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,,INS HERZ GESCHRIEBEN''Die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates
Aufsátze und Diskussionsbeitráge aus Anlassder Internationalen Tagung am 10. Juni 2013
an der Katholischen lJniversítátPázmány Péter in Budapest
Herausgeber / Editors:Nadja Er BBuBInr - János EnoŐoy
PAZMANY PRESSBudapest 2Ot4
F?aI
STE I{HN Yil PtAM I
Íhs Brcja(l i' 5rlspert'd by lit EÚWpg n ljlnignsBd {s-lis*l\CPd t}i ths Éilíxp${d ${{iái 'l'r,ild'
The publication of the book is supported by the projectTÁMoP - 4.2 .2 lB -IO l 1-2OI0 - 00 14
(Supporting excellence at the PPCU)
Gutachter / Peer-reviewer:Zoltán TuncoNyI
OAuthors, Editors 2014@ Pázmány Péter Catholic UniversityFaculty of Law and Political Sciences,2014
ISSN 206r-'7240
ISBN 91 8 -9 63 -308 -1 84- 6
Published by PPCU Faculty of Law and Political Sciences1O88-Budapest, Szentkirályi utca 28.
www.jak.ppke,hu
Responsible publisher: Dr. András Zs. Vence
Printed and bound by
Komáromi Nyomda és Kiad Kft.www. komarominyomda. hu
,,NATIJR I]ND VERNIJNFT ALS DIE WAHRENRECHTSQUELLEN" AUS DER PERSPEKTIVE VON
JOSEPH RATZINGER/ BENEDIKT XVI.UND WOLFGANGWALDSTEIN
Nnnrn El BpHprnr
1. Einleitung
Papst Benedikt XVl. hat am 22. September 2011 vor dem Deutschen Bundestagriber die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates gesprochen. Die deutscheBundeskanzlerin Angela Merkel hat die Ansprache als Sternstunde cles
deutschen Parlaments bezeichnet. Der amerikanische Journalist John L. Allanhat sie unter die besten Reden des Pontifikats des deutschen Papstes eingeordnet.Allgemein scheint man sich dartiber einig zu sein, dass die Rede des Papsteswáhrend seines Deutschlandbesuches eine kleine Sensation darstellt.l Allanstellt sie in den Kontext mehrerer Ansprachen, die als Dialog mit westlichenMeinungsbildern konzipiert sind, wobei er die Ansprache des Papstes im Collégedes Bernardins in Paris und in der Westminster Hall in London nennt.2 Bei alldiesen Gelegenheiten hat sich der Papst um die ,'Verháltnisbestimmungvon.fidesund ratio, von Glaube untl Vernunft" bemtiht. Die Tatsache, dass cler RomischeOberhirte seine Ansprache vor dem Bundestag auch,,als Landsmann fgehaltenhat], der sich lebenslang seiner Herkunft verbunden weiB [...] "verleiht der Redezudem eine besondere Prágung. ln seinem Heinratland wollte er vielleicht aufbesondere Weise er selbst sein und so hat er Themenbereiche angesprochen, die
Gecrrg EsssN: Einleitung. In: Georg EsseN (Hg): Ve rjhssung ohnc Grund? Die Rede des Papstcsim Bundes'tag. Freibulg, Herder, 2012.7.
Johrr L. AluN Jn.: Three things we learned Íiom Benedict's Gernrarry trip. National CatholicReporter (http://nCronline.org Sep. 30, 20] 1)' Zu erwáhnen wáren in diesem Zusarnmenhangetwa noch die Vorlesung des Papstes in Regensburg und die Ansprache Benedikt XVl. vorden Verei nten Nationen.
28 Nadja El BsHstnt
ihm bereits seit vielen Jahrzehnten am Herzen liegen. Die spezifisch juristische
Gedankenfiihrung tibernimmt der Papst im deutschen Parlament aus einem Buchdes Salzburger Professors ftir Rornisches Recht Wolfgang Waldstein.
Die Wahl der Quelle war sicher nicht die Folge einer zufálligen Entscheidung.
Im Lebenslauf von Joseph Ratzinger und Wolfgattg Waldstein lassen sichzahlreiche Parallelen entdecken und es kann wohl gesagt werden, dass zwischen
den beiden Professoren eine geistige Verwandtschaft besteht. Beide gehoren zueiner Generation von Wissenschaftlern, die ihr Fach zur Zert des hoffnungsvollen
AuÍbruches nach dem zweiten Weltkrieg entscheidend mitgestaltet haben' Beide
haben versucht sich den Herausforderungen der Studentenrevolution von 1968
und der nachfolgenden bewegten Zeit durch Argumentation und Dialog zu stellen
und beide haben angesichts der enormen technischen Fortschritte der letzten
Jahrzehnte unermtidlich darauf hingewiesen, dass technische Errungenschaften
und ethische Verantwortung zusammen gehoren.3 Das Buch Waldsteins, aus dem
der Papst zitíert, kann als eirre Art Zusammetrfassung der wissenschaftlicherrArbeit des Professors fÍir Romisches Recht bezeichnet werden. Irn Hinblickauf die Arbeit Waldsteins mag es niitzlich sein, sich zwei Gegebenheiten vor
Augen zu halten. Zum einen gilt es zu beachten, dass Waldstein als Professor
ftir Romisches Recht von antiken Téxten ausgeht. Seine Erkenntnisse wollennicht in erster Linie eine ,,Naturrechtslehre" sein, sondern sind die Ergebnissejahrzehnter langer Bescháftigung mit den antiken Quellen. Zum anderen hat
Waldstein einen beachtlichen Teil seiner Arbeit an der Universitát Salzburgin stetigem Austausch mit einigen der wohl bedeutendsten deutschsprachigen
Romanisten der zweitetr Hálfte des zwanzigsterr Jahrhunclerts gewonnen. Zuden Fachkollegen Waldsteins gehoren etwa Wolfgang Kunkel, Theo Mayer-
lm Hinblick auf wichtige Lebensstationen von Benedikt XVl. bis zu seiner Ernennung zumErzbischof von Mrinchen uncl Freising vgl. Joseph Kardinal RnrztNcER: Aus nteinetn Leben.Mtinchen, Heyne, 2000. Sowie Joseph Kardinal R.qrztNcen: Salz der Erde. Christentttnt uncl
katholische Kircl'te im neuenJahrtausend. Ein Gesprcich mit Peter Seewal.d. Mi.inchen, Heyne,2004. Zu Wcrlfgang Waldstein vgl. jetzt Wolfgang Wnlosrr,tN'. Mein Leben, Erinnerungen.Illertissen, Media Maria, 2013. lm vorliegenden Zusamntenhang mag der Hinweis gentigen,
class Wolfgang Waldstein inr Jahre l968 Rektor der Universitát Salzburg war' im Jahre 1974 an
cler Ausarbeitung cles Antrags der Salzburger Landesregierung zur Authe bung jenes Gesetzesbetei|igt war, nrit denr in Österreich die sog. Fristenlosung eingefi.ihrt wurde und seit 1994
Mitglied der Pápstliclren Al<adenrie fi'ir das Leben ist' Bei einem Gespráolr mit ProfcssorWaldstein im Mai 2013 in Salzburg hat er erzáhlt, class der Papst ihm im Arrschluss an seitretr
Deutschlandbesuch das Manuskript der Rede mit clem handsolrriftlichen Vermerk ,,Mitherzlichem Dank und GruB" zugesandt hat. Eine Geste, die ein schones Beispiel fiir die tiefeMenschIichkeit von Benedikt XVI. darstellt.
,,Natur und Ver nurrft als die Wahren Rechtsquellen" aus cler Perspektive... 29
Maly, Franz Wieacker und nicht zuletzt Max Kaser.a Das ZieI der vorliegendenUntersuchung besteht darin, die von Benedikt XVI. im Bundestag von WolfgangWaldstein tibernommenen Aussagen im Kontext anderer Überlegungen des
Salzburger Professors darzustellen und so zu einem besseren Verstándnis derAnsprache beizutragen.
2. Die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates
Thematisch beschreibt der Papst seine Erorterungen im Bundestag als Vorlageeiniger ,,Gedanken riber die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates".
Diese Einfiihrung kann so verstanden werden, dass Benedikt XVI. gleich zuBeginn klarstellen mochte, dass er das demokratische Prinzip, nach dem sich die
Entscheidungsfindung im Bundestag zu richten hat, akzeptieren, ja sich zu eigen
machen will. Bemerkenswert ist, dass er im darauf folgenden Satz, mit dem er
die Geschichte des jungen Konigs Salonron einleitet, von ,,Überlegurrgen tiber die
Grund lage n des Rechts" spr icht und som it die B egri ffe,,frei he it l icher Rechtsstaat"
und ,,Recht" auf die gleiche Stufe stellt. Das Bekenntnis zu einer modernensákularen Rechtsordnung steht neben der christlich-jiidischen Tradition, die sichden Errungenschaften der griechischen Philosophie und des rornischen Rechtsangeschlossen hat. Jridisch-christlicher Glaube, griechische Philosophie undromisches Recht konnen vor einem modernen Gesetzgebungsorgan etne ganz
spezifische Sendung erftillen. Den drei Bereichen ist gemeinsam, dass sie nichtdrrrch Macht und Sanktiotren zuuberzeugen vermogen, ihre Stárke kann trur inder Autoritát ihrer Argurnente liegen. Einer Autoritát, die sich aus der Erfahrungvon i'iber 2000 Jahren und der Schli.issigkeit der Darlegungen Zu náhren vermag'5
Ebenso wie bei frtiheren Gelegenheiten hat Benedikt XVl. auch im Bundestag
zumAusdruck gebracht, dass er sich durchaus dessen bewusst ist, class man dem
Naturrecht weithin skepiisch gegentibersteht. In dern vielbeachteten Gespráchrnit Jtirgen Haberrnas im Januar 2004 etwa wollte Ratzinger sich ausdr{icklichnicht auf die Argumentationsfigur des Naturrechts sti.itzen. Im Bundestag spricht
der Papst davon, dass man sich beinahe schámen mtisse, das Wort auBerhalb des
' Vgl. dazu Nadja El BeHplnt: Wolfgang Waldstein: Ein wissenschaftliches Portrát im Diskursn'rit Kol legen und Dialclgpart nern. Páz nta n.y Law Rev iew, 20 13 l l. 2I l-z39.
s Es kann an dieser Stel|e an das bekannte Wort vcln Thecldclr Heuss anlássliolr einer Sr:httlfeiererinnert werden: ,,Es gibt drei Htigel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommellhat: Golgatha, die Akropolis in Athen, clas Capitol in Rom. Aus allen ist clas Abenclland geistiggewirkt, und man <iarf alle drei, man muB sie als Einheit sehen." Theodor Hr,uss: Reden an dieJugend. Ti.ibigen, Wunderl ich,1956. 32.
30 Nadja Er BsHsrnt
katholischen Raums Zu erwáhnen. Die Tatsache' dass es schwierig ist, sich inder offentlichen Diskussion auf das Naturrecht zu stritzen, ergibt sich - so der
Theologe Ratzinger - vor allern aus dem modern Naturbegriff, der wesentlich
durch empirische naturwissenschaftliche Erkenntnisse geprágt ist. Ein ftir den
Bereich der Gesetzgebung besonders maBgeblicher Vertreter eines solchenVerstándnisses von Natur war Hans Kelsen. Kelsen selbst hat bis ans Ende seines
Lebens in besonders intensiver Weise das Gesprách mit Vertretern des Naturrechts
gesucht.6Insofern ist es wohl auch durchaus im Sinne Kelsens gewesen, dass der
Papst zur Verdeutlichung des Spannungsfeldes zwischen Rechtspositivismus und
naturrechtlichem Denken auf seine Thesen zurtickgegriffen hat.
3. Die Lehre Hans Kelsens iiber den Dualismus von Sein undSollen
Kelsen hat den Begriff der Natur als ,,ein Aggregat von als Ursache und Wirkungm iteinander verbundenen Sei nstatsachen" bestimmt. Dam it im Zusammen han g
steht auch der ftir seine gesamte Lehre grundlegende Satz, dass zwischen Sein
und Sollen ein untiberbriickbarer Graben bestehe. Aus einem Sein konne niemals
ein Sollen folgen, weil es sich dabei um zwei vollig verschiedene Bereiche
handle. ,,Daraus, daB etwas ist, kann nicht folgen, daB etwas soll, daraus, daB
etwas soll kann nicht folgen, daB etwas ist. Aus der Wirklichkeit kann kein
Wert, aus dem Wert keine Wirklichkeit abgeleitet werden." In der ,,ReinenRechtslehre" verwendet Kelsen das Bild, dass aus cler Aussage ,,die Tiire wirdgeschlossen" nicht gefolgert werden kann, dass die Tiire geschlossen werden
soll.7 Der Untersclried zwischen Sein und Sollen - so Kelsen - kann ,,nicht náher
erklárt werden'', er ist, so formuliert der Rechtstheoretiker, ,'unserem BewuBtsein
unmittelbar gegeben".
Der Papst hat nun - gestiitzt auf die Aussagerl von Wolfgang Waldstein - die
Auffassung vertreten, dass Hans Kelsen die Lehre iiber den Dualismus von
Sein und Sollen im Alter von 84 Jahren aufgegeben hat. Dieser Aussage hat der
renommierte deutsche Professor Íiir Staatsrecht Horst Dreier widersprochen.
Im Vorfeld einer ansatzweisen Analyse der Frage mag sich der Hinweis lohnen,
dass Benedikt XVI. wenn er rneint, dass Kelsen die Lehre iiber den Dualismus
Vgl. etwa das Forsohungsgespráolr in Salzbu rg 1962, das l963 publiziert wurde. Franz-MartinScHtaÖlz(Hg): Das NaturrechtinderpolitischenTheorie.Wien'SpringerVer'lag, l963.
Hans KprspN'. Reine Rechtslehre. Wien, Franz Deuticke, 1961.6.
,,Natur und Vernunft als die Wahren Rechtsquellen" aus cler Perspektive... 31
von Sein und Sollen im hohen Alter modifiziert hat, nicht sagen wollte, dass
cler spáte Kelsen zu einem Anhárrger des Naturrechts geworden ist. Kelsenhat vielmehr im hohen Alter seine Naturrechtskritik auf andere Beine gestellt.
Gegen Ende der Ansprache sagt Benedikt XVI., dass Kelsen im Jahre 1965
meinte, dass er ein Naturrecht nur unter der Voraussetzung annehmen konnte,
dass dieses Recht aus dem Willen eines gerechten Schopfergottes kommenwrirde. Kelsen blieb bis zurn Schluss bei der Meinung, den Glauben an einen
solchen Gott nicht annehmen zu konnen, gegen Ende seines Lebens wurde diese
Ansicht konstitutiv fiir sein ganzes theoretisches Gebáude. Dabei war der groBe
osterreichischen Rechtstheoretiker der Meinung, dass es ,,vollig aussichtslos [sei],iiber die Wahrheit feines solchen] Glaubens zu diskutieren.s Mit einer solchen
Aussage konnte sich der Rornische Oberhirte wohl direkt angesprochen ftihlenund er reagiert, in einer ftir Joseph Ratzinger charakteristischen Weise, mit einer
Einladung zur Diskussion. In der Ansprache heiBt es: ,,Wirklich? - mochte ichfragen. Ist es wirklich sinnlos zu bedenken, ob die objektive Vernunft, die sichin der Natur zeigt, nicht eine schopferische Vernunft, einen Creator Spiritusvoraussetzt.
Die Kritik von Horst Dreier bezieht sich vor allem auf die Aussage, dass Kelsenvom Dualismus von Sein und Sollen abgegangen sein soll.9 Dreier ráumt ein, dass
Kelsen im hoherr Alter rroch Ánderurrgellan seitrer Rechtstheorie vorgenommenhat, diese sollen jedoch zu dem entgegengesetzten Ergebnis gefrihrt und den
Dualismus von Sein und Sollen ,yerschárft und zugespitzt'' haben.|'l Die vonKelsen Vorgenommen Ánderungen haben - so Dreier - einerseits die Theorie zur
sogenannten Grundnorm und andererseits den Satz betroffen, dass die ,,Regeln
Im Zusarnmenhang mit der durch die Bunclestagsrede angesprocl'rene Diskussron zumNaturrecht sind die Worte Kelsens zu seinem Vortrag in Salzburg bemerkenswert: ,,lchhabe lhre Einladtrng, in diesern Kreis von Anhángerrr der Naturrechtslehre tiber Naturrechtzu sprechen, nioht in der Absicht angenommen, Sie zu meincr Ansioht zu bekehren, daBmall von einem wissenschaftlich rationalen Standpunkt aus die Geltung eines Naturrechtsnioht annehmen kann. Denn eine solohe Bekehrung halte ioh nicht frir mclglioh; uncl zwaraus einem Grunde, der gerade daraus folgt wori.iber ich sprechen will. Die Grundlage derNaturrechtslehre, das ist die Antwort auf die Frage: unter welcher Voraussetzttng allein mandie Geltung eines ewigen, unveránderlichen' der Natttr inrmanenterr Reclrts annehmen kann;
so daB, wer wie ich - diese Voraussetzung nicht annehmen zu konnen glaubt, auch ihreKonsecluenz nicht annehrnen kann. Diese Voraussetzung ist, wie ich zu zeigen versuchenwerde, der Glaube an eine gereclrte Gottheit' deren Wille tÍer von ilrr gesclratlbnen Naturnicht nur transzendent, sondern auch irnmanent ist. Uber die Wal'rlheit dieses Glaubens zudiskutieren, ist v<lllig aussichtsl<ls''. KeLSEN ln; ScuvÖlz <lp.cit. l.
Horst DRsren: Die Rede des Papstes im Deutschen Buncle stag. J22011123. 1154.
Horst Dnr,rsn: Hier irrte der Papst - Kelsen blieb bei seiner Lehre. Frankftrter Allgenteine,03.il.2011.
a
l0
32 Nadja El Bsusrnr
der Logik (wie insbesondere der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch) sichnicht nur auf Aussagen tiber Sachverhalte, sondern auch auf Normen beziehenlieBen'''ll Diese Ánderungen seien aber nur,,Variationen seines Theoriedesigns,Deliktassen eher fiir juristische Feinschmecker" gewesen. r2
4. Die Aussagen Wolfgang Waldsteins zu der ,,ReinenRechtslehre"
Wolfgang Waldstein hat sich seit Beginn seiner akademischen Tátigkeit mehrfachmit der,,Reinen Rechtslehre" Kelsens auseinandergesetzt.r3 Besonders ausftihrlichtut er es in einer Untersuchung mit dem Titel ,,Entscheidungsgrundlagen derklassischen romischen Juristen" aus dem Jahr l916.In diesem Beitrag pflichtetWaldstein zunáchst der These Kelsens bei, dass die Aussage, dass etwas ist,dh. die Aussage mit der eine Seins-Tatsache beschrieben wird - wesentlichverschieden ist von der Aussage, daB etwas sein soll. Diese Feststellung háltWaldstein mit Kelsen fiir evident. Waldstein wtirde nun auch der oben zitiertenAussage Kelsens, dass aus der Tatsache, dass eine Tiir geschlossen wird, nichtabgeleitet werden kann, dass die Tr"'rr geschlossen werden soll, ohne Bedenkenzustimmen.
Nicht mehr einverstanden ist Waldstein mit der Ansicht Kelsens, dass
,,etwas sein soll" die Aussage ist ,,mit der eine Norm beschrieben wird". DieMeinung, dass das ,,Sollen'' eine Norm beschreibt, hált Waldstein fi'ir ungenauund ambivalent, denn er vertritt, dass ,,wenn man eine Norm beschreibt" [...]zunáchst die Frage nach ihrer Existenz, ihrer Geltung zu stellen [hat].'a Um beidem von Kelsen verwendetet Beispiel zu bleiben, so ist es die Eigenschaft der
,,Geltung", dio eine Aussage mit dem lnhalt ,,die Ttir soll geschlossen werden"zu einer Norm werden lásst. Die Geltung sagt ttns' ob eine Norm ,,ist", ob sieexistiert. In diesen Zusammenhang ist nun die erste Modifikation Kelsenseinzuordrrerr. Wáhrend der osterreichische Rechtstheoretiker noch l960 in
DRprEn op. cit. I152.
DRpreR op. cit. I 152.
Vgl. etwa seine Antrittsvorlesung an cler Universitát Salzburg an25. Jánner l966. Ersclrier'rerrunter denr Titel: Woltgang Wnlostr,n'. Vorpositive Ordnttngselentettte int R mischen Recht.Salzburg-Mtinchen, Pustet, 1967. 1 5.
Wolfgang WnLosrErN: Entscheidungsgruncllagen cler klassischen romischen Juristen. In:Hildegard TBvponrNr - Wolfgang Hnase (Hg): AuJitieg und Niedergang cler r ntischen Welt'.
Berlin New York, Waltel de Gluyter', 1976. 13.
z
,,Natur und Vernunft als die Wahren Rechtsquellen" aus der Perspektive... JJ
der zweiten Auflage der ,,Reinen Rechtslehre" vertreten hat, dass eine Normaufgrund derer ein,,Sollen" formuliert wird, nicht zum Bereich cles Seins gehcire,
so spricht er sicl'r in dem 1965 erschienen Beitrag ,,Recht und Logik" eindeutigdafi.ir aus, dass Normen existieren. Aus der Annahme, dass Normen existierenfolgt ftir Kelsen weiter, dass die Regeln der Logik - anders als er frtiher vertreten
hat - auf Normen keine Anwendung finden. Laut Kelsens neuer Lehre, sindNormen immer der Sinn von Willensakten und diese konnen nicht durch logische
Operationen geordnet werden. Normen - so argumentiert der Rechtstheoretiker -sind immer Willensakte und die Regeln der Logik konnen nur auf Denkakteangewandt werden.t5 Der grundsátzliche Unterschied zwischen Denkakten und
Willensakten besteht darin, dass Denkakte wahr oder unwahr sein konnen. Obeine Aussage wahr oder unwahr ist, ist eine Frage der n'rateriellen Wissenschaft.'o
Die Beispiele, die Kelsen frir Denkakte anfiihrt, beschreiben bis auf die Aussage
,,Gott existiert" empirisch nachweisbare Gegebenheiten. Ein Denkakt ist etwa
die Aussage,,alle Menschen sind sterblich" oder die Feststellung, dass ,,die Erdezu einem bestimrntenZeitpunkt in einer bestimrnten Entf-ernung von der Sonne
ist" oder auch die Aussagen Newtons i.iber die Gravitation.t? All diese Aussagen
statuieren kein Sollen, keine Norrn, sondern beschreiben eine Wirklichkeit.Was nun Normen betrifft, so begreift der spáte Kelsen sie als Sinn eines
Willensaktes, woraus er folgert, dass es auch zu Normenkonflikteu kommenkann. Kelsen vergleicht einen solchen Konflikt ,,mit zwei in entgegengesetzter
Richtung auf denselben Punkt wirkenden Kráfte'', oder- anschaulicher- mit zweigegeneinander fahrendetZ;jrgen.rs Vor allem das Beispiel des ZusammenstoBes
vonZt\genzeigt, dass Kelsen den Normen nun ein sehr intensive s Sein zubilligt.Willensakte und darnit Normen konnen als solche - so Kelsen - weder wahr noch
unwahr sein. Sie gelten und das heiBt, ,,dass sie befolgt werden sollen".re Es ist nun
aber denkbar, dass sogar ein und derselbe Gesetzgeber Normen verschiedenen
Inhalts erlásst. Der dadurch entstehende Konflikt kann clurch die Anwendungder logischen Prinzipien genauso wenig gelost werden, wie der ZusammenstoBvon zwei Zigen irn Wege der Logik verhindert werden kann. Ausgelrend von der
WnrosrErN (1916) op. oit. 20 t.
Kelsen schreibt: ,,DaB es nicht die Logik, sondern die materielle Wissenschatt ist, die feststellt,ob eine Aussage wahr oder unwahr ist, versteht sich von selbst". Hans Kpt-spx: Recht und Logik.In: Hans R. Klucnrsry - Rcné M,qnctc - Herbert ScHevnncr Die l|iener Recht'shistori,scheSchule. Stuttgart, Franz Steiner, 2010. 1202.
KsrseN (2010) op. cit. 1202 1204.
WRrosrErn (1976) op. cit.22.
KplspN (2010) op. cit.22.
7
IJ
9
34 Nadja Er BEHBInt
These, dass Normen immer aus Willensakten hervorgehen tiberarbeitet Kelsens
auch seine Theorie der Grundnorm. Bei eirrem Gesprách in Salzburg 1962 sagt
er: "Ich habe in meinen frtiheren Schriften von Normen gesprochen, die nicht der
Sinn von Willensakten sind. Meine ganze Lehre von der Grundnorm habe ich
dargestellt als eine Norm, die nicht der Sinn eines Willensaktes ist, sondern die
im Denken voralrsgesetzt wird. [...] Ich habe sie aufgegeben in der Erkenntnis,daB ein Sollen das Korrelat eines Wollens sein muss. Meine Grundnorrn ist
eine fiktive Norm, die einen fiktiven Willensakt voraussetzt, der diese Normsetzt".20 Dass Kelsen seine Ansicht i.iber die Anwendung der Regeln der Logikund seine Theorie zur Grundnorm geándert hat, wird auch von Dreier akzeptiert.
Der deutsche Professor fiir Staatsrecht versteht die von Kelsen an seiner Lehre
vorgenomfflene Ánderung in dern Sinn' dass die Regeln der Logik nun nur noch
fi.ir den Seins- nicht aber ftir den Sollensbereich gelten sollen. Dadurch soll Kelsen
das vormals bestehende ,,gemeinsame Dach" abgebrochen haben und so den
Drralismus zwischen Sein und Sollen noch verstárkt haberr. Diese Argumentatiorr
wirkt schltissig. Sie gilt jedoch unter der Voraussetzung, dass das Sollen der
Normen dem Sein gegeniibersteht. Die Argumentationslinie von Waldstein und
Benedikt XVl. lautet nun, dass Kelsen das Schema Sein und Sollen verlassen,
eben,,aufgegeben" hat. Kelsen argumentiert in seinen spáten Jahren in anderen
Kategorien. An die Stelle des Dualismus von Sein und Sollen, tritt der Gegensatz
zwischen Denk- und Willensakten. Die Kategorie der Denkakte wird von Kelsen
ausschlieBlich - wie die Beispiele iiber die Entfernung der Sonne zLLr Erde und
zur Gravitation zeigen- als Ergebnis einer positivistischen Vernunft formuliert.
Der Papst ládt nun ein, der menschlichen Vernunft mehr zuzuÍrauen und sich
der Wirklichkeit irr ihrer umfassenden Dimension zu offnerr. Er schlágt vor,
,,die Fenster aufzureiBen, urn wieder die Weite der Welt, den Himmel und die
Erde (zu) sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.'zr Akzeptiert man nun
aber die Fáhigkeit der Vernunft zur Erkenntnis auch nicht empirisch belegbarer
Gegebenheit, so stellt sich auch die Naturrechtsfrage uuter andereu Vorzeichen.
Hans KElssN: Die Grundlage der Naturrechtslehre.
Bunciestagsrede.
In: ScgvÓlz (Hrsg., l963) op. cit.z0
2t
,,Natur und Vernunft als die Wahlen Rechtsquellen" aus der Perspektive... 35
5. Anfragen von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. an dasNaturrecht
ln dem bereits erwálrnten Disput mit Jiirgen Habermas hat Joseph Ratzingerkurzvor seiner Wahl zum romischen Oberhirten im Jahr 2004 die Beschreibung des
Naturrechts durch den romischen Juristen Ulpian, wonach unter Naturrecht jenes
Recht [zu verstehen ist], das die Natur alle Lebewesen gelehrt hat, als einzigenach dem ,,Sieg der Evolutionstheorie" noch iibrig gebliebene Dimension des
Naturrechtsbegriffos" bezeichnet' Der Práfekt sagte bei dem Vortrag, dass er
sich nicht auf das Naturrecht stiitzen wolle, da ,,die Idee des Naturrechts einenBegriff von Natur voraus[setztf, in dem Natur und Vemunft ineinander greifen,
die Natur selbst verntinftig ist.22 In der FuBnote der Druckversion des Beitrageserláutert Ratzinger, dass er unter dem von Ulpian verwendeten Begriff natura die
,,Gerichtetheit der Menschen und Tieren gemeinsamen Natur" versteht. Damitbezieht sich Joseph Ratzinger aufjenen Aspekt des Naturrechts, den er als PapstBenedikt XVI. in der Bundestagsrede durch den Begriff objektive Vernunftfassen mochte. Das durch die Evolutionstheorie aufgeworfone Problem besteht
nun darin, dass diesem objektiven Bereich der Natur Verntinftigkeit fehlen sollund sie somit als Entscheidungsgrundlage nicht fmehr] in Betracht kommt.
In seiner Zeit a\s Erzbischof von Mrinchen hat sich Joseph Ratzinger wiederholtmit dem hier angesprochenen Fragenkomplex auseinandergesetzt. Als Theologehat er dies unter der Perspektive der Schopfung getan. Als Práfekt hat er spáter
sogar von einem ,,Notstand des Schopfungsthemas" gesprochen.23 Das groBe
Defrztt einer als philosophia universalis verstandenen Evolutionslehre liegtgernáB der damals formulierten Auffassung darin, dass diese die Erklárung des
Wirklichen ausschlieBlich im Bereich des naturwissenschaftlich Erforschbarensucht und damit die Vernunft und das Verntinftige ausschlieBt.2'Das christlicheim Schopfungsglauben grundgelegte Weltbild geht nun davon aus, class dieWelt Vernunft in sich trágt. Eine Vernurrft, die rricht als rein mathematische,
naturwissenschaftliche Vernunft, sondern als metaphysische Vernunft verstanden
wird. Diesem Aspekt der Vernunft mochte sich der Papst im Bundestag unter
der Bezeichnung ',subjektive Vernunft" náhern. Die Formulierung' die BenediktXVI. im Hinblick auf ein Naturrecht verwendet, das eine Hilfestellung ftir die
22 Joseph Karclinal RnrzrNC;ER: Werte in Zeiten des Umbrttchs. Freiburg, Herder, 2005.35.23 Jcrseph KardinalRnrzrNc;en: Im AnJang schuf Gott. Freiburg, Johannes, 2005.9.?4 Christ<lph Kardinal Sc't tÖNsoRN: Vorwclrt. In: Steplran otto IJonN SDS - Siegfriecl WtpopNltor'gR
(Hrsg.): Sch pfi.rng und Evolution. Eine Tagung mit Pap,st Beneclikt XVI. in Ca:stel CanclolJo.Augsburg, St. Ulrich, 19.
36 Nadja El BeHErnl
Erkenntnis dessen sein soll, was recht ist, stellt den ,,Zusammenklang vonobjektiver und subjektiver Vernunft [hervor], der freilich das Gegriindetseinbeider Spháren in der sclropferischen Vernunft Gottes voraussetzt"2s. Dass derPapst bei der Besclrreibung des Verháltnisses von objektiver und subjektiverNatur von einem Zusammenklang spricht, also an die Harmonie gelungenerMusik erinnert, ist sicherlich beabsichtigt. Die Schonheit der Musik, dieSchonheit der Kunst iiberhaupt stellt fiir Joseph Ratzinger eine ganzunmittelbareEinsicht in die Wahrheit dar. Die Erfahrung dieser Harrnonie ist jeder Artvon logischer Deduktion an Unmittelbarkeit und lntensitát weit riberlegen.Genauso wie ein intensives Musikerlebnis zur Frage nach dem Ursprung dieserSchonheit fiihrt, legt das harmonische Zusammenspiel zwischen objektiverund subjektiver Vernunft die Frage nach dem Ursprung dieser Harmonie nahe.
Bei der Beantwortung der Frage, was recht ist, mag es hilfreich sein, sich dieErfahrung von Schonheit in Schopt-ung und Kunst vor Augen zu halten. Derkonkrete Weg zur Erkenntnis des Rechts ftihrt in der Bundestagsrede iiber dietatsáchliche Erfahrung der europáischen Rechtsentwicklung der letzten zwejJahrtausende. Die christlichen Theologen haben sich - so der Papst - ,,einerphilosophischen und juristischen Bewegung angeschlossen [haben], clie sichseit dem 2. Jahrhundert v. Chr. gebildet hatte.26 In der Abfolge der Gedanken,mit denen Benedikt XVI. seine Ausfrihrungen zumNaturrecht einleitet, fi.nden
sich noch zwei wesentliche Elernente. Ztm einen geht es dem Papst um die
,,Grundfragen des Rechts, in denen es um die Wiirde des Menschen und der
Menschheit geht", es geht daher nicht um das Finden von konkreten Losungen,sondern um die Herausarbeitung von Grundlagen, die bei der Erarbeitung vonLosungsmodellen eine Richtlinie und Hilfestellung bieten konnen. Zum anderen
spricht Benedilct XVl. die Evidenz der Erfahrung von Unrecht an. Diese Evide nzgilt gleichermaBen fi.ir die antike und frir die moderne Welt. Der Papst bringtclas Exempel der Christen, die sich gegen gottlose Gesetze der Skyten wehren
und das Beispiel der Widerstandskárnpfer gegen das Naziregim und gegen
andere totalitáre Regime. Die Erkenntnis, dass geltendes Recht irr WirklichkeitUnrecht war, war ftir die Widerstandskámpfer - so formuliert Benedikt XVl.im Bundestag - ,,unbestreitbar evident."27
Bunctestagsrede.
Bundestagsrede.
Bundestagsrede.
25
26
21
,,Natur und Vernunft als die Wahren Rechtsquellen" aus der Pelspektive... 37
6. Das Naturrechtsverstándnis von Wolfgang Waldstein
6. 1. Unmittelba re Einsicht als Erkenntni,sform
Die von Benedikt XVI. im Bundestag angefrihrten Beispiele beziehen sichauf die Evidenz von lJnrecht. Die Erfahrung von lJnrecht ist fiir Betroffeneoftmals direkter und intensiver als die Erfahrung von Recht. Diese unmittelbareEinsicht rechtfertigt in weiterer Folge den - gegebenenfalls organisierten -
Widerstand gegen die bestehende Ordnung. Wolfoang Waldstein spricht indiesem Zusammenhang von Erkenntnis im Wege der Intuition. Waldsteinhat seine Aussagen zur Erkenntnis von Naturrecht auf der Grundlage der
erkenntnistheoretischen Ausftihrungen von antiken Autoren - vor allemAristoteles und Cicero - gewonnen' Eine empirisclre Bestátigung seiner Thesen
hat Waldstein in einer Arbeit von Max Kaser ,,Zur Methode der romischen
Rechtsfindung" gefunden. Die Abhandlung Kasers ist erstmals im Jahr 1962
als Frucht einer mehr als dreiBigjáhrigen Bescháftigung rnit den Quellen des
romischen Rechts entstanden. Der groBe Meister des romischen Rechts kommt
in der Untersuchung zu dem Ergebnis, dass bei der Entscheidungsgewinnung der
romischen Juristen nicht die rationalen Methoden der Induktion und Deduktion,
sondern die Intuition irn Vordergrund standen. Die Intuition wird dabei als ein
,,unrnittelbares Erfassen fverstanden], das des rationalen Argumentierens nicht
bedarf".2s Aus den Arbeiten von Kaser und Waldstein geht hervor, dass sich
die beiden Autoren dessen bewusst waren, dass moderne Juristen mit auf der
Grundlage der Intuition gefundenen Entscheidungen die Gefahr der Unklarheit,
Unbestimrnbarkeit und der rnangelnden Rechtssicherheit in Verbindung bringen.
ln Rom versuchte man dieser GeÍ-ahr im Vorfeld zu begegnen. Das Vertrauen,
das die Romer in die Fáhigkeit des nrenschlichen Geistes zur Erkenntnisvon Gut und Bose und konkret in die Fáhigkeit der Juristen zur Erkenntnisdessen setzten, was recht ist' wurde durch die Anforderungen begrtindet, die
an die Person der Juristen gestellt wurden. Bemerkenswert ist, dass Kaser in
diesem Zusammenhang auf der emotionalen Seite die Freude an Harmonie und
Schonheit nennt.2e Gleichzeitig war den Romern ein Wirklichkeitssinn eigen,
der dazu ftihrte, dass ihre Losungen der Natur der Dinge und damit der inneren
Gesetzlichkeit der behandelten Materie entsprachen. Ein wesentliches Merkmal
28 Naclja El BgHElnt: Wolfgang Walctstein: Ein wissensolraftliches P<lrtrát. P zmány Law Review,z0t3lr.2r9.
2e Max Kespu Zur Methode der romischen Rechtsfindung. ln: Max Knsnn: Att.sgewcihlteSchr iJte n. Canrerirro, Univeristá cli G iurispruderrza, l97 6. Anm. 32'
38 Nadja El BEHErnr
der romischen Juristen war der Lm mos marcrum zum Ausdruck kommendeTraditiorralismus. Zum mos maiorum gehorte das bewáhrte Herkommen derVáter, das Herkofflmen seinerseits wurde auch durch religiose Vorschriftengetragen. An Juristen wurden im Hinblick auf gesellschaftliche Stellung undperscinliche Autoritát qualifizierte Anforderungen gestellt, die sich in einemhohen Standesbewusstsein niederschlugen, das zur allgemeinen Praxis gefiihrthat, dass die Juristen bei ihrerr Ausfiihrungen gerne auf áltere FachkollegenBezug genommen haben.30 Die von Kaser aufgrund der Auseinandersetzungmit den romischen Quellen gewonnen Erkenntnisse werden bei Waldsteindurch philosophisch-theoretische Studien ergánzt. Waldstein geht bei seinenÜberlegungen von dem Terminus oio$r1otg bei Aristoteles aus. Dieser Begriffentspricht derselben Realitát' auf die sich auclr der Ausdruck Intuition bezieht.Aristoteles beschreibt den Begriff als ,,Schau der Wahrheit". Diese Schau der
Wahrheit bezieht sich auf die Grundgegebenheiten - o,p1ui - einer Sache. Das aufdas Erfassen der Wesenseigenschaften ausgerichtete Vermogen des Menschennennt Aristoteles vo q - intuitiven Verstand. Was nun die Beziehung zwischenErkenntnis und Erkenntnisvermogen betrifft, schopft Waldstein aus den
philosophischen Arbeiten von Dietrich von Hildebrand.3' Erkenntnis ist - gemáB
von Hildebrand - wesentlich durch eine Subjekt-Objekt-Struktur bestimmt.Der Akt der Erkenntnis hat eine rezeptive den eigenen Akt transzendierende
Grundstruktur. Aus der Perspektive der romischen Juristen betont Waldstein,dass diese das ius naturale nicI'ft aus ,,irgendwelchen Pránrissen" abgeleitet
haben. Die groBen Rechtslehrer Roms ,,gehen vielmehr von der Einsicht invorgegebene Normen selbst aus, die als solche einsichtig sind und bei gewissenSachbezrigen zrr Anwendung zu kommen haben". Diese Normen gehen tiber
die Natur von Sachen, die Natur des Menschen und auch tiber die Natur von
rechtlichen Gebilden hinaus. Die so gewonnenen Vorschriften stehen mit,,diesenGegebenheiten insofern in Beziehung, als der menschliche Verstand durch die
spezifischen Sinnstrukturen nattirlicher Gegebenheiten auf jene normativeOrdnung verwiesen wird, die aber ihrerseits mit ihnen nicht verwechselt werden
darf".32
ro KnsEn (1976) op. cit. 56-58.
'' Vgf.Er Beusrnr (2013) op. cit. 221229.i2 WnrosrprN (1976) op. cit. 100.
,,Natur und Vernunft als die Wahren Rechtsquellen" aus cler Pelspektive... 39
6.2. Recta ratio im Sinne einer Naturuechtsordnung
Ein wesentlicher Terminus im Zusammenhang mit dern Naturrechtsverstándnisin der Antike ist jener der recta ratio. Der Begriff wird von Cicero anzahlreichenStellen im Hinblick auf das Natr,rrrecht verwendet. Einigen dieser Stellen hatWaldstein eine besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Im Zentrtm derErcirterungen steht ein Text aus De republica (3,33). An dieser Stelle beschreibtCicero das wahre Gesetz - ver lex - als recta ratio naturae congruens, das aufalle verteilt ist' bestándig und ewig. Es ruft zur Pflicht und verbietet den Betrug.Max Kaser hat darauf hingewiesen, dass der Terminus lex vom griechischenv poq beinflusst ist, sich an den romischen Begriff lex publica anlehnt und die
stárkste Art der Nornrbindung bezeiclrnet.33
In seiner Antrittsvorlesung im Jahre 1966 ribersetzt Waldstein die Stelle wiefolgt: Das wahre Gesetz ist die richtige, mit der Natur in Einklang stehende(also nicht arrs ihr folgende) ordrrung, [.'.]".'o Arr dieser Übersetzultg sind vorallem zwei Elemente bemerkenswert. Wichtig ist der Hinweis in der Klatnrner,dass das wahre Gesetz als eine mit der Natur in Einklang stehende und nichtaus ihr folgende Ordnung zu verstehen ist. Diese Formulierung ist deshalbgruncllegend, weil sie ein deutlicher Beleg dafiir ist, dass - gemáB der AuffassungWaldsteins - die als Naturrechtsordnung verstandene ratio, um dereu Erfassenes ihrn geht, gerade nicht irn Sinne eines logischen Schlusses abzuleiten ist. Aufder anderen Seite iibersetzt Waldstein den Terminus recta rcttio mit ,,richtigerordnung". An der Überzeugung' zu der er,,nach eingehenclen Untersuchungen"bereits damals gelangt war, hat der Salzburger Professor tiber die Jahrzehnte
hinweg festgehalten. Fiir Waldstein gibt der Begriff rectct ratio den stoischen
Terminus orthos logos wieder. Der stoische Begriff steht einerseits fiir eine allesdurchdringende mit einer immanenten Gottheit identischen Weltvernunft. DieGottheit auf der anderen Seite stellt die Natur schlechthin dar.rs
Dem Menschen kommt irr der Natur' insbesondere auch im Verháltnis zu den
anderen Lebewesen eine besondere Stellungzlu. Diese Erkenntnis war auch ftirdie antiken Philosophen grundlegend. Waldstein hat in diesem Zusammenhangauf eine Stelle bei Cicero in De officiis hingewiesen, wo der romische Staatsmann
sagt, dass ,,homo atttern, quod rationis est particeps, per qLtam conseqr.tentia
Max Krrssn: Ius gentiun. Kciln-Weimar-Wien, BcthlaLr. 1993. 55, Anm.211.
WnrosrErN (1967) op. cit. 15. Vgl. Cic. De rep.3,33:,,Est quidenr vera lex ratio nat'uraecongruens, diJJusa in omne.s, con,stan,s, .sentpiterna, quae vocet ad fficium iubendo, t'etandoa Jraude deterreat [...J".Vgl. Wolfgang WnlosrnN: Saggi sul diritto non scritto. Paclova, Cedant, 2003.76, Anm. 17.
3-3
34
40 Nadja El Bpuernt
cernit [...]".,u Diesen Text legt der Professor ftir Rcimisches Recht im Lichte der
Definition der lex naturalis des Hl. Thomas vorl Aquin aus. Die bekannte Stelleder Summa Theologica lautet'. ,,lex naturalis nihil alitrs est qttam participatiolegis aeternae in rationali creatLtra".3l Thomas definiert dre lex naturalis alsTeilhabe der vernunftbegabten Kreatur am ewigen Gesetz. Diese Teilhabeerfolgt dabei in zweifacher Weise. Das Gesetz als Regel und MaBstab kannsich in einem Seienden ,,sicrrt in regulante et mensrJronte" oder auch ,,sicut inregulato et mensurato" befinden. Im ersten Fall handelt es sich urn ein passives
Geordnetsein, im zweiten Fall spricht Thomas von einer aktiven Teilhabe der
Vernunft, die die natiirlichen Neigungen des Menschen auf das Gute hin ordnet.
Nur diese zweite Art cler Teilhabe ist fiir Thomas lex nahtralis - natiirliches
Gesetz.Waldstein schlieBt sich also grundsátz|ich der thornistisclren Lehre zur lex
naturalis an, anhand der Bescháftigung mit den antiken Quellen kommt erjedoch zu der Schlussfolgerung, dass ratio eine vorgegebene Ordnung bedeutet,
dre der Mensch rnit seiner Vernunft erfassen kann. Der Begriff der Natur bei
Waldstein ist denkbar weit gefasst' ln diesern Sinn sucht er bei der Ü bersetzung
des Begr rffes natura rn den antiken Quellen nach Ausdrticken, die auf Weite
und einen allumfassenden Charakter hindeuten. Dies zergt sich etwa bei der
Wendung ratio profecta a rerum natura in De leg. 2,10, die der Professor fiirRomisches Recht mit,,aus derNatur des Universurns hervorgegangene Ordnung"ins Deutsche ribertrágt'3s
In De legibus I,l8 schreibt CiceÍo'. ''Lex est ratio SuruIna insita in natura,
quae iubet ea, quaefacienda sLrnt, prohibetque contrariA". Kaser bezieht cliese
Stelle eindeutig auf die menschliche Vernunft. Er schreibt irn Hinblick aufdie vorliegende Cicero-Stelle: ,,Sie [die lex naturae) ist die den Menschen von
Natur aus angeborene hochste Vernunft, die ihnen gebietet, was sie zu tun,und verbietet, was sie zu unterlassen haben.3e Waldstein liest diesen Text in
Cic. De off. l, II Honto autent, quod rationi.s est particpe.\, per quom con.sequer ia cernit,cousas rerum videt, earumque praegresslls eÍ quosi antec:essioneS non ignoraÍ, similitudinescomporat rebusque prae.sentibus adiungit atque adnectitfuhtas, "facile totiu,s v,itae cur,sum
videt ad eamque degendam praeparat res nec'es'sariQs'.
Thonras vor AeutN: Summa Th.l-ll q.91,2.
Woltgang WelostrtN: Irts Herz geschrieben. Das NaÍurt'echt als Fttndament einer menschlichenGescllschaJi. Augsburg, St. Ulrich, 2010. 107. Auoh in cliesem Zusarntnenhang schreibt Cicero,dass anr Antarrg und am Errde des Gesetzes cÍer Geist Gottes stelrt. Cic. De leg' 2. I0: Erut enimratio pro/bcta a renttt'l natu'ra' el ad recta.faciendum inpellens eÍ a delicto avocarrs, quae non.
tum denique incipit lex e.sse, cum scripta e,st, sed tunt, cunt orta est; orta autem est.timttl cunt
mente divina.
Knsen (1993) op. cit. 55.
31
JE
,,Natur und VernunÍt als clie Walrren Rechtsquellen" aus cler Perspektive'.. 4T
Zusammenhang mit De legibus I,42. Crcero sagt dort: "est enitn unum ius, qtto
devicta est hominum societas, et quod lex constitnit una: quae lex est recta
ratio irnperandi atque prohibendi [...J".0' Wolfgang Waldstein stiitzt sich auf die
Übersetzung von Bi.ichner will jedoch auch hier recta ratio mit rechter ordnungwiedergeben: ,,Es gibt námlich ein einziges Recht, durch das die Gemeinschaftder Menschen gebr-rnden ist und das ein einziges Gesetz begriindet, ein Gesetz,
welches die richtige Vernunft (eher Ordnung) irn Befehlen und Verbieten ist.ar
In all diesen Texten geht es urn die Formulieren von Gesetzen, die Frage nach
guten oder schlechten Gesetzen stellt sich jedoch nur ftir den Bereich des
Menschlichen. Die Qualitát eines Gesetzes soll naturae norlna autgrund der
ordnung der Natur entschieden werden. Dem Menscherr ist die Fáhigkeit eigen,
diese ordnung zu erkennen. Diese Fáhigkeit nennt Cicero communis intellegentict,
was - so Waldstein - vo g bei Aristoteles entspricht. Ztsammenfassend kann an
dieser Stelle festgehalten werden, dass Waldstein anhand der Auslegung jener
antiken Quellen, die das Zusammenspiel von ratio und nahra erortern, zu dem
Ergebnis gekomrnen ist, dass es in der Natur eine Ordnung gibt, die der Mensch
durch seinen Verstand irn Wege der lntuition erkennen kann. Diese Ordnung
kann einerseits im Menschen selbst, andererseits aber auch in der WirklichkeitauBerhalb des Menschen grundgelegt sein. Der menschliche Verstand ist
wesenhaft zur Erkerrntnis dieser ordnung befáhigt. Es stellt sich noch die Frage,
welche Stellung Gott von den antiken Quellen zugewiesen wird.
In dem Ausgangstext De re publica 3,33 sagt Cicero: ,,Gott allein, der Herr
und Meister, der Beherrscher aller, ist sein fdes Gesetzes] Erfinder, er der Deuter,
er allein der Schiedsrichter. Wer ihm nicht gehorcht, der flieht vor sich selbst,
verleugnet die Menschennatur, wird um deswillen bitter btiÍJerr nri'issen' auch
wenn er den Strafen entgehen sollte, die rnan gen-reinhin ftir solche ansieht".
In diesem Text ist die Rolle des - im Singular stehenden Gottes - im Hinblickauf das Gesetz eine umfassencle. Im lateinischen Text stehen die Begriffemagister, irnperator, inventor, disceptcttor, lator. Gott fungiert als Lehrer,
aber er ist auch ein rnit hoclrster Machtbefugrris ausgestatteter Arntstráger. Er
erfindet das Gesetz, Iegt es aus und wendet es an.a2 Bemerkenswert in diesem
Text ist aber auch die Aussage, dass wer dem Gesetz nicht gehorcht, die Natur
des Menschen verleugnet. Die in dieser Stelle enthaltene Aussage kanu nun
Cic. De leg. 1.42.
Wolfgang WnlosrlrN: Zur juristischen Relevanz der Gerechtigkeit bei Aristoteles, Ciceround Ulpian. ln: Margaretlre Becr-MnNNACETTA - Helmut BÖrrv - Georg Gnen (Hg)'. DerG e rec ht i gke i ts an s p ruc h de s Re c: h/s. Wien-New York, S pri nger, 199 6. 55.
Cic. De rep. 3, 33.
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42 Nadja El BBHstnl
dahingehend ausgelegt werden, dass der Mensch auch ohne auf Gott Rekursnehmen zu mtissen, in der Lage ist, die Ordnung der Natur zu erkennen. Einevollige Autonomie des Menschen von Gott ist aber letztlich doch nicht mitdem naturrechtlichen Denken vereinbar' Stellt sich der Mensclr námlich dieFrage, ob er der von ihm erkannten Ordnung nun zu folgen hat, dann ist die
Bezugnahme auf Gott schlussendlich doch ein starkes Argument. Dies hat wohlauch Benedikt XVI. gemeint, wenn er sich am Ende seiner Rede im Bundestagauf den Schopfergott bezogen hat. Er tut dies unter dem Hinweis, dass der Glaubean Gott, das kulturelle Erbe Europas auch auf juristischer Ebene geprágt hat.
Wortlich sagt er: ,Von der Überzeugung eines Schopfergottes her ist die Idee
der Menschenrechte, die Iclee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht,die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwiirde in jedem einzelnenMenschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen fiir ihr Handeln
entwickelt worden. In diesenr Sinne kann die Rede des Papstes als Pládoyer fiireine kreative Zuordnung von Natur, Vernunft und Glaube verstanden werden.al
6.3. Das Recht, sich gegen Unrecht zur Wehr ztt setzen
Unter den zahlreichen Beispielen zu einem Naturrecht bei den romischen Juristen,
die sich bei Waldstein finden, kann ein Text herausgellommen werden, der sich
insofern gut in den Zusammenhang der Burrdestagsrede einordnen lásst' als er
festlegt, dass der Mensch sich gegen Gewalt und Unrecht zur Wehr setzen darfund so in der Náhe des vom Papst angesprochenen Wiclerstandsrechts angesiedelt
werden kann. Der Text geht auf den romischen Juristen Florentinus zuriick.Die Stelle lautet ir'r der deutscherr Übersetzurtg: .. ':"Denn nach diesern Recht
wird alles, was lnan zum Sclrutz seiner Person tut' als rechtrrráBig angesehen.
Und da die Natur unter uns so etwas wie eine Verwandtschaft begrundethat, folgt daraus, daB es frevelhaft ist, wenn ein Mensch dem ancleren nach
dem Leben trachtet." Der Ausdruck ,,dieses Recht" bezieht sich auf das imvorhergehenden Fragment angesprochenen ius gentiutn, zrr dem Ulpian sagt,
dass es im Unterschied zum ius naturale als jenes Recht anzusehen ist, das nur
,,den Menschen untereinancler gemeinsam ist.'qa Auch hier ist es die Bezugnahme
Christoph Oulv: ,,Wie erkennt man, was reoht ist?" Zur Perspektive eincr politischenSternstunde. ln: Michaela Cl-rristine H,qsrnrrrn - Helnut Hopu.tc (Hg ): Ein h hrencles Herz,HinJtihrung zur Theologie und SpiritLtalitrit von Joseph Ratzinger'/Bencdikt XZL Regensburg,Pustet,20lZ.lrc.Ulpian D. l.l.l.4: Iu:; gentium e.\'t, quo gente.\ humanae utuntur. cluocl a naturali recedereJacileinÍellegere lic:et, quict illud omnibus animalibus, lloc: solis hominibu's inter Se c:otnmune sit.
,,Natur und Vernunft als die Wahren Rechtsquellen" aus der Perspektive.. 43
auf die Rechtsordnung, die klarstellt, dass die Stelle des Florentinus in den dem
Menschen spezifischen Bereich derNatur einzuordnen ist. Waldstein komme ntiert
diese Stelle folgendermaBen: Ein feindseliger Angriff auf einen Menschen wirdaIs nefas erkannt' Wer derartiges tut, verláBt die Grundlagen der menschlichen
Gemeinschaft. Daher darf sich auch jeder gegen einen solchen Angrtff zur Wehr
setzerr. ,,[...] Sie [diese Eirrsichterr] sind, welln man ihre Vorgárrger einbezieht,
vor mehr als zweitausend Jahren gewonnen worden. Dennoch sind sie auch
heute nachvollziehbar. Und die Einsicht bezieht sich offonbar auf eine normative
Ordnung, die der Mensch mit seiner Existenz vorfindet und zu deren Erkenntnis er
auch die Fáhigkeit lrat."45 Versetzt man siclr nun in die Lage des Angegriffenen, so
zetgtsich, dass die Einsicht sich einerseits auf die Tatsache des Angriffes bezieht,
der als ungerecht erkannt wird, arrderseits auch auf darauf, dass es zulássig ist'
sich zu wehren. Diese Erkenntnis ist einerseits spontan, bezieht sich aber aucl't
auf einen aus verschiedenen Elementen zusammengesetzten Lebenssachverhalt
und kann somit als Erfassen einer Ordnung verstanden werdeu. Die Bezugnahme
auf die Natur erfolgt erst irn Begriindungsteil der Digestenstelle. Die Naturhat zwischen allen Mensclren eine Verwandtschaft cognatío begrtindet, aus
der folgt (consequens e,st), dass hom.ineru hotnini insidiari neÍas esse. Eíndurch den Dualismus von Sein rrncl Sollen geprágtes Argumentationsschema
konnte der Absicht dieses Textes kaum gerecht werden. Wenn mau etwa sagen
wtirde, dass aus der Tatsache der nattirlichen Verwandtschaft (Sein) das Gebot
abgeleitet wird, dass ein ungerechter Angriff abzuwehren ist (Sollen), so wtirde
das der allgemeinen menschlichen Erfahrr-rng in einer Angriff-ssituation nicht
entsprechen. Auch wtirde das Statuieren eines ,,solleus" keiuen Raum fiir andere
Entscheidungen lassen, wie etwa jene, dass der Mensch (aus welchen Griindenauch immer) es wáhlt, den ungereclrten Angriff zu dulden. Der Ausdruck nefas'
der in der Übersetzung mit ,,freve1haft" wiedergegeben wird, bedeutete nach
romischer Auffassung eine Beleidigung der Gottheit.46
Diese Stelle zeigt, dass es den romischen Juristen nicht urn die Ableitung von
Vorschriften aus der Natur gegangen ist. Sie suchten vielmehr nach Grundsátzen,
die mit der Natur im Einlclang standen. Zwischen der Natur und den Gesetzen
wurde Harmonie angestrebt. Gott wurden im Hinblick auf Natur und Gesetz
umfassende Befugnisse zu gesprochen. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend
Werosrr,rN (1976) op. r:it. 8 .
WolÍgang WnlosrgtN - Miclrael Rntr'rgn: Roni'scllc Recht.sge,schicl'tte. l0. Auflage. Miinclren,Becl<, S 9.2.2.
45
46
Nadja Er- BBHBtnl
damit, dass die mit der Natur im Einklang stehende Ordnung ohne Riickgriffauf Gott nicht erkannt werden kann.
Entscheidet man sich mit Benedikt XVI. dant, die Grundlagen des freiheitlichen
Rechtsstaates in der europáischen Tradition seit der Antike zu suchen, so stellen
die drei Elemente jiidisch-christlicher Glaube, griechische Philosophie und
romisches Recht ein Material dar, das zu entdecken und zu bearbeiten sich auch
weiterhin lohnt. Nimmt man die dort enthaltenen Aussagen ernst, so wird man
entdecken, dass sie auch fi'ir viele moderne Problemstellungen Losungsansátze
enthalten. Insofern stellt die Rede des Papstes in Berlin eine Einladung dar, den
Schatz der Tradition nicht brach liegen zu lassen.