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Rezension Ammon, Ulrich. 2015. Die Stellung des Deutschen in der Welt. Berlin/München/ Boston: De Gruyter. 1314 S., 79,95 , ISBN 978-3-11-019298-8. Besprochen von Jan Kruse, Körnerstr. 55, 50823 Köln, E-mail: [email protected] DOI 10.1515/zfal-2016-0007 Das 1314 Seiten starke jüngste Buch des Duisburger Germanisten Ulrich Ammon Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt ist in vielerlei Hinsicht ein gewichtiges Ereignis. Schon die äußere Erscheinung soll vermitteln, dass zu diesem Thema nichts ungeklärt oder zumindest nichts unerwähnt bleibt. Die Seiten sind dünn, etwas bibelhaft, der Umschlag in hellem, optimistischem Grün. Es ist gewissermaßen eine Neuauflage von Ulrich Ammons rotem Buch Die internationale Stellung der deutschen Spracheaus dem Jahr 1993. Aber das grüne ist vielfältiger, wesentlich umfassender und völlig überarbeitet. Nicht zuletzt sollen neben der Bearbeitung der zahlreichen Aspekte zur Stellung des Deutschen in der Welt auch die vielen Veröffentlichungen zum Thema berück- sichtigt werden, die seither erschienen sind. Und in einem ganz anderen Aus- maß als für solche Fachbücher üblich, werden Forschungslücken, Desiderata und damit auch Themen für mögliche Arbeiten aufgezeigt. Für Studierende und Forschende in der Soziolinguistik ist dies daher auch ein Nachschlagewerk für die Zukunft. Das Buch ist in 12 Kapitel mit den Buchstaben A bis L untergliedert. Die Kapitel haben jeweils vier bis 11 Unterkapitel. Eine weitere Untergliederung wird sparsam eingesetzt, was die Suche im Inhaltsverzeichnis erleichtert. Neben einem kurz gehaltenen Vorwort und einem Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis enthält das Buch eine umfangreiche 125 Seiten starke Bibliographie und ein Sachregister. Ein Nachwort fehlt ebenso wie eine Zusammenfassung des Inhalts. Dies verrät sogleich die etwas zwitterhafte Natur des Buchs: teils Handbuch, teils Monographie. Es ist empfehlenswert, bei der eigenen Lektüre auch einen eigenen Index anzulegen, damit man die für einen selbst wichtigen Textstellen auch wiederfindet. Das ist durch das Inhaltsverzeichnis und das Register nicht unbe- dingt gewährleistet. Der Stil des Buchs ist bisweilen der eines Handbuchs, vor allem bei der Vorstellung von Länderstudien, aber es ist auch persönlich und bezieht die lange Forschungserfahrung des Autors sowie seine Rechercheerfahrungen mit ein. Viele Kapitel haben daher auch einen diskursiven Charakter, der sicherlich zur Länge des Buchs beiträgt, aber auch die Lesbarkeit steigert und Transparenz schafft. Die Leser und Leserinnen erfahren, wie sich das Wissen zusammensetzt, Zeitschrift für Angewandte Linguistik 2016; 64: 127135 Angemeldet | [email protected] Autorenexemplar Heruntergeladen am | 07.04.16 08:49

(Rezension) Ammon, Ulrich (2015): Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt. Berlin/München/ Boston: De Gruyter

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Ammon, Ulrich. 2015. Die Stellung des Deutschen in der Welt. Berlin/München/Boston: De Gruyter. 1314 S., 79,95 €, ISBN 978-3-11-019298-8.

Besprochen von Jan Kruse, Körnerstr. 55, 50823 Köln, E-mail: [email protected]

DOI 10.1515/zfal-2016-0007

Das 1314 Seiten starke jüngste Buch des Duisburger Germanisten Ulrich AmmonDie Stellung der deutschen Sprache in der Welt ist in vielerlei Hinsicht eingewichtiges Ereignis. Schon die äußere Erscheinung soll vermitteln, dass zudiesem Thema nichts ungeklärt oder zumindest nichts unerwähnt bleibt. DieSeiten sind dünn, etwas bibelhaft, der Umschlag in hellem, optimistischemGrün. Es ist gewissermaßen eine Neuauflage von Ulrich Ammons rotem Buch„Die internationale Stellung der deutschen Sprache“ aus dem Jahr 1993. Aberdas grüne ist vielfältiger, wesentlich umfassender und völlig überarbeitet. Nichtzuletzt sollen neben der Bearbeitung der zahlreichen Aspekte zur Stellung desDeutschen in der Welt auch die vielen Veröffentlichungen zum Thema berück-sichtigt werden, die seither erschienen sind. Und in einem ganz anderen Aus-maß als für solche Fachbücher üblich, werden Forschungslücken, Desiderataund damit auch Themen für mögliche Arbeiten aufgezeigt. Für Studierende undForschende in der Soziolinguistik ist dies daher auch ein Nachschlagewerk fürdie Zukunft.

Das Buch ist in 12 Kapitel mit den Buchstaben A bis L untergliedert. DieKapitel haben jeweils vier bis 11 Unterkapitel. Eine weitere Untergliederung wirdsparsam eingesetzt, was die Suche im Inhaltsverzeichnis erleichtert. Neben einemkurz gehaltenen Vorwort und einem Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnisenthält das Buch eine umfangreiche 125 Seiten starke Bibliographie und einSachregister. Ein Nachwort fehlt ebenso wie eine Zusammenfassung des Inhalts.Dies verrät sogleich die etwas zwitterhafte Natur des Buchs: teils Handbuch, teilsMonographie. Es ist empfehlenswert, bei der eigenen Lektüre auch einen eigenenIndex anzulegen, damit man die für einen selbst wichtigen Textstellen auchwiederfindet. Das ist durch das Inhaltsverzeichnis und das Register nicht unbe-dingt gewährleistet.

Der Stil des Buchs ist bisweilen der eines Handbuchs, vor allem bei derVorstellung von Länderstudien, aber es ist auch persönlich und bezieht dielange Forschungserfahrung des Autors sowie seine Rechercheerfahrungen mitein. Viele Kapitel haben daher auch einen diskursiven Charakter, der sicherlichzur Länge des Buchs beiträgt, aber auch die Lesbarkeit steigert und Transparenzschafft. Die Leser und Leserinnen erfahren, wie sich das Wissen zusammensetzt,

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das Ulrich Ammon in seinem Forscherleben gesammelt und analysiert hat.Dabei fallen zwei Dinge auf, die das Peer Review mancher Fachzeitschrift mög-licherweise aufschrecken würden und die daher besondere Erwähnung findensollten. Da sind zum einem die zahlreichen Hinweise auf informelle Quellen wieE-Mails und Hinweise von Kollegen und Kolleginnen. Sie zeigen die Haltung desAutors bezüglich einer kohärenten Darstellung eines Wissensbereichs, zu demnicht nur allgemein zugängliche Quellen zählen, sondern auch ein forschungs-sozialer Kontext Leerzeichen zwischen Kontext − zudem viele angesprocheneBereiche zur internationalen Stellung des Deutschen nicht abschließenderforscht sind und der Rückbezug auf Indizien daher unerlässlich ist. Der zweiteauffällige Punkt sind die zahlreichen zitierten Wikipedia-Artikel, die der Autoreinfügt. In meinem eigenen Studium galten Lexika generell nicht als bevorzugteQuelle und insbesondere war Wikipedia eher verpönt. Dass Ulrich Ammondavon so häufig Gebrauch macht, ist Anlass, diese Haltung neu zu überdenken.Wikipedia-Artikel unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von her-kömmlichen Lexikon- oder Handbucheinträgen. Sie sind in ungleich stärkeremAusmaß an das Datum des Abrufs gebunden. So kann es sein, dass der Artikelgerade dann zitiert wird, nachdem irgendjemand in der Internetgemeinschaftetwas hineingeschrieben hat, das nicht begründet oder sogar falsch ist. DerUmgang mit Wikipedia erfordert daher eine viel stärkere Urteilskompetenz desAutors und auch der Leserschaft als dies bei anderen Quellen der Fall ist. Diesist natürlich sowohl Ulrich Ammon als auch den meisten Lesern des Buchszuzutrauen. Allerdings kann man zu bedenken geben, dass auch SchülerInnenund Studierende der unteren Semester für diese Zitierweise damit eine hervor-stechende Referenz haben. Schließlich ist noch anzumerken, dass es UlrichAmmon über weite Strecken sehr gut gelingt, eine unaufdringliche geschlechter-neutrale Sprache zu finden.

Das Kapitel A ist mit dem ausführlichen Titel „Die deutsche Sprache imSpannungsfeld nationaler Interessen und globaler Kommunikation: Begriffsklä-rungen und Theorieansätze“ überschrieben. Es enthält 10 Unterkapitel zu denInteressen der SprecherInnen an einer starken internationalen Stellung ihrerSprache und zum Interessenzwiespalt zwischen Deutsch und Englisch in derglobalen Sprachenkonstellation. Außerdem geht es um die Termini Superviel-falt, Globalisierung, postnationale Konstellation, um die kulturelle Ausstrahlungvon Sprachen und die kognitiven Grenzen der Mehrsprachigkeit. Schließlichenthält das Kapitel A einen historischen Abriss der internationalen Stellungder deutschen Sprache. Insgesamt umfasst es 97 Seiten. In diesem Kapitelwerden einige grundsätzliche Themen erörtert, auf die im Laufe des Buchesimmer wieder zurückgegriffen wird, insbesondere was das Interesse an derinternationalen Stellung einer Sprache ausmacht. Das Kapitel kann aber auch

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als umfangreiche Einführung in das Buch gelesen werden. Die Vorteile einerstarken internationalen Stellung fasst Ulrich Ammon in acht Punkten zusammen(S. 9):1) Leichtere Kommunikation mit Anderssprachigen und bei Auslandskontakten2) Engere Beziehungen zwischen Mutterländern und Fremdsprachlern und

deren Ländern (Handel; Unternehmensniederlassungen; Outsourcing;Gewinnung von „Humankapital“; wissenschaftliche, politische und kultur-elle Kontakte; Tourismus)

3) Gegenseitige Imageverbesserung, Abbau von Vorurteilen (positiveres Bildvon den Sprachgemeinschaften, ihren Ländern und Bürgern)

4) Bessere Kenntnis von Werten und Kultur, teilweise auch deren weitereVerbreitung (Rezeption von Texten aus den Mutterländern, Kenntnisnahmevon Inhalten und Werten und vielleicht deren Aneignung)

5) Zusätzliche Berufschancen aufgrund der Sprachkenntnisse sowohl für Mut-tersprachler (in den Fremdsprachländern) als auch für Fremdsprachler (inden Fremdsprachländern und Mutterländern)

6) Finanzielle Einnahmen der Mutterländer durch die Sprachindustrie (Ver-trieb von Sprachlehrmaterialien, Sprachunterricht, sprachgebundene Warenwie Bücher und sonstige Medienprodukte)

7) Erhöhung des Kommunikationspotentials und damit Gebrauchswerts derSprache durch zusätzliche Sprecher und damit auch Erhöhung der Motiva-tion, die Sprache zu lernen

8) Stärkung des Sprachstolzes und Nationalbewusstseins der Muttersprachler

An dieser Liste fällt auf, dass die Punkte schwer empirisch erfasst werdenkönnen. Ulrich Ammon verweist an den entsprechen Stellen darauf und suchtseinerseits nach möglichst vielen quantitativen Erhebungen oder stellt selbstBerechnungen an. Aber die schon erwähnte Benennung vieler Forschungsdesi-derate folgt dem Wunsch, fehlende Daten künftig zu erheben. Die Liste bildetgewissermaßen das Gerüst für alles Folgende. Dabei weist Ammon gleich daraufhin, dass sich der zentrale Konflikt um die Stellung der deutschen Sprache imVerhältnis zum Englischen manifestiert. Dabei geht es vornehmlich um diekommunikative Reichweite der Sprachen, international wie national auf diedeutschsprachigen Länder bezogen. In diesem Zusammenhang greift er ausführ-lich auf das sogenannte „Gefangenendilemma“ zurück (S. 14 ff.). Entsprechendschafft Englisch in der internationalen Kommunikation in vielen Fällen einenvordergründigen Vorteil für den Einzelnen, führt aber langfristig zu einem Nach-teil der Sprachgemeinschaft und damit wieder für das Individuum (S. 16 f.). EinLösungsweg für das beschriebene Dilemma ist sprachenpolitische Bildung, wiesie Ulrich Ammon im weiteren Verlauf des Buches betreibt. Dabei werden die

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Wechselwirkungen der Förderung von Deutsch und Englisch durch die deutsch-sprachigen Länder aus mehreren Perspektiven betrachtet. Die „Unzulänglichkeitbloßer Englischkenntnisse“ (S. 11) wird oft mit den Vorteilen von Englischkennt-nissen im Vergleich zu Deutschkenntnissen im und außerhalb des Sprachgebietskontrastiert. Dieser Konflikt zwischen großer Reichweite generell (Englisch) undInteresse an einer großen Reichweite in der eigenen Sprache (Deutsch) ist eindem Buch zugrundliegendes Dilemma in der internationalen Kommunikation,aus dem es keinen eindimensionalen Ausweg gibt (S. 34 ff.). Immer dort, so derTenor der meisten Überlegungen, wo die Stellung anderer Sprachen gestärktwird, sei es in der Kommunikation von MigrantInnen, in Universitäten oder ininternationalen Institutionen, leidet (möglicherweise) die Stellung des Deut-schen. Allerdings ist dies in vielen Fällen schwer nachweisbar (S. 43 ff.) undist „oft mehr erahnt als klar erkannt“ (S. 47). Die Folgen der Sprachwahl werdenin vielen Kapiteln erörtert, die insgesamt ein Aufruf zu einer aufmerksamerenSprachenpolitik ist als sie vielerorts betrieben wird.

Ein weiterer Schwerpunkt sind Begriffserläuterungen. Es werden die zentralenBegriffe internationale Stellung, Nation, Staat, Nationalstaat, Ethnie, Volk sowieMuttersprache, Fremdsprache, Identität u.a. anschaulich und präzise erläutert(S. 18 ff., S. 107, S. 148 ff, sowie am Anfang weiterer Kapitel). Diese Abschnittesind lehrreich und helfen der Leserschaft nicht nur beim Verständnis diesesBuches. Einzelne Termini werden von Ulrich Ammon bei genauer Betrachtungexklusiv verwendet (S 27 ff. Lingua franca) oder sind etwas in die Jahre gekommen(S. 27, polyglotter Dialog). In jedem Fall sind sie eine Bereicherung für aktuelleterminologische Auseinandersetzungen und wichtige Referenz.

Im Allgemeinen folgt jede Sprachwahl demnach vier Haupttypen: 1) Regelndes sozialen Handelns, 2) Kooperationsprinzipien, 3) Macht und 4) sozialeIdentität (S. 53 ff.). Diese Faktoren bestimmen in den meisten Fällen die Wahleiner Sprache. Aus diesen Faktoren erwachsen instrumentelle und integrativeMotive für die Entscheidung, eine Sprache zu lernen. Die vier o.g. Typen unter-teilen sich nach Ammon in weitere Faktoren: 1) Rechtliche Regelungen, 2) vor-handene Sprachenkenntnisse, 3) Macht, 4) Höflichkeit, 5) Einstellung, 6)Identität, 7) Selbstdarstellung, 8) Lernbestreben, 9) Erleichterung der Anschluss-kommunikation, 10) persönliche Bekanntheit (S. 58 ff.). Diese Typen und Fakto-ren bestimmen die Wahl einer Sprache im Rahmen einer globalenSprachensituation (auch Linguaspähre). Diese Weltsprachensituation wird ineiner kritischen Betrachtung der Arbeiten von David Dalby, Louis-Jean Calvetund Abram de Swaan beschrieben. Dem folgen weitere Begriffe wie z.B. Super-vielfalt und postnationale Konstellation, die die aktuelle sprachenpolitischeDebatte mit bestimmen.

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Etwas versteckt findet sich im Kapitel A8 ab Seite 80 eine kurze Geschichtedes Aufstiegs des Englischen zur weltweit verbreitetsten internationalen Spra-che. Der entsprechenden Geschichte des Deutschen ist ein eigenes Kapitel (A11)gewidmet, das mit 8 Seiten relativ kurz ausfällt. Sicherlich interessant ist auchder in Kapitel A10 verborgene Hinweis auf den zeitlichen Aufwand, den esbedeutet, eine Sprache zu lernen. Ausführlich wird die Zuordnung von Spra-chen, Varietäten und Dialekten in den Kapiteln B1 nach verschiedenen Modellen(insbesondere das Sprachsystem nach Heinz Kloss) und B2 nach eigenen Krite-rien erläutert, die wie das Kapitel B insgesamt gründlich erörtert und gut nach-vollziehbar geschrieben sind. Sie können methodische und theoretischeGrundlage für weitere Arbeiten in diesem Bereich sein. Schließlich zählt dieVarietätenlinguistik zu den Hauptschwerpunkten in Ulrich Ammons For-schungsbiographie. Kapitel C behandelt Sprecherzahl und ökonomische Stärkevon Deutsch. Diese beiden Faktoren bestimmen seiner Meinung nach haupt-sächlich den internationalen Status, den eine Sprache einnehmen sollte. Er stelltdazu fest: „Die große Sprecherzahl ist offenbar eine weitgehend notwendige,nicht jedoch hinreichende Bedingung für eine bedeutsame Stellung in der Welt“(S. 159). In diesem Kapitel werden mehrere Methoden beschrieben, mit denendie Sprecherzahl einer Sprache ermittelt werden kann. Die damit verbundenenSchwierigkeiten werden dabei nicht verschwiegen, insbesondere was die Unter-scheidung von Mutter- und Fremdsprachige sowie Lernende und SprecherInnenbetrifft. Über die Zahl von Lernenden finden sich entsprechenden Daten, für dieZahl der SprecherInnen hingegen nicht. Hier finden sich ab S. 167 auch Einzel-betrachtungen zu den deutschsprachigen Ländern. Insgesamt errechnet derAutor eine „Gesamtzahl von Mutter- und Fremdsprachlern des Deutschen von103,5 Mio.“ (S. 175). Hinzu kommen 40 – 145 Mio. Lernende (S. 179). Im differen-ziert und kritisch angestellten Vergleich mit anderen Sprachen liegt Deutschdamit zahlenmäßig zwischen Rang 6 und 11 in der Welt, nach ökonomischerStärke der Sprachgemeinschaft hingegen auf Rang 5 (S. 190).

Kapitel D behandelt Deutsch als staatliche Amtssprache. Dabei wird zwi-schen unterschiedlichem amtlichen Status (deklariert) und Funktion (faktisch)unterschieden. Ammon stellt eine differenzierte Typographie der Amtssprachig-keit dar und schildert die diesbezügliche Stellung des Deutschen in den 7Ländern, in denen Deutsch entsprechenden Status hat. Hier erfreut die Ver-wendung des schönen Ausdrucks aus der Rhetorik Hendiadyoin (S. 216) fürdie Staats- und Amtssprache Deutsch in Luxemburg. Ein entsprechender inter-nationaler Vergleich in Kapitel D4 ergibt, trotz erwähnter Mängel an geeignetemDatenmaterial, Rang 6 der häufigsten staatlichen Amtssprachen der Welt(S. 251). Kapitel E widmet sich der Stellung von Deutsch als Minderheitenspracheaußerhalb der Amtssprachgebiete. Hier werden neben anderen auch die Termini

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Spracherhalt und Sprachverlust erläutert und es wird diskutiert, was eine Min-derheitensprache ist. Außerdem enthält das Kapitel eine ausführliche Diskus-sion zu den Faktoren, die zum Erhalt von Minderheitensprachen, insbesonderedes Deutschen, beitragen können. Ein ganzes Unterkapitel ist dabei den Ursa-chen für Spracherhalt und Sprachumstellung sowie den Eigenschaften von(Sprach-)Minderheiten gewidmet. Für einige Länder werden die dortigen Sprach-minderheiten in gesonderten Unterkapiteln betrachtet. Insgesamt umfasst dasKapitel Sprachminderheiten 152 Seiten und stellt damit beinahe ein eigenständi-ges Buch im Buch dar.

Dem folgt das Kapitel F zu Deutsch in der internationalen Wirtschaftskom-munikation. Damit beginnt auch ein neuer Abschnitt im Buch. Die Kapitel zuvorhandeln vom gebietsbezogenen Status der Sprecher und Sprecherinnen desDeutschen, vor allem in Bezug auf Nationalstaaten. Die nun folgenden Kapitelbeziehen sich stärker auf verschiedene Verwendungsbereiche und Handlungs-felder der Sprache. Als Handlungsfelder werden Bereiche bezeichnet, die weni-ger spezifisch sind als Domänen, wie Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik. Siehängen durch „übergreifende gesellschaftliche Aufgaben, durch Ziele und Werteder darin agierenden Individuen und eventuell durch spezifische rechtlicheBestimmungen zusammen“ (S. 408 f.). Den Beschreibungen liegt folgende Leit-frage zugrunde: „Welche Rolle spielt Deutsch im Vergleich zu anderen Sprachenin der internationalen Kommunikation“, insbesondere des Englischen (S. 409)?Der Befund in diesem und den darauffolgenden Kapiteln ist einhellig. DieStellung des Deutschen ist wie die aller anderen Sprachen mit internationalerStellung gegenüber dem Englischen erheblich geschwächt. Doch auf einem vielgeringeren Niveau als zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Stellung desDeutschen in den meisten Feldern stabil. Und doch herrscht in diesem For-schungsbereich „kein Mangel an Kenntnislücken“ (S. 417). Insbesondere Datenzur Sprachwahl bei internationalen Wirtschaftskontakten seien Mangelware. ImUnterkapitel F2 zu Prinzipien der Sprachwahl erörtert Ammon einige für dieseFragestellung wichtige Begriffe wie Identität und Höflichkeit im Allgemeinen. Esfolgen ausführliche Kapitel zur Sprachwahl von Unternehmen und bei Handels-beziehungen. Es enthält detaillierte Besprechungen von Einzelfällen und -stu-dien (wie die fragwürdige ELAN-Studie im Auftrag der EU [S. 444 und 459])sowie Ergebnisse aus zahlreichen einzelnen Ländern und allgemeinere Einschät-zungen zur Stellung des Deutschen (S. 446). Weiterhin enthält das Kapitel F7eine Darstellung und Diskussion der Untersuchungsmethoden zur Sprachpla-nung deutscher Unternehmen. Es folgen Abhandlungen zum erfolgreichen Wirt-schaften ohne Gebrauch der deutschen Sprache, zur Werbung außerhalb desdeutschen Sprachraums, und eine abschließende Betrachtung des KomplexesSpracherhalt und Wirtschaft.

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Dem Kapitel über die Wirtschaft folgt ein Kapitel über Deutsch in derWissenschaftskommunikation. Es enthält 13 Unterkapitel, die sich auf 180 Seitenverteilen. Ammon beschreibt darin den historischen Weg, den Deutsch von einer(neben Englisch und Französisch) Weltwissenschafts- zu einer Nischensprachehat werden lassen. Insbesondere die Geschichte nach dem ersten Weltkrieg wirddabei erläutert. Dabei geht es um das Ansehen und die Verbreitung der Sprachefür die wissenschaftliche Arbeit, die für viele Fächer der theoretischen undangewandten Wissenschaft, der Geistes- und Sozialwissenschaft genauerbeleuchtet wird. Insgesamt war Deutsch „im Grunde nur in der verhältnismäßigkurzen Zeitspanne der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts“ (S. 521) alleine ausreichend für wissenschaftliche Kommunika-tion. Das Kapitel zeigt eindrücklich, wie umfangreich und langfristig die negati-ven Folgen der Kriege sind. „Nach dem zweiten Weltkrieg hatte Deutschweitgehend seine Stellung als internationale Wissenschaftssprache eingebüßt“(S. 537, s. auch S. 649).

Ein eigenes Unterkapitel gilt der Hochschullehre, ein besonders strittigerBereich, wenn es um die Rolle des Englischen an deutschsprachigen Hochschu-len geht. Ammon diskutiert diese Streitfrage ausgewogen, einschließlich eineskleinen Seitenhiebs auf den Bologna-Prozess (S. 623 f.), und weist darauf hin,dass es sich um eine von der Argumentation zu Deutsch als Wissenschafts-sprache weitgehend losgelöste Debatte handelt. Obwohl sowohl Hochschulleh-rerInnen als auch ausländische Studierende womöglich mehr Nachteile alsVorteile durch englischsprachige Studienangebote haben (S. 635 ff.), bleibendie Vorteile dieses Angebotes, die Förderung einer internationalen Wissenschaft,nicht unerwähnt. Beide Auswirkungen können wohl nur durch eine komplexeund vielschichtige Sprachenpolitik der Hochschulen positiv gestaltet werden.Besonders lesenswert ist die folgende Diskussion darüber, ob Stellungsverlustevon Sprache und Wissenschaft Hand in Hand gehen (S. 643 ff.). Die nächstenKapitel enthalten Abhandlungen über Sprachprobleme und den Wirkungsver-lust von WissenschaftlerInnen und Verlagen durch die offenkundigen Schwie-rigkeiten mit Englisch als Weltwissenschaftssprache sowie über denAusbaurückstand des Deutschen gegenüber dem Englischen (S. 671). Schließlichwerden die Vor- und Nachteile mehrere Wissenschaftssprachen diskutiert.Unterkapitel 13 stellt die Frage: Förderung von Deutsch als internationale Wis-senschaftssprache? Dabei spielen die Bereiche europäische Zitatenbank, Über-setzung, und internationale Studiengänge eine zentrale Rolle. Die Frage bleibtoffen, das Kapitel geht nahtlos in den Hauptabschnitt H des Buches über, derauf 125 Seiten die Geschichte und Stellung von Deutsch in der EU enthält. Diesesaufklärerisch wirkende Kapitel beschreibt die genannte Stellung kritisch. Vonden ersten erfolgreichen Versuchen durch Bismarck, Deutsch gegen Französisch

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in der europäischen Diplomatie zu behaupten, bis zum jüngsten Scheitern dieserUnternehmung in den neuen EU-Institutionen EAD und Zentralbank werdenwichtige Entscheidungen und Stationen kenntnisreich geschildert. Der detail-lierten Analyse folgt die nüchterne Erkenntnis, dass Deutsch „offensichtlich eineverhältnismäßig geringe Rolle in internationalen Organisationen spielt“ (S. 727)und nur in europäischen Institutionen einen amtlichen Status hat. Dabei spieltder Status von Sprachen in den hohen institutionellen Ebenen der EU einebesonders entscheidende Rolle für die internationale Stellung des Deutschen.Die unklare und schwierige Sprachenpolitik der EU zwischen national(istisch)enIdentitäts- und europäischen Kommunikationsbedürfnissen (S. 739) wird indiesem Kapitel kritisch gewürdigt. Dabei wird unverhohlen auf die „beispiellosePleite“ (S. 750) jüngerer deutscher EU-Sprachenpolitik hingewiesen. Sie scheintmit verantwortlich dafür, dass Deutsch heute ein Schattendasein zwischen „Viel-sprachigkeit und Lingua franca“ (S. 752) in Europa führt. Ein eigenes Kapitel istder Frage gewidmet, inwieweit eine einzige internationale Sprache Demokratieund Zusammenhalt in Europa stärken kann. Insbesondere die entsprechendenBeiträge von Philippe van Parijs und Sue Wright werden besonders gewürdigtund hauptsächlich aufgrund ihres elitären Charakters auch kritisiert. Außerdemschildert Ammon in diesem Zusammenhang die Sprachinteressen von Sprach-gemeinschaften in der EU sowie wiederholt die Auswirkungen einer internatio-nalen Stellung (S. 779, s. auch S. 670). Auf entsprechende sprachenpolitischeDefizite wird insbesondere im Unterkapitel 4.6 hingewiesen. Sie beinhaltenneben einem Stellungsverlust auch die fehlende Umsetzung sprachenpolitischerPrinzipien der EU sowie ein entstehendes Demokratiedefizit durch den teilwei-sen Ausschluss nationaler Parlamente von europäischer Beschlussfassung (S.795). Einige Lösungsmöglichkeiten sind im Kapitel 4.7 enthalten, einschließlicheines Vorschlags von Ammon selbst. Dieser besteht aus sechs einzuhaltendenPrinzipien, die aus praktischen Erwägungen auf die zwei wichtigsten reduziertwerden können (S. 803): Die Sprecherzahl in der EU und die internationaleVerbreitung der Sprache. So ergibt sich die Rangfolge Englisch, Deutsch, Fran-zösisch, Spanisch, Italienisch. Damit eine entsprechende Vielfalt aufrechterhal-ten werden kann, müssen die Staaten sieben Bedingungen einhalten: Rangfolgeder Arbeitssprachen, zuverlässige Kooperation, Übernahme der gesamten Kos-ten entsprechend der Wirtschaftskraft, Reduzierung des Muttersprachenvorteils,Sicherstellung von Sprachenkompetenzen, loyale Kooperation der englischspra-chigen Staaten, sowie Absicherung der technischen Voraussetzungen (S. 804 f.).Der Sprachwahl bei diplomatischen Kontakten widmet Ammon 26 Seiten mitEinzelbeobachtungen und Feststellungen von Insidern und eigenen Erhebun-gen, die erhellend sind und zu weiteren Forschungen anregen können. Auchhier fällt die wenig kohärente Sprachenpolitik Deutschlands auf und der Autor

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stellt die Frage: „Wie kann man von Politikern erwarten, dass sie die kom-plizierten Bedingungen der Sprachwahl durchschauen, die auch Wissenschaftlernur ansatzweise verstehen“ (S. 828). Kapitel I beschäftigt sich mit dem Touris-mus und Kapitel J mit Deutsch in Medien und in der Sprachkunst. Hierbei sinddie gesunkenen Zahlen zu deutschsprachigen Veröffentlichungen außerhalb derdeutschsprachigen Länder hervorzuheben (S. 877 ff.), ebenso wie Zahlen zurSprachwahl im Internet (S. 897 ff.) und die Übersetzungen im Bereich derBelletristik (S. 922 ff.). Hier hat Deutsch eine demnach „bedeutende Stellung“(S. 927), wenn auch bei ungünstigem Verlauf. Ein Befund, auf den man währendder Lektüre des gesamten Buches nur selten stößt. Ein ebenso umfangreichesKapitel behandelt Deutsch als Fremdsprache (DaF), gefolgt vom Schlusskapitel Lüber die Politik der Förderung der deutschen Sprache in der Welt. Für DaF zeigtsich, dass die Lernerzahlen in den vergangenen Jahren insgesamt gesunkensind. Die Stellung von DaF in den Schulplänen weltweit wird aber als „For-schungsdesiderat von enormem Ausmaß“ (S. 959) bezeichnet. Über die Zahlenhinaus diskutiert Ammon aufschlussreich die Folgen dieser Entwicklungen,indem er etwa darauf hinweist, dass weniger Deutschunterricht auch die Berufs-aussichten für Germanisten schmälert. Schließlich stellt er zwei Tendenzenheraus (S. 967): Es gibt viel mehr DaF-Lernende als Germanistikstudierende,deren Zahl dramatisch zurückgeht, und damit einher gehe die Degradierung derwissenschaftlichen Lehre auf reinen Sprachunterricht. Eine genauere Betrach-tung erfolgt in einzelnen Länderportraits. Schließlich werden im Kapitel L nocheinmal grundsätzliche Dinge aufgegriffen. Neben zentralen Begriffsklärungen(Sprachförderung, Sprach[en]politik) wird erläutert, inwiefern Sprachenpolitikein Querschnittsthema der Auswärtigen Kulturpolitik (AKP) ist. Nach Auffassungdes Autors „entschwindet“ Sprache aus den Augen dieser Politik (S. 1075).Entsprechend kritisch äußert sich Ammon über diesen Teil der AKP und betontdie aus seiner Sicht wichtigen Ziele Erhaltung/Gewinnung möglichst vielerSprecher, rechtliche Verankerung der Sprache und die Erhaltung/Gewinnungvieler DaF-Lernender. Es folgt ein ausführlicher historischer Abriss der Sprach-verbreitungspolitik Deutschlands und ihrer Organisationen bis heute. Wie dasgesamte Buch ist auch das Schlusskapitel detailliert und lehrreich und zeigtauch auf, wie viele Wissenslücken es im Bereich der Sprachenpolitik noch gibt.Es folgt damit einem wichtigen Prinzip der sprachenpolitischen Kooperation unddes sozialen Handelns: „Do ut des“ (Ich gebe, damit Du gibst) (S. 1147). Folge-richtig schließt der Text ohne Zusammenfassung oder Resümee. Das umfang-reiche, vielschichtige, perspektivenreiche und vielleicht zu lang geratene grüneBuch eröffnet ein weites Feld für die Sprachforschung.

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