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Universität Mannheim
Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaften
Modul: Qualitative Methodenvertiefung
Seminar: Filmanalyse - Die Ménage-à-trois im Film
Leitung: Dipl. Soz. Madeline Dahl & Felix Kirschbacher, M.A.
Vater – Mutter – Kind
Analyse einer Ménage-à-trois am Beispiel von
„We Need To Talk About Kevin“
Salome Beil
Jean-Becker-Str. 2
68169 Mannheim
4. Fachsemester MKW
4. Fachsemester Germanistik
vorgelegt am: 01. September 2014
INHALTSVERZEICHNIS
1. A NEW WAY TO TALK ABOUT KEVIN? 1
2. DIE FIGUREN 2
2.1. EVA 2
2.2. FRANKLIN 6
2.3. KEVIN 7
3. DIE KONSTELLATIONEN 8
3.1. CELIA UND KEVIN 8
3.2. EVA & FRANKLIN 8
3.3. FRANKLIN & KEVIN 9
3.4. EVA & KEVIN 10
4. WHAT ALSO SHOULD BE TALKED ABOUT 13
5. AUSBLICK 15
6. LITERATURVERZEICHNIS 18
7. EIDESSTATTLICHE VERSICHERUNG 19
8. ANHANG 20
8.1. SEQUENZPROTOKOLL 20
8.2. SCREENSHOTS 21
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1. A New Way to Talk About Kevin?
Der weltberühmte schwedische Regisseur Ingmar Bergmann wurde in den 50er Jahren in ei-
nem Pfarrhaus groß. Seine Kindheit kommentierte er im Erwachsenenalter so:
„Wenn ich nicht so kreativ gewesen wäre, dann wäre ich irgendwo hinter Gitterstäben gelandet...“
Kreativität war für Bergmann der Ausweg aus einem streng katholischen und repressiven Um-
feld. Die Annahme, er hätte ohne die Kunst als Ventil möglicherweise Verbrechen begangen,
lässt erahnen, welche massive Abhängigkeit zwischen der Kindheit eines Menschen und sei-
nem Werdegang bestehen kann. Dies ist ein Thema, auf das auch We need to talk about Kevin
(USA, GB 2008) Bezug nimmt.
Die wenigen akademischen Veröffentlichungen zu Lynne Ramsays Film kombinieren literatur-
wissenschaftliche Erkenntnisse über die Romanvorlage von Lionel Shriver (2003) mit Beobach-
tungen am Filmmaterial. Die vorliegende Arbeit wird den Film nicht vor dem literarischen Hin-
tergrund begutachten, sondern sich auf das filmische Material beschränken. Zum Einen bietet
der Film nahezu völlig andere Ansätze, was die Fassung des Themas betrifft, wenn der Roman
außen vor bleibt, zum Anderen liegen einige psychoanalytische Betrachtungen, die gern auch
für Ramsays Werk zu Rate gezogen werden (vgl. Valdrè 2014) einer Interpretation, die sich auf
den Film beschränkt, nicht sehr nahe.
Thema des Films, möglichst allgemein gefasst, ist das Phänomen des Amoklaufs unter Schülern
in der westlichen Welt, hier speziell die Vereinigten Staaten von Amerika. Die viel diskutierte
Frage, welche gesellschaftlichen Zusammenhänge zu solchen grauenvollen Taten führen, ist
emotional aufgeladen und komplex: Ob nun die gewaltverherrlichenden Computerspiele, das
reformbedürftige Schulsystem oder etwaige Vernachlässigung in den Familien die Gründe für
solche Gewalttaten sind, wird nicht durch einen Film zu beantworten sein - We need to talk
about Kevin bemüht sich allerdings auch nicht um eine Beantwortung dieser Frage. Vielmehr
gibt er die Sicht auf eine Familienkonstellation frei, die sicherlich einen Einfluss auf Kevins spe-
ziellen Fall hat, jedoch streift Ramsay auch einige andere Faktoren, die als schädliche Einflüsse
für gefährdete Kinder und Jugendliche genannt werden dürften. Diese seien zum Abschluss
dieser Arbeit kurz angesprochen, jedoch wird sich der Hauptteil dieser Hausarbeit mit den der
Familie Khatchadourian innewohnenden Gründen für Kevins Amoklauf beschäftigen. Die Fra-
gestellung lautet wie folgt: Welche Antworten gibt die Figurenkonstellation Vater, Mutter, Kind
auf die Frage, warum Kevin Amok läuft?
2
2. Die Figuren
Um die Frage nach der Konstellation von Film-Charakteren sinnvoll angehen zu können, er-
scheint es ratsam, zunächst die beteiligten Figuren einzeln zu beleuchten. In den kommenden
Abschnitten soll also der Frage nachgegangen werden, welche inszenatorischen Mittel We
Need To Talk About Kevin einsetzt, um seine Figuren zu zeichnen. Außerdem soll Augenmerk
darauf gelegt werden, welche Informationen, die zu einer vollständigen Charakterisierung in
der Regel beitragen können, weggelassen werden. Auslassung sowie Bedeutungskontingenz
können ebenso Ausgangspunkt für Interpretationen werden wie klarere filmische Hinweise.
2.1. Eva
Eva (Tilda Swinton) ist die Protagonistin des Films, sie hat eindeutig die meiste Screentime, es
gibt kaum Szenen, in denen sie nicht vorkommt und die Erzählperspektive ist fast vollständig
und eindeutig durch sie fokalisiert. Dieser Eindruck ergibt sich aus der metaleptischen, aus
Erinnerungen Evas gespeisten Erzählweise. Häufig werden in Szenen, in denen Eva arbeitet
oder anderen Alltagsgeschäften nachgeht, Tonausschnitte, die als Erinnerungen fungieren,
eigespielt. Ein Beispiel hierfür wäre folgende Szene aus Sequenz (2): während Eva am Kopierer
steht, hört man Franklin (John C. Reilly) sagen: „Uh, can feel him, I can feel it“ [00:16:06]. An-
schließend wird die Naheinstellung auf Evas Gesicht unscharf, die Rückblende wird durch das
Licht des Kopierers eingeleitet, das über Evas Gesicht fährt, dann sieht man sie vorm Spiegel
stehen und ihren Babybauch betrachten. Häufig wird so oder ähnlich in Rückblenden überge-
leitet. Die Zuschauer sehen das Geschehen somit aus Evas Perspektive(n). Deshalb liegt es
nahe, anzunehmen, dass sich durch die Charakterisierung Evas die größtmögliche Interpretati-
onsspanne bezüglich der Fragestellung dieser Arbeit ergibt. Eva wird in 4 Stadien ihres Lebens
gezeigt: in Spanien, wahrscheinlich während sie für einen ihrer Reiseführer recherchiert, die
schwangere Eva in New York, Eva als Kevins Mutter in einer Vorstadt vor dem Amoklauf und
danach. Gekennzeichnet werden die verschiedenen Stadien rein optisch durch ihre Frisur, was
gewährleistet, dass der Zuschauer sich in der komplexen metaleptischen Erzählstruktur eini-
germaßen zurechtfindet.
Um mit den auffallendsten Merkmalen anzufangen: Eva trägt meist gedeckte Farben, Ocker,
Braun oder Grau, alle anderen Farben sind meist Pastelltöne. So wirkt sie meist, als wolle sie
nicht auffallen, was zu ihrem oft ängstlich-zweifelnden Gesichtsausdruck passt. Doch ist sie
häufig von der Farbe Rot umgeben. Rot ist laut der Goetheschen Farbenlehre als äußerst rei-
zende Farbe anzusehen, in vielen Kulturen gilt sie als Warnfarbe (zum Beispiel im Straßenver-
kehr). Sie ist außerdem die Farbe des Blutes und deshalb die Farbe des Lebens und der Liebe,
wobei letztere Deutung eine teilweise kommerziell geprägte Konnotation darstellt. Das Bedeu-
3
tungsspektrum dieser Farbe lässt sich also von „blutrünstig“ bis „romantisch“ aufspannen. In
Sequenz (1), der ersten Sequenz, in der Eva zu sehen ist, ist der Einsatz der Farbe Rot vielseitig
interpretierbar. Zum Einen ist es dem Setting der Tomatina geschuldet, einem Straßenfest in
Spanien, bei dem die Bewohner eines kleinen Städtchens sich mit Tomaten bewerfen. Da die
Tomatina durchaus als Schlacht zu bezeichnen ist, mutet die rotgefärbte Menge an wie ein
Gemetzel und kann als foreshadowing element für den Amoklauf Kevins gedeutet werden.
Setzt man die rote Farbe aber in Zusammenhang mit Eva, wie sie schwerelos durch die Menge
getragen wird, also über dem Geschehen zu schweben scheint, in Zusammenhang mit ihrem
seligen Gesichtsausdruck, so hat das viele Rot durchaus auch eine positive Wirkung auf den
Rezipienten und kann mit einem Gefühl von völliger Freiheit, Leidenschaft, Lebenslust und
Sinnlichkeit verbunden werden. In Zusammenhang mit der Deutung der Farbe Rot als Farbe
des Lebens ist dieser Zusammenhang nicht auch nicht widersprüchlich.
(Screenshot 1)
In mit diesen ersten Einstellungen wird Eva als sorglose junge Frau gezeigt, die sich inmitten
fremder Menschen völlig gedankenlos hingibt und auf einer Urlaubsreise das Leben in vollen
Zügen genießt. Dieser Eindruck schlägt jedoch abrupt um, wenn Evas Gesichtsausdruck sich
verändert und auch ihre Körperhaltung sich von einer gelösten, dem Himmel entgegenge-
streckten, zu einer an die Kreuzigung erinnernden verändert. Unterstrichen wird die Stim-
mungsänderung durch den Einsatz von verzweifelten Schreien, die nur beim zweiten Sehen
des Films der Amok-Situation am Ende zugeordnet werden können. Ganz gleich, ob die
Tomatina-Szene chronologisch vor dem Amoklauf liegt, dem Zuschauer wird metaleptisch an-
gedeutet, dass Eva für die Tat ihres Sohnes im übertragenen Sinne gekreuzigt werden wird. Für
die Interpretation der Farbe Rot gilt insofern: das Rot-Motiv zieht sich als eine Art mahnende
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Farbe für die Gefahr, die von Kevin ausgeht, und auch als Bild der öffentlichen Stigmatisierung
Evas durch den gesamten Film (siehe Anhang: Screenshots 8-13). Deutet man den Einsatz der
Farbe Rot hier als Farbe der Liebe (zum Leben), lässt die Szene folgende Schlussfolgerung zu:
Eva ist völlig ungebunden und frei, sie liebt ihr Leben, ist quasi in diese Liebe getaucht und es
ist keine Anstrengung für diese Liebe nötig, sie wird von ihr getragen.
Oft findet sich die Farbe auch auf Evas Körper, sei es als Lichtreflex oder als echter Farbklecks,
der bei Regen von ihrem Haus tropft – so ergibt sich ein weiterer Bedeutungszusammenhang:
Rot steht auch für die Schande, das Gezeichnet-Sein, dem Eva nicht entgehen kann. Ihr Sohn
hat dafür gesorgt, dass sie niemals wieder ein anerkannter Teil der Gesellschaft werden wird.
Dies ist eine die vielen Facetten der roten Farbe.
Das Liebesmotiv taucht bezüglich Eva in Zwei Formen auf – in ihrer Liebe zu ihrem Mann
Franklin und in ihrer Mutterliebe. Von ersterer erfährt auch der aufmerksame Rezipient recht
wenig. Nur aus dem frühen Stadium der Liebe zwischen Eva und Franklin sehen wir einige
glückliche Bilder. Bemerkenswert ist, dass auch hier Eva getragen wird. Den seligen Gesichts-
ausdruck, beziehungsweise eine wahrhaft glückliche Eva, sehen die Zuschauer nur, wenn sie
getragen wird.
(Screenshot 2)
Zugespitzt könnte die Interpretation schon an dieser Stelle lauten: Eva ist nur glücklich, wenn
sie sorglos und frei ist, nicht aber wenn sie selbst Verantwortung tragen muss, beispielsweise
für ein Kind. Untermauert wird diese Beobachtung durch einige Szenen der Sequenzen (3) und
(4). In Sequenz (4) sieht man, wie Eva missmutig ihren schwangeren Körper im Spiegel betrach-
tet [00:16:12], zum Anderen wie sie sich zwischen den anderen Frauen im Umkleideraum vor
einem Geburtsvorbereitungs- oder Yoga-Kurs für Schwangere deutlich unwohl fühlt [00:18:18].
5
Die Sporthalle verlassend, rennt jubelnd eine kleine Gruppe Ballettschülerinnen im Grund-
schulalter an ihr vorbei – Eva zeigt keine Gefühlsregung. Sie bleibt nur kurz stehen, ihre Mimik,
Proxemik und ihr Gang sprechen die Sprache extremer Erschöpfung.
Die Geburt Kevins wird nur mit einer einzigen Einstellung verbildlicht. Diese ist eine extreme
Untersicht aus Evas Perspektive auf einen Spiegel (vermutlich an den Scheinwerfern über dem
OP-Tisch angebracht) im Kreißsaal. Ihr Gesicht ist durch die Krümmung des Spiegels verzerrt,
sie schreit aus Leibeskräften. Die Einstellung wirkt durch die Verzerrung von Evas Gesicht ver-
störend. Somit zeugt sie von dem gestörten Verhältnis, das Eva zu ihrem Kind hat, heißt es
doch von einer Stimme aus dem Off, vermutlich der einer Krankschwester oder Ärztin
[00:20:43]: „Eva …Eva, stop resisting. Stop resisting …Eva?“. Evas hilflose Schreie gehen beina-
he direkt in das Schreien des Neugeborenen über – diese Tonbrücke in die nächste Szene setzt
Eva mit ihrem Baby auf eine Ebene. Eva möchte keine Verantwortung übernehmen, ihr Kind
kann es nicht. Auch ist auffallend, dass gleich im Anschluss nicht die frisch gebackene Mutter
das Kind an die Brust gedrückt in den Armen hält. Ihr Mann Franklin sitzt neben dem Kranken-
hausbett und hält Kevin im Arm während seine Frau mit dem immer gleichen erschöpft-
apathischen Gesichtsausdruck geradeaus stiert. Valdrè (2014) formuliert als Problem, dass
diese postnatale Depression Evas weder von ihr noch von ihrer Umwelt thematisiert wird (vgl.
S. 155). Die restlichen für die Fragestellung wichtigen Szenen drehen sich nicht nur um Eva
sondern eher um die Beziehung zwischen Eva und Kevin und werden daher im gleichnamigen
Kapitel behandelt.
Abrundend lassen sich drei wichtige Charaktermerkmale Evas verzeichnen. Ihre Ängstlichkeit
ist die erste. Die zweite ist ihre damit zusammenhängende Unfähigkeit zu direkter Kommuni-
kation. Dies wird in den Dialogen mit Kevin wie auch in denen mit Franklin überdeutlich. Statt
ihre Probleme direkt zu adressieren, eventuell auch einmal auf ihrem Standpunkt zu beharren,
ist sie resignativ und drückt ihren Standpunkt nur äußerst implizit aus. Dazu ein Beispiel aus
Sequenz (7): Eva kommt in Kevins Zimmer und fragt ihn, ob sie ihm beim Anziehen helfen soll.
Er antwortet gehässig: „I can dress myself, can you leave?“ [00:57:33]. Statt auf seine un-
freundliche Art einzugehen oder sachlich mit ihm zu reden, antwortet Eva nur sarkastisch:
„Sure. Glad you’re feeling better. You want some more of that chowder for lunch?” [00:57:37].
Mit dieser Antwort weist sie weder Kevin die Rolle eines Kindes zu, das seiner Mutter mit Res-
pekt begegnen sollte, noch nimmt sie selbst die Position der Mutter ein, die eine erzieherische
Funktion innehat. Der Konflikt, den sie hier und auch in anderen Situationen nicht anspricht,
obwohl er offensichtlich scheint, wird noch genauer im Kapitel Eva und Kevin bearbeitet.
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2.2. Franklin
Franklins Äußeres spricht die Sprache eines „Durchschnittstypen“. Sein Gang ist etwas schlur-
fend, er trägt ein altes Led-Zepplin-Shirt, möglicherweise als Bild dafür, dass er auch einmal
jung und wild war, diese Zeit jedoch vorbei ist. Er überlässt Eva bei ihrem gemeinsamen One-
Night-Stand die Verantwortung. Zwar fragt er sie „You sure ‘bout this?“ [00:15:26], jedoch
verlässt er sich letztendlich auf die völlig Betrunkene. Seine mehrmalige Bitte in der gleichen
Szene, dass sie ihm versprechen solle, nie wieder zu gehen, lässt den Schluss zu, dass er recht
sicherheitsbedürftig ist.
Zu den äußeren Umständen, die großen Einfluss auf das Familienleben der Khatchadourians
haben, gehört die Tatsache, dass Franklin ein recht erfolgreicher Photograph ist. Vom typi-
schen Künstler-Loft in New York während Evas Schwangerschaft über die eigene Villa bis hin
zur Abwesenheit des Vaters im weiteren Verlauf des Films fehlt kein Klischee der klassischen
gendertypisierten Familie.
Franklin, in seiner Eigenschaft als Kevins Vater, könnte rein theoretisch einen genau so großen
Stellenwert in der Erzählung einnehmen wie Eva, doch ist dem bei Weitem nicht so. Seine Ab-
wesenheit macht sich in der geringen Zeit deutlich, die er überhaupt sichtbar ist, aber auch in
der mehrfachen Wiederholung des Anrufs von Eva [01:31:00]: „Franklin. Pick up the
goddammned phone! Franklin!“. Erst sehr spät erfahren die Zuschauer, dass Franklin höchst-
wahrscheinlich bereits tot ist, als Eva versucht, ihn zu erreichen.
Es gibt einige Szenen, in denen deutlich wird, dass sich Franklin genau in den schwierigen Mo-
menten, in denen Eva Verstärkung bräuchte, zurückzieht. Sein Standpunkt ist zunächst der der
Konfliktvermeidung, später ergreift er eindeutig Partei für Kevin. Als erstes und vielleicht wich-
tigstes Beispiel dafür kann eine Szene aus Sequenz (4) fungieren, in der Eva, offensichtlich mit
Kevin überfordert, sagt [00:22:359]: „Now Mommy wakes up every morning and wishes she
was in France!“ Franklin steht dabei im Türrahmen hinter Eva, dem Rucksack auf seiner Schul-
ter nach zu urteilen, ist er gerade auf dem Sprung. Er schüttelt resigniert den Kopf und geht.
An dieser Stelle wird deutlich, dass er nicht bereit ist, der Situation die Stirn zu bieten, obwohl
seine Frau gerade ihrem gemeinsamen Sohn seine eigene Existenz vorgeworfen hat. In den
wenigen expliziten Gesprächen über Kevin verharmlost er eindeutig die Situation und schiebt
die Eskapaden Kevins auf die Tatsache, dass er ein kleiner Junge ist: „He’s a sweet little boy.
That’s what boys do“ [00:50:39].
Völlig unerreichbar für Eva macht er sich in dem Moment, da er Eva statt Kevin die Schuld an
Celias Augen-Verletzung gibt. Er möchte lieber an ein psychisches Problem seiner Frau glauben
als an ein Problem seines Sohnes („Y…you need to go talk to someone.“ [01:19:43]).
7
2.3. Kevin
Kevin zu charakterisieren ist wohl die schwerste Übung dieser Arbeit, ist er doch in gewisser
Weise die Leerstelle, die es unter Anderem mittels der Fragestellung zu füllen gilt. Die Zu-
schauer erleben ihn nie in seinem sozialen Umfeld außerhalb der Familie Khatchadourian, des-
halb ist es kaum möglich ein lückenloses Bild von seiner Figur zu zeichnen. Er ist definitiv ein
sehr ruhiger Mensch, er zeigt nie einen besonders extremen Gesichtsausdruck oder eine be-
merkenswert aggressive oder traurige Geste. Dazu passt auch das Hobby des Bogenschießens,
das eine extreme psychische wie physische Ruhe erfordert.
Schon als sehr kleines Kind jedoch zeigt Kevin eine starke Abneigung seiner Mutter gegenüber.
(Screenshot 3)
Intelligent ist er in jedem Fall, er verweigert jedoch seiner Mutter teilweise das Wissen darü-
ber. So führt er sie, als sie versucht mittels einer Rechenübung etwas über seinen Wissenstand
herauszufinden, an der Nase herum. Er ist schon im Grundschulalter äußerst gemein zu ihr und
seine Eloquenz verhilft ihm zu einer bösartigen Doppelzüngigkeit. So wirft er ihr beispielsweise
einmal recht explizit vor, sie, seine Mutter, würde ihn nicht mögen. Eva fragt ihn, ob er nicht
Freunde zum Spielen haben wollen würde. Auf seine Ablehnung dieses Vorschlags hin, meint
sie, es würde ihm schon gefallen, da er sich daran gewöhnen würde und Kevin antwortet: „Just
because you're used to something, doesn't mean you like it. You're used to me“ [00:53:15].
Kevin trägt meist Blautöne, sein Pyjama ist blau, sein Kinderzimmer ist blau gestrichen. Die
kühle Farbe passt zu seinem unterkühlten, abweisenden Verhalten und seinem kalten Blick. Er
wirkt insgesamt ablehnend kalt, zumindest seiner Mutter gegenüber. Dazu passen die entspre-
chenden Grimassen, gezielter Vandalismus und eine generelle Weigerung mit Eva zu spielen.
Im Teenager-Alter tauchen mehrmals ein roter Kapuzenpulli und ein rot gepunktetes, viel zu
8
kleines T-Shirt auf. Die Farbe Rot hält, wie zur Warnung, Einzug in sein äußeres Erscheinungs-
bild, je näher sein 16. Geburtstag rückt, an dem er Amok läuft. Die viel zu kleine Kleidung, zu
der auch eine Jeans gehört, bei der er nur den obersten Knopf schließt, lässt auf ein starkes
Rebellentum schließen. Ein weiteres auffallendes Requisit ist das Robin-Hood-Kostüm, das
Franklin Kevin schenkt. Kevin, als derjenige, der die Schwachen umbringt, statt ihnen zu helfen,
ist durchaus als eine Art Anti-Robin-Hood zu bezeichnen. Diese Ironie wird dadurch extrem
verstärkt, dass sein eigener Vater ihm nicht nur das Kinderspielzeug schenkt, sondern auch die
echte Waffe, mit der er zu seiner Gräueltat schreitet. Mehr zu dem Robin-Hood-Motiv wird im
Kapitel Eva und Kevin folgen.
3. Die Konstellationen
3.1. Celia und Kevin
Die Figur Celia spielt für die Beantwortung meiner Fragestellung nur eine untergeordnete Rol-
le. Trotzdem wäre es unbedacht, ihr nicht einige kurze Überlegungen zu widmen. Sie ist ein
lebensfrohes Kind, das viel lacht und Kevin, ihren nicht sehr netten großen Bruder, anbetet,
wie es kleine Schwestern zu tun pflegen. Beispiel hierfür ist die Einstellung, in der Celia auf
Kevin zu rennt und ihn umarmt, dabei ruft sie zweimal: „Kevin, you’re my friend!“ [01:00:54]
Obwohl Kevin direkt neben dem Kühlschrank steht, lässt er sich von ihr ein Getränk bringen
und beschimpft sie noch, als sie ihm nicht das gewünschte bringt. Doch Celia scheint für derlei
Gemeinheiten noch kein gutes Gespür zu haben, erst als Kevin sie mit dem Staubsauger quält,
ruft sie ihre Mutter um Hilfe. Kevin ist eindeutig nicht Celias Freund, kann konstatiert werden.
Die Rivalität zwischen Geschwistern, bzw. die Eifersucht, die das erste Kind dem kleineren Ge-
schwister gegenüber empfindet, scheint im Falle Celias allerdings nicht der springende Punkt
zu sein, den der Film machen möchte – die Figur Celias fungiert eher als eine Art neue Perspek-
tive auf die Familie Khatchadourian, besonders auf Eva und Kevin. Zum Einen wird durch sie
deutlich, dass Eva sehr wohl in der Lage ist eine funktionierende Mutter-Kind-Beziehung zu
führen. Zum Anderen wird verstärkt deutlich, dass Franklin Kevin gegenüber recht hilflos ist
und im Zweifelsfall für ihn Partei ergreift, anstatt für Celia oder Eva, wie der Vorfall mit dem
Rohrreiniger zeigt.
3.2. Eva & Franklin
Franklin und Eva sind keinesfalls ein Paar ohne Probleme, andererseits sieht man sie auch zu
keinem Zeitpunkt in einer längeren, geschweige denn lautstarken Auseinandersetzung. Wie
zuvor herausgearbeitet, argumentiert Eva sehr implizit und tendiert in Konflikten zu Resignati-
on und Rückzug. Franklin auf der anderen Seite möchte Konflikte am liebsten gar nicht wahr-
9
nehmen, was zu typischen Unterhaltungen führt wie der folgenden im Krankenhaus nach
Celias „Unfall“ (Sequenz (9)):
[01:19:24] Franklin: “Well…Why did you leave the drain stuff out?”
[01:19:27] Eva: “I didn’t. I put it away!”
[01:19:29] Franklin: “Then how did it get out?”
[01:19:40] Eva: “It was Kevin. Kevin did it.”
[01:19:42] Franklin (nodding): “You need to go talk to someone.”
Wie auch an einigen anderen Stellen des Films, werden hier wichtige kommunikative Schritte
einfach ausgelassen. Zum Einen begründet Eva mit keinem Satz, dass sie sicher weiß, dass Ke-
vin Celia verletzt hat. Zum Anderen wehrt sie sich nicht gegen Franklins impliziten Vorwurf, sie
habe ein therapiewürdiges psychisches Problem. Franklin, indem er sofort aufsteht und Eva
allein lässt, beweist einmal mehr, dass er nicht reden möchte. Diese Szene ist nur ein Beispiel
von vielen, die durchweg den Eindruck vermitteln, Eva und Franklin könnten nicht offen mitei-
nander über Kevin reden. Ein Grund dafür könnte darin bestehen, dass beide nicht glauben,
den anderen von der eigenen Meinung überzeugen zu können. Zumindest deuten einige Ein-
stellungen darauf hin, die Evas Reaktion auf Franklins verharmlosende Reden über Kevin zei-
gen. Es scheint oft, als beiße sie sich (im übertragenen Sinne) auf die Lippen, hätte aber eigent-
lich noch sehr viel zu sagen.
Das Missverhältnis zwischen den beiden im Hinblick auf ihren Eltern-Job manifestiert sich rela-
tiv eindeutig in der Szene, in der Franklin Eva zwingt, sich bei ihrem Sohn zu entschuldigen
(Sequenz (9)). Damit untergräbt er jegliche Autorität, die sie ihm gegenüber haben könnte und
zeigt ihr ein für alle Mal, dass sie mit ihrem Problem mit Kevin allein da steht. Unterstrichen
wird die bizarre Situation noch durch die unappetitliche Art, wie Kevin eine Litschi schält und
sie unter möglichst großer Verschmutzung seines Umfeldes zwischen seinen Backen zer-
quetscht. Diese Handlung lässt wie eine Siegesfeier anmuten, die er (dank seines Vaters) seiner
Mutter gegenüber auskosten kann.
3.3. Franklin & Kevin
Eine sehr aussagekräftige Szene für die Beschreibung der Beziehung von Franklin und Kevin ist
die, in der Franklin Kevin das Robin Hood Kostüm und den Bogen schenkt (Sequenz (7)). Er
zeigt ihm, wie man ihn gebraucht und Kevin benutzt das neu Gelernte sofort, um auf seine
Mutter zu schießen, die in der Küche steht und den Pfeil mit dem Saugnapf am Glas des Kü-
chenfensters betrachtet, eindeutig irritiert, wenn nicht schockiert. Inszeniert ist die Szene al-
lerdings so, dass die Zuschauer Franklins Reaktion darauf nicht mitbekommen. Wenn diese
Leerstelle nicht wäre, könnten wir Franklins pädagogische Haltung wesentlich besser bewer-
10
ten, doch man erfährt nicht, ob er Kevin überhaupt darauf hinweist, dass er nur auf seine Ziel-
scheibe und nicht auf Menschen zielen soll. Dass er Kevin gegenüber kein einziges Mal ein
strenges Wort verlauten lässt, spricht für sich, ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass Ke-
vin sich ihm gegenüber völlig anders verhält, als mit seiner Mutter. Er ist beinahe übertrieben
freundlich – dieser Gegensatz kommt besonders gut zutage, wenn er erst Celia mit dem Staub-
sauger quält (Sequenz (7)) und ihm die sadistische Lust ins Gesicht geschrieben steht und er
dann freudestrahlend aufsteht und seinem Vater hilft, den Weihnachtsbaum ins Haus zu tra-
gen. Valdrè (ebd. S.151) bezeichnet Kevins durchweg ablehnende und aggressive Haltung als
„Loyalty to Hatred“, was bei wiederholter Rezeption des Films zwar verständlich, jedoch auch
etwas kurz gegriffen scheint, wenn man die Beziehung Kevins zu Franklin mit einbezieht.
Auf einer abstrakteren Ebene können die beiden Szenen, in denen Franklin seinem Sohn zuerst
den Spielzeug-Bogen schenkt, dann die richtige Waffe, folgendermaßen interpretiert werden:
Kevins Vater ahnt nicht, dass er seinen Sohn in ein Kostüm steckt, dass keinesfalls zu ihm passt.
Er beschönigt das Verhalten seines Sohnes aufgrund seiner Konflikt-Scheue soweit (vgl. Valdrè
2014, S.155), dass er die Gefahr, die von Kevin ausgeht, nicht nur nicht spürt, sondern ver-
stärkt. Er gibt ihm letztendlich das Handwerkszeug, sich entsprechend gegen die Welt und
besonders gegen seine eigene Mutter zu wenden.
3.4. Eva & Kevin
Die wohl am meisten Raum einnehmende Beziehung des Films ist die zwischen Eva und Kevin,
allein gemessen an der Screentime. Nach Meinung vieler klassischer psychoanalytischer Arbei-
ten und auch bei Freud (1953) stellt die Mutter-Kind-Bindung eine wichtige, wenn nicht gar die
wichtigste Säule der frühkindlichen Sozialisation dar. Schon die Szenen der Sequenzen (2) und
(3) spannen die Problematik, die zwischen Eva und Kevin besteht, und die in den Beschreibun-
gen der beiden Figuren bereits angesprochen wurden, derart auf, dass sich weitreichende
Schlüsse für die psychologische Entwicklung Kevins ziehen lassen.
Eva ist, wie bereits umrissen, ängstlich, missmutig was die Schwangerschaft betrifft, möchte
die Geburt ihres ersten Kindes nicht zulassen. Außerdem lässt sich aus der One-Night-Stand-
Rückblende ableiten, dass Kevin nicht geplant war. Es kann dementsprechend gefolgert wer-
den, dass Eva ein ambivalentes oder gar negatives Verhältnis zu ihrem Neugeborenen hat. Das
lässt auch die Szene vermuten, in der wir die beiden zum ersten Mal miteinander alleine se-
hen. Auch hier arbeitet der Film mit einer Tonbrücke: diese lässt das Kreischen eines Beton-
schleifers in Kevins Schreien übergehen – ein Bild für die Überreizung der Nerven, die Eva of-
fensichtlich durch Kevin erleidet. Eva hält ihr Baby etwas über Kopfhöhe vor sich und schaukelt
11
es, um sein Schreien zu stoppen, sieht dabei krampfhaft liebevoll und vielmehr erschöpft als
glücklich aus. Es wirkt fast schon überinszeniert, dass sie ihn 20 Sekunden lang [00:21:36 –
00:22:07] nicht an ihre Brust drückt, was rein körperlich weniger anstrengend wäre. Dass sie
ihn nicht „richtig“ im Arm hält, wie der gemeine Kinozuschauer es von Mutter-Kind-Szenen
gewohnt ist, gibt Aufschluss über eine mögliche postnatale Depression oder schlicht die man-
gelnde Bindung zwischen den beiden. Kevins Schreien generell als Forderung nach Mutterliebe
zu deuten, wäre denkbar kurz gegriffen, Kevins permanentes Brüllen in den Armen seiner Mut-
ter im Gegensatz zur Ruhe und Friedlichkeit in den Armen seines Vaters (Sequenz (3)) kann
allerdings doch als sachter Hinweis darauf gewertet werden, dass Kevin liebevolle elterliche
Fürsorge benötigt. Später gestaltet sich das Verhältnis von Sohn zu Mutter gerade umgekehrt:
Die Schwäche Evas ihrem Sohn gegenüber wird in sehr vielen Szenen des Films deutlich. Oder
sollte man eher von Kevins Dominanz und ihrer Submission sprechen? Das Machtspiel zwi-
schen den beiden beginnt filmisch mit dem Ballspiel (Sequenz (4)). Von meiner Hypothese
ausgehend, dass Eva Kevin nicht in der bedingungslosen Art und Weise lieben konnte, die wir
von Müttern im Kino gewohnt sind, bestraft das intelligente Kleinkind Kevin seine Mutter dafür
nun mit Zurückweisung. Er reagiert so lange nicht auf sie, bis sie aufgibt, dann reicht er ihr
„den kleinen Finger“ – spielt ihr den (roten!) Ball einmal zu und versinkt anschließend wieder
in Apathie (vgl. Valdrè, S. 156). Die meisten Szenen, in denen der Teenager Kevin und Eva allein
sind, illustrieren Kevins Dominanz durch dramaturgische, ästhetische sowie schauspielerische
Mittel. Es ist deutlich erkennbar, wie stark Kevin rein körperlich seine oppositionelle Haltung
seiner Mutter gegenüber zeigt. Er hängt lässig in seinem Stuhl, auch in einem pikfeinen Restau-
rant – er legt seine abgebissenen Fingernägel vor sich auf den Tisch, er grinst sie hämisch an
oder würdigt sie keines Blickes. Häufig werden auch seine Hände gezeigt, die eifrig Essen zer-
kleinern oder Buntstifte zerbrechen. Seine Proxemik ist auf minimale Bewegungen beschränkt
und seine Fassade damit völlig kalt und aalglatt. Auch die Häufigkeit der Nahaufnahmen seines
Mundes spricht die Sprache der (passiven) Aggressivität. Fingernägel und Zähne sind leicht mit
Klauen und Hauern zu assoziieren, zumal Kevin beide deutlich dazu benutzt, seine Mutter an-
zuekeln. Sie hingegen ist körperlich angespannt, meidet seine Blicke, die Kamera zeigt außer-
dem ihre verkrampften Hände in ihrem Schoß, was als Bild für Untätigkeit oder Handlungsun-
fähigkeit verstanden werden kann („die Hände in den Schoß legen“). In einigen Szenen sind die
beiden auch so im Raum angeordnet, dass ein direkter Blickkontakt nicht möglich ist, ge-
schweige denn eine normale Gesprächssituation (siehe Screenshots 14 & 15).
An dieser Stelle scheint es, zur Untermauerung der bisher dargelegten Beobachtungen, rat-
sam, eine Teiltheorie Freuds aus seinem Werk Das Unbehagen in der Kultur (1953) kurz zu
skizzieren, da die folgenden argumentativen Schritte sich unmittelbar auf diese beziehen. Die
12
Ausgangsthese Freuds besagt, der Mensch sei im Kern durch zwei Triebe gekennzeichnet, Eros
und Todestrieb. Der Todestrieb erscheine in zweierlei Gestalt, der der introvertierten und der
extrovertierten Aggression. Funktion der Kultur, so Freud weiter, sei es, diese Aggression ein-
zudämmen, um das Zusammenleben von Menschen zu ermöglichen, in Familien sowie in grö-
ßeren Zusammenhängen. Dies geschehe mittels der zielgehemmten Libido (eine Form des
Eros), die sich in den Beziehungen innerhalb der Familie manifestiert – eben auch als Liebe
zwischen Mutter und Kind. Die zielgehemmte Libido beinhaltet Freud zufolge alle liebevollen
a-sexuellen Gefühle, die Familienmitglieder für einander empfinden (vgl. S. 136ff). Bezug neh-
mend auf die Ausführungen zu Evas postnataler Depression, ihrer Unfähigkeit, eine Bindung zu
Kevin aufzubauen, zeigt sich schnell, dass es wohl zwischen den beiden an ebendieser zielge-
hemmten Libido mangelt. Diese Annahme hat nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die
Interpretation von Kevins gesamtem Verhalten. Erfährt ein Kind keine oder nur eine selbst
„auferlegte“ Mutterliebe, kann er kaum ein gesundes Verhältnis zu sich selbst, geschweige
denn eine Selbstliebe oder Objektliebe nach Freud entwickeln. Die Mutter zu lieben, die dich
nicht liebt, ist zwecklos, deshalb geht Kevin in Opposition zu jeglichem Versuch Evas, eine
„funktionierende“ Beziehung zu ihm aufzubauen. Ferner entwickelt er keinerlei liebevolle Be-
ziehung zu den anderen Familienmitgliedern, wie bereits in den beiden vorangehenden Kapi-
teln dargestellt. Er wendet sich a priori wider die Kultur und wider seinen Ursprung, da von
diesem der Schlüssel zur Regulierung des extrovertierten Todestriebs nicht angeboten wurde.
Über die Autoaggression, den anderen Teil des Todestriebs, kann bezüglich Kevin Folgendes
behauptet werden: Er steht seiner Umwelt in gleichem Maße destruktiv gegenüber wie sich
selbst, indem er Amok läuft. Diese Einsicht, so eine naheliegende Vermutung, scheint ihm
letztendlich in der Strafanstalt auch zuteil zu werden. So äußert er auf die Frage seiner Mutter,
warum er den Massenmord begangen habe, in überraschend authentischer und nicht gehässi-
ger Weise: „I used to think I knew, now I’m not so sure.“ [01:43:32] Die Ehrlichkeit Kevins
scheint an diesem Punkt zum ersten Mal zu einem gewissen Verständnis zwischen den beiden
zu führen, zumindest lässt die anschließende Umarmung der beiden darauf schließen.
Passend dazu gestaltet sich auch die Szene, in der Kevin krank ist (Sequenz (6)) und in dieser
Situation der Schwäche plötzlich die Fürsorge Evas annehmen kann. Das legt die Vermutung
nahe, dass zwischen Kevin und seiner Mutter trotz all der Feindseligkeit ein Vertrauensverhält-
nis möglich ist, der Film zerstört das positive Potenzial der Vertrautheit allerdings gekonnt
damit, dass Eva Kevin in dieser Zeit ausgerechnet Robin Hood vorliest, ein Buch, dessen Held
durchaus als Aggressor zu bezeichnen ist. Dies ist ein weiterer zynischer Hinweis, dass auch die
elterliche Fürsorge Evas, Kevins Aggressionspotenzial, selbst wenn die beiden gerade gut mit-
einander auskommen, nicht neutralisieren oder zumindest in die richtige Richtung lenken
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kann. Valdrè geht sogar so weit, Kevin den Wunsch zu unterstellen, Eva ganz für sich allein zu
haben. Darin sieht sie eine Begründung für seinen Amoklauf und die Tatsache, dass er auch
Celia und Franklin tötet:
„Who, what does Kevin get rid of by killing his schoolmates, his father and Celia? […] Does
he attempt to get rid of possible rivals to his exclusive relationship with his mother, all the
other children, his sister, his father – despised and envied objects?” (156)
Wäre es insofern als Sieg für Kevin zu bezeichnen, dass er seine Mutter nun, da sie die einzige
ist, die ihn besucht und sie neben ihm auch keine sozialen Kontakte mehr pflegen kann, völlig
für sich allein hat? Valdrè bejaht diese Frage und konstatiert, dass die beiden durch die Aner-
kennung ihrer gegenseitigen Abneigung für einander auf eine heilsame Authentizität (in ge-
genseitiger Gefühllosigkeit) zusteuern (vgl. Valdrè, 158).
4. What also should be talked about
Nachdem nun das Zusammenspiel von Franklins Strategie der Konfliktvermeidung, Evas emoti-
onale Ambivalenz Kevin gegenüber, Kevins Reaktion darauf und Celias Funktion beleuchtet
wurden, gilt es, die gewonnenen Erkenntnisse mit einigen weiteren Hinweisen des Films abzu-
runden, die für die Fragestellung von Relevanz sein könnten und sich ebenfalls auf die Figu-
ren(-konstellationen) beziehen.
Zunächst möchte ich auf die Namen der Hauptfiguren eingehen, die durchaus als Telling Na-
mes bezeichnet werden können. Der biblische Name Eva verweist auf die Mutter der Mensch-
heit, die Frau Adams und somit auf die Freudianische Theorie der „ersten“ Familie, die den
Anfangspunkt der Kultur, wie wir sie kennen, kennzeichnet. Dass die Figur Evas dem Ideal einer
Urmutter völlig widerspricht kann als ironische Verwendung des Namens gewertet werden.
Andererseits spricht für die biblische Deutung, dass der Sündenfall auf Eva zurückzuführen ist.
Kevin andererseits kann vom irischen Wort caomh abgeleitet werden, welches sanft bedeutet.
Diese Namensdeutung mutet nahezu zynisch an. Was den Namen Franklin betrifft, sind keine
allzu eindeutigen Schlüsse möglich, jedoch steckt das Englische Wort frank, zu deutsch freimü-
tig (veraltet: frank), darin. Mit den bisherigen Ausführungen zu Franklins Figur kann auch diese
Bedeutung als in hohem Maße paradox bezeichnet werden, ist Franklin doch gerade durch
eine Unfreiheit im sozialen Umgang geprägt und vermeidet es stets offen und freimütig zu
sprechen.
Als weiterer Fingerzeig, der hier erwähnt werden soll, und der die im Hauptteil gewonnenen
Erkenntnisse destillieren könnte, ist der Einsatz von Musik mit Kommentarfunktion. Auch hier
ist das dominante Stilmittel die (schmerzliche) Ironie. Titelsong des DVD-Menüs ist Buddy
Hollys „Everyday”, ein äußerst heiteres Lied, mit Spieluhrmelodie im Hintergrund (Spieluhren
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sind ebenfalls leicht mit Kindheit zu assoziieren), in dem es um wachsende Liebe und überbor-
dend schöne Gefühle geht. Zynisch ist der Einsatz dieses Liedes vor allem in der Szene, in der
Eva offensichtlich eine Art Panikattacke erleidet, weil sie sich an Kevins Tat und die damit ver-
bundene Fahrt zu seiner Schule erinnert (Sequenz (4) - Halloween, Autofahrt nach Hause, wäh-
rend lauter verkleidete Kinder und Jugendliche durch die Straßen ziehen).
Irene Ryders „I’m Nobody’s Child”, welches in der Szene eingespielt wird, in der Eva Kevins
Zimmer in ihrem neuen Haus aufräumt und anschließend zu ihm ins Gefängnis fährt (Sequenz
(12)) macht mit seinem Text auf sich aufmerksam:
I’m nobody’s child
Just like a flower I’m growing wild
I got no mommy’s kisses
I got no daddy’s smile
Oh nobody wants me
[…]
Als wäre er aus der frühkindlichen Perspektive Kevins geschrieben worden, verweist dieser
Auszug des Liedes, der auch vollständig im Film zu hören ist, auf die hiesige Argumentation
bezüglich fehlender elterlicher Liebe und der Konsequenz „wild“ zu sein.
Auch in einem Dialog zwischen Kevin und Eva finden wir einen letzten Hinweis, auf die Richtig-
keit der beschriebenen Zusammenhänge. Eva bezieht sich in diesem Dialog auf Kevins Persön-
lichkeit und er kontert: „What personality?“ [00:39:52]. Gerade weil ein Kind im Grundschulal-
ter mutmaßlich kein wirklich aussagekräftiges Konzept seiner eigenen Persönlichkeit hat, ist
die Aussage aus Kevins Mund merk-würdig und verweist auf sein nicht intaktes Ego.
Dass Kevin der Kultur feindlich gegenübersteht, lässt sich letztendlich auch mit seinem Mono-
log belegen, den er zur Verteidigung seiner Tat hält:
„Alright, it’s like this: You wake up and you watch TV. Get in your car, listen to the radio. And you go to your little job or your little school. But you’re not gonna hear about that in the 6 o´clock news. Why? ´cause nothing is really happening. And you go home and you watch some more TV or maybe, it’s a fun night, you go out and you watch a movie. (laughs) I mean it’s got so bad that half the time the people on TV – inside the TV – they’re watching TV. And what are all these people watching? People like me. And what are all you doing right now? You’re watching me. You don’t think they would have changed the channel by now if all I did was get an A in geometry?” [00:58:48]
Auffallend ist auch, welchen großen Stellenwert die Medien in Kevins Monolog innehaben. Es
scheint ihm eindeutig um Aufmerksamkeit zu gehen, beschreibt er doch das alltägliche Leben
gleich doppelt mit der süffisanten Beschreibung „little“ und stellt es als unbedeutend im Ver-
gleich zu dem was er tut dar. Doch bleibt die Frage offen, ob es ihm um die allgemeine Auf-
merksamkeit geht oder um die seiner Mutter. Letzteres legt das Filmmaterial nahe, da der
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Zuschauer von Kevins Monolog Eva ist und ihr Gesicht auf dem Fernsehbildschirm als Reflexion
in seinem deutlich zu sehen ist.
Die Figurenkonstellation Vater, Mutter, Kind allein gibt dem Zuschauer keine allgemeingültige
oder eindeutige Antwort auf die Frage, weshalb Kevin Amok läuft. Doch sie eröffnet den Inter-
pretationszusammenhang, der in dieser Arbeit als Kevins Kulturverdrossenheit und Unfähigkeit
zur Regulation seines Todestriebs angesichts des Mangels an Liebe von und zu seiner Mutter
dargestellt wurde. Diese Interpretation hat sich jenseits der freudschen Theorie und des Film-
essays von Roséllia Valdrè auch am Filmmaterial als schlüssig erwiesen. Franklin kommt
schließlich als mangelhafter Vermittler und allgemein schwache Vaterfigur als verstärkendes
Element ins Spiel. Um der Komplexität des Filmes Rechnung zu tragen, soll es im letzten Kapitel
um diejenigen Themen gehen, die mit der Fragestellung unmittelbar zusammenhängen, eben-
falls vom Film angeschnitten wurden, jedoch nicht die Ménage-à-trois betreffen.
5. Ausblick
Welchen Einfluss haben gewaltverherrlichende Spiele auf Kinder, die in Hinsicht auf Aggression
gegen ihr Umfeld gefährdet sind? Ist Amok ein US-amerikanisches Phänomen und wenn ja,
warum? Wie gestaltet sich die Verbindung zwischen der Leistungsgesellschaft, dem damit ver-
bundenen Leistungsdruck auf Kinder und Jugendliche und dem Amok-Phänomen? Auf diese
drei sehr ambitionierten Fragen, lassen sich filmische Hinweise in We Need to Talk About Kevin
finden. Es gibt eine Szene, in der Kevin mit seinem Vater zusammen ein Spiel auf einer
Spielekonsole spielt. Es wird nicht verraten, welches es ist, jedoch sehen beide sehr verbissen
und aggressiv aus, während sie einander „bekämpfen“ und Eva schaut ihnen dabei irritiert zu.
(Screenshot 4)
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Außerdem ist Kevin definitiv technisch versiert, was seine CD mit einem Computer-Virus be-
weist. Es kann also davon angenommen werden, dass Kevin ein „Geek“ ist, der sich viel mit
digitalen Welten und Kriegsspielen beschäftigt. Dieser Habitus wird oft mit Abkapselung, Ver-
einsamung und antisozialem Verhalten in Verbindung gebracht, welches wiederum dem
Amok-Phänomen nahesteht. Es kann als modus operandi von We Need to Talk about Kevin
bezeichnet werden, ein Thema, wie eben den vermuteten Zusammenhang zwischen digitalen
Netzwelten, Vereinsamung und Amoklauf, anzuschneiden, ohne Antworten auf die mit ihnen
in Verbindung stehenden Fragen zu geben. So verhält es sich auch mit den nächsten beiden
Beispielen.
In der untenstehenden, amerikanischen Einstellung gegen Ende des Films, in der Kevin mit
seinem Bogen in der Turnhalle, dem Tatort seines Massakers, steht, kann man deutlich die
Farben Rot und Blau als Lichtreflexe aufblitzen sehen. Dies kann in Zusammenspiel mit Kevins
weißem Hemd als Referenz zur US-Amerikanischen Flagge gewertet werden, die ebenfalls an
der Wand der Turnhalle hängt und verweist somit auf die zweitgestellte Frage dieses Kapitels.
Es sieht fast so aus, als würde Kevin, der sich in dieser Szene vor einem nicht vorhandenen
Publikum verbeugt, sich für die landesweite Aufmerksamkeit, die ihm seine Tat bescheren
wird, im Voraus bedanken.
(Screenshot 5)
Last but not least, ist das Plakat, welches eine Tür der Sporthalle ziert, bemerkenswert. Vor
allem, da es ganze 8 Sekunden lang gezeigt wird, gut lesbar ist und ein Zoom darauf zu es noch
besser zur Geltung bringt. Es verweist mit seinem Text unmissverständlich auf einen extremen
Leistungsgedanken und damit auf die dritte Frage. Außerdem deutet der grimmige Gesichts-
ausdruck des abgebildeten Teenagers ebenfalls sehr auf eine Verbindung zwischen einem stark
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ausgeprägten Leistungswillen und Härte wenn nicht sogar Aggression hin. Pride und Focus sind
definitiv Charakterzüge, an denen es Kevin, oberflächlich betrachtet, nicht mangelt. So radikal
destruktiv diese Eigenschaften von ihm eingesetzt werden, steht seine Figur womöglich für die
negativen Auswirkungen der US-amerikanischen Leistungsgesellschaft, die schon Jugendliche
in die Rolle von voll-ökonomisierten Leistungsträgern drängt. In We Need to Talk about Kevin
werden also die gängigsten Erklärungsversuche für das Amok-Phänomen unter Schülern zu-
mindest angeschnitten. Der Fokus liegt jedoch, wie bereits ausgeführt, auf den familiären
Strukturen als Ausgangslage, welche mit wesentlich mehr Tiefgang verarbeitet werden.
(Screenshot 7)
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6. Literaturverzeichnis
We Need To Talk About Kevin. Directed by Lynne Ramsay. UK and USA 2001, DVD.
Freud, Sigmund. 1958. Das Unbehagen in der Kultur. In Abriss der Psychoanalyse – Das Unbe-
hagen in der Kultur, herausgegeben von Bücher des Wissens, S. 90–190. Frankfurt am
Main, Hamburg: Fischer
Valdrè, Rosélla, “ ‘We need to talk about Kevin’: an unusual, unconventional film Some reflec-
tions on ‘bad boys’, between transgenerational projections and socio-cultural influ-
ences”, The International Journal of Psychoanalysis 95 (2014): 149–159. doi:
10.1111/1745-8315.12188
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7. Eidesstattliche Versicherung
Ich versichere, dass ich die Arbeit selbstständig und ohne Benutzung anderer als der angege-
benen Hilfsmittel angefertigt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus Veröffentli-
chungen in schriftlicher oder elektronischer Form entnommen sind, habe ich als solche unter
Angabe der Quelle kenntlich gemacht. Mir ist bekannt, dass im Falle einer falschen Versiche-
rung die Arbeit mit „nicht ausreichend“ bewertet wird.
Ich bin ferner damit einverstanden, dass meine Arbeit zum Zwecke eines Plagiatsabgleichs in
elektronischer Form versendet und gespeichert werden kann.
Mannheim, den 04.09.2014
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8. Anhang
8.1. Sequenzprotokoll
(1) Rot [00:00:00 – 00:09:12]
(2) Neuer Job [00:09:11 – 00:16:36]
(3) Freier Nachmittag [00:16:36 – 00:26:34]
(4) Kevin [00:26:34 – 00:34:36]
(5) Familienleben [00:34:36 – 00:47:04]
(6) „Mami ist fett“ [00:47:04 – 00:56:37]
(7) Weihnachten [00:56:37 – 01:08:00]
(8) Wertvolle Zeit [01:08:00 – 01:14:25]
(9) Mr. Schnuffel [01:14:25 – 01:23:40]
(10) Der Kontext [01:23:40 – 01:30:01]
(11) Gladstone High [01:30:01 – 01:39:50]
(12) Jahrestag [01:39:50 – 01:42:17]
(13) Abspann [01:42:17 – 01:47:30]