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Vergleichende Verfassungsgerichtsforschung: Konjunkturen verfassungsgerichtlicher Autorltät am Beispiel Bundesverfassungsgericht und ungarisches Verfassungsgericht Christian Boulanger 1 Vergleichende Verfassungsgerichtsforschung und die postkommunistische Transformation Das Bundesverfassungsgericht hat nach einer längeren Phase der Vernachlässigung durch die Politikwissenschaft' die Aufmerksamkeit mittlerweile gefunden, die ihm an- gesichts der Bedeutung dieser Institution für das politischen System der Bundesrepublik zukommt.' Auf der Grundlage der in den letzten Jahren publizierten Forschungslitera- tur können nun verstärkt sozialwissenschaftliche Studien entstehen, die das Bundesver- fassungsgericht (BVerfG) mit anderen Verfassungsgerichten vergleichen und dabei zu Erkenntnissen kommen können, die bei der Untersuchung nur eines Falles nur schwer möglich sind. Denn erst die Herausarbeitung der Vergleichsachsen ermöglicht den Blick für das, was für einen Fall einzigartig, und was (begrenzt) verallgemeinerungsfähig ist.' Solche Analysen werden gebraucht, um rechts- und institutionenvergleichende Arbei- ten zu ergänzen, die sich mit den Regelungen der Verfassungen und Verfassungsge- 1 Siehe hierzu die Einleitung der Herausgeber zur 1. Auflage dieses Bandes. 2 Darauf macht Michael Hein aufmerksam, für den These der partiellen politikwissenschaftlichen "Selbstentmündigung" (Wolfgang Seibel) in Sachen Justizforschung "mittlerweile stark an ihrer Gültig- keit verloren" hat (Hein, Michael, 2013: Verfassungskonflikte zwischen Politik und Recht in Südosteuro- pa, Baden-Baden, S. 24). Weiterhin wenig politikwissenschaftliche Beachtung finden die "ordentlichen" Gerichte, hierzu Rehder, Britta, 2011: Rechtsprechung als Politik: der Beitrag des Bundesarbeitsgerichts zur Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland, Frankfurt am Main, Kap. 2. 3 Die folgenden Ausführungen nehmen eine Perspektive innerhalb der vergleichenden Politikwissen- schaft ein, die nicht auf die Generierung von universellen"testable hypotheses" abzielt, sondern kon- text- und geschichtssensible Theorien "mittlerer Reichweite" (Robert K. Merton) zu formulieren versucht. --

Vergleichende Verfassungsgerichtsforschung: Konjunkturen verfassungsgerichtlicher Autorität am Beispiel Bundesverfassungsgericht und ungarisches Verfassungsgericht

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Vergleichende Verfassungsgerichtsforschung:Konjunkturen verfassungsgerichtlicherAutorltät am Beispiel Bundesverfassungsgerichtund ungarisches Verfassungsgericht

Christian Boulanger

1 Vergleichende Verfassungsgerichtsforschungund die postkommunistische Transformation

Das Bundesverfassungsgericht hat nach einer längeren Phase der Vernachlässigungdurch die Politikwissenschaft' die Aufmerksamkeit mittlerweile gefunden, die ihm an­gesichts der Bedeutung dieser Institution für das politischen System der Bundesrepublikzukommt.' Auf der Grundlage der in den letzten Jahren publizierten Forschungslitera­tur können nun verstärkt sozialwissenschaftliche Studien entstehen, die das Bundesver­fassungsgericht (BVerfG) mit anderen Verfassungsgerichten vergleichen und dabei zuErkenntnissen kommen können, die bei der Untersuchung nur eines Falles nur schwermöglich sind. Denn erst die Herausarbeitung der Vergleichsachsen ermöglicht den Blickfür das, was für einen Fall einzigartig, und was (begrenzt) verallgemeinerungsfähig ist.'Solche Analysen werden gebraucht, um rechts- und institutionenvergleichende Arbei­ten zu ergänzen, die sich mit den Regelungen der Verfassungen und Verfassungsge-

1 Siehe hierzu die Einleitung der Herausgeber zur 1. Auflage dieses Bandes.2 Darauf macht Michael Hein aufmerksam, für den These der partiellen politikwissenschaftlichen

"Selbstentmündigung" (Wolfgang Seibel) in Sachen Justizforschung "mittlerweile stark an ihrer Gültig­keit verloren" hat (Hein, Michael, 2013: Verfassungskonflikte zwischen Politik und Recht in Südosteuro­pa, Baden-Baden, S. 24). Weiterhin wenig politikwissenschaftliche Beachtung finden die "ordentlichen"Gerichte, hierzu Rehder, Britta, 2011: Rechtsprechung als Politik: der Beitrag des Bundesarbeitsgerichtszur Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland, Frankfurt am Main, Kap. 2.

3 Die folgenden Ausführungen nehmen eine Perspektive innerhalb der vergleichenden Politikwissen­schaft ein, die nicht auf die Generierung von universellen"testable hypotheses" abzielt, sondern kon­text- und geschichtssensible Theorien "mittlerer Reichweite" (Robert K. Merton) zu formulierenversucht.

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cboulanger
Schreibmaschinentext
Robert Chr. van Ooyen, Martin H. W. Möllers (Hg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht, Springer, 2. Aufl. 2015.

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richtsgesetze beschäftigen oder die Rechtsprechung systematisierend vergleichen," diewirklichen Machtverhältnisse und gesellschaftlichen Hintergrundbedingungen der Ver­fassungsgerichtsbarkeit aber nur bedingt in den Blick nehmen können. Dabei lohntnicht nur der direkte Vergleich mit Ländern mit Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch dasFehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit kann interessante Vergleichsperspektiven eröff­nen - in diesem Fall durch die Suche nach institutionellen Äquivalenzen der verschie­denen Rollen und Funktionen, die die Verfassungsgerichtsbarkeit in einem Land nachAnsicht eines Beobachters erfüllt."

Das Bundesverfassungsgericht wird gerne mit etablierten Gerichten der westlichenWelt verglichen, etwa mit dem Supreme Court der Vereinigten Staaten." Interessante Ver­gleiche können aber auch mit den Verfassungsgerichten in den Ländern im Osten undSüdosten Europas durchgeführt werden, wo sich nach dem Zusammenbruch der sozia­listischen Systeme die Verfassungsgerichtsbarkeit rasch ausgebreitet hat.' Eine Möglich-

4 Rechtsvergleichende Arbeiten existieren in großer Anzahl. Für eine komparativ-institutionelle Ana­lyse siehe Kneip, Sascha, 2008: Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich. In: Gabriel, Oskar W/Kropp,Sabine (Hrsg.): Die EU-Staaten im Vergleich, Wiesbaden.

S Besonders naheliegend ist der Vergleich zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz. Deutsch­land und Österreich verfügen über eine - unterschiedlich starke - Verfassungsgerichtsbarkeit, dieSchweiz nicht, dafür ist die Schweizer Demokratie durch stark plebiszitäre Elemente gekennzeich­net. Siehe hierzu Wrase, Michael/Boulanger, Christian (Hrsg.), 2013: Die Politik des Verfassungsrechts.Baden-Baden. Interessante weitere Fälle ohne (eigenes) Verfassungsgericht sind die skandinavischenLänder oder die Niederlande, siehe etwa Blankenburg, Erhard, 2003: Warum braucht die Niederlan­de (bisher) kein Verfassungsgericht. In: Machura, Stefan/Ulbrich, Stefan (Hrsg.): Recht - Gesellschaft­Kommunikation : Festschrift für Klaus F.Röhl, Baden-Baden, S. 64-72.

6 Siehe Rogowski, Ralf/Gawron, Thomas (Hrsg.), 2002: Constitutional courts in comparison : the U. S.Supreme Court and the German Federal Constitutional Court. New York. Für eine neuere, sozial­wissenschaftliche Studie zum BVerfG und dem französischen Conseil Constitutionel siehe Hönnige,Christoph, 2007: Verfassungsgericht, Regierung und Opposition: die vergleichende Analyse eines Span­nungsdreiecks, Wiesbaden. Beispiele für Vergleiche mit Gerichten aus anderen Regionen: Bhatia, K. 1.,1997: Iudicial Review and Judicial Activism. A Comparative Study of India and Germany From an In­dian Perspective, New Delhi; Schmidt, Rainer/da Silva, Virgilio Afonso (Hrsg.), 2011: Hyperkonstitu­tionalismus? Die Rolle von Verfassung und Verfassungsgericht im Prozess der Demokratisierung inBrasilien und Deutschland im Vergleich. Baden-Baden.

7 Siehe für die Anfangszeit Brunner, Georg: Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa. In: Zeit­schrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1993, S. 819, Schwartz, Herman, 2000: TheStruggle for Constitutional [ustice in Post-Communist Europe, Berlin, Prochäzka, Radoslav, 2002: Mis­sion Accomplished: On Founding Constitutional Adjudication in Central Europe, Budapest, Sadur­ski, Wojciech, 2005: Rights Before Courts. A Study of Constitutional Courts in Postcommunist Statesof Central and Eastern Europe, Dordrecht, Luchterhandt, Otto/Starck, Christian/Weber, Albrecht(Hrsg.), 2007: Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa. Baden-Baden sowie für die Ver­fassungsgerichte der EU-Beitrittsländer Hönnige, Christoph: Verfassungsgerichte in den EU-Staaten:Wahlverfahren, Kompetenzen und Organisationsprinzipien. In: Zeitschrift für Staats- und Europawis­sensehaften 2008/3, S. 524-553, Weitere Literatur zu einzelnen Ländern: zu den VerfassungsgerichtenPolens, Ungarns und der Tschechischen Republik Brunner, Georg/Garlicki, Leszek Lech (Hrsg.), 1999:

Verfassungs gerichtsbarkeit in Polen. Analysen und Entscheidungssammlung 1986-1997. Baden-Baden;S6lyom, Laszlo/Brunner, Georg (Hrsg.), 2000: Constitutional [udiciary in a New Democracy: The Hun­garian Constitutional Court; Brunner, Georg/Hofmann, Mahulena/Holländer, Pavel (Hrsg.), 2001: Ver-

rVergleichende Verfassungsgerichtsforschung 913

keit dabei ist, das institutionelle Gefüge und die Rechtsprechung der Gerichte nach 1989

zu vergleichen. Im Zuge der postkommunistischen Transformation" hatten diese viel­faltige Probleme zu bearbeiten: Die Bevölkerungen der Ländern, die vor und nach demZweiten Weltkrieg unter die direkte oder indirekte Herrschaft der Sowjetunion gerieten,waren nach dem Ende dieser Herrschaft einer (mindestens) dreifachen Transformation"ausgesetzt: nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Regime änderten sich grund­legend. Auch die nationale Identität stand in vielen Fällen in Frage, die Aufspaltung vonStaaten war die Folge (Sowjetunion, Tschechoslowakei, Jugoslawien). Bei der Transfor­mation der leninistisch organisierten politischen Regime in Demokratien" stellte sichnicht zuletzt die Frage, wie mit dem "Erbe" der vorherigen Regime umgegangen werdensollte: die Menschenrechtsverletzungen, die im Namen des Kommunismus begangenwurden, die Durchdringung der Bevölkerung durch die Geheimdienste, die Privilegiender früheren Machtelite, die Stellung der kommunistischen Partei und ihre Besitztü­mer und vieles mehr. Genauso schwierig waren die Fragen, die sich aus dem radikalenUmbau der (ursprünglich in unterschiedlichem Maße stalinistisch strukturierten) Plan­wirtschaften in marktförmig organisierte Wirtschaften ergaben: wem gehörte das teil­weise vor langer Zeit enteignete Staatseigentum und auf welche Weise konnte es priva­tisiert werden? Wie konnte man - angesichts zerrütteter Staatsfinanzen - ein vom Staatdurchorganisiertes System sozialer Fürsorge auf eines umstellen, das auf die Eigenver­antwortung der Bürger setzt und nur noch Hilfe zu Selbsthilfe bieten will und kann?Schließlich mussten zahlreiche Probleme geklärt werden, welche Identitäten und Frei­heitssphären der Bürger betrafen und im alten Regime nicht oder anders existiert hat­ten: etwa das Ausmaß und die Qualität von Minderheitsrechten, der Religions- und derMeinungsfreiheit oder Fragen der Staatsbürgerschaft.

Viele dieser Fragen stellten sich ähnlich (oder aber auch ganz anders) im Fall derBundesrepublik nach dem Beitritt der ehemals zur DDR gehörigen Gebiete im Jahr

fassungsgerichtsbarkeit in der Tschechischen Republik. Baden-Baden (rechtswissenschaftlich) sowie zuRussland Trochev, Alexei, 2008: Iudging Russia : Constitutional Court in Russian Politics, 1990-2006,Cambridge; New York; zu Bulgarien und Rumänien Hein, Verfassungskonflikte (Fn. 2) (politikwissen­schaftlich); zu Rumänien und Ungarn Kerek, Angela, 2010: Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn undRumänien, Berlin (rechtsvergleichend).

8 Zum Begriff der Systemtransformation siehe Merkel, Wolfgang, 1999: Systemtransformation. Eine Ein­fiihrung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Opladen. Der Begriff wendet sichgegen Vorstellung der früheren "Transition-to-Democracy"-Literatur von einem "Übergang" von derautoritären Form eines politischen Systems zu einer demokratischen Form, die in einer "Konsolidie­rung" endet. Neuere Ansätze stellen den undeterminierten Charakter der Transformation in den Vor­dergrund. Ergebnis können hybride Formen zwischen Autoritärismus und Demokratie sein. Siehe füreine frühe Vorhersage dieses Zustands [owitt, Ken, 1992: New World Disorder, Berkeley.

9 Siehe Offe, Claus: .Capitalism by Democratic Design? Democratic Theory Facing the Tripie Transitionin East Central Europe", In: Social Research 1991/4, S. 865-892. Frühere "Transitionen" (Siehe Fn. 8) be­trafen nur das politische System, d. h. den Übergang von Autoritarismus zur Demokratie.

10 Hierzu Iowitt, Ken, 1992: The Leninist Legacy. In: Banac, Ivo (Hrsg.): Eastern Europe in Revolution,Ithaca, S. 207.

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1990.11 So musste das Bundesverfassungsgericht zur strafrechtlichen Verantwortung der"Mauerschützen" befinden" und sich mit der DDR-Vergangenheit von Politikern befas­sen." Weiterhin musste es sich zu Themen wie den Dfrk-Renten", das Parteivermögensder SED1s oder Mauer- und anderen Grundstücken" verhalten. Auch der Streit um dieEinführung von kirchlichem Religionsunterricht an den zuvor religionsfreien Schulenerreichte das Gericht." Vergleichend verarbeitet wurde hierbei vor allem Fragen der.verfassungsgerichtlichen Vergangenheitsbewältigung?", die international in Rahmender Forschung zu .Transitional [ustice" größere Aufmerksamkeit gefunden hat."

Die Vergleichsachse der juristischen Bearbeitung postkommunistischer Problemfel­der ist juristisch und auch politikwissenschaftlich interessant und sollte noch stärkererforscht werden." Allerdings handelt es sich dabei aus sozialwissenschaftlicher Sichtum einen Vergleich zwischen sehr unterschiedlichen Institutionen: auf der einen Seitedas Bundesverfassungsgericht, das in den Jahren nach der ,Wende" schon seit langemetabliert ist und sich mit Fragen befasst, die im Zusammenhang der Übernahme einesnicht mehr existierenden Staatswesens entstehen. Auf der anderen Seite stehen die Ge­richte der postkommunistischen Gesellschaften, die im mehr oder weniger großenChaos der Transformation ihre Rollen noch suchen und ihre Autorität im neuen-altenNationalstaat erst erkämpfen müssen. Sozialwissenschaftlich ergiebiger erscheint daherder Vergleich zwischen Gerichten in der Frühphase der Verfassungsgerichtsbarkeit. DieAusgangsbedingungen der postkommunistischen Verfassungsgerichte unterscheidensich natürlich in vielerlei Hinsicht von denen des Bundesverfassungsgerichts im postfa­schistischen Nachkriegsdeutschland. Trotzdem sind diese ungleichzeitigen politischenund gesellschaftlichen Kontexte - so die hier vertretene These - vergleichbarer als diegleichzeitigen. Sie betreffen in beiden Fällen Gesellschaften, die nach Zusammenbruchder früheren diktatorischen Zustände in Richtung einer neuen, demokratische Ord-

11 Siehe mit Blick auf die Frage der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Bräunig, Anja, 2007: Die Gestal­tungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur deutschenWiedervereinigung zur Funktion einer Argumentationsfigur anhand ausgewählter Beispiele, Berlin.

12 BVerfGE 95>96.13 Unter anderem gab es Klagen des Bundestagsabgeordneten Gregor Gysy (PDS) und des ehemaligen

brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD).14 BVerfG, 1 BvR 799/98 vom 15.9.2006 (nicht angenommen).15 BVerfG,1 BvR 247/05 vom 29.9.2006 (nicht angenommen).16 BVerfG,1 BvR1892/96 vom 3.8.1999 (nicht angenommen). Ebenfalls Grundstücke betreffend: BVerfGE

101,54 (zum Schuldanpassungsgesetz, "Datschen-Beschluss").17 Beschluss des Zweiten Senats vom 11.Dezember 2001 (Schlichtungsvorschlag).18 Siehe Blankenagel, Alexander: .Verfassungsgerichtllche Vergangenheitsbewältigung", In: Zeitschrift: für

Neuere Rechtsgeschichte 1991, S. 67-82, siehe auch Brunner, Georg (Hrsg.), 1995: Juristische Bewäl­tigung des kommunistischen Unrechts in Osteuropa und Deutschland. Berlin und Küpper, Herbert,2004: Kollektive Rechte in der Wiedergutmachung von Systemunrecht, Frankfurt am Main.

19 Siehe allgemein Teitel, Ruti, 2000: 'IransitionalIustice, Oxford.20 Rein rechtsvergleichend etwa Yustus, Ekaterina, 2011: Verfassungsgerichtsbarkeit in Russland und

Deutschland, Frankfurt am Main.

Vergleichende Verfassungsgerichtsforschung 915

nung streben, gleichzeitig die Konflikte bearbeiten müssen, die sich aus den "Erbschaf­ten" des vorherigen Regimes ergeben.

2 Verfassungsgerichtliche Rollen und gesellschaftlicheTeilöffentlichkeiten

Zwei oder mehr Fälle lassen sich in einer unendlichen Anzahl von Hinsichten verglei­chen. Es muss daher immer genau bestimmt sein, welche Fragestellung an die Fälle ge­richtet wird und welches Untersuchungsraster an sie angelegt wird, um die Frage zu be­antworten. Eine interessante Frage ist, welchen Beitrag Verfassungsgerichte, die oftmalsgegen parlamentarische Mehrheiten entscheiden, zur Demokratisierung des politischenSystems leisten können." Dies ist eine anspruchsvolle Fragestellung, da sie erfordert,weitgehend kontextunabhängig zu definieren, was "Demokratie" bedeutet und das Han­deln der Gerichte vor diesem Maßstab zu bewerten.

Andere Untersuchungen fragen danach, wie sich ein neues Verfassungsgerichtüberhaupt gegenüber anderen politischen Akteuren durchsetzen kann. Wie es OliverLembcke zusammenfasst, "handelt es sich hierbei um eine prekäre Voraussetzung: DiePolitik soll gerade in jenen Fällen auf den Einsatz von Macht verzichten, in denen ihrqua Rechtsprechung (empfindliche) Niederlagen beigebracht werden, um durch compli­ance eine wirksame Judikatur überhaupt erst zu ermöglichen". Dabei ist neben den so­ziologischen Bedingungen dafür, dass die Judikate der Gerichte Akzeptanz finden "auchnach jenen Faktoren zu fragen, mit denen die Gerichte selbst zum Gelingen (oder Miss­lingen) ihrer Rolle innerhalb des politischen Systems beitragen."22 Gleichzeitig ist derdauerhafte Erhalt des gewonnenen Einflusses auf das rechtliche und politische Systemnicht garantiert. Wie man nicht nur im Fall Ungarns sehen kann, können Befugnisseund Deutungsmacht" des Verfassungsgerichts auch wieder (teilweise) verloren gehen."

Es hat sich eine umfangreiche Theoriediskussion darüber entwickelt, wie die Po­sition der Verfassungsgerichte im politischen System zu erklären ist. Der bekannteste

21 Siehe Steinsdorff, Silvia, 2010: Verfassungsgerichte als Demokratie-Versicherung? Ursachen und Gren­zen der wachsenden Bedeutung juristischer Politikkontrolle. In: Schrenk, Klemens H./Soldner, Markus(Hrsg.): Analyse demokratischer Regierungssysteme, Wiesbaden, S. 479-498, Kneip, Sascha, 2013: Ver­fassungsgerichte im Prozess der Demokratisierung - Der Einfluss des Bundesverfassungsgericht aufKonsolidierung und Qualität der bundesdeutschen Demokratie. In: Wrase, MichaellBoulanger, Chris­tian (Hrsg.): Die Politik des Verfassungsrechts, Baden-Baden, S. 139-166.

22 Lembcke, Oliver, 2013: Autorität der Verfassungsgerichtsbarkeit - eine Skizze in vergleichender Ab­sicht. In: Wrase, Michael/Boulanger, Christian (Hrsg.): Die Politik des Verfassungsrechts, Baden-Baden,S. 37-65, S. 38.

23 Hierzu der Beitrag von Hans Vorländer in diesem Band.24 Siehe im postkommunistischen Raum den Fall Weißrussland (Von Steinsdorff, Silvia: "Das weißrussi­

sche Verfassungsgericht: Vom Verteidiger der demokratischen Verfassung zum Notar des autoritärenPräsidialsystems". In: Osteuropa-Recht 2012/3, S. 40-53) oder Russland (Trochev, Iudging Russia, Fn. 7).

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Ansatz dabei ist die von Alec Stone-Sweet und Martin Shapiro vertretene Theorie der"Judicialization". Nach dieser entsteht der Machtzuwachs der Gerichte durch einen zir­kulären und sich selbst verstärkenden Prozess, in dessen Verlauf sich Verfassungsge­richte und politische Akteure gegenseitig den Ball zuspielen." Die "Insurance-Theory"argumentiert, dass Verfassungsgerichte nur in dem Maß an Herrschaft gewinnen, wiepolitische Akteure damit rechnen müssen, die Macht wieder zu verlieren, und deshalbauf die Funktion des Verfassungsgericht als ,,versicherung" vertrauen." Systemtheore­tische Beiträge wiederum fokussieren auf die Ausdifferenzierung zwischen dem Rechts­und dem politischen System, das es Verfassungsgerichten erlaubt, ihre Stellung zu festi­gen." Allen diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie verallgemeinerbare Mechanismenaufzeigen, mit denen Machtbeziehungen etabliert und transformiert werden; hierdurchwerden fruchtbare Forschungsperspektiven ermöglicht. Sie sind müssen allerdings vonAnsätzen ergänzt werden, die den jeweiligen zeithistorischen Kontext mit einbeziehenund soziokulturelle Einflussfaktoren ebenso untersuchen wie historische Zufälle undPfadabhängigkeiten, um die Frage zu beantworten, warum ein Verfassungsgericht Ein­fluss im politischen System erringt oder diesen wieder verliert.28

In diesem Zusammenhang habe ich vorgeschlagen, die Begriffe der "Rolle" und der.Teilöffentlichkeiten" stärker in den Blickpunkt der Theoriediskussion zu rücken." DerRollenbegriff wird in der Diskussion sehr oft verwendet, ohne theoretisch reflektiert

25 Siehe theoretisch ausgearbeitet in Stone Sweet, Alec, 2000: Governing With Iudges, Constitutional Po­litics in Europe, Oxford und Shapiro, Martin/Stone Sweet, Alec (Hrsg.), 2002: On Law, Politics, and [u­dicialization. Oxford. Kritisch dazu Hönnige, Christoph: .Bevond Judicialization: Why We Need MoreComparative Research About Constitutional Courts". In: European Political Science 201113,S. 346-358.

26 Vgl. Ginsburg, Tom, 2003: Judicial review in new democracies: constitutional courts in Asian cases,Cambridge, UK, kritisch dazu Inclan Oseguera, Silvia: "Judicial Reform in Mexico: Political Insuranceor the Search for Political Legitimacy?". In: Political Research Quarterly 2009/4, S. 753-766. Eine ähn­liche These - allerdings außerhalb des Transformationskontextes - wird von Ran Hirschl vertreten, fürden Verfassungsgerichte von politischen Eliten eingerichtet werden, um den wirtschaftlichen, politi­schen oder sozio-kulturellen Status Quo gegen Veränderungen zu schützen. Hirschl, Ran, 2004: To­wards Juristocracy. The Origins and Consequences of the New Constitutionalism, Cambridge, MA.

27 Diese Sichtweise hat zuletzt Michael Hein am Beispiel Bulgariens und Rumäniens verfolgt (Hein, Ver­fassungskonflikte, Fn. 2) - eine begrüßenswerte empirische Konkretisierung systemtheoretischer Theo­rie.

28 Siehe Pierson, Paul., 2004: Politics in time: history, institutions, and social analysis, Princeton, NJ. Zurhistorisch-soziologischen Ausprägung des Neoinstitutionalismus in der deutschsprachigen politikwis­senschaftlichen Verfassungsgerichtsforschung siehe Lhotta, Roland: "Das Bundesverfassungsgericht alspolitischer Akteur: Plädoyer für eine neo-institutionalistische Ergänzung der Forschung". In: Swiss Po­litical Science Review 2003/3, S. 142-153 und Lembcke, Autorität (Fn. 22).

29 Siehe die Zusammenfassung in Boulanger, Christian, 2013: Rollen und Funktionen der Verfassungs­gerichtsbarkeit - eine theoretische Annäherung. In: Wrase, MichaellBoulanger, Christian (Hrsg.): DiePolitik des Verfassungsrechts, Baden-Baden, S. 67-87. Siehe auch Kapiszewski, Diana/Silverstein, Gor­don/Kagan, Robert A., 2013: Introduction. In: Kapiszewski, Diana/Silverstein, Gordon/Kagan, RobertA. (Hrsg.): Consequential courts judicial roles in global perspective, Cambridge, UK, S. 1-41, S. 3, dierichterliches Rollenverständnis ("legalistic", "activist" und "deferential") von der funktionalen Rolledes Gerichts unterscheiden.

Vergleichende Verfassungsgerichtsforschung 917

und von dem theoriegeschichtlich sehr unterschiedlichen Begriff der "Funktion" ab­gegrenzt zu werden. Er bietet sich aber vor allem deshalb an, weil er ein Schlaglichtauf Prozesse der Behauptung und Zuschreibung von Legitimität erlaubt und damit Per­spektiven erlaubt, die über die rechtswissenschaftliche Diskussion über "Kompetenzen"der Verfassungsgerichtsbarkeit und über die politikwissenschaftliche Debatte zu "Judi­cial Attitudes" oder zu interessengeleiteten Machtkämpfen zwischen Verfassungsgerichtund der Politik hinausgehen. So lassen sich in der Initialphase der Verfassungsgerichts­barkeit nach einem Systemwechsel drei Rollen analytisch gewinnbringend untersuchen:des "Hüters" der positiv-rechtlichen Normen, des "Schiedsrichters" in politisch-gesell­schaftlichen Konflikten und des "Gründers", der die Verfassung wertgebunden auslegtund damit die rechtliche Verfasstheit der politischen Gemeinschaft mit definiert.

Diese Rollen übernimmt ein Verfassungsgericht vor verschiedenen Arten von Pu­blikum, die mit dem Begriff der "Teilöffentlichkeiten" erfasst werden können." Dasrechtswissenschaftliche Publikum, kontrolliert und kommentiert als epistemische Ge­rneinschaft" die verfassungsgerichtlichen Konkretisierungen der oftmals vage formu­lierten Verfassungsnormen anhand von Maßstäben, die sich aus dem jeweiligen ju­ristischen Methodenkanon dieser Gemeinschaft speisen. Für dieses Publikum hat dasGericht im Normalfall die Rolle des Hüters der positiv-rechtlichen Normen zu spielen,d. h. zu überprüfen, ob die Politik oder aber auch untergeordnete Gerichte die Vorgabender Verfassung einhalten. Empirisch gesehen trifft dies nur für einen relativ überschau­bare Anzahl von Fällen zu. Normalerweise entscheiden Verfassungsgerichte viele Hard

Cases, also Fälle, in denen die Verfassungsnormen nur sehr ungenaue Vorgaben machenund man mit guten juristischen Gründen zu einer ganze Reihe von sich widersprechen­den Ergebnissen kommen kann." Das politische Publikum evaluiert die Ergebnisse derVerfassungsrechtsprechung im Normalfall nach den Kriterien politischer Nützlichkeit.In seiner Rolle als "Schiedsrichter" kann das Gericht dazu beitragen, Konflikte im poli­tischen Raum zu entschärfen, was aber nur unter bestimmten Bedingungen gelingt. Fürdie zivilgesellschaftliche Teilöffentlichkeit hat das Gericht, dessen Judikate der breitenBevölkerung oftmals unverständlich bleiben," vor allem eine symbolische Bedeutung:Die Urteile können dann zumeist nur daran gemessen werden, ob sie dem Gerechtig­keitsgefühl entsprechen oder nicht. Eine weitere Teilöffentlichkeit, die häufig nicht un­tersucht wird, ist das internationale Publikum, das heißt die Gruppe von Empfängern,

30 Im Englischen wird der Begriff der "Audiences" verwendet, siehe Baum, Lawrence, 2006: Iudges andtheir audiences, Princeton, NJ.

31 Hierzu Rehder, Rechtsprechung (Fn. 2).32 Hierzu der bekannte Aufsatz von Dworkin, Ronald: "Hard Cases", In: Harvard Law Review 1975/6,

S. 1057-1109.33 Dies ist für die Vereinigten Staaten gut nachgewiesen, siehe Caldeira, Gregory A., 1991: Courts and Pub­

lic Opinion. In: Gates, Iohn B./Johnson, Charles A. (Hrsg.): The Amencan Courts: A Critical Assess­ment, Washington, D. C., S. 303-334. Es ist unwahrscheinlich, dass die Situation in anderen Ländernsich sehr unterschiedlich darstellt.

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die das Verhalten des Gerichts von außerhalb des Nationalstaats beobachtet. Diese Teil­öffentlichkeit ist insbesondere dann von Belang, wenn es um das internationale Anse­hen eines Landes geht. Verfassungsgerichtliche Entscheidungen können dabei durchausvon Bedeutung sein.

3 Konjunkturen verfassungsgerichtlicher Autoritätin Deutschland und Ungarn

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Geschichte viel Kritik an seinen Urteileneinstecken müssen, es bestanden aber zu keinem Zeitpunkt die politischen Mehrheitendafür, seine Kompetenzen einzuschränken. Politisch kontroverse Urteile wie das zum.Deutschlandfernsehen" (1961)34, zum .Grundlagenvertrag" (1973)35 oder das "Kruzi­fixurteil" (1995)36 haben immer wieder zur Wahrnehmung von "Krisen" der Verfas­sungsgerichtsbarkeit geführt, fügten der Institution aber keinen dauerhaften Schadenzu. Das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die Institution ist durchweg hoch; inder Politik bleibt es trotz gelegentlichem Murren unangefochten."

Das ungarische Szenario unterscheidet sich von dieser Entwicklung erheblich. Nach­dem im Jahre das ungarische Verfassungsgericht 1990 als erste Institution des neuen de­mokratischen Staates seine Arbeit aufgenommen hatte, hat es zunächst in einer Reihevon spektakulären Urteilen unter dem vorsitzenden Richter Laszlo Sölyom den Ruf alsdas "wohl als das mächtigste und aktivste Exemplar seiner Art in der ganzen Welt" er­werben." Das Gericht schaffte unter anderem die Todesstrafe ab, entschied über die Artund Weise, wie die Privatisierung des Staatseigentums und die Bestrafung kommunis­tischer Menschenrechtsverletzungen zu erfolgen habe, oder machte - zumindest vor­übergehend - Kürzungen von Sozialleistungen rückgängig, mit denen die Regierungdie staatliche Überschuldung in den Griff bekommen wollte." Die Arbeit der Nachfol-

34 Siehe Lembcke, in diesem Band.35 Siehe Grigoleit, in diesem Band.36 Siehe Schaal, in diesem Band.37 Siehe Patzelt, in diesem Band, außerdem die Untersuchungen von Vorländer, Hans/Schaal, Gary S.,

2002: Integration durch Institutionenvertrauen? Das Bundesverfassungsgericht und die Akzeptanz sei­ner Rechtsprechung. In: Vorländer, Hans (Hrsg.): Integration durch Verfassung, Opladen, S. 343 undVorländer, Hans/Brodocz, Andre, 2006: Das Vertrauen in das Verfassungsgericht. Ergebnisse einer re­präsentativen Bevölkerungsumfrage. In: Vorländer, Hans (Hrsg.): Die Deutungsmacht der Verfassungs­gerichtsbarkeit, Wiesbaden.

38 So Brunner, Georg: Meilenstein auf dem Weg in die Rechtsstaatlichkeit. In: Frankfurter Allgemeine Zei­tung, 30. Juni 1992,S. 12.

39 Die Rechtsprechung der ersten Hälfte der 1990er Jahre ist dokumentiert in Brunner, Georg/S6Iyom,Laszlö, 1995: Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn, Baden-Baden und Solyom/Brunner, Iudiciary(Fn. 7); siehe auch Halmai, Gabor (Hrsg.), 2000: A megtalält alkotmänyr The Constitution found?A magyar alapjogi biräskodäs elsö kilenc eve. The First Nine Years of the Hungarian Constitutional Re­view on Fundamental Rights. Budapest.

Vergleichende Verfassungsgerichtsforschun9 919

ger Sölyoms, dessen zweite Amtszeit 1998 endete, ist außerhalb Ungarns kaum auf Inter­esse gestoßen, wohl auch, weil sie sich gegenüber der Politik wesentlich zurückhalten­der verhielten als der erste Gerichtspräsident. Eine dramatische Wende trat allerdingsnach dem Erdrutschsieg der rechtskonservativen FIDESZ-Partei unter ihrem Vorsit­zenden Viktor Orban im Jahr 2010 ein. Auf der Grundlage einer Mehrheit von 53 % derWahlstimmen und dank des ungarischen Wahlrechts, das die stärkste Fraktion begüns­tigt, erreichte das Wahlbündnis aus FIDESZ und der christdemokratischen KDNP eineZweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament. Bald nach dem Machtwechsel wurdedas Verfahren zur Wahl der Verfassungsrichter geändert. Das konsensuale Verfahren,das ein Mitspracherecht der Opposition bei der Aufstellung der Kandidaten ermög­lichte, wurde von einem abgelöst, welches der Mehrheit die absolute Kontrolle über diegewählten Richter erlaubte. Darüber hinaus wurde die Zahl der Richter erhöht, was er­möglichte, auf der Grundlage der geänderten Verfahrens neue Richter zu ernennen."Schon vor Verabschiedung der neuen Verfassung wurde dem Gericht die Befugnis, überFragen mit finanziellen Auswirkungen für den Staat zu urteilen, fast vollständig entzo­gen." Auf nationaler Ebene gab es wenig Proteste - die Mehrheit der ungarischen Be­völkerung stand der Teilentmachtung des Verfassungsgerichts gleichgültig gegenüber.Einen internationalen Reputationsschaden nahm Orban hin: trotz deutlicher interna­tionaler Kritik wurden die Regelungen fast unverändert in eine neue, im Eilverfahrenund ohne Mitarbeit der Opposition produzierte Verfassung übernommen."

Wie sind die unterschiedlichen Entwicklungen in Deutschland und in Ungarn vordem Hintergrund des im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Untersuchungsras­ters zu bewerten und wie können sie erklärt werden? Die Antworten müssen hier not­wendigerweise kursorisch erfolgen."

40 Siehe zu den einzelnen Punkten Kovacs, Kriszta/Töth, Gabor Attila: .Hungary's Constitutional Trans­formation". In: European Constitutional Law Review 2011, S. 183-203.

41 Vgl. Koväcs/Töth, a. a. 0., S. 194-195. Diese Maßnahme erfolgte auf ein Urteil des Gerichts, mit dem einGesetz für verfassungswidrig erklärt wurde, das auf Abfindungen im öffentlichen Dienst rückwirkendeine 98-prozentige Strafsteuer festgesetzt hatte. Siehe zu den Einzelheiten Lembcke, Oliver/Boulan­ger, Christian, 2012:Between Revolution and Constitution: The Roles of the Hungarian ConstitutionalCourt. In: Töth, Gabor Attila (Hrsg.): Constitution for a Disunited Nation: On Hungary's 2011Funda­mental Law, Budapest, S. 269-299.

42 Zur neuen Verfassung siehe Küpper, Herbert, 2012: Ungarns Verfassung vom 25. April 2011: Einfüh­rung - Übersetzung -Materialien, Frankfurt am Main und Töth, Gabor Attila (Hrsg.), 2012: Constitu­tion for a Disunited Nation: On Hungary's 2011Fundamental Law. Budapest.

43 Die Argumente sind ausgeführt in Boulanger, Christian, 2013:Hüten, richten, gründen: Rollen der Ver­fassungsgerichte in der Demokratisierung Deutschlands und Ungarns, Berlin.

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3.1 IIJudgesand their audiences" (Lawrence Baum)?'

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Die ersten Bundesverfassungsrichter hatten waren zum Teil aktive Politiker der Wei­marer Zeit. Dies gab ihnen das notwendige "Selbst- und Machtbewußtsein"," um nichtnur als bloßes Gericht, sondern als politische Institution zu wirken. Allerdings warenauch die Erfahrungen, die viele von Ihnen im politischen Exil während des National­sozialismus sammeln konnten, von Bedeutung. Ein Beispiel dafür ist Gerhard Leib­holz, der sich in England mit angelsächsischen Demokratietheorien auseinandergesetzthatte. Leibholz bot, wie Oliver Lembcke ausgearbeitet hat, im "Statusstreit" Anfang der1950er Jahre der Politik ein Modell an, das vor dem Hintergrund der Weimarer staats­rechtlichen Diskussion und der Nachkriegssituation annehmbar war. Er hatte ein Ge­spür dafür, was diskursiv möglich und politisch durchsetzbar war," In der informiertenÖffentlichkeit und auch in der Politik bestand die Erwartung an das Gericht, als neu­traler Schiedsrichter in den politischen Tageskampf einzugreifen und dabei zu helfen,die desorientierte und zerstrittene Nachkriegsgesellschaft zu integrieren. Gleichzeitigbestand eine starke epistemische Gemeinschaft von Öffentlichrechtlern, die schon seitlanger Zeit über die Themen diskutiert hatte, mit denen sich das Gericht beschäftigenmusste. Das Gericht musste sich mit Kritik aus dieser Teilöffentlichkeit auseinander­setzen. Gleichzeitig aber wurde die in der Politik gut vernetzte Juristenschaft zu einerstarken Stütze des Gerichts." Die erste Richtergeneration vermied aber auch die offeneKonfrontation mit der Politik. Erst zehn Jahre nach Einrichtung des Gerichts kam esanlässlich der Kontroverse über das "Deutschlandfernsehen" zu einem Konflikt mit derRegierung Adenauer,"

Im ungarischen Fall wird der Höhepunkt des verfassungsrichterlichen "Aktivismus"vor allem mit Gerichtspräsident Laszlö S6lyom in Verbindung gebracht. S6lyom nutztedie Möglichkeiten, die ihm das Präsidentenamt am Verfassungsgericht boten, um eigeneVorstellungen zu verwirklichen. Sein Bild von der Verfassungsgerichtsbarkeit war durch

44 Baum, (Fn. 31).

45 Baldus, Manfred, 2005: Frühe Machtkämpfe. Ein Versuch über die historischen Gründe der Autori­tät des Bundesverfassungsgerichts. In: Henne, Thomas/Riedlinger, Arne (Hrsg.): Das Lüth-Urteil in(rechts- )historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesver­fassungsgerichts, Berlin, S. 237-248, S. 256.

46 Lembcke, Oliver W., 2007: Hüter der Verfassung: eine institutionentheoretische Studie zur Autoritätdes Bundesverfassungsgerichts, Tübingen und Lembcke, in diesem Band, sowie Boulanger, Hüten, rich­ten, gründen (Fn. 43), Abschn. 4.2.2.

47 In diesem Zusammenhang ist besonders die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer und dieAußeinandersetzung zwischen den Denkschulen um Carl Schmitt/Ernst Forsthoffbzw. Rudolf Smendzu nennen, bei der sich das Verfassungsverständnis der Smend-Schule schließlich durchsetzte. SieheGünther, in diesem Band. Zur Bedeutung der juristischen Profession für die Verfassungsgerichtsbarkeitsiehe Shapiro, Martin, 1999: The Success of [udicial Review. In Kenney, Sally J./Reisinger, William M./Reitz, [ohn C. (Hrsg.), Constitutional Dialogues in Comparative Perspective. Lodon, S. 214, und, kri­tisch, Sadurski, Rights before Courts (Fn. 7).

48 Vgl. Lembcke, in diesem Band.

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zwei Momente bestimmt: einerseits das Vorbild des Bundesverfassungsgerichts, dessenRechtsprechung und Machtfülle er auf Forschungsaufenthalten in Deutschland schonden 1980er Jahren kennengelernt hatte." Andererseits ist sein Bestreben, Ungarn mitHilfe der Verfassungs gerichtsbarkeit so schnell wie möglich in einen Rechtsstaat nacheuropäischen Maßstäben zu transformieren, unverkennbar. Während sich das Bundes­verfassungsgericht in den ersten Jahren seiner Existenz der Exekutive nur bei wenigenzentralen Politikprojekten entgegenstellte, hat das S6lyom-Gericht viele wichtige Vor­haben der Regierungen zumindest vorübergehend vereitelt. Zwar konnte es dabei seineUnabhängigkeit insoweit demonstrieren, dass beide politischen Lager von seinen Inter­ventionen betroffen waren. Dies führte aber nicht dazu, dass diese Lager dem Gerichtdie Lösung politischer Konflikte bereitwillig überließen. Gleichzeitig fehlte die juristi­sche Teilöffentlichkeit als Unterstützer des Gerichts. Da das sozialistische System in Un­garn keine unabhängige Wissenschaft vom öffentlichen Recht zugelassen hatte (wäh­rend etwa das Zivilrecht relativ gut entwickelt war), existierte zu Beginn der Tätigkeitdes Gerichts keine starke juristische Teilöffentlichkeit, mit der das Gericht in Dialoghätte treten können. Das Gericht setzte sich daran, eine verfassungsrechtliche Dogma­tik quasi im Alleingang zu entwickeln, verlor darüber aber den Kontakt zu einer wich­tigen Unterstützergruppe.

3.2 Institutionelles Design und institutionelle Einbettung

Die unterschiedlichen Kompetenzausstattungen der Gerichte hatten einen Einflussdarauf, wie die Gerichte agieren konnten. Der wichtigste Unterschied betrifft die feh­lende "echte" Verfassungsbeschwerde in Ungarn, die dazu führte, dass das Verfassungs­gericht sich fast ausschließlich mit abstrakten Normenkontrollklagen beschäftigt hat."Eine abstrakte Normenkontrolle wird typischer von der Opposition eingesetzt, um po­litische Projekte der Mehrheit, die auf parlamentarischem Wege nicht zu stoppen waren,im Umweg über das Gericht zu stoppen." Die abstrakte Normenkontrolle ist somit, an­ders als die Verfassungsbeschwerde, vor allem ein Instrument der Kontrolle der Regie­rung und damit Teil des Systems der Gewaltenteilung. Die Konzentration auf abstrakteNormenkontrollen hat dazu geführt, dass das Gericht vor allem als .Vetospieler" auftrat

49 Brunner, Georg/Küpper, Herbert, 2003: Der Einfluß des deutschen Rechts auf die Transformation desungarischen Rechts nach der Wende durch Humboldt-Stipendiaten: Das Beispiel Verfassungsgericht.In: Fischer, Holger (Hrsg.): Auswirkungen der deutsch-ungarischen Wissenschaftsbeziehungen, Ham­burg.

50 Siehe die Statistik bei Sölyom/Brunner, Constitutional Iudiciary (Fn. 7), S. 72.51 Stüwe, Klaus, 1997: Die Opposition im Bundestag und das Bundesverfassungsgericht. Das verfassungs­

gerichtliche Verfahren als Kontrollinstrument der parlamentarischen Minderheit, Baden-Baden; Hön­nige, Verfassungsgericht, Regierung und Opposition (Fn. 6).

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und alle kontroversen neuen Gesetzen überprüfte, was das Gericht in einen ständigenund fast ausschließlichen Konflikt mit der Regierung gebracht hat.

Im Gegensatz dazu war die Falllast des Bundesverfassungsgerichts von Anfang anvon den Verfassungsbeschwerden dominiert." Es geht bei Verfassungsbeschwerden umdie Klagen identifizierbarer Personen, deren Grundrechte in einer konkreten Situationbedroht sein könnten. Das Gericht wird vor allem als Konfliktentscheider tätig, der diekonkreten Umstände jedes Falles und die beteiligten Interessen gegeneinander abwiegt.

Strukturell kommt dazu, dass im deutschen Föderalismus tritt der Bundestagsmehr­heit mit dem Bundesrat ein mächtiger Gegenspieler entgegen tritt, insbesondere, wenndieser von der Opposition beherrscht wird. Im ungarischen Einkammersystem dagegensind die Gesetze der Parlamentsmehrheit durch nichts außer verfassungsrichterliche In­tervention aufzuhalten. Dem ungarischen Gericht wuchs so in den Anfangsjahren dieFunktion zu, als Gegenspieler der gerade herrschenden Regierung aufzutreten und de­ren "Durchregieren" zu verhindern.

Die Unterschiede in der Kompetenzausstattung und in den institutionellen Kontex­ten, innerhalb derer die Verfassungsgerichte agieren, haben die beiden Gerichte auf sehrunterschiedliche machtpolitische Felder geführt: Das Bundesverfassungsgericht teilteseine Aufmerksamkeit zwischen der Kontrolle der Fachgerichte und der politischenAkteure und war nur ein Vetospieler unter anderen. In Ungarn stand das Gericht derExekutive als einziger wirklich effektiver Spieler gegenüber. Dies könnte dazu beigetra­gen haben, dass in der politischen Teilöffentlichkeit stärkere Aversionen gegenüber demVerfassungsgericht entstanden sind als in Deutschland, wo dem sich die Antagonismenzwischen mehr "Spielern" verteilten."

3.3 DasZusammenspiel internationaler und nationaler Öffentlichkeiten

Internationale Faktoren waren im ungarischen Fall wesentlich entscheidender waren alsim deutschen. An "Lüth"-Falllässt sich zwar zeigen, dass es im NachkriegsdeutschlandRegierung und Parlament gerade in Fällen, die die nationalsozialistische Vergangenheitbetrafen, nicht gleichgültig sein konnte, welchen Eindruck höchstrichterliche Entschei­dungen im Ausland machten.54 Jedoch ist das nicht zu vergleichen mit der Bedeutung

52 Siehe die Statistik in Bundesverfassungsgericht, 2001:Das Bundesverfassungsgericht im Spiegel der Sta­tistik. In: Badura, Peter/Dreier, Horst (Hrsg.): Festschrift So Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 11, Tü­bingen, S. 931-942: 934-93S.

53 Für Thomas Henne stellt das Bundesverfassungsgericht "lange Jahre, fast die einzige Opposition zurAdenauerregierung" dar: Henne, Thomas, 200S: Von 0 auf Lüth in 6 1/2 Jahren: Zu den prägendenFaktoren der Grundsatzentscheidung. In: Henne, Thomas/Riedlinger, Arne (Hrsg.): Das Lüth-Urteil in(rechts- )historischer Sicht, Berlin, S. 198.

54 Vgl. allgemein zu "Lüth" Henne, Thomas/Riedlinger, Arne (Hrsg.), 200S: Das Lüth-Urteil in (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungs­gerichts. Berlin, im Einzelnen Boulanger, Hüten, Richten, Gründen (Fn. 43), Abschn. 4.2.4.

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des EU-Integrationsprozesses für die Stellung des ungarischen Verfassungsgerichts.Radoslav Proch~zka hat in zugespitzter Weise die Hypothese formuliert, dass dem unga­rische Gericht die Funktion eines "convincing public relation asset" im EU-Beitrittspro­zess zukam. 55 Das Verhalten der FIDESZ-Regierung kann als Bestätigung dieser Theseex negative gelesen werden: Nach dem Beitritt zum Europarat und zur EuropäischenUnion war der wichtigste Anreiz für die politischen Eliten weggefallen, ein starkes Ver­fassungsgericht weiter zu tolerieren.

3.4 Parlamentsmehrheiten als notwendige Bedingung

Der unmittelbar wirkmächtigste Faktor ist der offensichtlichste: Ohne die Zweidrittel­mehrheit, welche die FIDESZ/KDNP-Koalition im April 2010 errang, wäre sie nicht inder Lage gewesen, die Kompetenzen des Verfassungsgerichts zu beschneiden und dieVerfassung zu ändern. Dies erklärt zunächst nur, dass die Parlamentsmehrheit in derLage war, das politische System der ungarischen Demokratie zu ändern, und nicht, wa­rum sie es tat. Aber es gibt auch Hinweise darauf, warum keine der vorherigen Regie­rungen in Ungarn, und ebenso in Deutschland, auf diese Weise vorgegangen war: Denmeisten Regierungen fehlte entweder die nötige verfassungsändernde Mehrheit, odersie war politisch zu heterogen, um sich auf solche Maßnahmen einigen zu können."Erst Orban verfügte über eine ideologisch homogene und loyale Parlamentsmehrheitsowie die notwendige Popularität, um solche Pläne auch durchzusetzen. Diese Mehrheitist allerdings keine hinreichende Erklärung für das Verhaltens der Orbän-Regierung.Das Vorgehen der Akteure war nicht vorgezeichnet, sondern hätte auch anders ausfal­len können.

In der Bundesrepublik bestand eine vergleichbare Situation nur zwischen 1957 und1961, als CDU/CSU zum ersten und einzigen Mal die absolute Mehrheit der Bundestags­mandate errang. Gegen Ende dieser Legislaturperiode kam es zum Urteil, mit dem dasGericht Adenauers .Deutschlandfemsehen" zu Fall brachte. Nicht zuletzt waren es dienahenden Wahlen, die Adenauer veranlassten, von einem Vorgehen gegen das GerichtAbstand zu nehmen.57

55 Prochazka, Mission Accomplished (Fn. 7), S. 268.56 Sajö, Andräs, 2000: Educating the Executive: The Hungarian Constitutional Court's Role in the Transi­

tion Process. In: Hesse, [oachim Iens/Schuppert, Gunnar Folke/Harms, Katharina (Hrsg.): Verfassungs­recht und Verfassungspolitik in Umbruchsituation, S. 242.

57 Siehe Vanberg, Georg, 2004: The Politics of Constitutional Review in Germany, Cambridge.

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3.5 Historische Brüche und die Definition der politischen Gemeinschaft

Die deutschen Verfassungsrichter der frühen Stunde operierten in einem relativ güns­tigen politischen und sozio-kulturellen Umfeld. Obwohl konservative Positionen in derStaatsrechtslehre noch die Mehrheit darstellten, waren die alten Gegenspieler der Ver­fassungsgerichtsbarkeit wie Carl Schmitt gründlich diskreditiert. Neue staatsrechtlicheIdeen konnten, von moralisch unbelasteten, noch aus der Weimarer Republik bekann­ten Wissenschaftlern rasch Anhänger finden, zumal sich der gesellschaftliche und poli­tische Kontext schnell wandelte, und das Gericht in der SPD-Opposition einen starkenVerbündeten fand. 58 Hinzu kam eine lange Tradition verfassungsstaatlichen Rechtsden­kens, das auch in Teilen der neuen politischen Elite wirksam war. Verschiedene Be­obachter haben die Autorität des Verfassungsgerichts in Zusammenhang gebracht mitder Suche der orientierungslosen deutschen Nachkriegsgesellschaft nach Autoritäten."Plausibel jedenfalls ist die These, dass die verfassungsgerichtliche Intervention in poli­tische Kämpfe deswegen gesellschaftlich akzeptiert worden sei, weil diese eine apoliti­sche Lösung von Konflikten durch eine Art "Weisenrat" versprach." Die Tatsache, dassin Meinungsumfragen die Verfassungsgerichte regelmäßig mehr .Vertrauen" oder einehöhere Beliebtheit genießen als das Parlament, ist ein empirischer Indikator für diesenZustand. Da dies für Deutschland und - zu Zeiten des S6lyom-Gerichts - für Ungarngleichermaßen festgestellt werden kann", kann die diffuse Unterstützung durch die Be­völkerung jedoch nicht ausschlaggebend sein.

Wirkmächtiger ist wohl das Verhältnis zwischen Gericht und politischen Eliten. Die1950er und 1960er Jahre der Bundesrepublik waren von einem "antikommunistischenGrundkonsens" beherrscht, der schon vor dem Krieg bestand und den bereits die Na­tionalsozialisten für ihre Machtergreifung nutzten. Das Bundesverfassungsgericht stelltesich diesem Konsens nie entgegen, sondern wurde von den politischen Eliten als Ver­bündeter im Kampf gegen den Kommunismus wahrgenommen. Dieser Abwehrkampfverband Gegner und Befürworter des vorherigen Regimes. In Ungarn fand - wie vonOrbän und anderen FIDESZ-Politikern immer wieder betont wird - kein klarer Bruchmit der kommunistischen Vergangenheit statt. Das neue Regime entstand unter Wah­rung der rechtlichen Kontinuität des alten. Gleichzeitig entstanden zwei immer stärkerverfeindete Lager: Die gewendeten Sozialisten und früheren Oppositionellen, die lange

58 Günther, Frieder, 2004: Denken vom Staat her: die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezi­sion und Integration 1949-1970, München; Lembcke, in diesem Band.

59 Alfred Grosser stellte 1960 die Frage, ob der Erfolg des Gerichts "nicht in weitem Maße dem Fehlen aus­geprägter Meinungsverschiedenheiten in der Öffentlichkeit über das Wesen der Demokratie und derpolitischen Ethik zu verdanken ist" (Grosser, Alfred, 1960: Die Bonner Demokratie: Deutschland vondraußen gesehen, Düsseldorf, S. 116).

60 So auch die Kritik von Sadurski, Rights Before Courts (Fn. 7) im Fall der neuen Verfassungsgerichte.61 Für Ungarn Husz, Döra, 1998: Intezmenyek presztizse 1989 es 1998 között. In: Kurtän, Sändor/Sandor,

Peter/Vass, Laszlö (Hrsg.): Magyarcrszag evtizedkönyve, 1988-1998, Budapest, S. 821; für DeutschlandVorländer/Brodocz, Vertrauen in das Verfassungsgericht (Fn. 37), S. 262.

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Jahre regierten, boten eine Definition des Staatsbürgers als Verfassungspatriot: Im Rah­men der geltenden Gesetze möge jeder nach seiner Facon glücklich werden - was denalten Netzwerken erlaubte, die Zustände zu ihren Gunsten zu nutzen. Die Rechtskon­servativen dagegen definierten die Zugehörigkeit zur ungarischen Nation ideologisch:Nur diejenigen, die sich zur ungarischen Kultur in einer bestimmten Geschichtsausle­gung sowie zum Antikommunismus bekannten, gehörten dazu, die anderen nicht. Libe­rale und zentristische Kräfte wurden in der Radikalisierung der politischen Gegensätzeder Jahre nach dem Systemwechsel zerrieben. Ein Grund dafür war die Desillusionie­rung breiter Bevölkerungsschichten, deren Lebensverhältnisse sich nicht verbesserten,während ständig neue Korruptionsskandale die Legitimation der politischen Elite er­schütterten.

Wie fügte sich das ungarische Verfassungsgericht nun in diese ideologische Land­schaft ein? Es wird schnell deutlich, dass sich das Gericht mit seinen Entscheidungenin den 1990er Jahren außerhalb dessen gestellt hat, was für die rechtskonservativen bisrechtsextremen Parteien akzeptabel war und ist. Dies kann helfen zu erklären, warumes in der herrschenden politischen Elite so wenig Rückhalt für das ungarische Verfas­sungsgericht gab, obwohl dieses insgesamt relativ ausgewogen zwischen den politischenLagern judiziert hat. Anders als im deutschen Fall konnte das ungarische Verfassungs­gericht nicht an einem Elitekonsens teilnehmen und diesen sogar selbst mitgestalten.Sicherlich bestand in den 1990er Jahren unter den großen Lagern der ungarischen Poli­tik Einigkeit darüber, dass Ungarn nach Europa "zurückkehren" musste." Dafür nahmman auch in Kauf, vom Verfassungsgericht gerügt und gezüchtigt zu werden. Spätes­tens nach dem Beitritt zur Europäischen Union war aber dieses letzte verbindende Zielentfallen.

4 Erfolg und Misserfolg der Verfassungsgerichte als"Gründer"

Nicht nur in Deutschland und Ungarn ging der Phase des demokratischen Wandels einePeriode voraus, in der politische Partizipation und rechtsstaatlicher Schutz vor Macht­missbrauch weitgehend fehlten und in der es zu teilweise extremen Verletzungen vonMenschenrechten kam. Weitere Beispiele sind das faschistische Deutschland oder Ita­lien, Portugal und Spanien nach dem Ende der Diktaturen, Südafrika nach Ende derApartheid, oder andere Staaten nach Zusammenbruch von Militärdiktaturen. Viele Ge­richte in den neuen Demokratien haben in Ihrer Rechtsprechung den Versuch unter­nommen, die Identität des neuen politisch-rechtlichen Gemeinwesens in Abgrenzung

62 Vgl. Solyom, Läszlö, 2002: Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in politischen Transformationspro­zessen - der Fall Ungarn. In: Zoll, Andrzej/S6lyom, Laszlö (Hrsg.): Die Rolle der Verfassungsgerichts­barkeit in politischen Transformationsprozessen, Karlsruhe; Hankiss, Elerner, 1994: Imponderabilia.The Formation of Social Conscience and the Government. In: Gombar, Csaba u. a. (Hrsg.): Balance. TheHungarian Government 1990-1994, Budapest, S. 35.

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vom vorherigen Regime zu definieren und sind damit Mit-"Gründer" der neuen Demo­kratien geworden. Kim Lane Scheppeie hat die Frage aufgeworfen, welche Bedeutungdabei die Erinnerung an "Regimes of Horror" hatte." Nach Scheppeie ist die Stellungeines Gerichts in einer neuen Demokratie auch dadurch bestimmt, wie gut es dem Ge­richt gelingt, sich in dieser Frage zu positionieren.

Das deutsche und das ungarische Verfassungsgericht haben durch ihre Rechtspre­chung den Verfassungen einen bestimmten, wertgebundenen Sinn verliehen, der in derVerfassungen nicht explizit enthalten war. Diese Rolle war im Fall des Bundesverfas­sungsgerichts aufgrund der Erinnerung an das vorangegangene "Horrorregime" plau­sibel und wurde teilweise sogar als Symbol der neuen Rechtsstaatlichkeit herbeigesehnt.In Ungarn war der Kommunismus als Diktatur präsent, aber nicht in dem Maße wie imFall des Nationalsozialismus. Entsprechend konnte sich eine Vorstellung vom Verfas­sungsgericht als eine Art "Heilsbringer" höchstens temporär entwickeln. Den Rechts­konservativen, die das alte System aus ideologischen Gründen am deutlichsten ab­lehnten, war die Haltung des Gerichts in den 1990er Jahren - zum Beispiel die Urteilezur Verfolgung von kommunistischem Unrecht oder zur Rückübertragung enteigneterGrundstücke - zuwider. Das Gericht konnte so aus strukturellen Gründen in der kur­zen Zeit seiner "Blüte" eine dauerhafte Beziehung zu den verschiedenen Teilöffentlich­keiten nicht entwickeln. Dabei war von Bedeutung, dass das Gericht seine Kompeten­zen sehr extensiv auslegte, sich dabei zahlreiche Gegner schuf und gleichzeitig keinestarke juristische Profession das Gericht verteidigen konnte oder wollte. Ungarn hatsich aus Gründen, die beiden politischen Lagern zuzurechnen sind, seit der demokra­tischen Wende zu einer .Disunited Nation?" entwickelt, in der das Verfassungsgerichtkeine ausgleichende Rolle mehr spielen kann. Fraktionsführer Ianos Läzar brachte dasDemokratie- und Rechtsstaatsverständnis der neuen Regierung in einem Radiointer­view auf den Punkt: In außergewöhnlichen Zeiten seien außergewöhnliche Maßnah­men notwendig, so Lazar, und Ungarn müsse zu einer "majoritären Demokratie" um­gebaut werden, Bremsen und Gegengewichte wie in den letzten 20 Jahren seien dabeinicht länger notwendig."

63 Scheppele, Kim Lane: .Constitutional Interpretation After Regimes of Horror", University of Pennsyl­vania Law School Public Law and Legal Theory Research Paper 200011-5; Zum Verhältnis zwischenVerfassungsgerichtsbarkeit und Geschichtserzählungen siehe unter anderem Uitz, Renata, 2005: Con­stitutions, courts, and history: historical narratives in constitutional adjudication, Budapest (v.a. USAund Ungarn).

64 So im Titel von Toth, Constitution (Fn. 42).

65 "Lizar szerint ideiglenes megoldas az Ab korlätozäsa [According to Läzär the limitation of CC is a tem­porary solution]", http://www.origo.hu/itthon/201ouoo-lazar-szerint-ideiglenes-megoldas-az-ab-kor­latozasa.html (letzter Zugriff: 20.11.2011).