Übergabe der Macht an die Fünftausend wäre natürlich auch ohne vorherige formelle

Aufhebung der γραφή παρανόμων denkbar, wenn sich der Antragsteller durch die allgemeine politische Situation gegen eine Klage hinreichend geschützt fühlte. In diesem Fall hätte es aber erst recht keinen Grund gegeben, die γραφή παρανόμων nachträglich formell aufzuheben.

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KLIO 81 (1999) 1 89

eine formelle Aufhebung dieser ,Verfassungsklage' abzusichern. Der Beschluß über die Aufhebung der γραφή παρανόμων kann also, wenn wir das Zweistufenmodell (s. o., S. 77 f.) zugrunde legen, nur der ersten unserer beiden verfassungsändernden Ekklesien angehört haben, nicht der Kolonosversammlung, die, wie wir gesehen haben (s. o., S. 85—89), in die zweite Etappe des Geschehens zu setzen ist.

X) Die Darstellung des Verfassungsumsturzes bei Thukydides

Angesichts des oben dargelegten Sachverhaltes scheint die Schlußfolgerung unabwend-bar, daß Thukydides mit dem Beschluß über die Aufhebung der γραφή παρανόμων irr-tümlich oder bewußt ein Ereignis in den Kontext der Kolonosversammlung gesetzt hat, das in Wirklichkeit einer früheren, in seinem Bericht übergangenen Ekklesie angehört haben muß.

Der Gedanke, daß ein Historiker vom Range des Thukydides es sich erlaubt haben soll, einen ihm bekannten geschichtlichen Sachverhalt derart verkürzt und umgestaltet wiederzugeben, mag auf den ersten Blick befremden. Ziehen wir jedoch die Prämissen in Erwägung, unter denen Thukydides das Geschehen von 411 betrachtet hat, erscheint seine Verfahrensweise in anderem Licht, nämlich als logische Konsequenz seiner Auffas-sung von den Hintergründen des Verfassungswechsels:

Es ist offensichtlich, daß Thukydides' Bericht über die Ereignisse von 411 durch-gängig von der Tendenz geprägt ist, die Verfechter des Verfassungsumsturzes als ge-schlossene Gruppe darzustellen, deren Ziel von Anfang an in der Errichtung einer engen Oligarchie bestanden habe. Die im Vorfeld des Umsturzes betriebene Agitation zugun-sten einer ,Verfassung der Fünftausend' war in der Sicht des Historikers nicht mehr als eine Parole zur Täuschung der breiten Masse,58 wenngleich sie zu einem späteren Zeit-punkt in die Realität umgesetzt wurde. Seine im Zusammenhang mit der letzten Phase des Vierhunderter-Regimes getätigte Bemerkung, daß die Vierhundert „die Fünftausend weder in Funktion setzen wollten noch wünschten, daß deren Nichtexistenz offenkundig würde" (8,92,11: ούκ ήθελον τούς πεντακισχιλίους οΰτε είναι ούτε μή οντάς δήλους είναι) zeigt deutlich, daß die Fünftausend in seinen Augen vor ihrer tatsächlichen Einsetzung im Zuge des Sturzes der Vierhundert niemals eine reale Größe dargestellt haben.59

Von solchen Prämissen (die durch das Zeugnis der Polystratosrede in vieler Hinsicht bestätigt werden, vgl. o., S. 80—84) ausgehend, fühlte sich der Historiker berechtigt, die Darstellung auf den in seinen Augen allein relevanten Aspekt der Machtübernahme der Vierhundert zu konzentrieren, alles andere aber als bedeutungslos beiseitezulassen. Das Ergebnis dieses Verfahrens ist eine Darstellung, in der nur noch die Einleitungsakte des Verfassungswandels (die Einsetzung der συγγραφεΐς-Kommission und die Aufhebung der γραφή παρανόμων) und seine Schlußpunkte (Einsetzung und Machtübernahme der Vier-hundert) Erwähnung finden; was zwischen diesen Punkten lag, der Beschluß zur Einset-zung der Fünftausend, die Wahl der καταλογεΐς, wohl auch der Beginn des Katalogisie-rungswerkes, fällt als für die weitere Entwicklung irrelevant beiseite. Die Aufhebung der γραφή παρανόμων hing durch den Wegfall der darauffolgenden Beschlüsse gewisserma-

58 Explizit ausgesprochen Thuk. 8,66,1 ήν δέ τοΰτο ευπρεπές πρός τούς πλείους, έπεί εξειν γε τήν πόλιν οϊπερ και μεθιστάναι εμελλον.

59 S. Gomme/Andrewes/Dover (Anm. 5) 314; im Lichte dieser Stelle ist auch Thuk. 8,89,2 zu verstehen, wo der Wortlaut die Möglichkeit einer realen Existenz der Fünftausend möglich erscheinen läßt, s. ebd. 298.

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90 Η. HHITNF.R, Rede für Polystratos

ßen in der Luft, und es hätte an sich nahe gelegen, sie ebenfalls fallen zu lassen; Thuky-dides' Lösung, sie statt dessen an den Beginn der Kolonosversammlung zu rücken, bot jedoch unter kompositorischen Gesichtspunkten beträchtliche Vorteile: Sie unterstrich sein Bestreben, den Ubergang von der formell noch bestehenden demokratischen Verfas-sung zum Regime der Vierhundert in einer einzigen Ekklesie, nämlich der auf dem Kolo-nos gehaltenen, zusammenzufassen.

So gesehen, fügt sich die Umgestaltung der Kolonos-Episode durchaus in den Rahmen der grundlegenden Gestaltungsprinzipien des thukydideischen Geschichtswerkes, das in wesentlichen Zügen durch die Neigung seines Autors, die Realität des historischen Ge-schehens hinter den offenkundigen Ereignissen zu suchen,60 bestimmt wird, eine Ten-denz, die sich unter anderem auch in der gestaltenden Umstilisierung bestimmter Schlüs-selepisoden durch den Historiker bemerkbar macht.61

XI) Berührungspunkte zwischen Thukydides und Polystratosrede

Dem Leser des thukydideischen Berichtes stellt sich der Umschwung von 411 als der von langer Hand vorbereitete und im gegebenen Augenblick zügig exekutierte Staats-streich einer rührigen, zielbewußten und von überragenden Persönlichkeiten geführten Oligarchenclique dar, ein eindringliches, in suggestiver Prosa gehaltenes Bild, das wohl kaum jemals seine Wirkung auf den unbefangenen Leser verfehlt haben dürfte.

In der Polystratosrede findet sich eine ähnliche Grundkonstellation angedeutet, wenn der Sprecher in der bereits zitierten Stelle des § 16 (s. o., S. 80) diejenigen, die dem Volk die Verfassung der Fünftausend .einredeten' (πενθειν62), als οϊ ύμδς έξηπάτων καϊ κακώς έποίουν charakterisiert und damit unterstellt, daß es die Betreiber der Verfassungsreform von vornherein auf eine enge Oligarchie abgesehen hatten, während ihre Mitläufer auf den unteren Rängen größtenteils verführte bzw. eingeschüchterte Demokraten gewesen seien (vgl. §§ 2;8;14). Das politische Spektrum beschränkt sich in dieser Sichtweise dem-nach auf die Antithese von Oligarchen und Demokraten.

Können wir diese Sicht der Dinge als die historische Realität akzeptieren? In einem Punkt zumindest scheint Skepsis angebracht: Der Verlauf der athenischen Geschichte nach dem Umsturz von 411 zeigt zur Genüge, daß das politische Spektrum in Athen am Ende des 5. Jh. nicht auf die Pole der radikalen Demokraten und der entschiedenen Oligarchen beschränkt war. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Athenern dürfte da-mals dem Bereich jener in der Forschung unter der Bezeichnung .Gemäßigte' zusammen-gefaßten Mittelgruppe zugehört haben, die publizistisch in verschiedenen Zeugnissen der

i 0 Zu dieser Tendenz etwa P. J. Rhodes, Thucydides. History III, Warminster 1994, 7; zu der daraus resultie-renden Diskrepanz zwischen Thukydides' Darstellung und der „reinen Faktizität" vgl. etwa die grundlegen-den Ausführungen bei K. v. Fritz, Die Griechische Geschichtsschreibung I (Text), Berlin 1967, 788—793.

61 Dazu etwa S. Hornblower, Thucydides, Baltimore 1987, 41—44. Zu Thukydides' Bestreben, gerade für die Stasis von 411 eine in sich geschlossene Darstellung zu bieten s. H. R. Rawlings III, The Structure of Thucydides' History, Princeton 1981, 211 f. Zum Phänomen der bewußten Auslassungen bei Thukydides allgemein s. etwa Rhodes, (Anm. 60) 9—11, zu der Unvollständigkeit seines Berichts über die Kolonosver-sammlung Gomme/Andrewes/Dover (Anm. 5) 168.

62 Zur Wortbedeutung von πείθειν s. etwa H. G. Liddell/R. Scott/H. S. Jones, A Greek-English Lexicon, Oxford 91940, S. ν. πείθω (= „prevail upon, persuade, us. by fair means") und W Pape/M. Sengebusch, Grie-chisch-deutsches Handwörterbuch II, Braunschweig 31880 s. v. πείθω (= „durch gütl. Mittel, bes. Worte oder Zureden bewegen oder gewinnen, überreden, auch bereden, beschwatzen, durch List, milderer Ausdruck für betrügen, täuschet.i").

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K L I O 81 (1999) 1 91

zeitgenössischen Literatur, praktisch-politisch im Wirken des Theramenes und seiner An-hänger zutage tritt. Es würde hier zu weit führen, näher auf die problematische Frage nach dem Charakter und dem politischen Profil dieser quellenmäßig schwer faßbaren Parteirichtung einzugehen.63 Soweit es die Konstellation von 411 betrifft, gehen wir wohl nicht fehl, wenn wir sie in ihrer Mehrheit als Anhänger des Prinzips der Hoplitenpoliteia bzw. der Fünftausend ansehen, wenngleich die mühelose Wiederherstellung der vollen Demokratie im Frühjahr 410 dafür zu sprechen scheint, daß viele von ihnen sich im Zwei-felsfalle eher der Demokratie als einer ausgesprochenen Oligarchie verbunden fühlten.

Die Eigenständigkeit dieser Strömung und ihr politisches Gewicht kommt weder bei dem Historiker noch in unserer Rede gebührend zur Geltung.

Bei Thukydides erscheint das Konzept der Verfassung der Fünftausend als Propagan-damittel, mit dem die Oligarchen der Menge ihren Verfassungsumsturz schmackhaft zu machen versuchten; realen politischen Gehalt erhält es nur unter dem Druck des Wider-standes gegen die Vierhundert.64

Dem Verfasser der Polystratosrede wiederum lag es schon aufgrund seines Redezwek-kes nahe, die Existenz der Gemäßigten zu übergehen, da es der Verteidigung naturgemäß darauf ankommen mußte, alle Mitläufer des Vierhunderter-Regimes, die nicht dem eng-sten Kreis der Oligarchen angehörten, als Gesinnungsdemokraten (εύνοι [sc. τω πλήθω]) und als Opfer der mit List und Gewalt operierenden oligarchischen Verschwörer darzu-stellen.

XII) Zusammenfassung: der Verlauf des Verfassungsumsturzes von 411 im Lichte der Polystratosrede

Kehren wir nunmehr zum Ausgangspunkt unserer Untersuchung, zur Frage nach dem Zeugniswert der Polystratosrede für den Umsturz von 411 v. Chr., zurück. Ausgehend von der Prämisse, daß die Verteidiger des Polystratos in ihren Rückblicken auf die Ereig-nisse des Umsturzes stets auf den Wissens- und Bewußtseinsstand eines mit diesen Er-eignissen vertrauten Publikums Rücksicht nehmen mußten, haben wir bei unserer Be-trachtung der einschlägigen Redestellen deutliche Hinweise darauf erhalten, daß der Verfassungswechsel von 411 in mindestens zwei Etappen erfolgt sein dürfte, in deren erste wir den Beschluß zur Einsetzung der Fünftausend zu setzen haben, während die zweite — in der Polystratosrede weitgehend übergangene — Phase die Schaffung des Rates der Vierhundert zum Ergebnis hatte.

Uber den Ablauf der Ereignisse im einzelnen gibt die Rede für sich genommen keine Auskunft; erst die Hinzuziehung der Parallelquellen — Thukydides' Geschichtswerk und der aristotelischen Athenaion Politeia — gibt uns die Möglichkeit, das Geschehen beider Phasen in den Hauptzügen zu rekonstruieren:

63 Einige Bemerkungen dazu bei H. Heftner, Ps.-Andokides' Rede gegen Alkibiades ([And.] 4) und die poliri-sche Diskussion nach dem Sturz der Dreißig in Athen, Klio 77, 1995, 92—94. Weiters sei hier auf die eindringende Untersuchung von W J. McCoy, Theramenes, Thrasybulus and the Athenian Moderates, Diss. Yale 1970 verwiesen, dessen Versuch, a l l e Gemäßigten als grundsätzlich auf dem Boden der Demokratie stehend zu erweisen, jedoch nicht in allen Punkten überzeugen kann.

64 Thuk. 8,65,3; wenn in 8,89,2 f. Theramenes, Aristokrates und andere dafür eintreten, die 5000 tatsächlich in ihre Rechte einzusetzen (τούς πεντακισχιλίους έργω και μή ονόματι χρήναι), dann ist es für den Historiker eine ausgemachte Tatsache, daß die meisten von ihnen sich dabei nur vom Gesichtspunkt des persönlichen Vorteils leiten ließen: ήν δέ τοϋτο μέν σχήμα πολιιικόν τοΰ λόγου αύτοΐς, κατ' ιδίας δέ φιλοτιμίας οί πολλοί αύτών τω τοιούτφ προσέκειντο.

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92 Η. HEFTNER, Rede für Polystratos

a) In die erste Phase gehört die Volksversammlung, in der nach Aufhebung der γραφή παρανόμων der Beschluß gefaßt wurde, „die Macht den Fünftausend zu übergeben",65

und zu deren Auswahl hundert καταλογεΐς von den Phylen wählen zu lassen; es folgten die Wahl der καταλογεΐς durch die Phyleten, ihre Konstituierung und wohl auch die Auf-nahme ihrer Tätigkeit bis hin zur Erstellung einer provisorischen Liste der Fünftausend, die in Wirklichkeit insgesamt etwa neuntausend Personen umfaßte.

b) In die zweite Phase fällt die Versammlung auf dem Kolonos, wo unter dem Druck der Oligarchen beschlossen wurde, einen vierhundert Köpfe zählenden Rat einzusetzen, der in Zukunft als permanent amtierendes Regierungsorgan fungieren sollte. Einiges spricht dafür, daß das bereits existierende Kollegium der hundert καταλογεΐς den Kern dieser neuen Bule bildete; die Normzahl vierhundert wurde erreicht, indem jeder einzelne καταλογεύς drei weitere Personen kooptierte. Für die Ausübung ihres Regierungsamtes erhielten die Vierhundert weitgehende Vollmachten; unter anderem wurde auch die Ein-berufung der Fünftausend ganz in ihr Belieben gestellt.

XIII) Schlußbetrachtung: die historische Relevanz der Polystratosrede

Unsere Überlegungen haben deutlich werden lassen, daß uns die Polystratosrede ungeach-tet ihres problematischen Überlieferungszustandes und der fragmentarischen Natur ihrer Angaben eine ganze Reihe historisch wertvoller Hinweise zur Rekonstruktion der Ereignis-geschichte von 411 zu bieten hat. Angaben über die politischen Hintergründe des Umstur-zes, die damalige Stimmungslage der Athener und die divergierenden Strömungen unter den Reformern, finden sich dagegen kaum und sind, wo sie auftreten, mit Skepsis zu be-trachten, da hier naturgemäß die apologetische Tendenz der Rede voll zum Tragen kommt, und Polystratos' Verteidiger von den verschiedenen Faktoren, die 411 auf eine Abkehr von der radikalen Demokratie hingewirkt hatten, nur den einen ihnen genehmen zur Sprache brachten: die Überredungskünste und den Terror der ultraoligarchischen Verschwörergrup-pe. Trotz dieser Prämisse läßt sich den in der Rede gegebenen Andeutungen entnehmen, daß sich der Verfassungswechsel in seiner ersten Phase in Formen vollzogen hat, die auch aus der Rückschau betrachtet als legal gelten konnten, und daß die Einsetzung der Fünftau-send von einem nennenswerten Teil des Demos mitgetragen worden ist. Erst in der zwei-ten Phase kamen dann offener politischer Druck und andere zweifelhafte Praktiken in sol-cher Intensität ins Spiel, daß die Radikalen zusehends an Boden gewinnen und auf dem Kolonos ihr Ziel erreichen konnten: nicht die breite Masse der Hoplitenschicht gelangte dort zur Macht, sondern eine kleine, exklusive und von den Häuptern der oligarchischen Clique leicht zu kontrollierende Ratsversammlung, die Vierhundert, wie sie sich in verein-fachender Zusammenfassung bei Thukydides und den späteren Rednern darstellen.

In diesem Wechsel von den legalen Verfassungsänderungen der ersten Phase zu den putschartigen Aktivitäten der Oligarchen in der zweiten liegt zu einem guten Teil die Erklä-rung für die divergierende Bewertung des Geschehens bei Thukydides und der Athenaion Politeia. Während der Historiker allein die zweite Phase für historisch relevant hält und daher die Entwicklung von allem Anfang an durchgängig durch Terror und Einschüchte-rung des Demos charakterisiert sein läßt, sieht der Verfasser der Athenaion Politeia auch

65 § 13 unserer Rede: πεντακισχιλίοις παραδοΰναι τά πράγματα (vgl. § 16); Ath. Pol. 29,5: την S άλλην πολιτείαν έπιτρέψαι πασαν 'Αθηναίων τοις δυνατωτάτοις και τοις σώμασιν και τοις χρήμασιν λητουργεΐν μη ελαττον ή πεντακισχιλίοις.

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diese letzte Phase im Lichte der ersten als eine Folge unanstößig legaler Rechtsakte, ohne auf die politischen Hintergründe einzugehen. Nur in der unmittelbaren Rückerinnerung der Zeitgenossen findet sich noch ein Bewußtsein dafür, daß das Geschehen von 411 in Wirklichkeit von beiden Aspekten, dem legalistischen und dem terroristischen, bestimmt worden ist. Darin, daß sie uns einige kleine, aber wichtige Fragmente dieser Rückerinne-rung bewahrt hat, liegt die historische Bedeutung der pseudo-lysianischen Polystratosrede.

Zusammenfassung

Die Rede „Für Polystratos" ([Lys.] XX) enthält eine Reihe von Anspielungen auf die Karriere des Angeklagten und seine Tätigkeiten während des oligarchischen Staatsstrei-ches von 411 v.Chr., die uns eine wertvolle Hilfe zum Verständnis der historiographi-schen Berichte über die frühen Phasen jenes revolutionären Prozesses bieten.

Die Behauptung des Sprechers, Polystratos sei von seinen Phylengenossen zum Mit-glied der Vierhundert gewählt worden, scheint im Widerspruch zu Thukydides' Bericht über die Einrichtung dieses Ratsorgans zu stehen, und die Tatsache, daß der Redner diese Wahl als Beweis für Polystratos' Ruf als guter Demokrat präsentieren kann, erweckt den Eindruck, daß dieser Wahlakt einige Zeit vor die tatsächliche Bildung des Vierhun-derter-Rates zu datieren ist, die unter schwerem Druck der Oligarchen stattfand.

Eine einleuchtende Lösung bietet uns Wilamowitz, der in Anbetracht der Tatsache, daß Polystratos auch als καταλογεύς der Fünftausend erwähnt wird, in der Körperschaft der καταλογεΐς den Kern der Vierhundert vermutete. Dies setzt voraus, daß die καταλογεΐς bereits existierten, als der Beschluß zur Bildung des Rates der Vierhundert gefaßt wurde.

Diese Überlegungen wie auch die auffallende Tatsache, daß der Redner keine Scheu trägt, den athenischen Demos für die Einsetzung der Fünftausend verantwortlich zu ma-chen, es aber sorgsam vermeidet, die Rolle des Volkes bei der Einsetzung der Vierhun-dert zu erwähnen, deutet darauf hin, daß die Bestellung der Vierhundert einige Zeit nach dem Beschluß über die Fünftausend und unter veränderten politischen Umständen ge-fällt wurde. Einen möglichen Hinweis auf die Natur dieser Umstände bietet uns Thuky-dides' Bericht über die Ekklesie auf dem Kolonos, die unter dem Einfluß oligarchischer Hetairien gestanden zu haben scheint.

Die beste Erklärung für diese Beobachtungen liegt in der Annahme, daß sich der Ver-fassungswechsel in (mindestens) zwei Etappen vollzogen hat: Zunächst faßte die Ekkle-sie den Beschluß, die Regierungsgewalt einer Körperschaft von fünftausend Männern zu übertragen, die von einem Kollegium von hundert καταλογεΐς ausgewählt werden sollten. Diese Entscheidung fiel in einer regulären demokratischen Versammlung und unter Um-ständen, die noch zur Zeit des Polystratosprozesses als korrekt gewertet werden konn-ten. Später beriefen die radikalen Oligarchen eine andere Versammlung auf den Kolonos, wo sie die Einsetzung eines mit autokratischen Vollmachten ausgestatteten Rates von vierhundert Männern durchsetzten, der wahrscheinlich auf dem bereits existierenden καταλογεΐς-Kollegium aufgebaut war. .

Summary

The speech „For Polystratus", ([Lys.] XX), contains a number of allusions regarding the career of the defendant and his activities during the oligarchic coup d'etat 411 B.C. which greatly help to illustrate the accounts of the historiographic sources about the formative stages of this revolutionary process.

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94 Η . HEFTNER, Rede für Polystratos ι

The speaker's Statement that Polystratus was elected member of the Four Hundred by his phyletai seems to contradict Thucydides' account of the creation of this council, and the fact that the orator presents this election as proof of Polystratus' good democratic reputation leaves the impression that this democratic act has to be dated some time before the actual formation of the Four Hundred which took place under strong oligarchic pressure.

A probable solution has been offered by Wilamowitz, who, considering the fact that Polystratus is also said to have acted as καταλογεύς of the Five Thousand, supposed these καταλογεΐς to have been the nucleus of the Four Hundred. One has therefore to assume that the καταλογεΐς already existed when it was decided to create the council of Four Hundred.

These considerations as well as the striking fact that the orator does not mind to declare the Athenian demos responsible for the instalment of the Five Thousand but care-fully avoids to mention the people's role in the instalment of the Four Hundred indicate that the creation of the Four Hundred was decided upon some time after the decision about the Five Thousand and under different circumstances. A probable hint regarding these circumstances is provided by Thucydides' account about the location of the assem-bly at the Colonus, which seems to have been controlled by the oligarchic hetairiai.

The best way to explain these observations seems to be the assumption that the con-stitutional changement took place in (at least) two steps: at first the assembly decided to confer the management of affairs upon a body of five thousand men who were to be elected by a board of hundred καταλογεΐς. This decision was taken by a regular demo-cratic assembly and under circumstances which could be regarded as legitimate even at the time of the trial of Polystratus. Later on the radical wing of the oligarchs convoked another assembly at the Colonus, where they enforced the instalment of a council of Four Hundred with autocratic powers, which was probably built around the existing board of καταλογεΐς.

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