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Mehr Partizipation - ein Heilmittel gegen die,Krise der Demokratie'? Thamy Pogrebinschi In den letzten Jahren ist eine umfangreiche Literatur entstanden, die sich um eine Erklärung für die zunehmende politische Entfremdung und das schwindende Ver- trauen in politische Institutionen in konsolidierten Demokratien bemüht (vgl. z. B. Norris 1999; Inglehart 2003; Dalton 2004; Dogan 2005; Newton 2006). In diesem Zusammenhang haben verschiedene Autoren eine lange Liste demokratischer „Krankheitssymptome" (Schmitter 2010) zusammengetragen. Diese reichen von einer sinkenden Wahlbeteiligung, rückläufigen Mitgliederzahlen in Parteien und der abnehmenden Parteiidentifikation über größere Schwankungen der Wähler- präferenzen und Wahlergebnisse bis zu den daraus resultierenden Schwierigkeiten, Regierungsmehrheiten zu sichern, dem wachsenden Bedeutungsverlust des Parla- ments und der zunehmenden Dezentralisierung von Regierungsgewalt. Ein mehr oder weniger starkes Unbehagen angesichts dieser und ähnlicher Phänomene bietet bereits seit langem Anlass zu einer Debatte über die „Krise der Demokratie" (vgl. z. B. Crozier et al. 1975; Habermas 1975; Linz und Stepan 1978; Morlino 1998). Al- ternativ ist etwas präziser häufig von einer „Krise der Repräsentation" die Rede (vgl. z.B. Köchler 1987; Hayward 1995; Alonso et al. 2011; Einleitung zu diesem Band). Auch wenn sich in etablierten Demokratien keine kontinuierliche Erosion der öffentlichen Unterstützung für das politische System feststellen lässt, da verfüg- bare Zeitreihendaten vielmehr Fluktuation statt einen generellen Abwärtstrend nahelegen (vgl. Norris 2011), liefern Meinungsumfragen bereits seit geraumer Zeit Hinweise darauf, dass das Vertrauen in die wichtigsten repräsentativen Institutio- nen und gleichzeitig auch die allgemeine Demokratiezufriedenheit abgenommen hat. Laut Eurobarometer 2010 waren lediglich 31 Prozent der europäischen Bürger gewillt, ihren jeweiligen nationalen Parlamenten zu vertrauen, und gerade einmal 18 Prozent vertrauen den politischen Parteien ihres Landes. Gleichzeitig belegen Studien jedoch auch, dass die große Mehrheit der Bürger in etablierten und jüngeren Demokratien unverändert an den Werten und Prinzipien der Demokratie festhält

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Mehr Partizipation - ein Heilmittel gegen die,Krise der Demokratie'? Thamy Pogrebinschi

In den letzten Jahren ist eine umfangreiche Literatur entstanden, die sich um eine Erklärung für die zunehmende politische Entfremdung und das schwindende Ver­trauen in politische Institutionen in konsolidierten Demokratien bemüht (vgl. z. B. Norris 1999; Inglehart 2003; Dalton 2004; Dogan 2005; Newton 2006). In diesem Zusammenhang haben verschiedene Autoren eine lange Liste demokratischer „Krankheitssymptome" (Schmitter 2010) zusammengetragen. Diese reichen von einer sinkenden Wahlbeteiligung, rückläufigen Mitgliederzahlen in Parteien und der abnehmenden Parteiidentifikation über größere Schwankungen der Wähler­präferenzen und Wahlergebnisse bis zu den daraus resultierenden Schwierigkeiten, Regierungsmehrheiten zu sichern, dem wachsenden Bedeutungsverlust des Parla­ments und der zunehmenden Dezentralisierung von Regierungsgewalt. Ein mehr oder weniger starkes Unbehagen angesichts dieser und ähnlicher Phänomene bietet bereits seit langem Anlass zu einer Debatte über die „Krise der Demokratie" (vgl. z. B. Crozier et al. 1975; Habermas 1975; Linz und Stepan 1978; Morlino 1998). Al­ternativ ist etwas präziser häufig von einer „Krise der Repräsentation" die Rede (vgl. z.B. Köchler 1987; Hayward 1995; Alonso et al. 2011; Einleitung zu diesem Band).

Auch wenn sich in etablierten Demokratien keine kontinuierliche Erosion der öffentlichen Unterstützung für das politische System feststellen lässt, da verfüg­bare Zeitreihendaten vielmehr Fluktuation statt einen generellen Abwärtstrend nahelegen (vgl. Norris 2011), liefern Meinungsumfragen bereits seit geraumer Zeit Hinweise darauf, dass das Vertrauen in die wichtigsten repräsentativen Institutio­nen und gleichzeitig auch die allgemeine Demokratiezufriedenheit abgenommen hat. Laut Eurobarometer 2010 waren lediglich 31 Prozent der europäischen Bürger gewillt, ihren jeweiligen nationalen Parlamenten zu vertrauen, und gerade einmal 18 Prozent vertrauen den politischen Parteien ihres Landes. Gleichzeitig belegen Studien jedoch auch, dass die große Mehrheit der Bürger in etablierten und jüngeren Demokratien unverändert an den Werten und Prinzipien der Demokratie festhält

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(vgl. ibid.). Mit anderen Worten, die normative Unterstützung für die Demokra­tie als Regierungsform scheint stabil zu bleiben, während das Vertrauen in ihre zentralen (repräsentativen) Institutionen abnimmt. Das lässt zunächst vermuten, dass die Erwartungen der Bürger an die Demokratie größer sind als die derzeitige Fähigkeit der Parlamente und Parteien, diese zu erfüllen. Allerdings könnte die beobachtete Diskrepanz zwischen der normativen Unterstützung der Demokratie als politisches System und der schwindenden empirischen Unterstützung ihrer zentralen Institutionen auch auf zwei weitere Ursachen zurückzuführen sein: Die Bürger verbinden Demokratie nicht mehr ausschließlich mit Repräsentation, oder sie sind nicht länger der Meinung, dass Parlamente und Parteien die einzigen Orte der Repräsentation darstellen, die ihnen in Demokratien heute zur Verfügung stehen.

Verschiedene Erklärungen für die wachsende politische Unzufriedenheit in etablierten Demokratien wurden über die Jahre diskutiert. Hierzu zählen unter anderem das steigende Bildungs- und Informationsniveau, der Wertewandel, wirt­schaftliche Veränderungen sowie die Überthematisierung von Regierungsversagen in den Massenmedien (vgl. Inglehart 1997; Pharr et al. 2000). Angenommen es handelt sich bei den Einstellungen der Bürger tatsächlich nur um ihre Erwartungen und die Fähigkeit von Regierungen, diese zu erfüllen, hätte nicht eine Kombination der oben genannten Faktoren dazu führen müssen, dass die Bürger die Performanz ihrer Demokratien noch schlechter bewerten? Die Entstehung „demokratischer Defizite" wäre in diesem Fall eine direkte Folge des Ungleichgewichts zwischen den gestiegenen Forderungen (demands) nach mehr Demokratie einerseits und dem wahrgenommenen Unterangebot (supply) an Demokratie andererseits (vgl. Norris 2011). Tatsächlich ist jedoch ungeklärt, ob die Erwartungen und Forderungen der .neuen' „kritischen Bürger" (Norris 1999) jemals von denselben .alten' politischen Institutionen erfüllt werden können.

Vor diesem Hintergrund setzt sich unter Demokratieforschern zunehmend folgende Erkenntnis durch:

[P]art of the present disenchantment with democracy does concern procedures and institutions, and stems not only frorh more information about the failings of govern-ment, but also higher Citizen expectations of what democracy can deliver both proce-durally and substantively in terms of results (Diamond und Morlino 2005, S. xxxiii).

In dem Maße, in dem Bürger von ihren Regierungen größere Responsivität, bessere Performanz und mehr Rechenschaft einfordern, suchen Staaten verstärkt nach Möglichkeiten, Entscheidungsfindungen in die Gesellschaft zu verlagern. Die derart veränderten politischen Rahmenbedingungen begünstigen zunehmend die Verwirklichung partizipatorischer Ideale (vgl. Warren 2002). Das Wissen um die beschränkten Möglichkeiten der repräsentativen Demokratie, diese Ideale

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zu verwirklichen, hat manche Autoren gar zu folgender Vermutung veranlasst: ,,[T]he future of democracy [in Europe] lies less in fortifying and perpetuating existing formal institutions than in changing them" (Schmitter und Trechsel 2004, S. 15). Ich teile diese Sichtweise und gehe zudem von der Annahme aus, dass die gegenwärtige Situation etablierter Demokratien weniger als Krise, sondern vielmehr als ein Auseinanderklaffen der Forderungen der Bürger nach mehr Partizipation und der Fähigkeit repräsentativer Institutionen, diese zu berücksichtigen, beschrieben werden sollte. Wie im Folgenden dargelegt wird, besteht eine Möglichkeit, den Abstand zwischen den Ansprüchen der Bürger und der demokratischen Realität zu verringern, darin, partizipative Innovationen im Rahmen bestehender reprä­sentativer Institutionen zu verankern.

Um dieses Argument zu belegen, nehme ich als Beispiel Lateinamerika, eine Region, in der einige Regierungen begonnen haben, ihre vermeintlich „defekten Demokratien" (Merkel 2004) nicht mehr alleine durch Reformen und die Weiterent­wicklung bereits bestehender repräsentativer Institutionen zu verbessen. Stattdessen sind sie darum bemüht, partizipative Innovationen zu institutionalisieren, die es den Bürgern erlauben, ihren Forderungen auf direktem Wege Ausdruck zu verleihen und eine größere Rolle im Politikgestaltungsprozess zu spielen. Diese partizipativen Reformen deuten daraufhin, dass einige lateinamerikanische Demokratien statt der bloßen Konsolidierung repräsentativer Institutionen, die für gewöhnlich mit der dritten Demokratisierungswelle assoziiert werden, eine pragmatische Wende vollzogen haben. Die Regierungen experimentieren mit neuen Formen politischer Partizipation jenseits von Wahlen, sie kombinieren diese mit neuen Repräsenta­tionsarten außerhalb von Parlamenten, und sie verändern bestehende politische Institutionen mit dem Ziel, den Bürgern mehr Gelegenheit zu bieten, über ihre Forderungen zu beratschlagen (deliberieren) und diese anschließend in die Ent­scheidungsfindung einzubringen. Ein derartiger demokratischer Experimentalismus bzw. ein derart pragmatisches Regieren haben das Potenzial, repräsentative Insti­tutionen zu stärken und die soziale Gleichheit zu fördern, wie ich unter Rückgriff auf Beispiele partizipativer Innovationen aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern darlegen werde. Sollte sich dieser Zusammenhang bewahrheiten, lohnt es sich zu fragen, ob Lateinamerikas Experimente mit neuen Formen der Partizipation, Deliberation und Repräsentation nicht ein vielversprechendes Rezept dafür bieten könnten, wie Bürgerforderungen und institutionelles Angebot auch in etablierten Demokratien wieder in Einklang gebracht werden können.

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1 Experimente mit Repräsentation, Partizipation und Deliberation

Dass die repräsentative Demokratie Mängel aufweist, ist eine Tatsache, die selbst von ihren glühendsten Verfechtern anerkannt wird. Przeworski (2010) etwa räumt ein, dass eine der größten Beschränkungen repräsentativer Institutionen die eigene Unfähigkeit ist, politische Partizipation effektiver zu gestalten sowie mehr soziale und ökonomische Gleichheit herzustellen. Selbst Kritiker partizipativer Demokra­tieformen müssen anerkennen:

[R]epresentative democracy does not easily or automatically satisfy some deep human desires, such as participation and social and political recognition, that is, the right to be treated decently and enjoy füll citizenship. These limitations are intrinsic to representative democracy (Mainwaring 2012, S. 961).

Das Wissen um die empirischen Unzulänglichkeiten der repräsentativen Demo­kratie, was die Verwirklichung der normativen Prinzipien und Werte betrifft, auf denen sie gründet, hat die Verfechter einer modernen Demokratietheorie dazu bewegt, partizipative und deliberative Formen der Demokratie zu entwickeln (vgl. z. B. Pateman 1970; Mansbridge 1980; Barber 1984; Fishkin 1991; Habermas 1992; Bohman 1996; Gutmann und Thompson 1996; Dryzek 2000; Fung 2004). In diesem Zusammenhang wird vor allem für ein erweitertes Konzept politischer Repräsen­tation plädiert, das Forderungen berücksichtigt, denen liberale Institutionen für gewöhnlich nicht gerecht werden (vgl. z.B. Mansbridge 2003; Castiglione und Warren 2006; Urbinati 2006; Disch 2011; Saward 2011). Angesichts der ungewöhnlichen Experimentierfreude, die lateinamerikanische Regierungen in jüngerer Zeit an den Tag legen, gilt der Kontinent heute gemeinhin als größtes Labor zur Erprobung dieser Konzepte und Theorien (vgl. Fung 2011; Pateman 2012).

In Lateinamerika hat die politische Desillusionierung - wie andernorts auch - zu einer Intensivierung der Bürgerforderungen geführt. Eine weitverbreitete Unzufrie­denheit mit der demokratischen Performanz repräsentativer Institutionen hat die Regierungen anscheinend darin bestärkt, sich mit zivilgesellschaftlichen Organi­sationen zu koordinieren und nach innovativen Lösungen für lokale Probleme und nach neuen Wegen für die Realisierung gewünschter policies zu suchen. Besonders seit dem .Linksruck'1 Lateinamerikas haben mehrere junge Demokratien in der

1 Der .Linksruck' Lateinamerikas bezeichnet eine Reihe von Wahlsiegen, die linke Regierungen in verschiedenen Ländern des Kontinents seit 1998 verzeichnen konnten (vgl. Castañeda 2006; Weyland 2009; Levitsky und Roberts 2011). Die erste Phase des .Linksrucks' lässt sich indes auf lokaler Ebene verorten (vgl. Goldfrank 2011). Bereits

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Region damit begonnen, effektivere Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen, um auf diese Weise mehr soziale Gleichheit herzustellen. Etliche der linksgerichteten Regierungen, die auf kommunaler und nationaler Ebene neu ins Amt gewählt worden waren, zeigten ein klares programmatisches Anliegen, was die Themen Partizipation und Zivilgesellschaft sowie Gleichheit und Umverteilung betrifft. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft wurde dank innovativer politischer Maßnahmen verbessert, die mit dem Ziel implementiert wurden, mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Statt sich wie bisher üblich vor allem gegen die Regierungen zu wenden, sollten zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen nunmehr die Chance erhalten, gemeinsam mit ihren Regierungen und in gewisser Weise sogar in ihnen zu partizipieren. Partizipation und Deliberation wurden dabei nicht nur als Mittel genutzt, vermeintliche Schwächen repräsentativer Institutionen zu beheben, sondern auch um soziale Ziele zu verwirklichen, von denen angenommen wurde, dass Letztere sie nicht verwirklichen könnten.

Die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger im politischen Entscheidungspro-zess wurden über die Wahlen hinaus erweitert. Partizipative Innovationen wurden institutionalisiert, die es Bürgern erlauben, über Themen wie die Verwaltung öffent­licher Dienstleistungen, die Allokation staatlicher Ressourcen sowie die Verteilung öffentlicher Güter zu beratschlagen und häufig gar zu entscheiden. Maßgeblich ist jedoch, dass all diese Neuerungen umgesetzt wurden, ohne dabei die Institutionen repräsentativer Demokratie auszuhöhlen. Alle lateinamerikanischen Regierungen, selbst die radikaleren linken, die bisher partizipative Reformen vollzogen haben, sorgen vielmehr für den Erhalt der grundlegenden Institutionen repräsentativer Demokratie (vgl. Weyland et al. 2010, S. 141). Dennoch zielt die Entwicklung und Institutionalisierung direktdemokratischer Mechanismen und partizipativer In­novationen stets auf die Ausweitung der Demokratie und das Erreichen von mehr sozialer Gleichheit.

Partizipative Innovationen besitzen das Potenzial, Schwächen zu beheben, die der repräsentativen Demokratie gewöhnlich zugeschrieben werden. Die teils positiven Befunde mehrerer Fallstudien zeigen, dass partizipative Innovationen Klientelismus überwinden, die Legislative responsiver machen und das Parteien­system stärken können. Zudem belegen Studien, dass partizipative Innovationen, die Umverteilung öffentlicher Güter verbessern, benachteiligte Gruppen in den politischen Prozess einbeziehen und dafür sorgen, dass policies die Bedürfnisse von Minderheitengruppen stärker berücksichtigen.

zur Jahrtausendwende wurden dutzende wichtiger Städte von linksgerichteten Parteien regiert, unter anderem die Hauptstädte von Brasilien, Kolumbien, El Salvador, Mexiko, Peru, Uruguay und Venezuela.

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2 Partizipation als Mittel zur Verbesserung der Repräsentation

Um politische Partizipation effektiver zu gestalten, wurde in den Verfassungsge-bungsprozessen der neuen lateinamerikanischen Demokratien nicht zuletzt darauf geachtet, dass Regierungen Beteiligungsmöglichkeiten jenseits von Wahlen zur Verfügung stellen. So besagt beispielsweise schon Artikel 1 der brasilianischen Verfassung, die 1988 unmittelbar nach der demokratischen Transition des Landes in Kraft trat, dass „alle Macht vom Volke ausgeht und dass sie vom Volke durch gewählte Vertreter oder direkt nach Maßgabe dieser Verfassung ausgeübt wird" (Art. 1, Verfassung der Bundesrepublik Brasilien; eigene Übersetzung). Die Ver­fassung geht jedoch sogar noch weiter und regelt die Möglichkeiten der direkten Machtausübung, indem sie festlegt, dass „die Volkssouveränität durch das allge­meine Stimmrecht und durch direkte und geheime Wahl, mit gleicher Wertigkeit für alle und nach Maßgabe des Gesetzes ausgeübt wird, mittels: I. Plebiszit, II. Referendum III. Volksinitiative" (Art. 14 Verfassung der Bundesrepublik Brasilien; eigene Übersetzung).

Die erste Form des politischen Experimentierens, die in den neuen Demokra­tien Lateinamerikas erprobt wurde, entspricht genau diesem Zusammenspiel von repräsentativen und direktdemokratischen Mechanismen. Wie die brasilianische Verfassung, so unterscheiden auch die Verfassungen anderer Länder zwischen elek-toraler und direkter Partizipation (z. B. Bolivien, Ecuador und Venezuela). Zusätzlich zur Wahl von Volksvertretern können Bürger in Referenden und Volksentschei­den über relevante Themen abstimmen oder zumindest ihre Meinung kundtun. Darüber hinaus haben sie die Möglichkeit, mithilfe von Volksinitiativen konkrete Gesetzesentwürfe einzubringen. Wurde neben den drei üblichen Instrumenten direkter Demokratie auch ein Abwahlmechanismus institutionalisiert, besitzen sie gar das Recht, das Mandat ihrer Vertreter vorzeitig zu beenden. Direktdemo­kratische Verfahren lassen sich anhand von vier Dimensionen unterscheiden. Sie können (1) obligatorisch oder fakultativ (gesetzlich oder per Verfassung geregelt), (2) bindend oder konsultativ (rechtskräftige Beschlüsse) sowie (3) pro- oder retroaktiv (Veränderung oder Erhalt des Status quo) sein und (4) sowohl top-down als auch bottom-up (auf Initiative der Regierung oder der Bürger) stattfinden.2 Gemeinsam ist ihnen jedoch allen, dass sie einen Wahlakt beinhalten. Deswegen sollen sie die repräsentative Demokratie auch nicht ersetzen, sondern bei Bedarf als zusätzliches „Sicherheitsventil" gegen regelwidriges oder nicht responsives Verhalten fungieren (vgl. Altman2011,S.2).

2 Dieser Typologie folgt Altman (2011).

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Direktdemokratische Verfahren kamen in Lateinamerika sogar schon vor den Verfassungsreformen der dritten Demokratisierungswelle zur Anwendung (vgl. ibid., S. 111). Auf dem gesamten Kontinent verbleiben dann aktuell auch lediglich fünf Länder, die noch nie von direktdemokratischen Verfahren Gebrauch gemacht haben: die Dominikanische Republik, El Salvador, Honduras, Mexiko und Nicaragua. Altman (2011) zeigt in diesem Zusammenhang, dass Lateinamerika im Zeitraum von 1978, dem Beginn der dritten Demokratisierungswelle, bis 2009 insgesamt 55 Fälle direkter Demokratie aufweist, die gemeinsam 112 direkten Abstimmungen mit einer Zustimmungsquote von 54 Prozent entsprechen. In der überwiegenden Zahl der Fälle (85 %) erfolgte die Anwendung direktdemokratischer Verfahren auf Regierungsinitiative. Lediglich vier Länder haben dagegen Erfahrungen mit bürgerinitiierten Formen direkter Demokratie gemacht (Bolivien, Kolumbien, Uruguay und Venezuela). Mit 18 direkten Abstimmungen (sechs obligatorischen Volksabstimmungen, fünf Volksinitiativen und sieben Referenden) während des Untersuchungszeitraums hat Uruguay mit Abstand die meiste Erfahrung mit di­rektdemokratischen Verfahren gemacht. Es folgt Ecuador mit neun Fällen direkter Demokratie, in denen insgesamt 39 Angelegenheiten durch direkte Abstimmung entschieden wurden (zwei obligatorische Volksabstimmungen sowie 19 fakultative Volksabstimmungen mit bindendem und 18 mit konsultativem Charakter). Von den übrigen lateinamerikanischen Ländern kann indes nicht behauptet werden, dass sie in den letzten dreißig Jahren demokratischer Entwicklung ähnlich eindrucks­voll von direktdemokratischen Verfahren Gebrauch gemacht hätten: Venezuela verzeichnete sechs Fälle direkter Demokratie; Panama, Kolumbien, Bolivien und Chile je vier; Peru, Guatemala und Brasilien je zwei; während Argentinien und Costa Rica beide nur ein einziges Mal auf direktdemokratische Verfahren zurückgriffen.

Die Themen, die in der Vergangenheit Gegenstand einer direkten Abstimmung wurden, können zudem als weniger gehaltvoll bezeichnet werden. Laut Altman befassten sich knapp zwei Drittel aller Fälle, in denen direktdemokratische Ver­fahren zur Anwendung kamen, mit Fragen der institutionellen Ausgestaltung oder mit politischen Kontingenzen (z. B. mit Mandatsverlängerungen, der Wiederwahl des Präsidenten, der Art der Präsidentschaftswahl, dem rechtlichen Status von Parteien, der Einrichtung verfassungsgebender Versammlungen etc.). Direkte Abstimmungen über substanzielle Fragen, die konkrete Policy-Entscheidungen beinhalten, waren hingegen weitaus seltener. Bisher hatten lateinamerikanische Bürger lediglich zwanzigmal die Gelegenheit, direktdemokratische Verfahren zu nutzen, um der eigenen Meinung Ausdruck zu verleihen oder um über eine klas­sische staatliche Leistung wie Rente, Bildung, Telekommunikationsinfrastruktur, Wasser-, Strom- und Gesundheitsversorgung zu entscheiden. Allein neun der 20

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Verfahren fanden in Uruguay statt, die übrigen verteilten sich auf gerade einmal vier Länder: Ecuador, Kolumbien, Bolivien und Panama (Altman 2011, S. 115).

Auch wenn bislang weder die Häufigkeit ihrer Anwendung noch die behandel­ten Themen besonders eindrucksvoll sind, haben die meisten neuen Demokratien Lateinamerikas die Anwendungsmöglichkeiten direktdemokratischer Verfahren in ihren Verfassungen erweitert. Bürgern das verfassungsmäßig garantierte Recht zu geben, ihre Regierungen mit dem Mittel der Volksabstimmung zu kontrollieren, scheint ein regelrechter Trend in den jungen Demokratien der dritten Welle gewesen zu sein. Dennoch glaubt Altman nicht an eine reine politische Modeerscheinung. Vielmehr stellt er fest: ,,[T]he reasons behind the use of direct democracy in most of Latin America obscure a significant deterioration of those critical intermediate institutions that must exist in a given representative regime - namely, political parties and party Systems" (ibid., S. 112). Seine These lautet folglich, dass schwa­che repräsentative Institutionen die Anwendung direktdemokratischer Verfahren aufgrund der ohnehin unzureichenden Gewaltenteilung in repräsentativen Demo­kratien begünstigen (vgl. ibid., S. 111).

Politische Unzufriedenheit wäre demnach eine Erklärung für die weitverbrei­tete Institutionalisierung direktdemokratischer Verfahren in Lateinamerika; ihre Anwendung indes Ausdruck des Bemühens, institutionelle Defizite der repräsen­tativen Demokratie zu beheben. Der ausgiebige Gebrauch direktdemokratischer Verfahren bei Fragen der institutionellen Neugestaltung (Mandate, Wahlen, Parteien, verfassungsgebende Versammlungen etc.) bestätigt diese Sichtweise an­scheinend. Interessanterweise gilt gerade Uruguay, das in der Vergangenheit am häufigsten mit direktdemokratischen Verfahren experimentiert hat, heute als das Land auf dem Kontinent mit dem stärksten Repräsentativsystem und der höchs­ten Demokratiequalität. Erkenntnisse darüber, wie genau direktdemokratische Verfahren zur Stärkung der repräsentativen Institutionen Uruguays beigetragen haben, geben Denkanstöße für die Erklärung weiterer Fälle. Lissidini (2012) etwa zeigt, dass die politischen Parteien des Landes ihre zentrale Bedeutung auch im .Zeitalter' der Volksabstimmungen behalten haben. Direkte Abstimmungen über Gesetzesvorschläge erfolgten nur mit Zustimmung der Parteien, und Initiativen, die nicht mindestens die Unterstützung einer Partei fanden, kamen nicht zur Ab­stimmung. Laut Lissidini (ibid., S. 174) stärkten die direktdemokratischen Verfahren die Identifikation mit den Parteien.

Direktdemokratische Verfahren werden als direkt bezeichnet, weil sie theoretisch die Chance bieten, unmittelbar über Policy-Fragen abzustimmen (oder diese zumin­dest unmittelbar vorzuschlagen). Bürger sollten sie indirekten Entscheidungen, die von den gewählten Repräsentanten getroffen werden, vorziehen. Direktdemokratische Verfahren besitzen zwar das Potenzial, die repräsentative Demokratie demokra-

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tischer zu machen, weil sie die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger erweitern. Allerdings beschränkt sich auch in ihnen die politische Beteiligung für gewöhnlich auf den Akt des Wählens. Dementsprechend weisen Referenden genau dieselben Schwächen auf wie Methoden der Präferenzaggregation, und die Kritik am Mehr­heitsprinzip gilt auch für sie: Kein Abstimmungsverfahren vermag sicherzustellen, dass die Entscheidung tatsächlich den Willen der Mehrheit, geschweige denn den des Volkes, widerspiegelt (vgl. Riker 1982). Um die Entscheidungen noch weiter den tatsächlichen Präferenzen der Bürger anzunähern, sahen sich Regierungen in ganz Lateinamerika veranlasst, das Instrumentarium der Demokratie zu erweitern.

Die neuen Formen der sozialen Mobilisierung und des politischen Engagements, die nach der dritten Demokratisierungswelle vor allem von den vergleichsweise robusten Zivilgesellschaften Lateinamerikas vorangetrieben wurden, waren Ver­suche, die Partizipation über den Wahltag hinaus zu stärken. Auslöser war häufig die Unzufriedenheit mit dem Wahlausgang. Demonstrationen, Proteste, Märsche, Mahnwachen, Besetzungen, das Aufstellen von Streikposten, Massenkundgebungen, Streiks, Sit-ins und Petitionen - all diese Formen der Partizipation spielten eine bedeutende Rolle bei der Demokratisierung Lateinamerikas. Nicht selten handelte es sich um Schlüsselereignisse, die wichtige politische Veränderungen nach sich zogen.3 Ungeachtet ihrer Bedeutung für den Demokratisierungsprozess wirken neue Formen der sozialen Mobilisierung und des politischen Engagements jedoch vor allem als politisches Druckmittel, d.h., sie bieten keine wirkliche Möglichkeit der politischen Beteiligung.

Soziale Bewegungen wie die Piqueteros in Argentinien, die „Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung" (EZLN) in Mexiko und die „Bewegung der Landarbeiter ohne Boden" (MST) in Brasilien sind dagegen weitaus besser organi­siert und formulieren auch weiterhin Anliegen, die über politische Kontingenzen hinausgehen. Sie traten verstärkt in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Erscheinung und brachten klare soziale Ansprüche auf die Agenda, die sie mit Forderungen nach einem grundlegenden Wandel der Politik verbanden. Während die Piqueteros vor allem mehr Arbeitsplätze verlangten und der MST eine gerechtere Landverteilung forderte, gleichen beide in ihrem Bemühen um eine strukturelle Veränderung des politischen Systems den Zapatistas. Gemeinsames Ziel ist die Schaffung einer inklusiveren Demokratie mit größeren Partizipationsmöglichkeiten. Das Weltsozialforum, das erstmals 2001 im brasilianischen Porto Alegre stattfand, brachte Vertreter hunderter NGOs und sozialer Bewegungen aus allen Teilen des

3 Eines von mehreren Beispielen sind die Proteste der sogenannten caras pintadas, der .bemalten Gesichter'. Sie bewirkten, dass der brasilianische Präsident Fernando Collor de Mello 1992 seines Amtes enthoben wurde.

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Kontinents zusammen. Es zeigte, dass die Zivilgesellschaft in Lateinamerika unter demokratischer Konsolidierung weit mehr verstand als die bloße Konsolidierung repräsentativer Institutionen. Die Bürger verlangten vor allem nach sozialer Gleich­heit, echter politischer Inklusion und kultureller Anerkennung. Um diese Anliegen zu verwirklichen, wollten sie stärker am Regieren beteiligt werden, über die Leitlinien der Politik debattieren, beraten und über Verwaltungsangelegenheiten entscheiden.

Die zweite Form des politischen Experimentierens, die in den jungen Demokra­tien Lateinamerikas aufkam, verbindet das Prinzip der Repräsentation mit dem der Partizipation und Deliberation. Gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteuren entwickeln Regierungen innovative Institutionen, die effektivere Partizipations­möglichkeiten vorsehen. Die Einführung des ersten Bürgerhaushalts erfolgte 1989 im brasilianischen Porto Alegre. Seitdem wird auf lokaler und nationaler Ebene mit vielen partizipativen und deliberativen Verfahren experimentiert, die es Bürgern erlauben, eine größere Rolle in der Politik zu spielen. Nach und nach wurden Bürger an der Formulierung, Implementierung und Bewertung öffentlicher Politik betei­ligt. Heute sind sie meist aktiv in politische EntScheidungsprozesse eingebunden. In allen Phasen des Politikzyklus debattieren Bürger über politische Probleme und Präferenzen, gemeinsam mit Vertretern der Regierung bestimmen sie politische Prioritäten und verwalten kommunale Ressourcen.

In Lateinamerika wurde in den letzten Jahren eine breite Palette partizipativer Innovationen verwirklicht. Hierzu gehören lokale und nationale Politikräte, Ge­meinderäte, Beiräte, nationale Politikkonferenzen, kommunale Entwicklungsräte, partizipative Stadtplanung sowie eine lange Liste weniger institutionalisierter Ver­fahren. Hinzu kommen hunderte von Bürgerhaushalten, die mittlerweile auf dem gesamten Kontinent zu finden sind. Die große Bandbreite der Tätigkeiten, denen sich Bürger und zivilgesellschaftliche Organisationen verschrieben haben, legt nahe, dass es sich dabei um mehr als den bloßen Versuch handelt, soziale Kontrolle auszuüben. Im Rahmen verschiedener demokratischer Innovationen beteiligen sie sich unter anderem an der Formulierung von Gesetzesvorhaben, spielen eine aktive Rolle bei der Stadtentwicklung, entscheiden über die Verwendung kommunaler Haushalte, übernehmen die Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen, regeln den Zugang zu öffentlichen Gütern, beraten über die Ausrichtung der Regierungspo­litik und machen politischen Entscheidungsträgern Vorschläge oder geben ihnen Empfehlungen. Die Mittel der Demokratie waren noch nie so vielfältig und die politische Partizipation noch nie so effektiv wie heute.

Die soeben beschriebenen Partizipationsformen variieren jedoch sehr stark. Nicht alle partizipativen Innovationen beinhalten Deliberation. Deliberation wiederum dient nicht immer der Entscheidungsfindung. Manche partizipativen Innovationen haben rein konsultativen Charakter. Sehen sie dagegen Deliberation

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und Entscheidungsfindung vor, ist ihr Ergebnis nicht immer bindend, sondern stellt nur eine politische Empfehlung dar. Einige partizipative Innovationen wurden auf nationaler Ebene eingeführt, die Mehrheit findet aber weiterhin auf kommunaler Ebene statt. Des Weiteren werden nicht alle partizipativen Innovationen von Regierungen initiiert. Umgekehrt finden aber auch nicht alle zivilgesellschaftli­chen Initiativen ihre Unterstützung. Zu guter Letzt sind nicht alle partizipativen Innovationen das Produkt linksgerichteter Regierungen. Die ersten Erfolge des Bürgerhaushalts haben anscheinend nicht nur Parteien des mittleren und rechten Spektrums, sondern auch multilaterale Hilfsorganisationen wie die Weltbank von der Nützlichkeit partizipativer Innovationen überzeugt. Sie gelten mittlerweile als probates Mittel, um die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen effizienter zu gestalten und die Qualität der Regierungsführung zu verbessern (vgl. Avritzer 2009; Hawkins 2010; Goldfrank 2011). All dies sind unterschiedliche Facetten des politi­schen Experimentalismus, der die Demokratie in Lateinamerika heute auszeichnet.

Partizipative Innovationen unterscheiden sich indes auch hinsichtlich ihrer Wirkung und ihres Erfolgs. Selbst die als besonders erfolgreich geltenden Bür­gerhaushalte haben bisher je nach Stadt und Zeitpunkt ihrer Einführung zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen geführt (vgl. Wampler 2007; Avritzer 2009; Peruz-zotti 2009; Goldfrank 2011). Mitunter können partizipative Institutionen gar ihr intendiertes Ziel verfehlen und dennoch positive Effekte für die Demokratie mit sich bringen. Gerade derartige Fälle verdeutlichen besonders eindrucksvoll das Potenzial partizipativer Innovationen. Selbst gescheiterte Experimente können offensichtlich dazu beitragen, vermeintliche Defekte der repräsentativen Demo­kratien zu beheben bzw. repräsentative Institutionen zu stärken.

2.1 Mexiko

In Mexiko finden sich Anzeichen dafür, dass partizipative Innovationen neue Kanäle zwischen Bürgern und gewählten Vertretern schaffen, die eine Alternative zum Klientelismus darstellen (vgl. Selee 2009). Mit innovativen Partizipationsformen sammelten Lokalregierungen in ganz Mexiko Ende der 1990er Jahre Erfahrungen mit wechselndem Erfolg. In etlichen Fällen trugen partizipative Innovationen nachweislich zu einer Verringerung des Klientelismus bei. Dabei schufen sie zu­gleich auch öffentlichere und transparentere Kanäle, die den Stimmen der Bürger bei kommunalen Angelegenheiten Ausdruck verleihen. Selee zeigt am Beispiel von Ciudad Nezahualcöyotl und Tijuana, wie gewählte Nachbarschaftskomitees und partizipative Planungsgremien zur Schaffung neuer Interaktionsformen zwischen Bürgern und dem Staat beigetragen haben. In Tijuana regte das neue Planungssystem

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zudem einen breiten, öffentlichen Deliberationsprozess über kommunale Priori­täten an und verringerte die Kluft zwischen Bürgern und Regierungsvertretern. Die Auswahl politischer Führungskräfte folgte neuen Mustern und Bürger, die sich aktiv an partizipativen Institutionen beteiligten, wurden schließlich Teil der öffentlichen Verwaltung (vgl. ibid., S. 62-83). Der Erfolg partizipativer Innovationen in Mexiko basierte also stark auf der Einbindung von Parteien und parteinahen Gruppen und gerade nicht auf deren Ausschluss. Selees Schlussbetrachtung bietet dann auch klare Hinweise darauf, wie genau die Verbindung von Repräsentation und Partizipation zur Stärkung der Demokratie beitragen kann: ,,[P]articipatory innovation empowers Citizens, not by bypassing political parties, but by bringing them closer to Citizens and forcing them to compete for public support" (ibid., S. 83). Die Tatsache, dass sich dieser Zusammenhang in einem stark parteienzentrierten System wie Mexiko findet, das zudem noch lange Zeit von einer einzigen Partei dominiert wurde, verdeutlicht das große Potenzial partizipativer Innovationen. Sie bieten die Chance, schwächen des repräsentativen Systems auszugleichen.

2.2 Bolivien und Ecuador

Hinweise auf den positiven Effekt partizipativer Innovationen für Parteien und Parteiensysteme finden sich auch in Bolivien und Ecuador. So weist Van Cott (2008) einen Zusammenhang mit der Entstehung von Vertrauen und Loyalität nach. Das Eintreten indigener Parteien für institutionelle Neuerungen in Lokalregierungen, half Bürgermeistern, persönliche Beziehungen zu den Wählern herzustellen. Dank der Einführung partizipativer und deliberativer Innovationen gelang es indigenen Bewegungsparteien, die Kontrolle von Gemeinden über gewählte Lokalbehörden zu stärken. Auch die Transparenz der Haushaltsplanung und der Ausgaben konnte verbessert werden (vgl. ibid., S. 13). Institutionelle Innovationen folgten dabei zu­weilen kulturellen Traditionen. Zu den Neuerungen, die von indigenen Parteien in der Andenregion durchgesetzt wurden, gehören beispielsweise regelmäßige, öffentliche Versammlungen zur Beratung und Prioritätensetzung für öffentliche Ausgaben. Hinzu kommen Ausschüsse und Arbeitsgruppen, in denen lokale Amtsträger und Vertreter der Zivilgesellschaft gemeinsam Verantwortung für politische Entscheidungen übernehmen und sich zudem u m deren Implemen­tierung kümmern (vgl. ibid., S. 22). Ein zentraler Befund Van Cotts ist, dass die untersuchten Innovationen neue partizipativen Legitimitätsquellen für schwache kommunalpolitische Institutionen in den ethnisch fragmentierten und politisch instabilen Andenländern generieren (vgl. ibid., S. 225).

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2.3 Brasilien

Ein drittes Beispiel für demokratische Innovationen, die aufgrund der Verbindung von Repräsentation und Partizipation zur Stärkung repräsentativer Institutionen beitragen, sind die nationalen Politikkonferenzen in Brasilien (conferencias nacionais de políticas públicas). Bei den nationalen Politikkonferenzen handelt es sich um ein landesweites Experiment, das von der brasilianischen Bundesregierung und zivil­gesellschaftlichen Organisationen unterstützt wird. Sie bringen Bürger mit privaten Unternehmern und gewählten Vertretern aller drei Regierungsebenen zusammen und bieten ein Forum für gemeinsame Beratungen und die Formulierung einer nationalen politischen Agenda. Den nationalen Politikkonferenzen wird ein großer Einfluss auf die Politikgestaltung und die Gesetzgebung zugeschrieben, der sich seit der Regierungsübernahme der Arbeiterpartei (PT) im Jahr 2003 noch verstärkt hat. Zusammen mit Fabiano Santos (2011) konnte ich zum Beispiel zeigen, dass rund 20 Prozent aller Gesetzesvorhaben, die 2009 im brasilianischen Bundesparlament diskutiert wurden, auf Empfehlungen der nationalen Konferenzen aus den Jahren zuvor zurückgingen. 48 Prozent aller Verfassungsänderungen, die das brasilianische Bundesparlament seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie beschlossen hat, griffen spezifische Themen auf, die zuvor auf den nationalen Politikkonferenzen diskutiert und in ihren Abschlusserklärungen empfohlen wurden (Pogrebinschi 2012). Der positive Effekt der nationalen brasilianischen Politikkonferenzen, der auf der Verbindung von Repräsentation, Partizipation und Deliberation beruht, hängt indes nicht von der Regierungsbeteiligung der Arbeiterpartei (PT) ab. Vergleich­bare Effekte zeigten sich auch für jene Periode davor, als die Sozialdemokratische Partei Brasiliens (PSDB), der Hauptkonkurrent der Arbeiterpartei (PT), regierte (Pogrebinschi und Samuels 2014). Dieser Befund legt nahe, dass der Erfolg des demokratischen Experiments stärker mit den institutionellen Besonderheiten der nationalen Politikkonferenzen und weniger mit anderen Variablen wie dem Charakter der jeweiligen Regierungspartei zusammenhängt.

Angenommen die Welle des politischen Experimentalismus in Lateinamerika war zumindest teilweise eine Folge der langjährigen Politikverdrossenheit in der Region, so stellt sich nunmehr die Frage, inwiefern demokratische Experimente ein wirksames Gegenmittel darstellen können. Anders formuliert: Besitzen de­mokratische Innovationen tatsächlich das Potenzial, das politische Vertrauen und die Demokratiezufriedenheit auf dem Kontinent zu verbessern? Hierbei handelt es sich offensichtlich um eine empirische Frage, die erst in den kommenden Jahren beantwortet werden kann. Die angeführten Fallbeispiele und weitere Indizien erlauben jedoch einige vorläufige Schlussfolgerungen.

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2.4 Vorläufige Schlussfolgerungen

Erste Anhaltspunkte sind, dass immer mehr Bürger sich an innovativen Partizi­pationsformen beteiligen und dass die Zahl der Innovationen in Lateinamerika in den letzten Jahren angestiegen ist. Viele Demokratieforscher stellen allerdings auch fest, dass „[Citizens believe that they are not well represented" (Mainwaring 2006, S. 15). Andererseits hatten mehr als 2.000 Städte auf dem gesamten Kontinent bis zum Jahr 2007 eine Form des Bürgerhaushalts eingeführt (vgl. Goldfrank 2007); bis zum Ende desselben Jahres wurden in Venezuela 33.000 Gemeinderäte geschaffen, an denen sich insgesamt mehr als acht Millionen Bürger beteiligten (vgl. Hawkins 2010); in den 5.000 kommunalen Gesundheitsräten Brasiliens engagierten sich im Jahr 2004 laut einer Studie 100.000 Bürger (vgl. Coelho 2004); und in Bolivien wurden gemäß eines Volksbeteiligungsgesetzes bis zum Jahr 2006 insgesamt 13.000 Gemeindeorganisationen in die Überwachung kommunaler Ausgaben und die Planung öffentlicher Arbeiten eingebunden (vgl. Van Cott 2008). Diese und andere demokratische Innovationen haben bislang Millionen Bürger auf dem gesamten Kontinent mobilisiert. Allein in Brasilien beteiligten sich sieben Millionen Men­schen an den 82 nationalen Politikkonferenzen, die von 2003 bis 2011 stattfanden (vgl. Pogrebinschi 2013). Während der Anteil der Bürger, der an Wahlen teilnimmt oder sich mit Parteien identifiziert, auch in Lateinamerika sinkt, haben die Zahl der demokratischen Innovationen sowie der Anteil der Bürger, der sich an ihnen beteiligt, in den letzten Jahren deutlich zugenommen.

Gängige Demokratieindizes belegen diesen Trend. Seit der Jahrhundertwende zeigen Umfragedaten einen raschen Zuwachs des politischen Vertrauens und der Demokratiezufriedenheit in Lateinamerika. Laut Latinobarömetro gaben im Jahr 2003 lediglich 19 Prozent der befragten Bürger an, Vertrauen in ihre Regierungen zu haben. Sieben Jahre später, im Jahr 2010, war ihr Anteil dagegen bereits auf 45 Prozent angewachsen. Das Vertrauen in Parlamente und Parteien verbesserte sich in den letzten Jahren ebenfalls deutlich. So verdoppelte sich der Anteil der Bürger, die Vertrauen in ihre nationalen Parlamente hatten, im selben Zeitraum von 17 auf 34 Prozent, und das Vertrauen in politische Parteien stieg von 11 auf 23 Prozent. In Anbetracht der Tatsache, dass der Beginn der dritten Demokratisierungswelle in Lateinamerika bereits mehr als drei Jahrzehnte zurückliegt, kann das plötzliche Ansteigen des politischen Vertrauens in den letzten Jahren nicht gänzlich mit der fortschreitenden Konsolidierung politischer Institutionen erklärt werden. Eine zentrale These der Transitionsforschung muss somit neu bewertet werden. Wenn sich Belege dafür finden lassen, dass neue Partizipationsformen die Responsivität repräsentativer Institutionen verbessert haben, lässt sich argumentieren, dass sie

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ebenfalls dazu beigetragen, das Vertrauen der Bürger in eben diese Institutionen sowie in das demokratische System insgesamt zu stärken.

3 Durch Partizipation zu mehr sozialer Gleichheit

Der demokratische Experimentalismus, der auf den vorangegangen Seiten beschrie­ben wurde, beinhaltet Versuche, die Mittel der Politik zu erweitern, um soziale Ziele zu verwirklichen. Eine wichtige Folge des .Linksrucks' ist die Tatsache, dass der Demokratie in Lateinamerika heute ein klarer sozialer Zweck zugeschrieben wird. Doch bereits vor der Serie von Wahlerfolgen linksgerichteter Parteien wurde in den post-autoritären Verfassungen Lateinamerikas festgeschrieben, dass die Demokratie auf die Verwirklichung sozialer Gleichheit abzielt. Die brasilianische Verfassung von 1988 zum Beispiel zählt zu den Staatszielen des Landes: „Armut und Ausgrenzung zu beseitigen und soziale und regionale Ungleichheiten zu verringern" (Art. 3, Abs. III, Verfassung der Bundesrepublik Brasilien; eigene Übersetzung). Das Wiederherstellen der demokratischen Ordnung, die Etablierung repräsentativer Institutionen sowie die Gewährung bürgerlicher und politischer Rechte waren allein nicht ausreichend. Die Demokratie in Lateinamerika kann ohne eine Verringerung der Ungleichheit und eine Stärkung der sozialen Gerechtigkeit nicht erhalten werden.

Ein Mangel an sozialer Gerechtigkeit führt zu einer „low intensity citizenship" -laut Guillermo O'Donnell ein wesentliches Merkmal des Demokratisierungsprozesses in Lateinamerika: „various forms of discrimination and extensive poverty and their correlate, extreme disparity in the distribution of (not only economic) resources, go hand in hand with low-intensity citizenship" (O'Donnell 1993, S. 1361). O'Donnell wies mehr als jeder andere daraufhin, dass für die Ausübung von Bürgerrechten nicht nur politische, sondern auch soziale Bedingungen erfüllt sein müssen. Hierzu gehört unter anderem, dass alle Bürger eine „gerechte Behandlung erfahren" und „Leistungen von staatlichen Behörden erhalten, auf die sie ein Anrecht haben" (ibid.). O'Donnell wusste, dass sich das Problem der „braunen Zonen" in jungen Demokratien nicht allein durch die Gewährung liberaler Freiheitsrechte lösen lässt. Dessen waren sich auch die verfassungsgebenden Versammlungen mehrerer lateinamerikanischer Länder bewusst. Neben den klassischen Bürgerrechten und politischen Rechten nahmen sie soziale, ökonomische und in jüngerer Zeit ver­mehrt kulturelle Rechte in die neuen Verfassungen auf. Das Bemühen um soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika ist demzufolge nicht nur ein Bemühen um höhere

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Einkommen und eine bessere Umverteilung; es ist vielmehr auch ein Bemühen um soziale und politische Inklusion.

Mit der Aufnahme sozialer, ökonomischer und kultureller Rechte in die Ver­fassungen ging die Erkenntnis einher, dass es notwendig ist, die Zivilgesellschaft an ihrer Verwirklichung zu beteiligen. Nur so konnte sichergestellt werden, dass es sich um mehr als bloße Lippenbekenntnisse handelt. Im Zuge der umfassenden Dezentralisierung, die in weiten Teilen des Kontinents erfolgte, wurde in vielen Ländern die Verantwortung für die Bereitstellung grundlegender Kollektivgüter wie der medizinischen Versorgung wieder an die Kommunen übertragen. Dort begannen neue partizipative Institutionen dafür zu sorgen, dass neben staatli­chen auch zivilgesellschaftliche Akteure an der Umsetzung von Rechten beteiligt wurden. Trotz einiger wichtiger Unterschiede in der konkreten Ausgestaltung schienen vielen Regierungen die Einsetzung von Gemeinderäten zunächst das bevorzugte institutionelle Modell zu sein. Die Bürger zu ermächtigen und ihnen eine aktive Rolle bei der Lösung der eigenen Probleme zuzugestehen, erwies sich als wirksame Methode zur Weiterentwicklung der Staatsbürgerschaft. Damit konnten sozialpolitische Programme auf lokaler Ebene effektiv umgesetzt werden. Innerhalb weniger Jahre wurden in ganz Brasilien tausende kommunaler Gesund­heitsräte geschaffen, und überall in Venezuela nahmen Gemeinderäte ihre Arbeit auf. Partizipative Innovationen erwiesen sich schon bald als geeignetes Mittel zur Verbesserung der Inklusion.

Partizipative Innovationen verfolgen bisweilen recht unterschiedliche Ziele. Hierzu zählen zum Beispiel die Umverteilung öffentlicher Güter (soziale Inklu­sion), die Verbesserung der Lebensbedingungen wirtschaftlich benachteiligter Bevölkerungsgruppen (ökonomische Inklusion), die Stärkung der Partizipation von Bürgern aus den unteren Bildungs- und Einkommensschichten (politische Inklu­sion) sowie der Schutz von Minderheitenrechten und die Integration traditionell unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen in den politischen Prozess (kulturelle Inklusion). Unabhängig von der jeweiligen Zielsetzung nutzten die Regierungen Lateinamerikas partizipative Innovationen vermehrt als Mittel, um die Inklusion von Bürgern und gesellschaftlichen Gruppen voranzutreiben und letztendlich das Ideal der sozialen Gleichheit zu verwirklichen. Inwiefern dies tatsächlich gelingt, ist zwar weiterhin umstritten, weil der Erfolg partizipativer Innovationen sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder variiert. Erste Indizien geben jedoch Grund zum Optimismus.

Die Auswirkungen der Bürgerbeteiligung in Lateinamerika machen sich laut Studien bereits bei der Priorisierung öffentlicher Ausgaben, der Umwidmung von Haushaltsmitteln, der Verwaltung kommunaler Ressourcen, der Politikplanung, der Gestaltung und Umsetzung kommunaler Entwicklungsprojekte und Reformen

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sowie beim Entwurf und der Verabschiedung von Gesetzen und politischen Maß­nahmen bemerkbar (vgl. Cameron et al. 2012; Selee und Peruzzotti 2009). Doch inwieweit führt die Ausweitung der politischen Partizipation zu mehr sozialer und ökonomischer Gleichheit? Mit anderen Worten: Welches Potenzial besitzen par-tizipative Innovationen für die Verbesserung der Inklusion? Diese Fragen werden im Folgenden am Beispiel einiger partizipativer Innovationen, die vor allem auf soziale und ökonomische Probleme Bezug nehmen, erörtert.

Der Bürgerhaushalt gilt nicht zuletzt deshalb als erfolgreichste demokratische Innovation, weil er nachweislich zur Schaffung von mehr Gleichheit beiträgt. Er führt zu einer gerechteren Umverteilung öffentlicher Güter und stärkt die Parti­zipation benachteiligter Gruppen, insbesondere die von Bürgern aus niedrigeren Bildungs- und Einkommensschichten. Auch wenn sich unter den hunderten von partizipativen und deliberativen Experimenten in Brasilien und ganz Lateiname­rika nicht nur erfolgreiche Beispiele finden, zieht der portugiesische Soziologe und Demokratieforscher Boaventura de Sousa Santos dennoch eine positive Bilanz: "[T] he redistributive efficacy of the participatory budgeting has been fully confirmed" (de Sousa Santos 1998, S. 484). Bereits diese frühen Erfolge des Bürgerhaushalts belegten laut de Sousa Santos, dass er die Keimzelle der redistributiven Demokratie darstellt (vgl. ibid.). Das Umverteilungspotenzial wird indes auch von Baiocchi (2003, S. 50-52) bestätigt, der zeigen kann, dass die ärmeren Stadtteile Porto Alegres seit der Einführung des Bürgerhaushalts einen deutlich größeren Anteil an öffentlichen Investitionen erhalten. Über einen Zeitraum von ca. zehn Jahren (1989-2000) stieg der Anteil der Haushalte mit Abwasseranschluss von 46 auf 98 Prozent und die Zahl der öffentlichen Schulen in städtischer Trägerschaft wuchs von 29 auf insgesamt 86 an. In den Jahren 1992-1995 erhielten zudem rund 27.000 Familien Wohngeld, weit mehr als in einem vergleichbaren Zeitraum (1986-1988) vor Einführung des Bürgerhaushalts. Des Weiteren zeigt eine Umfrage aus dem Jahr 1998, dass das sozioökonomische Profil des durchschnittlichen Teilnehmers am Bürgerhaushalt, vor allem was Bildung und Einkommen betrifft, unterhalb des städtischen Durchschnitts liegt. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer verfügt über ein Haushaltseinkommen von vier Mindestlöhnen oder weniger und ein ebenso großer Teil besitzt keine Schulbildung, die über das Niveau der achten Klasse hinausgeht. In einer vergleichenden Studie kommt Avritzer (2009, S. 113) hingegen zu dem Ergebnis, dass die redistributive Wirkung des Bürgerhaushalts variiert. Je nach Struktur der politischen und der Zivilgesellschaft fiel die Umverteilungswirkung des Bürgerhaushalts in manchen Städten schwächer aus als in anderen. In allen untersuchten Fällen waren es jedoch die armen Stadtteile, die am stärksten von seiner Einführung profitierten. Damit bestätigt sich erneut, dass Bürgerhaushalte

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das Potenzial besitzen, die Lage der (ökonomisch) am stärksten benachteiligten Bürger zu verbessern.

Auch in Bolivien finden sich Hinweise darauf, dass partizipative Initiativen auf Gemeindeebene das wirtschaftliche Wohlergehen des Durchschnittsbürgers verbessern konnten. Laserna (2009) zeigt, dass Initiativen wie das Volksbeteili­gungsgesetz, das Dezentralisierungsgesetz, das Gesetz des nationalen Dialogs, Gesetze zum Schutz indigener Territorien, Umwelt- und Forstwirtschaftsgesetze sowie Reformen des Wahlsystems mit einer Vielzahl neuer Partizipationskanäle und -mechanismen einhergingen, die neben den Repräsentations- auch die politischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger verbesserten. In diesem Zusammenhang stellte er fest, dass die ärmsten und wirtschaftlich rückständigsten Regionen des Landes mit mehr Ressourcen bedacht wurden und historisch benachteiligte Gebiete einen größeren Anteil der Staatsausgaben erhielten (vgl. ibid., S. 143). Darüber hinaus wurde die Bereitstellung grundlegender staatlicher Dienstleistungen im ganzen Land und in ländlichen Gebieten erweitert. Dies hatte zur Folge, dass sich die Lebensbedingungen schneller verbesserten als vor der Einführung partizipativer Innovationen (vgl. ibid., S. 148).

Die nationalen Politikkonferenzen Brasiliens (conferencias nacionais de políticas públicas) befördern ebenfalls die soziale und ökonomische Inklusion. Sie haben vor allem für die Einbeziehung von Minderheitengruppen gesorgt, indem sie sich für die Gewährung von Rechten einsetzten und politische Maßnahmen entwickelten, die Themen wie Geschlecht, Abstammung, ethnische Zugehörigkeit und andere Minderheitenfragen behandeln. Es konnte in diesem Zusammenhang gezeigt werden, dass die Zahl der politischen Maßnahmen auf Bundesebene, die mittels Präsidialdekrete ergriffen wurden und Minderheiten- bzw. Menschenrechte zum Gegenstand haben, zwischen den Jahren 2003 und 2010 von 12 auf224 anstieg - ein Wachstum um fast 200 Prozent (Pogrebinschi 2012). Im selben Zeitraum wurden umfangreiche nationale Politikprogramme beschlossen, deren Maßnahmen speziell darauf abzielen, die Lebensbedingungen von benachteiligten Gruppen wie Frauen, Senioren, Menschen mit Behinderung und ethnischen Minderheiten zu verbessern. Sie sind das Resultat von Forderungen, die diese Gruppen im Rahmen der natio­nalen Politikkonferenzen formulieren konnten. Zudem fanden sich Belege dafür, dass die brasilianischen regionalen Politikkonferenzen zum Thema Nahrung und Ernährungssicherheit den Beschluss des ersten umfassenden Regierungsprogramms auf diesem Gebiet begünstigt haben (Pogrebinschi und Samuels 2014). Der natio­nale Plan für Nahrungs- und Ernährungssicherheit (Plano Nacional de Seguranca Alimentar e Nutricional, PLANSAN) wurde in mehrere spezifische Maßnahmen und Programme übertragen, die sich auf das Leben von Millionen Brasilianern auswirken, beispielsweise das Programm zur Lebensmittelbeschaffung (Programa de

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Aquisifäo de Alimentos, PAA), das „Nahrungsmittel für unterernährte Menschen zur Verfügung stellt und die soziale und ökonomische Inklusion in ländlichen Gebieten durch Verbesserungen in der Familienlandwirtschaft fördert" (Pogrebinschi und Samuels 2014). Allein im Jahr 2011 unterstützte das Programm 19.728.731 Familien mit staatlichen Fördergeldern in Höhe von insgesamt 233 Millionen Dollar.

Obwohl im Jahr 2010 71 Prozent der lateinamerikanischen Bürger angaben, mit ihrem Leben zufrieden zu sein, und ihr Anteil im Jahr 2000 lediglich 41 Prozent betrug (Latinobarómetro), lässt sich derzeit noch nicht abschließend beurteilen, ob die neuen Instrumente der Demokratie in Lateinamerika tatsächlich zur Ver­besserung der sozialen Gleichheit beitragen. Die Folgen der Umverteilung ein­zelner partizipativer Innovationen lässt sich kurzfristig nur sehr schwer erfassen. Zudem muss die Wechselbeziehung zwischen dem weitverbreiteten politischen Experimentalismus und der Verbesserung sozialer und politischer Indikatoren auf dem gesamten Kontinent erst noch genauer untersucht werden. Angesichts der kausalen Komplexität bieten sich hierzu zum Beispiel die Methoden der Qualitative Comparative Analysis (QCA) und des process tracing an. Auch wenn verschiedene Erklärungsansätze alle zum selben Schluss kommen, müssen Demokratieforscher dem Wechselspiel zwischen der Einführung partizipativer Innovationen und der Verwirklichung sozialpolitischer Maßnahmen genügend Aufmerksamkeit schenken. Nur so kann festgestellt werden, ob die jüngste Verbesserung sozialer und poli­tischer Indikatoren in Lateinamerika, die zu einer Zeit geschah, als Regierungen begannen, mit Repräsentation, Partizipation und Deliberation zu experimentieren, kausal interpretiert werden kann.

Dafür gibt es folgende Anhaltspunkte. So haben in der Region in den letzten zehn Jahren nicht nur das Ausmaß des politischen Vertrauens und die Demo­kratiezufriedenheit zugenommen, auch die politischen Führer oder Parteien der experimentierfreudigsten Regierungen wurden wiedergewählt. Linksgerichtete Präsidenten oder Parteien, die partizipative Innovationen ausdrücklich als Mittel zur Verwirklichung sozialer Gleichheit nutzten, wurden in den letzten Jahren in mindestens sieben Ländern wiedergewählt (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Uruguay und Venezuela). Wie die Beispiele dieses Kapitels ver­deutlicht haben, handelt es sich mit Ausnahme von Argentinien und Chile bei den verbleibenden fünf Ländern um genau jene Fälle, in denen der demokratische Experimentalismus am stärksten ausgeprägt ist. In Brasilien, dem Land mit der längsten und umfassendsten Erfahrung, was das Experimentieren mit partizipa-tiven Innovationen angeht, wurde die Arbeiterpartei (PT) bereits zum dritten Mal in Folge wiedergewählt. Im Jahr 2013 begann sie ihr zehntes Regierungsjahr mit

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einer Zustimmungsrate von 79 Prozent für Präsidentin Dilma Rousseff.4 Zudem verringerte sich die Armutsquote in Brasilien von 2003 bis 2011 um 54 Prozent. Alleine im Jahr 2011 fiel sie innerhalb von 12 Monaten um 7,9 Prozent. Auch der Gini-Koeffizient verringerte sich von einem Wert von 0,5975 im Jahr 2001 auf ei­nen Wert von 0,5190 im Jahr 2012.5 Die vielen sozialen Programme der Regierung wären undenkbar ohne die Verpflichtung, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft zu regieren. In diesem Zusammenhang dient „soziale Partizipation als Werkzeug für die Gestaltung, Implementierung und Bewertung öffentlicher Politik", wie die Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff, vor Kurzem versicherte.6

4 Ist Partizipation ein Heilmittel für die ,Krise der Demokratie'?

Jüngste Umfragen zeigen, dass das Vertrauen in politische Institutionen in Latein­amerika stärker ausgeprägt ist als in Europa. Laut Daten des Eurobarometers und des Latinobarömetros aus dem Jahr 2010, hatten 45 Prozent der lateinamerikanischen Befragten starkes Vertrauen in die jeweiligen nationalen Regierungen. Dagegen neigten lediglich 29 Prozent der befragten EU-Bürger dazu, den Regierungen ihres Landes zu vertrauen. Das Ansehen von Parlamenten und Parteien fällt zwar auf beiden Kontinenten geringer aus, doch auch hier verzeichnete Europa durch­schnittlich niedrigere Zustimmungswerte als Lateinamerika. So gaben 34 Prozent der Befragten in Lateinamerika an, starkes Vertrauen in das Parlament ihres Landes zu haben, und 23 Prozent der Umfrageteilnehmer waren bereit, Parteien zu ver­trauen. Im Vergleich dazu sprachen lediglich 31 Prozent der befragten EU-Bürger ihren nationalen Parlamenten das Vertrauen aus und gerade einmal 18 Prozent den Parteien ihres Landes. Diese Zahlen weisen auf ein erstaunliches Phänomen hin. Gerade wenn man bedenkt, dass es sich bei der Mehrheit der EU-Länder um konsolidierte Demokratien handelt, hätten ihre stabilen und legitimen Institutionen eigentlich eine größere Resistenz gegenüber .Krankheits'symptomen aufweisen

4 Stand vom 29. April 2013. 5 Redacäo Época com Agencia Brasil (2012) Pobreza no Brasil diminuí 7,9% em 2011,

diz IPEA. http://revistaepoca.globo.com/Negocios-e-carreira/noticia/2012/03/pobre-za-no-brasil-diminui-79-em-2011.html. Zugegriffen: 29. April 2013.

6 Dilma Roussef in einer Rede vor dem brasilianischen Parlament im Jahr 2011. Der voll­ständige Wortlaut der Rede ist unter folgendem Link verfügbar: http://glo.bo/g0gFH5. Zugegriffen: 29. April 2013.

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müssen, die für gewöhnlich eher mit den defekten Demokratien des globalen Südens in Verbindung gebracht werden.

Die Befunde sind indes noch eindrucksvoller, wenn man Längsschnittdaten vergleicht. So gaben im Jahr 2003 nur 19 Prozent der Befragten in Lateinamerika an, Vertrauen in ihre Regierungen zu haben. Nur sieben Jahre später, im Jahr 2010, war ihr Anteil bereits auf 45 Prozent angestiegen. Das Vertrauen in Parlamente und Parteien hat in den letzten Jahren ebenfalls deutlich zugenommen. Während im Jahr 2003 gerade einmal 17 Prozent der lateinamerikanischen Bürger Vertrauen in ihre nationalen Parlamente bekundeten, verdoppelte sich ihr Anteil bis 2010 auf 34 Prozent. Im selben Zeitraum stieg das Vertrauen in Parteien von 11 auf 23 Prozent an. Die entsprechenden Kennwerte für Europa hingegen blieben auf niedrigem Niveau weitgehend stabil. Das Vertrauen in nationale Parlamente sank zwischen 2003 und 2010 von 35 auf 31 Prozent, und das Vertrauen in Parteien schwankte zwischen 15 und 18 Prozent. Wenn man bedenkt, dass die dritte Demokratisie­rungswelle und die mit ihr einhergehenden Verfassungsreformen in Lateinamerika bereits im Jahr 1978 einsetzten (vgl. Huntington 1991; Hagopian und Mainwaring 2005), lässt sich das schnelle Anwachsen des politischen Vertrauens in den letzten zehn Jahren nicht mehr allein mit der erwarteten Konsolidierung grundlegender demokratischer Institutionen (Parlamente, Parteien etc.) erklären.

Dennoch zeigten Studien zu Lateinamerika bis zur Jahrhundertwende stets, wie sinkende Parteienidentifikation, abnehmende Wahlbeteiligung (vgl. Hagopian 1998) und elektorale Volatilität (vgl. Mainwaring und Scully 1995; Roberts und Wibbels 1999) den Prozess der demokratischen Konsolidierung gefährdeten. Ungeachtet der vielen Demokratisierungsbemühungen in den 1980er Jahren kamen Analysen des demokratischen Konsolidierungsprozesses in Lateinamerika während der gesamten dritten Welle immer zum selben Ergebnis: Die Bürger waren mit den Leistungen ihrer Regierungen unzufrieden und ihr Vertrauen in politische Institutionen war äußerst gering. In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts meinten deshalb viele Beobachter (z. B. Fox 1994; O'Donnell 1996; Mainwaring 1999), dass es Regierungen nicht gelänge, wirksame Lösungen für drängende Probleme wie Entwicklung, soziale Gleichheit, Kriminalität, wirtschaftliche Krisen, Inflation, Klientelismus, Patrimonialismus und Korruption zu finden.

Bis zur Jahrhundertwende schienen Meinungsumfragen diese Diagnosen zu bestätigen. So verzeichnete das Latinobarömetro bis zum Jahr 2001 eine wachsende Demokratieunzufriedenheit in Lateinamerika. Selbst der Anteil der Bürger, der die Demokratie als bevorzugte Regierungsform ansah, war von 1990 bis 2000 gefallen, also genau zu jener Zeit, als die meisten Demokratien der Region sich in der Phase von der Transit ion zur Konsolidierung befanden. Auf der Basis von Umfragedaten des Latinobarömetros aus den Jahren 1995 und 2001 kam O'Donnell (2004) zur

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Einschätzung, dass es aus Sicht der öffentlichen Meinung schlecht um die Demo­kratie in Lateinamerika bestellt war. Damit schienen sich die Ergebnisse seiner früheren Studien zu bestätigen, wonach lateinamerikanische Länder „anämische Staaten" waren, die sich durch „mangelnde Rechtsstaatlichkeit" (O'Donnell 1993) und eine „Bürgerschaft geringer Intensität" (O'Donnell 2001) auszeichneten. Die möglichen Zusammenhänge zwischen demokratischer Performanz und mangeln­der Unterstützung für die Demokratie in Lateinamerika untersuchten auch andere Forscher (vgl. z. B. Camp 2001; Lagos 2003; Graham und Sukhtankar 2004; Sarsfield und Echegaray 2006). Die verschiedenen Ansätze wurden jedoch alle mit Daten überprüft, die bis zum Jahr 2001 erhoben worden waren. Das schnelle Ansteigen des politischen Vertrauens und der Demokratiezufriedenheit in den Folgejahren wurde also nicht berücksichtigt.

Ob die experimentellen Formen der Kombination repräsentativer und parti-zipativer Elemente die Zufriedenheit der Bürger mit der Demokratie stärken, ist eine offene Frage, die empirisch zu beantworten sein wird. Die jüngsten demokra­tischen Innovationen in Lateinamerika stellen zweifellos nicht die einzig mögliche Kausalerklärung für den plötzlichen Anstieg des politischen Vertrauens auf dem Kontinent dar. Andere, zeitgleiche Faktoren dürften ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Hierzu zählen unter anderem das Wirtschaftswachstum, die Kontrolle der Inflation, die Verbesserung der Wirtschaftsleistung in Verbindung mit Umvertei­lungsmaßnahmen, die deutliche Verringerung von Armut und Ungleichheit, das Aufkommen einer starken Mittelschicht sowie kleine, aber dennoch wahrnehmbare Fortschritte bei der Strafverfolgung, der Schutz von Rechten, die Bekämpfung der Kriminalität und die Korruptionsprävention. Gleichwohl scheinen repräsentative Institutionen aufgrund der Einführung partizipativer Mechanismen immer besser in der Lage zu sein, die Erwartungen der Bürger an die Demokratie zu erfüllen.

In einem neueren Artikel behauptet Archen Fung gar: ,,[M]any of us may soon turn our eyes to Latin America, and to Brazil in particular, to understand their accomplishments in democratic governance" (Fung 2011, S. 857). Die Frage, ob partizipative Innovationen einen Sonderweg oder ein Modell für den Rest der Welt darstellen, bleibt jedoch unbeantwortet. Angesichts der großen Vielzahl „ambitio-nierter und erfolgreicher demokratischer Reformen" in Lateinamerika kommt Fung zu dem Schluss: "There are simply no analogs of similar scale and depth in North America, Europe, Asia, or Africa" (ibid., S. 868). Können die oben angeführten Umfrageergebnisse also tatsächlich mit den jüngsten Errungenschaften demo­kratischen Regierens erklärt werden? Unterscheiden sich die „ambitionierten und erfolgreichen demokratischen Reformen" Lateinamerikas von den demokratischen Reformen Europas, die in erster Linie der Verbesserung politischer Institutionen (vgl. Cain et al. 2003; Gallagher und Mitchell 2008) sowie der Überwindung der

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vermeintlichen Parteienkrise (vgl. Lawson und Merkl 1988) und der Krise der repräsentativen Demokratie im Allgemeinen (vgl. Hayward 1995) dienen? Und wenn dies der Fall sein sollte, bieten Reforminstrumente, die in Lateinamerika entwickelt wurden, nützliche Standards für die Verbesserung der demokratischen Qualität in Europa?

Auch in Europa sind Reformen, die der Förderung der Partizipation dienen, kein neues Thema auf der demokratischen Agenda. Allerdings wurden sie bislang hauptsächlich als Teil von Reformen angesehen, die auf repräsentative Institutionen wie Parteien- und Wahlsysteme abzielen. Bestenfalls wurden Forderungen nach einer effektiveren Beteiligung der Bürger am politischen Prozess in die Anliegen der direkten Demokratie aufgenommen (vgl. Budge 1996; Leduc 2003; Kriesi 2005; Pallinger et al. 2007; Altman 2011). Doch Referenden, Plebiszite und Volks­initiativen sind ebenfalls auf das Wählen beschränkt und stellen daher lediglich eine begrenzte Form der politischen Partizipation dar. Zudem ist der Einsatz di­rektdemokratischer Verfahren in Europa bislang weitgehend auf die kommunale Ebene und kleinere politische Einheiten beschränkt. Bürgerinitiativen (unter den drei Hauptmechanismen direktdemokratischer Beteiligung derjenige, der sich am wenigsten auf Wahlen stützt), erreichen für gewöhnlich nicht die nationale Ebene und mobilisieren meist nur sehr wenige Bürger. Der Nachweis, dass sie auch auf nationaler (oder transnationaler) Ebene realisierbar und effektiv sein können, muss folglich erst noch erbracht werden.

Mit vergleichbaren Formen der Partizipation jenseits von Wahlen und Parteien, ist in Europa bislang nur sehr begrenzt experimentiert worden. Immerhin konnte das Modell des Bürgerhaushalts relativ erfolgreich von Lateinamerika auf den .alten Kontinent' übertragen werden. Im Jahr 2009 hatten bereits mehr als 200 europäische Städte eine Variante des Bürgerhaushalts eingeführt, und Schätzungen zufolge be­teiligten sich im selben Jahr schon mehr als acht Millionen europäische Bürger an Experimenten mit Bürgerhaushalten, (vgl. Sintomer et al. 2010). Europäische Städte haben offensichtlich einen Weg gefunden, die Bürgerhaushalte an ihre spezifischen lokalen Kontexte anzupassen. Dennoch sind diese in Europa weit davon entfernt, ähnlich institutionell verankert zu sein wie in Lateinamerika.

Dass in Europa heute weitaus weniger partizipative Innovationen praktiziert werden als in Lateinamerika, ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass die repräsentativen Institutionen des .alten Kontinents' immer noch besser funktionieren als anderswo. Im Gegensatz zu Lateinamerika werden demokratische Prozesse in Europa wesentlich stärker von Parteien kontrolliert. Zudem ist die Ungleichheit nicht so stark ausgeprägt wie in Lateinamerika. Mit anderen Worten: Es könnte ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der demokratischen Inno­vationen und den unterschiedlichen Wahrnehmung einer demokratischen Krise

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durch die Bürger auf beiden Kontinenten bestehen. Die lauter werdenden Rufe nach mehr direkten Formen der Partizipation wie Referenden, Bürgerinitiativen und der Beteiligung von Bürgern an der Planung von Städten und Großprojekten könnten dabei erste Vorboten künftiger partizipativer Reformen in Europa sein.

Die Ausweitung und Institutionalisierung neuer Formen der politischen Partizi­pation ist ohne Zweifel ein Rezept für politische Reformen, dass die Lücke zwischen der Nachfrage der Bürger und dem Angebot der politischen Institutionen schließen hilft. Interessanterweise sind es die neuen, die den alten, etablierten Demokratien ein solches Rezept an die Hand geben. Die Erfahrungen in Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern stimmen optimistisch. Sie verdrängen die über allgemeine Wahlen legitimierten politischen Institutionen der repräsentativen Demokratie nicht, sondern vitalisieren und entlasten sie. Die an die Lehrer- und Vorbildrolle gewöhnten etablierten Demokratien dürfen umdenken: auch sie können lernen. Die Reformen in Lateinamerika bieten dafür Anlass und Anreiz.

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