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1 Vladimiro Giacché – Phänomenologie der Lüge im Zeitalter der Medien (Berlin, Humboldt-Universität, 9. Oktober 2015) * Sich mit der Lüge zu befassen, kann, je nach Standpunkt, für verfehlt oder für überflüssig gehalten werden. Wer der postmodernistischen Philosophie anhängt und daher schon im Begriff »Wahrheit« eine überwundene und tendenziell totalitäre philosophische Altlast sieht, wird es für falsch halten, sich diesem Problem zu widmen. Wer dagegen den Dingen dieser Welt aufmerksamer begegnet und die internationale Politik verfolgt, wird es für überflüssig halten: Denn allzuoft sind offenkundige Lügen auf dieser Ebene zu bemerken. Den einen könnten wir antworten, daß, wenn schon »die Wahrheit« nicht existiert, es doch zumindest Lügen gibt (das hatte Popper schon begriffen). Den anderen sagen wir: Die Tücke des heutigen Angriffs auf die Wahrheit liegt genau darin, daß er sich, außer in extremen Fällen, nicht als schlichte Lüge präsentiert. Die Strategien des Angriffs auf die Wahrheit sind in der Regel weniger rüde. Darüber hinaus, ist die Wichtigkeit der Lüge im gegenwärtigen politischen Diskurs kaum zu unterschätzen. Der Grund ist einfach. Einmal konnten die nicht eingestehbaren Wahrheiten der Macht im Geheimnis enthüllt werden (man sprach von arcana imperii). Heute, im Zeitalter der Medien und der mediatisierten Politik, sind Schweigen und Geheimnis ein stumpfes Schwert. So braucht man andere Strategien zu benutzen, um die Wahrheit zu verdecken und neutralisieren. Ich werde versuchen, einige Beispiele für diese Strategien hier vorzustellen. 1. Die verstümmelte Wahrheit »Wir glauben nicht mehr daran«, sagte Nietzsche, »daß Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht.« Eine oft zitierte und oft mißverstandene Behauptung. Auch wir wollen sie mißverstehen und paraphrasieren sie so: Die Wahrheit ist keine Wahrheit mehr, wenn man sie ihres Kontextes beraubt, dessen, was »sie umgibt«, im eigentlichen und übertragenen Sinn. Ein Beispiel: In der zu einer Ikone des Irak-Kriegs gewordenen Bilderfolge vom Sturz der Saddam-Hussein-Statue in Bagdad wurden die Einstellungen so gewählt, daß man nicht sehen konnte, daß der Platz praktisch leer war und sich die »feiernde Menge« auf wenige Dutzend Iraker beschränkte. In diesem Falle wird die Wahrheit durch den * Kolloquium der Sartre-Gesellschaft in Deutschland, “Über Lügen im Zeitalter des Krieges”, 9./10. Oktober 2015, Berlin, Humboldt-Universität. Eröffnungsvortrag, aus dem Italienischen übersetzt von Hermann Kopp und Vladimiro Giacché.

Phänomenologie der Lüge im Zeitalter der Medien, Berlin, Humboldt-Universität, 9. Oktober 2015

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Vladimiro Giacché – Phänomenologie der Lüge im Zeitalter der Medien (Berlin, Humboldt-Universität, 9. Oktober 2015) *

Sich mit der Lüge zu befassen, kann, je nach Standpunkt, für verfehlt oder für überflüssig gehalten werden. Wer der postmodernistischen Philosophie anhängt und daher schon im Begriff »Wahrheit« eine überwundene und tendenziell totalitäre philosophische Altlast sieht, wird es für falsch halten, sich diesem Problem zu widmen. Wer dagegen den Dingen dieser Welt aufmerksamer begegnet und die internationale Politik verfolgt, wird es für überflüssig halten: Denn allzuoft sind offenkundige Lügen auf dieser Ebene zu bemerken.

Den einen könnten wir antworten, daß, wenn schon »die Wahrheit« nicht existiert, es doch zumindest Lügen gibt (das hatte Popper schon begriffen). Den anderen sagen wir: Die Tücke des heutigen Angriffs auf die Wahrheit liegt genau darin, daß er sich, außer in extremen Fällen, nicht als schlichte Lüge präsentiert. Die Strategien des Angriffs auf die Wahrheit sind in der Regel weniger rüde.

Darüber hinaus, ist die Wichtigkeit der Lüge im gegenwärtigen politischen Diskurs kaum zu unterschätzen. Der Grund ist einfach. Einmal konnten die nicht eingestehbaren Wahrheiten der Macht im Geheimnis enthüllt werden (man sprach von arcana imperii). Heute, im Zeitalter der Medien und der mediatisierten Politik, sind Schweigen und Geheimnis ein stumpfes Schwert. So braucht man andere Strategien zu benutzen, um die Wahrheit zu verdecken und neutralisieren.

Ich werde versuchen, einige Beispiele für diese Strategien hier vorzustellen.

1. Die verstümmelte Wahrheit

»Wir glauben nicht mehr daran«, sagte Nietzsche, »daß Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht.« Eine oft zitierte und oft mißverstandene Behauptung. Auch wir wollen sie mißverstehen und paraphrasieren sie so: Die Wahrheit ist keine Wahrheit mehr, wenn man sie ihres Kontextes beraubt, dessen, was »sie umgibt«, im eigentlichen und übertragenen Sinn.

Ein Beispiel: In der zu einer Ikone des Irak-Kriegs gewordenen Bilderfolge vom Sturz der Saddam-Hussein-Statue in Bagdad wurden die Einstellungen so gewählt, daß man nicht sehen konnte, daß der Platz praktisch leer war und sich die »feiernde Menge« auf wenige Dutzend Iraker beschränkte. In diesem Falle wird die Wahrheit durch den

* Kolloquium der Sartre-Gesellschaft in Deutschland, “Über Lügen im Zeitalter des Krieges”, 9./10. Oktober 2015, Berlin, Humboldt-Universität. Eröffnungsvortrag, aus dem Italienischen übersetzt von Hermann Kopp und Vladimiro Giacché.

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Bildausschnitt verstümmelt; er verhindert, daß der reale Raum, in dem ein Ereignis stattfindet, zu sehen ist, und deshalb wird eine falsche Vorstellung vermittelt.

Aber der Kontext ist nicht nur der Raum, der eine bestimmte Szene umgibt. Es sind auch die Umstände, unter denen ein Ereignis stattfindet, sowie sein Davor und Danach. Die Erwähnung dieser Umstände wurde in den letzten Jahren manchmal sogar tabuisiert. Wie Le Carré im Zusammenhang mit den Anschlägen des 11. September beobachtet hat, »ist es, als ob wir in eine neue Orwellsche Welt eingetreten wären, in der unsere persönliche Zuverlässigkeit als Verbündete von unserem Hang abhängig gemacht wird, die Vergangenheit in die Ereignisse von heute einzubringen. Jeder Hinweis darauf, daß die jüngsten Attacken in einem historischen Kontext stehen, wird als ihre Rechtfertigung betrachtet.«1

Nun untersuchen wir den formellen Aspekt dieses Verfahrens. Die Umwandlung von Prozessen in Momentbilder, die

Aufmerksamkeit für die punktförmige Einzelheit zuungunsten des Kontextes, der Mythos des Anfangs, des Nochniedagewesenen, wo es doch einen Zusammenhang von determinierten Ereignissen gibt: All dies erlaubt, eine willkürliche Erzählung zu schaffen, in der es ein Ereignis gibt, das nur der Kategorie des absoluten Horrors zugeordnet werden kann (also »losgelöst« ist von jedem Vorher und jeder erforschbaren Prozessualität). Ein Horror, der nicht erklärbar ist, es sei denn durch die Kategorie des Bösen.

So wird der Feind erschaffen: Flüchtig und unbegreiflich (während begreifen eben heißt »ein Ereignis in seinem Zusammenhang betrachten«). Ein Sonderfall dieses Verfahrens ist die Umwandlung vom Aggressor in Opfer und umgekehrt: dazu braucht man oft nur zu schweigen, wer als erste angegriffen hat.

Mythos des Nochniedagewesenen, Horror, Das Böse, Der Feind: Das sind die vier apokalyptischen Reiter von heute. Wir sehen sie im medialen Umgang mit vielen heutigen Tragödien am Werk.

Leider hindert die Logik selbst der gegenwärtigen Medien uns daran, die Zusammenhänge zu begreifen. Blitzschnelle Mitteilungen, (scheinende) Unmittelbarkeit, Geschwindigkeit des Aufeinanderfolgens, Aneinanderreihung von nicht miteinander zusammenhängenden Reihenfolgen: das ist die Wirklichkeit der heutigen Kommunikationswelt und – genauer gesagt – die Syntax der Fernsehsprache. Diese Syntax ist das Reich der Feinde des Kontextes: Vereinfachung, Vernichtung der Zeitlichkeit und der Kontinuität, Reihenfolge von diskreten und zusammenhanglosen Ereignisse.

1 J. Le Carré, Dieser Kreig ist längst verloren, “Frankfurter Allgemeine Zeitung”, 17 Oktober 2001.

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Selbst die geschichtlichen Prozesse können sich nicht dieser Logik entziehen.

2. Die vergessene Wahrheit

Napoleon war der erste, der ausdrücklich von dem Vorhaben sprach, »die Kraft der Erinnerung monarchisch zu lenken«, und vorschlug, die Geschichte als instrumentum regni zu nutzen. Die entwickelste Realisierung dieses Vorhabens stellt heute, auf eine nur scheinbar paradoxe Weise, die Negation und Destruktion der Vergangenheit dar. Im Kern geht es dabei um die Negation der Vergangenheit als einer in gewisser Weise »objektiven« Realität, einer Realität, die durch ihre Darstellung nicht beliebig formbar ist.

Es triumphiert die »Disneyland-Geschichte«. Sie erfüllt eine dreifach apologetische Funktion.

- Die erste und zugleich jene, die mit der napoleonischen »monarchischen Geschichte« formell am engsten zusammenhängt, besteht darin, in der Geschichte die Bestätigung des Bilds zu suchen, das die heutige Gesellschaft (genauer: ihre herrschenden Klassen) von sich selbst und ihrer eigenen »Überlegenheit« geben möchte. Auch aus der Vergangenheit wird das gelöscht – oder als »Abfall« behandelt –, was täglich aus der eigenen Wirklichkeit entfernt wird: vor allem die Widersprüche und Konflikte.

- Zugleich läßt man aus der Darstellung der Vergangenheit das »ewig Menschliche« hervorgehen, gebildet aus elementaren Leidenschaften und Gegensatzpaaren des Feuilletons: Haß/Liebe, Güte/Niedertracht etc.; aber auch aus Haltungen, die »allgemein menschlich« sein sollen und die nichts anderes sind als bürgerlich domestiziert und »politisch korrekt« (Toleranz, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt…; Liebe zur Gerechtigkeit, aber vor allem zur Arbeitsamkeit und zur gesellschaftlichen Ordnung usw.). Die solcherart neu erfundene Geschichte ist die ewige Wiederkehr des immer Gleichen. Eine, könnte man sagen, wesentlich antigeschichtliche Geschichte.

- Und genau darin läßt sich die dritte und entscheidende apologetische Funktion dieser Art Geschichtsdarstellung ausmachen: Sie besteht in der Zerstörung der Wirklichkeit des Vergangenen, soweit es Züge aufweist, die sich nicht in zeitgenössische Klischees übersetzen lassen.

Auch hier haben wir mit Prozessen zu tun, die in der Welt der Information und des „Spektakels“ (Debord) verwürzelt sind.

Die Augenblicksdauer von Information und Gebrauch entgegenstellt sich der Geschichte. In erster Linie der Geschichte des Subjekts, d.h. dem Leben als (selbst)bewußten Prozess. Nicht zufällig sagte man: „Das

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Publikum einer Massengesellschaft hat ein schlechtes Gedächtnis und einen leichten Wunsch“.2

Aber der Sieg des Augenblicks und das Ende der Geschichte betreffen natürlich die Geschichtlichkeit selbst.

Das ist anders und gefährlicher als das „Ende der Geschichte“, von dem Francis Fukujama träumte. Nach ihm sei die Geschichte zu Ende gegangen. Nach einer auf dem Augenblick gestellten Informationswelt existiert die Geschichte gar nicht.

Guy Debord schildert in seinen Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels (1988) die Folgen des Verschwindens der Vergangenheit. “Den kostbaren Vorteil, den das Spektakel aus dieser Ächtung der Geschichte gezogen hat, daraus, daß es die ganze jungere Geschichte zur Klandestinita t verurteilt hat und mit Erfolg den gesellschaftlichen Geschichtssinn in weitestem Maße der Vergessenheit hat anheimfallen lassen, dieser Vorteil liegt zuerst darin, daß es seine eigene Geschichte abdeckt: die Bewegung seiner jungsten Welteroberung. Seine Macht erscheint bereits vertraut, so als sei sie immer schon dagewesen”. Fazit: “Das Ende der Geschichte ist fu r jeden Machtapparat von heute ein angenehmes Ruhekissen”.3

3. Die inszenierte Wahrheit

Daß die Wahrheit heute inszeniert wird, ist in mehr als einem Sinne wahr. Es ist vor allem wahr insofern, als die Ereignisse entsprechend ihrer medialen Repräsentanz und Projektion organisiert werden. So wurde der US-Luftangriff auf Libyen 1986 so gelegt, daß er mit den wichtigsten Fernsehnachrichtensendungen zusammenfiel. Aber auch der Anschlag auf die »Zwillingstürme« in New York war so angelegt, daß ihm die maximale Medienbeachtung sicher war: In solchem Maße, daß man annehmen konnte, der Anschlag sei in allererster Linie mit Blick auf »seinen spektakulären Effekt« durchgeführt worden (Slawoj Zizek). Denken wir schließlich an die Geiselnahmen und Tötungen im Irak und Syrien, mit Filmberichten, die so gedreht und verbreitet werden, daß sie in den Zielländern maximalen Eindruck machen. In all diesen Fällen ist, mit Jacques Derrida gesprochen, »die mediale Theatralisierung integraler Teil des Ereignisses und bestimmt es wesentlich mit«.

Aber wahr ist auch, daß wichtige politische Ereignisse heute als ein Spektakel inszeniert werden. Man denke an den Auftritt Colin Powells vor dem UNO-Sicherheitsrat mit der Vorstellung der berühmten »Ampulle chemischer Waffen Saddams«. In diesem Fall könnte

2 U. Eco, Apocalittici e integrati, Milano, Bompiani, 1964, S. 375. 3 G. Debord, Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, § VI, in Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin, Tiamat, 1996.

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eingewendet werden, es habe sich dabei um ein nur halb gelungenes Spektakel gehandelt, da Powells Vortrag ja nahezu keinen seiner Kollegen in der UN überzeugen konnte. Aber die Wirkung auf die öffentliche Meinung in den USA war eine ganz andere – und sie war im Grunde der wirkliche Adressat der Ansprache.

Hieran läßt sich beobachten, wie die Regeln der Kommunikation in Form des Spektakels zu einer charakteristischen Verzerrung des Ereignisses führen: Seine originären Adressaten (in diesem Fall der Sicherheitsrat) sind nicht die wirklichen Adressaten und werden deshalb selbst Akteure und Teil eines Schauspiels, das sich in Wirklichkeit an das wendet, was einmal »öffentliche Meinung« (und sogar „kritische Öffentlichkeit“) hieß und was heute die „Bürger-Zuschauer“ sind.

Schließlich gibt es noch im direkten Sinne inszenierte Geschehnisse, die regelrechten Inszenierungen. Die ganze Geschichte des sogenannten »Kriegs gegen den Terrorismus« ist übersät von derartigen Fällen.

Es genügt, an die sogenannte »schmutzige Bombe« des José Padilla zu erinnern, die vom US-Justizminister Ashcroft im Juni 2002 mit großem Pomp inszeniert wurde. Die US-Regierung steckte damals in großen Schwierigkeiten wegen der unaufhörlichen Enthüllungen über das »Versagen« der Geheimdienste in Bezug auf den 11. September. Die »schmutzige Bombe« fand ein enormes Echo (und verdiente sich u. a. sogar eine Titelseite des Economist, die als Modell für medialen Terrorismus gelten kann: Das Gesicht Padillas vor dem Hintergrund eines Atompilzes). Seit Jahren wissen wir schon, daß alle Anschuldigungen gegenstandslos waren (ohne daß diesem Umstand eine Titelseite des Economist gegolten hätte), und der Fall Padilla ist vor allem peinlich für die US-Regierung. Aber der Vorzug der Aktion, die Aufmerksamkeit abgelenkt zu haben von Themen, die noch sehr viel peinlicher gewesen wären, ist unschätzbar und führt per saldo zu einer absolut positiven Bilanz für die Regierung der Vereinigten Staaten.

4. Die verdrängte Wahrheit

Die andere Seite der Inszenierung ist genau das, was sich hinter der Szene abspielt. Bedeutend an der Positionierung eines Scheinwerfers ist oft nicht das, was er erhellt, sondern was er im Dunkeln läßt. Einer laut verkündeten und inszenierten Wahrheit entspricht immer eine verschwiegene und verdrängte Wahrheit.

Wer erinnerte sich in diesem Zusammenhang nicht daran, daß die erste Reaktion Rumsfelds nach dem Bekanntwerden des Folterskandals im Irak war, den Soldaten die Benutzung von Digitalkameras zu verbieten! Wohlwollend geurteilt, könnte man von einer »Symptombehandlung« sprechen; in Wirklichkeit aber haben wir es mit einer »Verdrängung« zu tun, auch im Freudschen Sinne des Worts – und

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Verdrängung nützt bekanntlich nichts bei Neurosen. Verdrängte Wahrheit meint negierte Wahrheit. Wie Adorno schon wußte, „es gehört zum Mechanismus der

Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten“.4

5. Die verkehrte Wahrheit Die bloße Verdrängung der Wahrheit wirft das Problem auf, daß

diese Haltung sich leicht gegen denjenigen wenden kann, der sie praktiziert. Dies ist ganz klar im extremsten Fall: dem der Zensur. Die Zensur – falls sie entdeckt wird – enthüllt über den, der zensiert, weit wichtigere und bezeichnendere Dinge als jene, die die zensurierte Mitteilung enthüllt hätte.

Aber man kann auch ohne Zensurierung einer Mitteilung auskommen: indem man sich damit »begnügt«, sie zu verdrehen. Das kann bis zur völligen Verkehrung der Wahrheit gehen. Dies ist eine jener Funktionen, die die Presse mit besonderem Eifer in Kriegszeiten erfüllt: Davon zeugt – was den Ersten Weltkrieg betrifft – fast jede Seite von Karl Kraus' »Die letzten Tage der Menschheit«. Heute scheint sich aber nicht sehr viel verändert zu haben, wie die folgende Überschrift zeigt, die ich aufs Geratewohl Zeitungen von 2002 entnommen habe:

Die „Financial Times“ vom 23. September 2002 betitelte einen Artikel auf der ersten Seite: »US in pledge to rebuild Iraq« (USA verpflichten sich, den Irak wieder aufzubauen). Der Artikel, der ein Interview mit Condoleezza Rice zusammenfaßt, ist der Notwendigkeit eines Kriegs gegen den Irak gewidmet. An dessen Ende, verspricht Rice, werden sich die USA um den Wiederaufbau des Landes kümmern (nachdem sie es zuvor durch den Krieg zerstört hatten). Der Titel gibt also nur den letzten Teil des »Gedankengangs« von Rice wieder. Wer den Krieg will, wird so zu jemandem, der wiederaufbauen will. Und das ist nur ein Beispiel unter Tausenden.

Die geläufigen Methoden der Verdrehung der Wahrheit sind weit einfacher zu handhaben als ihre platte Unterdrückung. Es ist nicht nötig, so zu tun, als ob die Wahrheit nicht existiert. Es reicht, ihr ein anderes Gesicht zu geben.

6. Die geschönte Wahrheit

Wie läßt sich die Wahrheit in den Medien verschönen? Das Hauptmittel dazu ist der Euphemismus.

La Rochefoucauld einmal sagte: „Die Heuchelei ist eine Huldigung, die das Laster der Tugend erweist“ („L'hypocrisie est un hommage que le

4 Th.W. Adorno, Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Berlin u. Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1951, S. 106 (§ 38).

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vice rend à la vertu”). Ebenso könnten wir den Euphemismus als “die Huldigung, die die Lüge der Wahrheit erweist”.

Die meisten Euphemismen bestehen in einer einfachen besänftigenden Umformulierung, durch die das beschriebene Phänomen gezähmt und sozusagen unschädlich gemacht wird, keine feindlichen Reaktionen (Empörung, Protest etc.) mehr hervorrufen kann.

Das bevorzugte Gebiet der Anwendung von Euphemismen ist der Krieg. Die Zahl der Euphemismen, die in diesem Zusammenhang angewandt werden, ist beträchtlich. Die gebräuchlichsten: »internationale Polizeioperation«, »Militäraktion«, und dann ein Klassiker wie »Gewaltanwendung«.

Die Euphemismen für den Krieg sind aber damit nicht erschöpft: Wir haben auch »Regimewechsel« (was »militärische Invasion«

meint), »präventive Verteidigung« und »Präventivschlag« (die für »ein Land angreifen, das uns nicht angegriffen hat«, stehen). Doch im Fall des Krieges ist inzwischen sogar das Tabu gefallen, das auf dem Gebrauch dieses Wortes lag, und der Euphemismus nimmt die Form der näheren Bestimmung des Wortes »Krieg« an: So haben wir den »Krieg gegen den Terrorismus«, wie wir zuvor den »humanitären Krieg« hatten; mit der bezeichnenden Neuerung, daß der »Krieg gegen den Terrorismus« ausdrücklich auch als ein »endloser Krieg« definiert wurde.

Schließlich hatte Bush jr. bekanntlich die Frechheit zu behaupten, daß »der Krieg im Irak wirklich ein Krieg für den Frieden« sei (Rede vom 11. April 2004). Das ist Orwell: »Krieg ist Frieden« ist eins der Beispiele für Doppeldenken in seinem Roman »1984«. Orwell hat sich also nur um 20 Jahre vertan.

7. Die umgangene Wahrheit

Weiter oben haben wir gesehen, daß die inszenierte Wahrheit ihr notwendiges Doppel in der unterdrückten, aus dem Scheinwerferlicht verdrängten Wahrheit hat. Die Verdrängung erfordert Mühe und kann negative Reaktionen herausfordern.

Aber im Grunde ist sie heute nicht einmal so sehr nötig. Denn wir befinden uns bereits in einem weiteren Stadium: Jenem, in dem die Wahrheit mühelos umgangen, einfach ignoriert werden kann.

Wenn das ideologische Gerede triumphiert und seine Rangordnung der Probleme (oder Pseudoprobleme) durchsetzt; wenn die mediale Information sich reduziert auf Unterhaltung, Geschwätz und Lärm, die im Grunde einzig dazu dienen, den Konsum anzuheizen; dann braucht man der Wahrheit keine Gewalt mehr anzutun: Sie läßt sich – aus dem simplen Grund, daß die Leute an andres denken – einfach umgehen.

»Alle reden vom Wetter. Wir nicht.« So war auf einem der bekanntesten Plakate zu lesen, das die westdeutsche Studentenbewegung

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hervorgebracht hat. Das »Wir« bezog sich auf Marx, Engels und Lenin, die auf dem Plakat im Stil des realen Sozialismus chinesischer Machart dargestellt waren (mit stilisiertem Profil vor rotem Grund); und es bezog sich auf den Sozialistischen Deutschen Studentenbund, der damit einen etwas älteren Werbespruch der Deutschen Bundesbahn aufgriff.

Eine Losung, die Ernsthaftigkeit der Belanglosigkeit, Inhalt der Leere, Wesentliches dem Unwesentlichen, Radikalität der Oberflächlichkeit entgegengestellte.

Dieses »Alle reden vom Wetter« heute wieder zu lesen, hat einen direkt verfremdenden Effekt. Denn gerade das »vom Wetter reden« gilt heute als höchste Tugend der kommunikativen Unterhaltung, die Mühelosigkeit, Leichtigkeit, Erträglichkeit, Annehmbarkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat. Und das gilt für die Werbung (die den Archetyp unserer heutigen Kommunikation darstellt) ebenso wie für die »politische« Kommunikation – oder besser gesagt: für das advertising von Waren ebenso wie für das advertising von Kandidaten.

8. Die Macht der Klischees und frames

Man kann also der Zugang zur Wahrheit vielerlei verhindern. Man kann den Zugang zu den Informationsquellen verbieten und die Kenntnis der einzelnen Tatsachen behindern. Man kann aber auch einen verkehrten und irreführenden Interpretationsrahmen („frame“) der Informationen und der Tatsachen durchsetzen. Wenn dies erfolgt, braucht man nicht mehr die Tatsachen zu verbergen, weil damit eine fälschende Interpretation derselben schon ermöglicht wurde.

Damit sind auch die Grenzen jeder Politik der Offenheit klargemacht, die nicht imstande ist, sich mit dem Problem der allgemeinen Interpretationsrahmen - d.h. mit dem Ideologieproblem – zu befassen.

Die Medien sind heute sowohl Vermittler als auch Verstärker der herrschenden Ideologie. Die Information wird aufgrund der Gemeinplätze, der vorwiegenden Klischees und der „einwirkenden Metaphern“, die heute hegemonisch sind, gebildet – und damit macht sie sie noch mehr hegemonisch und einwirkend.

Dieses System von Gemeinplätzen, Klischees, stehenden Wendungen, von Vorurteilen und Metaphern bildet den begrifflichen (oder quasi-begrifflichen) Rahmen aus, in dem wir die einzelnen vorliegenden Informationen verstehen.

Was unsere Erfahrung gestaltet, ist eben dieser Rahmen. Und sehr oft, wie George Lakoff beobachtete, wenn die Tatsachen mit diesem

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Rahmen („frame“) nicht zusammenpassen, „ist überwiegend der letzte und fallen die Tatsachen unter den Tisch“5.

Als Beispiel kann ein geläufiges Klischee genommen werden, und zwar das Klischee nach dem der Westen „Träger eines höheren politischen Systems (‚Demokratie’ genannt)“ sei.

Hier handelt es sich um ein wesentliches Klischee innerhalb der gegenwärtigen ideologischen Diskurses. Der Westen ist bekanntlich Träger der „Demokratie“ und Feind der „Diktaturen“ und der „Totalitarismen“.

Um die Tragweite dieses Klischee zu verstehen, kann man erwähnen, dass es Tony Blair ermöglichte, ein apologetisches Gebrauch sogar der Entdeckung der Folter von den britischen Soldaten zu machen: „Der Unterschied zwischen Demokratie und Tyrannei – so Blair – liegt nicht darin, dass in einer Demokratie keine bedauerliche Tatsachen stattfinden, sondern darin, dass man Rechenschaft den Verantwortlichen verlangt, wenn sie stattfinden“.6

Fazit: wenn die Schweinereien die wir machen verborgen bleiben, ist unser politisches System überlegen weil nichts das Gegenteil belegt; falls sie entdeckt werden, belegt die Tatsache selbst ihrer Entdeckung, dass unser politisches System überlegen ist.

Ein solches Schema kann unendlich variiert werden: auf dieser Weise selbst die Enthüllung der Kriegslügen kann man benutzen, um die Glaubwürdigkeit des Lügners und die Transparenz des Systems zu bekräftigen. Beispiele einer solchen „beweisenden Widerlegung“ könnte man beliebig aneinanderreihen.

9. Philosophie des Obwohls - oder die Macht der Klischees

Einst das Klischee etabliert und „frame“ geworden ist, besitzt es eine erstaunliche Fähigkeit trotz jeder entgegengesetzten Tatsache auszuhalten. Hans Vaihinger sprach von der „Philosophie des Als ob“; wir können hier von der „Philosophie des Obwohls“ sprechen.

Die westlichen Armees bringen die Zivilisation und die Freiheit, - „obwohl“ sie souveräne Staaten zerfallen lassen (wie in Lybien) - und „obwohl“ sie töten und foltern, und verbotene Waffen

benutzen; der Westen schenkt immer Demokratie, - „obwohl“ massive Wahlfälschungen stattfinden, wie zum Beispiel

in Iraq 2005, wo mehr als die Hälfte der Wähler nicht abstimmte, - „obwohl“ das Wahlsystem auf die Volksgruppen – also auf eine

ganz vormoderne Struktur – basiert wurde (was der Zerfallprozeß des Landes beschleunigte), 5 G. Lakoff, “Metaphor and War, Again”, Alternet, 18/3/2003: http://www.alternet.org/story/15414 . 6 O. Casagrande, “Blair sulle torture: ‘Foto scioccanti’”, il manifesto, 20 gennaio 2005.

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- „obwohl“ die Staatsreligion in der Verfassung und die Sharia in einem einst säkularen Staat wiedereingeführt wurden.

Jeder dieser Tatbestände widerlegt die Annahme. Trotzdem werden sie als „Fehler“, „kontingente Probleme“ und

„vorübergehende Schwierigkeiten“ angedeutet, die noblen und großzügigen Ziele ganz zufällig begleiten: am höchstens können sie als die klassische „Ausnahme die bestätigt die Regel“ betrachtet werden. 10. Im Schlachtfeld der Wörter

Ein wichtiger Grund für die Kraft der obenangeführten Klischees besteht darin, dass sie einige Schlüsselbegriffe des gegenwärtigen politisch-mediatischen Lexikon benutzen bzw. voraussetzen.

Auf einer Seite haben wir unsere Freunde: Demokratie, Markt, Sicherheit; auf der anderen Seite stehen unsere Feinde: Terrorismus und Totalitarismus.

Der Krieg der Wörter ist äußerst wichtig im Kontext der gegenwärtigen Konflikte. Wir haben mit Wörter/Begriffe zu tun, die bestritten sind. Wir haben mit gefallenen Wörter zu tun, die nunmehr unbrauchbar geworden sind und mit Wörter, die als Geisel genommen worden und so gefoltert, dass sie jetzt unerkennbar sind. Wörter die nicht nur eine verschiedene, sondern sogar eine entgegengesetzte Bedeutung jetzt haben als die einstige.

“Globalsteuern sind aufs Tiefste undemokratisch”: als wir Erklärungen wie diese hören – sie stammt von Ann

Veneman, Landwirtschaftsministerin der Vereinigten Staaten (sie war am 25 Oktober 2004 gegen einen Globalsteuer gegen Hunger in der dritten Welt gerichtet) – merken wir sofort daß hier ein ganz neuer Begriff von “Demokratie” im Spiel ist, mit dem wir (aber wahrscheinlich selbst die Wörterbücher) kaum vertraut sind.

Hier verstehen wir auch wie dringend die Befreiung dieses und anderen Wörter von der Zwangsjacke der geläufigen Parolen sei.

Die Befreiung der Wörter ist zu einer entscheidenden Aufgabe des kritischen Denkens geworden. Erst damit wird es möglich, von diesen Grundsteine des Diskurses zu den Gemeinplätzen und den Klischees überzugehen.

11. Ist es ein anderes System von Metaphern möglich?

Aber die Metaphern, die in einem bestimmten Zeitalter benutzt und zu „gesunder Menschenverstand“ werden, sind keine vereinzelte Metaphern, sondern Bestandteile eines komplexen System von Metaphern.

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Und, wie George Lakoff und Mark Johnson in ihrem grundsätzlichen Metaphern-Buch hervorgehoben: „es ist keineswegs einfach die Metaphern zu verändern, damit wir leben“.7

Lakoff hat später bemerkt: „Die Wahrheit soll, um angenommen zu sein, in den frames der Leute einbezogen werden“.8

Also, um die Wahrheit zu sagen, soll man das herrschende System von Metaphern durch ein anderes - von einem anderen Gesellschaftsbegriff geleitetes - System ersetzen. Ein anderer Begriff dessen, was unsere Gesellschaft ist, und dessen, was sie werden kann.

Ich nehme hier an, daß Karl Kraus Recht hatte, als er in seiner Dritten Walpurgisnacht schrieb „daß ja alles in der Welt geschah, weil in ihr zu wenig Vorstellung von der Welt war“.9

Selbstverständlich geht aber eine solche Aufgabe über die bloße ermeneutische und philosophische Diagnostik weit hinaus.

7 G. Lakoff - M. Johnson, Metaphors we live by [1980]; ital. Übers.: Metafora e vita quotidiana, Milano, Bompiani, 1998, pp. 179, 193. 8 G. Lakoff, Don’t think of an elephant! [2004]; ital. Übers.: Non pensare all’elefante!, Roma, Fusi Orari, 2006, p. 35. 9 K. Kraus, Dritte Walpurgisnacht [1933], Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1989, S. 22.