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Pluto \u0026 Charon - Die Sonde New Horizons in den fernsten Weltenweiten

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Inhalt Vorwort ..................................................................................................................................................................................7

1 Neun Jahre Anflug 111.1 Am Gartentor (6. Dez. 2014 - 10 März 2015)....................................................................................................... 121.2 Kurs gesetzt - Zündung! (10. März 2015) .............................................................................................................. 181.3 Anflugphase 2 (5. April 2015) .................................................................................................................................. 211.4 Anflugphase 3 (24. Juni - 7. Juli) ............................................................................................................................. 291.5 Die letzte Woche Flugzeit (7. - 13. Juli) .................................................................................................................. 34

2 Tombaughs Eismeer 392.1 Ein Herz für Pluto ..................................................................................................................................................... 422.2 Eislauf auf dem Sputnik Planum ............................................................................................................................ 472.3 Ein junges Meer, ein junger Mond .......................................................................................................................... 492.4 Die ausgedehnte Atmosphäre .................................................................................................................................. 502.5 Die Hydra hebt die Köpfe ........................................................................................................................................ 52

3 Acht Jahrzehnte Irrtümer 533.1 Von der Grand Tour zur New Horizons: Der lange Marsch zum Pluto ......................................................... 59

4 Auf der Oberfläche 654.1 Becken und Küsten des Sputnik Planums ............................................................................................................. 674.2 Im Osten der Tombaugh Regio ............................................................................................................................... 754.3 Ein Waschbrett und andere Klüfte ......................................................................................................................... 804.4 Die Fernen Regionen auf dem Festland ................................................................................................................ 83

5 Woraus besteht der Pluto? 875.1 Plutos flüchtige Eise .................................................................................................................................................. 905.2 Wasser: Das harte Grundgestein des Plutos .......................................................................................................... 935.3 Farbenspiele ................................................................................................................................................................ 955.4 Hell und Dunkel ........................................................................................................................................................ 97

6 Himmel und Wetter 996.1 Und nun die Wettermeldungen ............................................................................................................................. 1016.2 Giftgas in der Lufthülle .......................................................................................................................................... 1036.3 Mit Hochnebel ist zu rechnen ................................................................................................................................ 1046.4 Schwache bis mäßige Winde .................................................................................................................................. 1056.5 Wer hat den Charon angemalt? .............................................................................................................................. 106

7 Charon: der dychotome Mond 1097.1 Woraus besteht der Charon? .................................................................................................................................. 1157.2 Die ungleichen Zwillinge ........................................................................................................................................ 118

8 Nix zu sehen - die Kleinmonde 119

9 Neuer Kurs nach PT1 1259.1 Ein neues Ziel........................................................................................................................................................... 1289.2 19. Januar 2016: 10 Jahre Flugzeit! ........................................................................................................................ 1319.3 Kommt die Erweiterte Mission? ........................................................................................................................... 134 Anhang: Technische Daten ........................................................................................................................................... 137 Literaturverzeichnis ........................................................................................................................................................ 143

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Vorwort

In dem vorliegenden Buch ist es den bei-den Autoren gelungen, die faszinierenden Ergebnisse des Plutovorbeiflugs der New Horizons in einer für Laien verständlichen Sprache zu schildern, ohne dabei den not-wendigen wissenschaftlichen Tiefgang ver-missen zu lassen.

Der Pluto wurde 1930 von Clyde Tom-baugh entdeckt und war über 60 Jahre lang das einzige bekannte große Objekt im äuße-ren Sonnensystem, bis in den 1990er Jahren durch verbesserte CCD-Technik über tau-send weitere Objekte im so genannten Kui-pergürtel aufgespürt wurden. Einige davon kamen in ihrer Größe dem Pluto nahe, und die 2003 fotografierte und 2005 bemerkte Eris drohte sogar, ihm den Platz als größtes Objekt im Kuipergürtel streitig zu machen, was im Sommer 2006 zu einer Neudefiniti-on des Begriffs »Planet« durch die General-versammlung der Internationalen Astro-nomischen Union in Prag führte. Der Pluto wird seitdem nicht mehr als Planet bezeich-net. Vom himmelsmechanischen Standpunkt aus mag diese Entscheidung sinnvoll und

logisch sein, denn Pluto tut etwas, was ein anständiger Planet nicht machen sollte: Er kreuzt die Bahn eines anderen Planeten. Der große Planet Neptun hat durch seine Schwerkraft den kleinen Pluto und einige hundert neuentdeckte kleinere Himmels-körper - die so genannten Plutinos - auf eine 3:2-Resonanzbahn gebracht, die einen Zusammenstoß mit ihm vermeidet.

Glücklicherweise wurde über die Neude-finition des Begriffs »Planet« erst ein hal-bes Jahr nach dem Start der Raumsonde New Horizons abgestimmt. Wenn der Plu-to damals schon kein Planet mehr gewe-sen wäre, hätten wohl einige übereifrige US-Senatoren ihren Bau gestoppt, um die eingesparten Gelder dem Rüstungsetat zu-zuschlagen (der Raumsonde Dawn ist so et-was tatsächlich für einige Monate passiert). Dann wären uns leider die wunderschönen Nahaufnahmen von dieser faszinierenden Welt am äußersten Rand des Sonnensys-tems entgangen.

Im Lichte der Erkenntnisse der New Ho-rizons sollte man die Neudefinition noch

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einmal überdenken. Ich bin mir sicher, dass die Abstimmung anders ausgefallen wäre, wenn man schon damals gewusst hätte, was die New Horizons über den Pluto herausge-funden hat. Die neue Begriffsbestimmung basiert nur auf Himmelsmechanik und be-rücksichtigt nicht die Eigenheiten Plutos vom Standpunkt des Planetologen. Er zeigt nämlich mehr Merkmale eines Planeten als der doppelt so große innere Planet Merkur: Während der Merkur eine graue Kugel ist, deren Oberfläche hauptsächlich von Ein-schlägen geprägt wurde, zeigte die New Hori-zons schon aus der Ferne den Pluto als Him-melskörper mit ausgeprägter eigener Geolo-gie. Dort gibt es vielfältige Geländeformen: Gebirgiges Terrain wechselt ab mit glatten Ebenen aus Stickstoffgletschern, in denen Eisberge aus Wasser schwimmen, die von der aufwallenden Wärme an den Rand von Konvektionszellen getrieben werden; ihre dunklen Gipfel schauen als Inseln heraus.

Im Gegensatz zu dem luftlosen Merkur besitzt der Pluto eine Atmosphäre, die nicht einfach von innen nach außen gleichmäßig dünner wird, sondern im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtig ist: Auf den Auf-nahmen des Plutorandes kann man mehre-re Dunstschichten in verschiedenen Höhen erkennen. Auch Wetter muss es dort geben. Auf dem Weg in die sonnenfernen Bereiche seiner Bahn wird ein Teil der Atmosphäre ausfrieren und sich als Niederschlag auf der Oberfläche ablagern, um beim nächsten Erreichen der Sonnennähe - nach über 200 Jahren - wieder aufzutauen. Und auf einem der Bilder glauben Wissenschaftler sogar einen Wolkenstreif zu erkennen.

Der Pluto besitzt außerdem ein komple-xes Satellitensystem mit fünf Monden, de-ren Umlaufzeiten zueinander in Resonanz stehen und fast ganzzahlige Vielfache der Umlaufperiode des größten Mondes Charon sind. Der Merkur und die Venus dagegen haben keine Monde, unsere Erde nur einen, der Mars zwei kleine und bei den Kleinpla-neten sind nur Systeme mit höchstens zwei Monden bekannt.

Auch wenn Pluto wohl nicht wieder in den Planetenstatus erhoben wird, ist unser Son-nensystem mit den übrigen acht Planeten vermutlich noch nicht ganz vollständig. In den letzten Jahren wurden nämlich weit draußen sechs kleinere Himmelskörper entdeckt mit Bahnen, deren Perihel (also dem Punkt, an dem sie der Sonne am nächsten kommen) weit jenseits des Neptuns und des Kuipergür-tels liegen. Und ihre Bahnen im Raum liegen auch nahe beieinander, was wahrscheinlich kein Zufall ist. Diese Objekte sind weniger als 1.000 km groß und somit sicher keine rich-tigen Planeten. Aber sie können nicht dort draußen im leeren Raum entstanden sein. Irgendetwas Größeres muss sie auf ihre son-nenferne Bahn gebracht haben, so wie der Neptun die Plutinos und andere Objekte des Kuipergürtels auf ihre Bahn gebracht hat.

Mike Brown, der mit seiner Entdeckung der fast plutogroßen Eris den Anstoß zur Degradierung Plutos gegeben hat, vermutet dort draußen einen Planeten mit etwa 10 Erdmassen. Damit würde er sicher die neu-en Kriterien für »richtige« Planeten erfüllen, und Mike Brown hat ihm schon den vorläu-figen Namen Planet Nine verpasst. Anhand der Daten der sechs kleineren sonnenferns-

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ten Himmelskörper lässt sich auch eine un-gefähre Bahn dieses noch hypothetischen Planeten bestimmen. Demnach sollte er in 700-facher Erdentfernung und 30-facher Neptunentfernung seine Bahn um die Son-ne ziehen und rund 20.000 Jahre für einen Umlauf brauchen. An welchem Punkt seiner Umlaufbahn er aber zur Zeit stehen sollte, lässt sich nicht berechnen.

Dass man diesen Planeten bis jetzt noch nicht entdeckt hat, wäre nicht verwunder-lich. Da die Helligkeit eines Himmelskör-pers mit der vierten Potenz seiner Entfer-nung von der Sonne abnimmt, wäre selbst ein Objekt von Neptuns Größe in dieser Ent-fernung rund eine Million Mal lichtschwä-cher als dieser. Mike Brown ist aber recht zuversichtlich, dass man seinen Planet Nine mit den immer besser werdenden Him-melsdurchmusterungsprogrammen in den

nächsten 5 bis 10 Jahren finden wird. Wenn er erst einmal lokalisiert ist, wird man si-cher auch bald eine Raumsonde zu diesem Planeten schicken und die beiden Autoren von Codex Regius warten bestimmt schon darauf, die Ergebnisse dieses Vorbeiflugs als Buch zu veröffentlichen. Falls die NASA die neuesten Pläne einer von Lasern ange-triebenen interstellaren Mini-Sonde ernst nimmt, könnte dies sogar noch innerhalb unserer Lebenszeit geschehen.

Wir haben schon lange genug auf den Vor-beiflug am Pluto gewartet.

Aber … das Warten hat sich gelohnt, wie Sie auf den folgenden Seiten sehen können!

Dr. Rainer Riemann

Heidelberg, im Juni 2016

DIe wIchtIgsten ereIgnIsse In neuneInhalb Jahren FlugzeIt

2006 - 19. Januar Start28. Januar Bahnkorrekturmanöver30. Januar Bahnkorrekturmanöver 9. März Bahnkorrekturmanöver7. April Marsbahn gekreuzt11. - 13. Juni New Horizons beobachtet den Planetoiden 2002 JF56 (später »APL« genannt)21. September Erste Bilder des Plutos (mit LORRI)

2007 - 28. Februar Vorbeiflug am Jupiter/Schwerkraftschleuder27. Juni New Horizons‘ erster Eintritt in den Ruhezustand25. September BahnkorrekturmanöverSeptember-November Jährliche Routinekontrolle (Annual Checkout Operation; ACO) 1

2008 - 8. Juni Saturnbahn gekreuztJuli-August Jährliche Routinekontrolle (ACO) 2

2009 - Juli-August Jährliche Routinekontrolle (ACO) 329. Dezember New Horizons hat die halbe Strecke zum Pluto zurückgelegt

2010 - Mai-Juli Jährliche Routinekontrolle (ACO) 430. Juni Bahnkorrekturmanöver16. Oktober New Horizons hat die halbe Flugzeit zum Pluto zurückgelegt

2011 - 18. März Uranusbahn gekreuztMai-Juli Jährliche Routinekontrolle (ACO) 52. Dezember New Horizons kommt dem Pluto näher als jedes andere menschengemachte Objekt

2012 - Mai-Juli Jährliche Routinekontrolle (ACO) 6

2013 - Mai-August Jährliche Routinekontrolle (ACO) 7

2014 - Juni-August Jährliche Routinekontrolle (ACO) 8; Erste visuelle Navigationskontrolle (OpNav 1)15. Juli Bahnkorrekturmanöver25. August Neptunbahn gekreuzt6. Dezember Endgültiges Erwachen aus dem Ruhezustand

2015 - 08. Januar Anflugphase 1 beginnt, Entfernung: 225 Mio. km.25. Januar Zweite visuelle Navigationskontrolle (OpNav 2)10. März Bahnkorrekturmanöver04. April Anflugphase 2 beginnt, Entfernung: 121 Mio. km.05. April Noch 100 Tage bis zum Vorbeiflug (P-100).09. April Erste Farbaufnahmen des PlutosystemsMai-Juni New Horizons löst Pluto besser auf als Hubble18. Juni Infraroterfassung des Plutosystems beginnt24. Juni Letzte komplette Erfassung des Plutosystems durch LORRI. Anflugphase 3 beginnt, Entfernung: 26 Mio. km. 13. Juli Beginn des Überflugs - Entfernung: 1,2 Mio. km. Letzte Datenübertragung: »Der Planet mit Herz«14. Juli Größte Annäherung an den Pluto15. Juli Empfang der Telemetrie, 0:53 UT. Messdaten ab 09:50 UT. Ende des Überflugs bei 1,2 Mio. km.17. Juli Erste Pressekonferenz nach dem Überflug

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4 auF Der oberFläche

In den Wochen und Monaten nach dem 14. Juli 2015 gelangte mehr ein Bildertröpfeln als eine Bilderflut vom Pluto zur Erde. Die niedrige Datenübertragungsrate ließ nichts anderes zu. Hochauflösende Ansichten der charonfernen Hemisphäre, deren Zentral-meridian inzwischen als 180. Längengrad definiert ist, tauchten erst nach und nach auf den Webseiten und in den Pressemittei-lungen der beteiligten Forschungsanstalten auf. Die hatten es allerdings in sich!

Plutos Landschaften erwiesen sich als so vielgestaltig wie die des Mars oder sogar der Erde. Und manche Einzelheiten berührten den Betrachter durch ihre dem Auge schein-bare Vertrautheit. Wenn Edmond Hamilton heute neue Romane über seinen unerschro-

ckenen Captain Future schriebe, dann könn-te er ihn mit seinem Raumschiff über frisch mit Schnee bedeckte Berge und Kraterwälle fliegen lassen. Urlaub an einem zugefrore-nen Bergsee? Genau so wirken etliche klei-ne Ebenen, die wie Miniaturausgaben des Eismeers im Becken des Sputnik Planums aussehen. Und flöge der Herr Captain die ausgewaschen wirkende Rinne im Nord-polargebiet ab, die am Südende die Wand eines Kraters durchbricht und sie auf des-

Plutos Wendekreise liegen bei 60°, die Polar-kreise wegen seiner hohen Achsneigung nur bei 30°. Südlich von 30S herrschte am 14. Juli die Polarnacht, dieser Bereich ist darum nicht kar-tografiert.

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sen Boden offenbar als Sedimentfahne ab-gelagert hat, würde er sich da nicht an die ausgetrockneten Flussläufe auf dem Mars erinnert fühlen? Aber da kann doch niemals Wasser geflossen sein!?

Versuchen wir, uns zu orientieren. Die charonferne Seite des Plutos lässt sich ganz grob in die folgenden Zonen einteilen:

1. das kraterlose, auf den Äquator zent-rierte Becken (bzw. die Ebene) genau gegenüber des Charons: Sputnik Planum.

2. Mittel- und Hochgebirgsbögen im Nor-den, Osten und Süden des Sputnik Pla-nums;

3. relativ ebene Gebiete mit Spuren von Ablagerungs- und Erosionsprozessen auf den höheren nördlichen Breitengra-den und

4. zerklüftetes Gelände im Südwestquad-ranten, westlich des Sputnik Planums: kraterreiche und kraterarme Ebenen unterschiedlicher Beschaffenheit, stei-le Böschungen, Grabenbrüche und kra-terreiche Mittelgebirge.

Etwa 30 % der Plutooberfläche sind von der Weitwinkelkamera MVIC und LORRIs Teleobjektiv beim Überflug erfasst wor-den. Grobe Höhenangaben entstanden ei-nerseits aus Stereobildern, wo das nicht möglich war, durch Vermessung des Ho-

rizontprofils oder durch eine Technik, die Photoklinometrie genannt wird oder auch einfach Schattentriangulation. Das heißt, wenn der Einfallswinkel des Lichts bekannt ist, kann man aus dem Schattenwurf das Höhenprofil einer Erhebung ermitteln. Die New Horizons erfasste die charonferne He-misphäre nördlich des 30. südlichen Brei-tengrades mit einer Auflösung von 2,2 km/Pixel, ein Teil des Geländes wurde sogar bis auf 0,4 km/Pixel aufgelöst! Die besten Auf-nahmen der charonnahen Seite brachten es dagegen nur auf 13 bis 27 km/Pixel.

Die Vermessung der formatfüllenden Bil-der ergab für den Pluto einen endgültigen mittleren Durchmesser von 1.187 ± 4 km, das liegt am oberen Ende der früheren Schätzungen von 1.150 bis 1.200 km. Es gibt keine erkennbare Abplattung an den Polen, Abweichungen von dem ermittelten Durch-messer werden also sicherlich nicht mehr als 1 % (12 km) betragen.

»Wir schließen daraus, dass die Form des Plutos keinen Beleg für eine Frühzeit nach Entstehung des Pluto-Charon-Doppelplanetensystems mit rascher Drehgeschwindigkeit beibehalten hat, wahrschein-lich, weil er während oder nach der Abbremsung seiner Drehgeschwindigkeit durch [Charons] Gezeitenkraft noch warm und verformbar war.« (Stern u. a. 2015)

Die Cthulhu Regio entlang des Äquators.

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4.1 becken unD küsten Des sputnIk planums

Das zurückhaltend als »Ebene« bezeichne-te Becken Sputnik Planum sollte wirklich besser als Sputnik Mare bezeichnet werden (vom lateinischen mare = »Meer«), denn es weist viele Merkmale eines Binnenmeers auf. Diese Betrachtungsweise kann uns helfen, die Gegebenheiten zu veranschau-lichen, so lange wir uns vor Augen halten, dass das Sputnik Planum - nach den derzei-tigen Modellen - nichts Flüssiges enthält, sondern bis auf den Beckenboden durchge-froren ist (wir werden noch sehen, dass das nicht immer so gewesen sein muss). Da die darin enthaltenen Eise aber relativ viskos sind, verhalten sie sich in gewisser Weise wie Flüssigkeiten, die sich in Zeitlupe be-wegen, oder wie amorphe Gletscherströme.

Das Sputnik Planum gilt als Westteil der größeren, diffus begrenzten Region, die vorläufig Tombaugh Regio getauft wurde - die Namensgebung ist hier unnötig verwir-rend. Von oben betrachtet ist das Becken ungefähr oval geformt und hat eine Ober-fläche von 870.000 km2, es ist damit fast so groß wie Nordsee und Ostsee zusammen. Die Eisdecke ist auffallend hell und wirkt wie frisch überfroren. Der Eisspiegel liegt 3 bis 4 km unter dem Niveau der Küsten, was die Illusion antarktischen Schelfeises sogar verstärkt.

Die Süd- und Ostbereiche des Beckens sind nahezu strukturlos. Die einzige Abwechslung besteht in Feldern pockennarbiger Senken, wie sie auch an den Polkappen des Mars

zurückbleiben, wenn ihr Eis in die dünne Atmosphäre hinfort sublimiert (verduns-tet). Auf dem Pluto dürfte derselbe Prozess zugrunde liegen; das wird in Kapitel 6 nä-her ausgeführt. In der Mitte und im Norden zeichnen sich dagegen eisschollenartige Zellen unterschiedlicher Größe ab; manche sind bis zu 50 m hoch aufgewölbt, andere wirken eher eben. Im Zentralbereich des Beckens, wo der Eispanzer am hellsten er-scheint, sind diese Schollen von kilometer-langen und bis zu 1 km breiten Gräben ge-trennt, die 100 m tief hinabreichen können. Häufig weisen sie Zentralkämme auf. Ganz oben im Norden sammelt sich dunkleres Eis rund um die Schollengrenzen, die dort auch dünner wirken und keine erkennbaren Höhen- und Tiefenprofile mehr aufweisen. Stattdessen sind da dunkle Spiralmuster und Strömungslinien in das Eis eingebettet, die auf den ersten Blick anmuten, als mün-deten dort Flüsse, die erdige Sedimente in ein Meer transportieren.

Können das wirklich treibende Eisschol-len sein? Das würde voraussetzen, dass es unter ihnen etwas Flüssiges geben müsste, von dem sie getragen werden - tatsächlich ein arktisches Mare? Auch, dass überhaupt keine größeren Einschlagkrater im Eispan-zer des Beckens nachzuweisen sind, ist merkwürdig. Es spricht nämlich dafür, dass das Eisfeld des Sputnik Planums überhaupt nicht alt ist: höchstens 10 Millionen Jahre, eher weniger.

Derzeit bietet die Forschung eine andere Erklärung an. Sie besagt nicht, dass das Eis entlang der Schollengrenzen aufgebrochen sei, sondern es handele sich bei ihnen um Konvektionszellen, wie man sie auf irdischen Lavafeldern findet: aufwallende Blasen, die von aufsteigender Wärme aus der Tiefe des Plutos erhitzt werden. Ganz langsam steige in ihnen wärmeres Eis auf und kälteres sinke ab, ähnlich, wie sich Wasser beim Eierkochen verhält. Das Sputnik Planum wäre demnach ein riesengroßer Kochtopf in Zeitlupe.

Seiner Westküste sind ausgedehnte In-selketten mit Gipfeln von bis zu 5.000 m Höhe vorgelagert. Sie bestehen aus kanti-gen Bergmassiven aller Größen, die keine gemeinsamen Strukturen aufweisen und wie zusammengeschaufelter Kies wirken, freilich mit gigantischen Ausmaßen. Man-ches Mal mussten Forscher, die diese Bilder betrachteten, an die kantigen Eisblöcke auf dem Jupitermond Europa denken: In glei-cher Weise scheinen die Inseln in der Sput-nik Planum von irgendwoher transportiert, gedreht und aufgeschoben worden zu sein.

Ganz links: Kontrastverstärktes Mosaikbild des Sputnik Planums, Norden ist oben. Am linken Bildrand sind von oben nach unten die abgebröckelten Inselketten al-Idrisi, Baré und Zheng-He, Hillary und Norgay erkennbar. Die Cthulhu Regio und die Krun Regio scheinen einmal ein zusammenhängendes Band gebildet zu haben.Links: Die Küstenlinie der Sputnik Planum stößt im Nordwesten auf die Inselkette der al-Idrisi Montes, bevor sie das eigentliche Festland er-reicht.

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Nahe des Äquators liegen breite Kanäle zwi-schen den einzelnen Inseln, die mancherorts mit rötlichem Staub, Geröll und Findlingen verfüllt sind. Diese Ablagerungen sind grund-sätzlich etwas höher als die Eisdecke und liegen daher offenbar auf ihr auf. Weiter im Norden rücken die Inseln dichter zusammen und die Kanäle schwinden zu rotbraun ver-landeten Schluchten. Besonders ausgeprägt ist dieses Bild im nördlichsten Archipel, den al-Idrisi Montes. Viele Erhebungen dort glei-chen Tafelbergen mit flachen oder nur sanft geneigten Gipfeln, ihre Farbstrukturen ent-sprechen denen des Festlands an der West-küste des Sputnik Planums. Insgesamt erwe-

cken die Inselketten damit den Eindruck von Flysch: als seien größere Küstenbereiche ab-gebröckelt und von Meeresströmungen ver-setzt und zusammengeschoben worden.

Das Archipel der al-Idrisi Montes enthält zwei offene Senken, die mit derselben Art von rotem Sediment angefüllt sind, wie es in den Kanälen der südlicheren Inselketten zu finden ist. Eine dritte Senke, sie hat deutlich nach innen abfallende Flanken, scheint dage-gen auf das Niveau der Eisdecke abzusteigen und ist ebenso hell wie dieses. Man könnte diese Senken vielleicht als Förden deuten, sei ihr Grundeis nun von unten aufgestiegen oder durch Kanäle eingeströmt.

Zwischen den al-Idrisi Montes quillt das Eis des Sputnik Planums hervor - oder wurden die Kanäle zwischen den Inselbergen überspült?

Rechts: Die dunklen Spuren könnten Verwe-hungen im Windschatten der Inseln sein, die im Eis des Sputnik Planums eingebettet liegen.

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Ganz anders ist die Situation vor der Ost-küste, wo das Sputnik Planum an pocken-narbiges Festland grenzt. Dort liegen vie-le quadratkilometergroße Inselchen ver-streut, die festlandfernsten befinden sich 250 km von der Küste entfernt. Oft sammeln sie sich zu dichten und bis zu 20 km langen Archipelen. Wo sie im Bereich der Eisschol-len auftreten, fallen sie fast immer mit den Grenzen zwischen den einzelnen Zellen zu-sammen. Noch merkwürdiger ist dies: In Küstennähe neigen diese Inselketten dazu, sich an den Gletschern auszurichten, die von dort herabkommen.

Das führt zu einer der skurrilsten Erschei-nungen im Sputnik Planum: den »schwim-menden Bergen«. Es sieht tatsächlich aus, als ob diese Inseln - wie auch ihre großen Brüder an der Westküste - nicht ortsfest seien, sondern von den Strömen im Innern

des Beckens umhergetragen werden. Wo-möglich bestehen sie aus Wasser: Wasser-eis hat eine geringere Dichte als jene Eise, mit denen das Sputnik Planum verfüllt ist, und würde darum Eisberge bilden, die von den einmündenden Gletschern südwest-wärts getragen werden könnten. Sobald sie in das Gebiet der Eisschollen gelangten, würden sie von den Konvektionskreisläu-fen an den Außenrändern der Zellen abge-lagert und konzentrierten sich dort zu den ringförmigen Archipelen.

Auch eine besonders prominente Insel-gruppe, Challenger Colles, deren Umriss dem von Finnland ähnlich sieht, könnte

Die schwimmenden Inseln an der Ostküste des Sputnik Planums folgen Gletscherströmen und sammeln sich an den Rändern der Schollen.

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eine große Anhäufung von Eisbergen sein. Vielleicht, so vermuten die Forscher, ist das Sputnik Planum dort besonders seicht, und sie sind schlicht und einfach auf Grund ge-laufen (Moore u. a. 2016).

Skurril ist die Erscheinung der schwimmen-den Berge deshalb, weil sie schon vor Jahr-zehnten vorhergesagt wurde. Zitieren wir noch einmal Edmond Hamilton, den Schöpfer Captain Futures, der nur 11 Jahre nach Plutos Entdeckung diese unheimlich anmutende Be-schreibung seiner Oberfläche gab:

»Eisfelder bedeckten fast den ganzen Planeten mit Ausnahme eines schmalen Äquatorgebiets mit

frostigen Ebenen und dem großen Meer, dessen Salzgehalt so hoch war, dass es nicht zufror. [Ast-ronaut] Wenzi war auch der Erste gewesen, der die Wandernden Berge beschrieb, diese erstaunlichen, gewaltigen Gletscher, die den Planeten auf einer festen Bahn umrunden.«

Und für die Helden seines Romans »Cal-ling Captain Future« aus dem Jahr 1940 sah das so aus:

»Die Wandernden Berge des Plutos, eines der großartigsten Naturwunder des Sonnensystems, lagen nun bald beinahe unter ihnen. Dieser spe-zifische Höhenrücken war eine riesengroße, drei-hundert Meter hohe Eismauer, die sich in einer

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unsteten, fließenden Bewegung südwestwärts über die Eisfelder schob. Das knirschende, krachende Donnern ihrer Vorwärtsbewegung klang wie oh-renbetäubendes Kanonenfeuer. Berge aus Eis, die wanderten! Tatsächlich waren die Wandernden Berge riesengroße Gletscher, die sich mit einer Ge-schwindigkeit fortbewegten, welche um ein Vielfa-ches höher lag als bei jedem Gletscher der Erde. Auf immerdar wanderten ihre mächtigen Bergketten rings um diesen eiskalten Planeten wie schwerfäl-lige weiße Riesen auf der Walz.«

Auch wenn die Geschwindigkeit, die Hamil-ton sich ausmalte, übertrieben sein mag: Die Eise im Sputnik Planum sind amorph und recht viskos und erreichen darum beacht-

liche Fließgeschwindigkeiten. Nach Moore u. a. (2016b) würde sich ein 100 m tiefes Gletschertal mit einem Gefälle von 10° in nur einem Erdmonat nahezu entleeren. Die Oberfläche solch einer Eismasse fließt mit ca. 375 m/Jahr, so dass selbst ein 10 km lan-ger Kanal mit dem gleichen Gefälle nach nur 26 Erdjahren ausgelaufen wäre. Ein Oberflä-chenstrom aus Stickstoffeis kann sogar ein 100 km weites Becken in 250.000 Jahren durchqueren. Und das ist eher vorsichtig ge-schätzt: Stickstoffeis isoliert ausgesprochen gut und kann daher in den Tiefen eines Glet-scherstroms auch wärmere Temperaturen aufrecht erhalten, so dass der Eispanzer auf einem aufgeweichten Untergrund oder gar

Links: Die Wandernden Berge sammeln sich zu Ketten auf der Eisdecke. Der Krater links oben macht den Eindruck, als sei er mit einer Flüssigkeit vollgelaufen, die erst nachträglich erstarrte.

Die Täler an der Nordküste der Sputnik Planum erinnern verdächtig an irdische Flussmündun-gen, die Sedimentgestein ins Meer tragen.

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einem Flüssigkeitsfilm dahingleitet, wie es die Wassereisgletscher der irdischen Hoch-gebirge tun. In einem Kilometer Tiefe könn-ten die Temperaturen eines plutonischen Gletschers problemlos 20-25 K höher lie-gen als an der Oberfläche.

Wie das Becken des Sputnik Planums ent-standen ist, ist bisher unbekannt. Es gilt je-denfalls als alt, ungeachtet der Frische sei-ner Eisdecke. Die gebirgige Westküste wird als verfallener Rand eines kilometertiefen Einschlagbeckens gedeutet, und größere Krater in den Küstengebirgen sind wahr-scheinlich älter als das Mare. Aber warum liegt es dann haargenau von Charon abge-wandt?

Falls die Wandernden Berge tatsächlich Eisbergen gleichen, müssten die größten von ihnen, die mehr als 3.000 m aufragen, entsprechend 15.000 m unter die Eisdecke hinabreichen. So tief dürfte das Sputnik Pla-num kaum sein. Vielleicht liegen auf seinem Boden »Sedimenteise«, Schichten höherer Dichte, die in die Tiefe abgesunken sind und eine stärkere Tragfähigkeit haben, so dass die Wandernden Berge näher an der Oberflä-che gehalten werden und nicht so tief absin-ken wie ihre irdischen Verwandten?

Gegen diese Annahme spricht, dass in mehreren Kilometern Tiefe das Stickstoff-eis unter den auftreffenden Wärmeströmen aufschmelzen müsste und nach oben stiege, da es mit 0,8 g/cm3 deutlich leichter ist als festes Eis. In diesem Fall müssten sich ganz frische Pfuhle auf dem Eispanzer abzeich-nen. Das ist nicht der Fall.

Warum die Bergregionen auf die Westküs-te begrenzt sind, ist nach Moore u. a. (2016b)

völlig unklar. Wir erlauben uns darum, unser eigenes Szenario zu entwickeln:

Es sieht aus, als habe vor geologisch nicht allzu langer Zeit im Zentrum des Beckens, dort, wo die Eisdecke am hellsten und reinsten ist, ein Energieausbruch stattge-funden. Er war so heftig, dass er mindestens diesen Teil des Sputnik Planums für kurze Zeit verflüssigte und aufspritzen ließ: we-nige Stunden lang hatte Pluto einen echten Ozean. Ein mächtiger Tsunami breitete sich mit einer Hauptstoßrichtung nach Westen aus, traf auf die brüchigen Steilküsten, zer-trümmerte sie und riss beim Zurückströmen berggroße Trümmer hinaus in das Mee-resbett. Dann erstarrte die Flutwelle - zu schnell, als dass sie hätte vollständig zurück-fließen können. So entstanden jene Buchten, Gletscherflüsse und -seen, die wir am west-lichen Festlandsockel erkennen. In der östli-chen Tombaugh Regio verlief sich die Welle dagegen im flacheren Gelände, fror ein und kehrt nun geruhsam in ihr ursprüngliches Bett zurück, wobei sie aufgrund der Topo-graphie nur erheblich kleinere Wandernde Berge mit sich führen kann.

Wie es zu diesem Energieausbruch kam, ist offen. Die Vorzugsrichtung der Flutwel-le könnte für einen schräg auftreffenden Einschlagkörper sprechen: ein Kuipergür-tel-Objekt von mehreren km Durchmesser. Eine fantastischere Alternative wäre, dass der Boden des Sputnik Planums einen Su-per-Kryovulkan birgt, der »untermeerisch« ausbrach und die kilometerdicke Eisdecke über sich sprengte. Woher der Pluto jedoch die dafür erforderliche Energie beziehen könnte, ist schwer vorstellbar.