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Inhalt 1. Einleitung ........................................................................................................... 9 2. Urbane Ethnografie – Methode ................................................................... 21 3. Spirit – Eine Subkulturelle Inszenierung ..................................................... 48 4. Sex, Drugs und Melancholie – Kosmonauten des Underground ........... 81 5. Beautiful People – Der Stil der Szene ........................................................ 104 6. Raumästhetik – Die zweite Stadt ................................................................ 109 7. Dérive – Kleine Phänomenologie der Momente ..................................... 146 8. Wagenburgen – Proletarierromantik der Szene ....................................... 175 9. In Wäldern und an Seen – Hippieromantik der Szene ........................... 205 10. Unfocused gatherings – Partys als Lebensform ..................................... 235 11. Zusammenfassung ...................................................................................... 261 12. Szenen und Theorien urbaner Kultur...................................................... 267 13. Fazit – Die Stadt, die Szene und der Wandel ......................................... 309 Anhang: Szene Berlin vor 1989....................................................................... 314 Bibliografie ......................................................................................................... 323

Kosmonauten des Underground. Ethnografie einer Berliner Szene

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Inhalt

1. Einleitung ........................................................................................................... 9

2. Urbane Ethnografie – Methode ................................................................... 21

3. Spirit – Eine Subkulturelle Inszenierung ..................................................... 48

4. Sex, Drugs und Melancholie – Kosmonauten des Underground ........... 81

5. Beautiful People – Der Stil der Szene ........................................................ 104

6. Raumästhetik – Die zweite Stadt ................................................................ 109

7. Dérive – Kleine Phänomenologie der Momente ..................................... 146

8. Wagenburgen – Proletarierromantik der Szene ....................................... 175

9. In Wäldern und an Seen – Hippieromantik der Szene ........................... 205

10. Unfocused gatherings – Partys als Lebensform ..................................... 235

11. Zusammenfassung ...................................................................................... 261

12. Szenen und Theorien urbaner Kultur ...................................................... 267

13. Fazit – Die Stadt, die Szene und der Wandel ......................................... 309

Anhang: Szene Berlin vor 1989 ....................................................................... 314

Bibliografie ......................................................................................................... 323

Rollin’, Rollin’, Rollin’

Frankie Laine

Victoria Schwenzer und Moritz Ege danke ich für die fachliche und freundschaftliche Unterstützung. Sie haben meinen Fragen viel Zeit ge-widmet. Ferner danke ich dem Projekt Culture of Cities, besonders Alan Blum, Geoff Stahl und Will Straw, für die neuen Perspektiven, die sie mir auf urbane Kultur eröffnet haben und die anregende Zeit, die ich an ihrem Centre in Toronto und Montreal verbringen durfte. In Berlin habe ich der Gruppe Stadtforschen am Institut für Europäische Ethnologie sowie Franka Schneider und Sabine Vogt interessante Diskussionen zu verdanken. Für das Korrigieren der Arbeit danke ich Anna Henk und meiner Mutter Marie-Luise.

Ganz herzlich danke ich außerdem meiner Familie, die mir in so liebe-voller Weise den Rücken gestärkt hat, insbesondere Hubertus und Martin, die in Zeiten des Zweifels immer ein offenes Ohr für mich hatten. Stefan danke ich für das Layout.

Prof. Dr. Rolf Lindner danke ich für die Betreuung und die Bereit-schaft, die Arbeit auf diese Weise entstehen zu lassen.

Mein größter Dank gilt Peer, Barbara, André, Claudia, Holger, Signe und all den anderen, die mich in so entspannter Weise an ihrem »im Licht ver-borgenen« Leben teilhaben ließen. Diese Arbeit existiert nur durch sie.

Einleitung

Als mit dem Mauerfall die amerikanische Armee Berlin verließ, fand auf dem nun verlassenen Gelände der amerikanischen Abhörstation auf dem Teufelsberg – allerdings mit fünfzehn Jahren Verzögerung – eine unange-meldete Party statt. In der Rundmail der Organisatoren der Party, eine Gruppe Informatiker und Elektrotechniker, hieß es:

»Grandiose Kulisse: Verlassene Gebäude, ganze Gebäudeteile ohne Fenster, lof-tartige Fabriketagen mit einem phantastischen Blick vom Teufelsberg über Pots-dam, Spandau bis Mitte und große weiße Kuppeln, welche die meisten vom Sehen kennen werden, unter denen früher die Radare versteckt waren. In einer dieser Kuppeln auf dem Dach wird die Party stattfinden. Feinste Musik […], Visuals (=Dia-Projektionen) von diversen Licht- und VJ-Teams, bei Dunkelheit Feuer-spiele, günstige Getränke – und ein verlassenes Spionage-Gelaende, das fuer Ent-deckungstouren wie gemacht ist.«1

Die Party fand auf dem höchsten Gebäude des Geländes statt, einem Flachdach mit zwei Radarkuppeln, unter denen die Bar und das DJ-Pult aufgebaut waren. Mit Blick auf Berlin und den Grunewald tanzte die Party-gesellschaft mit Drinks in der Hand und Sonnenbrillen im Gesicht auf den brüchigen Bodenplatten der Aussichtsfläche. Über eine Tür, die von dem Dach aus nach oben führte, gelangte man über einen Turm hinauf zu ei-nem weiteren Kuppelraum auf der Spitze des Turms, in den kaum Sonne drang und dessen Wände vom Material der Kuppelbespannung rötlich leuchteten. Die Anwesenden griffen zu herumliegenden Schrott-Teilen und begannen mit ihnen zu musizieren, wobei die Kuppel auf Grund ihrer Kugelform eine gute Akustik bot, so dass der gesamte Raum zu vibrieren begann. Gegen Abend rückte die Polizei ein und räumte das mit Bodenlö-

—————— 1 Rundmail vom 16.9.2004. Dass die amerikanische Abhörstation erst 2004 vom Techno-

Underground angeeignet wurde liegt an der andauernden polizeilichen Überwachung des Geländes, die erst endete, als der Plan des Umbaus des Geländes zu einer Hotel-Anlage aus finanziellen Gründen gescheitert war.

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chern übersäte Gelände aus Sicherheitsgründen. Die Festgesellschaft zog protestlos, aber nicht ohne die Polizei ironisch zu kommentieren, davon.

Das Gelände hatte sich eine »Szene« temporär angeeignet, die mit dem Mauerfall entstanden war und die seit 1989 Brachen und Leerstände (alte Fabriken, Werkstätten, Verkaufsläden, Gebäude-Relikte des DDR-Systems, etc.) in den ehemals proletarischen Vierteln Ostberlins und Kreuzbergs zur Durchführung von Partys jenseits der gesellschaftlich legitimierten Zer-streuungsräume nutzte (die Party auf der amerikanischen Abhörstation zählte ca. 300 Gäste, was dem Durchschnitt an Partygästen entspricht; zu den größten Partys der Szene kommen bis zu 3000 Gäste). Dieser »Techno-Underground«, wie sich die Szene allerdings nur selten selbst benennt, erkundet den Stadtraum nach seinen atmosphärischen Qualitäten, um an geeigneten Orten Feste zu veranstalten. Sein Bestreben ist es, durch die Ästhetisierung des Alltags die »Trennung zwischen den Individuen« zu überwinden (um im traditionellen Jargon subkultureller Bewegungen zu sprechen; vgl. Lefèbvre 1977). Seine Praxis florierte seit 1989 auf Grund der stadträumlichen Transformationsprozesse in Ostberlin, bei der die zu DDR-Zeiten marode werdenden Industriebauten nur allmählich neuen Nutzungen zugeführt wurden. Der Kult-Autor des Techno-Underground, Hakim Bey, nennt diese locations »Temporäre Autonome Zonen«, wobei allerdings die militärische Anmutung dieser Bezeichnung dem Hedonismus der Szene nicht adäquat ist. Diese Orte sind im Selbstverständnis der Szene »terrae incognitae: die letzten Räume des Unbestimmten und Vagen, die (noch) nicht verwertbar« sind, wie die Poptheoretiker Philipp Anz und Patrik Walder schreiben (Anz/Walder 1995: 206). Ihre ursprüngliche Ge-schichte ist beendet und der Verlauf einer zukünftigen, neuen Geschichte noch offen.

In dieser »Szene« (Blum 2001) wurde eine insgesamt 12-monatige Feld-forschung durchgeführt. Sie soll in dieser Arbeit vorgestellt werden.

Mit der Umfunktionierung urbaner Brachen und Leerstände durch den Techno-Underground entsteht in Berlin eine zweite Stadt, die im Empfin-den ihrer Konstrukteure die eigentliche Stadt darstellt. Diese zweite Stadt zeichnet sich durch die Dominanz ihrer Raum-Atmosphären aus, deren Erkundung, Umgestaltung und Inszenierung die Hauptbeschäftigung ihrer Bewohner darstellt. Sie ist nicht die bürgerliche, hochkulturell geprägte Stadt der Theater, Museen und Konzerthallen, bei der die Kunst über den profanen Alltag triumphiert. Sie ist aber auch nicht die proletarische, von

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der Arbeit geprägte Stadt der Fabriken, Mietskasernen und Kneipen, bei der sich die »Basis« gegenüber dem »Überbau« behauptet – diese ist im Zuge der Deindustrialisierung der Städte verschwunden und gerade die alten Fabriken werden nun neu angeeignet. Die Konstrukteure dieser zweiten Stadt, das heißt die Akteure des Techno-Underground, entstam-men dem neuen Kleinbürgertum (Bourdieu 1997: 561ff.), jener gesell-schaftlichen Schicht jenseits der traditionellen Teilung von oben und unten, die sich weder an der Hochkultur noch an der proletarischen Kultur orientiert und in der Stadt verortet ist.2 Ihnen schwebt eine Stadt vor, de-ren Räume dem Vergnügen gewidmet sind, die improvisiert und unfertig ist, die für eine Nacht aus Licht und Musik entsteht und anschließend wieder vergeht, das heißt die ausreichend Material zum Spiel mit Räumen und Atmosphären liefert (vgl. die Ausführungen zu Siegfried Kracauer im Kapitel 12).

Während die moderne Gesellschaft sich durch eine statische Raumord-nung reproduziert und manifestiert (das Museum bleibt an Ort und Stelle und die Kneipe an der Ecke; vgl. Lefèbvre 1977), zielt diese neue Form der Raumnutzung auf eine Verflüssigung räumlicher Grenzen, bei der locations im Stadtraum produziert werden um sie anschließend wieder aufzulösen. Hier trifft sich eine ästhetische Strategie mit dem stadtentwicklungs-bedingten Zwang, Räume nur temporär nutzen zu können und diese ver-lassen zu müssen, sobald die Gebäude saniert werden. Diese neue Form der Raumnutzung zielt nicht auf die Herstellung einer stabilen räumlichen Ordnungen, sondern den permanenten Wandel, der gut heißt, was sich einer fixierbaren Positionierung entzieht. Über das neue Kleinbürgertum schreibt Bourdieu: »Lieber wollen sie als ›drop-outs‹ und Randgruppe le-ben, als klassifiziert, einer Klasse, einem bestimmten Platz in der Gesell-schaft zugeordnet sein« (581). Diese neue »Klasse« (ebd.) entzieht sich einer gesellschaftlichen Zuschreibung, um bloß nicht kategorisiert und einer gesellschaftlichen Schublade zugeordnet zu werden. An die Stelle einer gesellschaftlichen Ordnung setzen ihre Akteure die Logik des Wandels. Die Collage am Anfang dieses Buches stellt dieses Umherschweifen im Stadtraum dar. Sie wurde von einem Akteur der Szene gestaltet.

Die Entstehung des neuen Kleinbürgertums und seiner spezifischen Raumnutzungsformen ist Bestandteil breiterer gesellschaftlicher Wand-

—————— 2 Die Stadt als Auflöserin alles Festen (vgl. Simmel im Theoriekapitel) liefert nach

Bourdieu »die Bedingungen zu(r) vollen Verwirklichung« des urbanen Kleinbürgertums (Bourdieu 1997: 569).

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lungsprozesse, bei denen die Populärkultur zunehmend zur gesellschaftli-chen Leitkultur wird und der urbane Raum in ein Happening transformiert wird (vgl. Durth 1988; Häußermann/Siebel 1992, Lindner/Musner 2005). Die Individuen verhalten sich nicht mehr gemäß traditioneller Schichtzu-sammenhänge und Verpflichtungen, sondern sie richten ihr Leben an Er-lebniszusammenhängen und spontaner Glückserfüllung aus. Geschmack, Ästhetik und Gefühle werden zu Primärkategorien gesellschaftlichen Han-delns. Traditionelle Beziehungsformen (der Verein, die Familie, die Orga-nisation) lösen sich dadurch zunehmend auf, ebenso wie die eindeutige gesellschaftliche Unterteilung in Unter-, Mittel- und Oberschicht (wobei die Lockerung dieser sozialen Zusammenhänge ein explizites Projekt des neuen Kleinbürgertums ist). Vormals bürgerliche Tugenden werden durch das neue Leitprinzip des Genusses ersetzt, an die Stelle der Pflicht tritt »die Pflicht zum Genuss«: »Entspannung statt Anspannung, Genießen statt Anstrengungen, Kreativität und Freiheit statt Disziplin, Kommunikation statt Einsamkeit« (Bourdieu 1997: 578), wie Bourdieu es formuliert.

In Bezug auf den Raum bedeutet dies, dass dieser als Container tra-dierter Ordnungen zunehmend weniger Gewicht hat und an dessen Stelle seine atmosphärischen Qualitäten treten, die Gefühle evozieren anstatt bestimmte Funktionen zu erfüllen. Wie Gernot Böhme in seiner Theorie der Atmosphäre schreibt (Böhme 1995), erhält in der Spätmoderne die Explikation der Dinge, das Sich-Zeigen, einen zunehmenden ästhetischen Eigenwert, bei dem es weniger auf die Bedeutung der jeweiligen Dinge und Räume als auf ihren szenischen Wert ankommt. Objekte und Räume wer-den gebraucht und angeeignet, nicht weil sie nützlich sind, sondern weil sie eine szenische Funktion einnehmen, als Bestandteil eines Stils, als Element zur Erzeugung von Atmosphären, als Orte oberflächlicher Zerstreuung. Es handelt sich hier um Räume und Accessoires, die allein zur Verschönerung des Lebens beitragen, die, kritisch formuliert, keinen tatsächlichen Wert, sondern nur einen »Scheinwert« (ebd.: 46) besitzen. Im Beruf des location-Scouts, der heutzutage nicht mehr nur Film-Sets aufspürt, sondern auch reizvolle Umgebungen für Hochzeitspaare, Firmenpartys und Kunst- und Kulturfestivals findet, erhält die Aufwertung der Atmosphäre sogar eine eigene Profession. Die ursprüngliche Bedeutung und Funktion der jeweili-gen Orte ist nur ein Nachhall, relevant sind sie vor allem durch ihre »affek-tiv getönte Enge oder Weite, in die man hineintritt« und durch das »Flui-dum, das einem entgegen schlägt« (ebd.: 95). Durch diese Aufwertung der Atmosphären erscheint die Gesellschaft, ihre Orte, Personen und Instituti-

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onen zunehmend als event, der auch den Stadtraum als Ganzes umfasst. Böhme spitzt es zu: »Es geht um die Inszenierung der Waren und um die Selbstinszenierung der Menschen. Es geht um die Inszenierung von Poli-tik, die Selbstinszenierung von Firmen. Es geht um die Inszenierung gan-zer Städte, ja des großen kapitalistischen Festes als solchem« (ebd.: 65).

Der Techno-Underground spiegelt und reproduziert diese allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen der Festivalisierung der Gesellschaft und der Stadt, doch gehen für ihn diese gesellschaftlichen Entwicklungen noch nicht weit genug. Die Gesellschaft mag tatsächlich zunehmend erlebnisori-entiert ausgerichtet sein, die Atmosphärenräume mögen tatsächlich einen zunehmend gesellschaftlichen Eigenwert erhalten, die Stadt mag tatsächlich tendenziell zum event werden, doch fallen diese Tendenzen hinter der utopischen Vision des Techno-Underground zurück. Denn trotz der »Äs-thetisierung des Realen« (Welsch 1993) zeigt sich die Gesellschaft einer sozialen Ordnung unterworfen, die zwar weniger rigide ist als das traditio-nelle Schichtmodell, aber nichtsdestotrotz den Akteuren eine Position im »sozialen Raum« der Gesellschaft zuweist, um mit Pierre Bourdieu zu spre-chen (Bourdieu 1997: 277), die individuelle Handlungsmöglichkeiten er-öffnet oder auch verwehrt. Der Besitz oder Nichtbesitz von symboli-schem, kulturellem, sozialem und freilich auch von ökonomischem Kapital disponiert die gesellschaftliche Existenz, den Geschmack, die Verhaltens-weisen und Orientierungen und wirkt maßgeblich an der Ausgestaltung der Lebensstile und Sozialisationsformen mit. Insbesondere der Erlebnismarkt erweist sich als ein gesellschaftliches Feld, das von jenen objektiven Gesell-schaftsfaktoren mitbestimmt und strukturiert wird und durch den sich wiederum die gesellschaftliche Ordnung reproduziert. Er produziert ein »System von Differenzen« (Bourdieu 1997: 279), das die gesellschaftlichen Akteure nach Geschmacks- und Habitusgruppen unterteilt und auf diese Weise in ihren sozialen Lagen bestätigt und festlegt. Was ansonsten als ein überholtes Denken in Kategorien von oben und unten erscheint, kehrt in der Erlebnisgesellschaft als Erlebnishierarchie zurück, als Erlebnisprivile-gierung für die einen und Erlebnisminderung oder gar -verweigerung für die anderen.3 Somit lockert die Auflösung der Räume zu Gunsten ihrer Atmosphäre zwar traditionelle Festschreibungen, bedeutet aber nicht au-

—————— 3 Für Bourdieu bleibt der »fundamentale Gegensatz« von »oben/unten, reich/arm« auch

in einer Gesellschaft bestehen, wo Milieus und Lebensstile an die Stelle traditioneller Schichten treten (Bourdieu 1997: 279).

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tomatisch die Auflösung der dahinter liegenden gesellschaftlichen Ord-nung.

Stuart Hall bezeichnet Subkulturen als Avantgarde gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und der Berliner Techno-Underground kann somit als Avantgarde beschrieben werden (Hall 1977: 62; siehe auch Hebdige 1998 [1979]: 80), auch wenn er keine Subkultur im klassischen Sinn ist, also keine von der dominanten Gesellschaft klar getrennte gesellschaftliche Untereinheit, sondern eine fluide Szene (auf die begrifflichen Unterschiede von »Subkultur« und »Szene« wird im Kapitel 12 eingegangen). Er bildet die Avantgarde einer neuen Gesellschafts- und Raumordnung, die mit der »Erlebnisgesellschaft« (Schulze 1992) und der »Stadt als Event« (Bittner 2001) bereits zu Schlagworten gefunden hat, aber theoretisch noch nicht konsequent zu Ende geführt wurde. Die kulturelle Praxis des Techno-Un-derground, das Umherschweifen im Stadtraum und die Konstruktion und Dekonstruktion von Räumen (locations), ist im Sinne der klassischen Bir-minghamer Subkulturtheorie eine Strategie, mit der eigenen (kleinbürgerli-chen) Position im sozialen Raum der Gesellschaft kreativ umzugehen und diese durch alternative kulturelle Praxen konkret zu verändern (Hall/Jefferson 1998 [1975]). Fokus der kulturellen Praxis des Techno-Underground ist der Raum (ein Erbe kleinbürgerlichen Strebens nach Autonomie durch Privatbesitz), in dem sich die Individuen anlässlich der events aufhalten und der bearbeitet und gestaltet wird, nicht um sich dau-erhaft niederzulassen, sondern um immer neue Räume zu finden und den Stadtraum insgesamt in einen Atmosphärenraum zu verwandeln. In Ab-grenzung zur kleinbürgerlichen Stammkultur, die in den umfunktionierten Einrichtungsgegenständen der untergegangenen DDR noch mitschwingt, dient dieser Raum nicht der Festlegung von Grenzen und der Zementie-rung eines Innen und Außen, sondern im Gegenteil der Auflösung von Grenzen und der Förderung zwischenmenschlicher Begegnungen im Stadtraum. Der Raum, die location, gilt nicht der gesellschaftlichen »Tren-nung«, die »Gemeinschaften« beziehungsweise Milieus und Lebensstil-Gruppen »aufsplittert« (Lefèbvre 1977: 210), sondern im Gegenteil der Zusammenführung urbaner Akteure. Auch Bourdieu beschreibt, wie das neue Kleinbürgertum nach »Kommunikation […], ja nach Verschmelzen mit anderen« sucht, wobei er diesen Wunsch durch die Verwendung eines hippiesken Jargons mit »to relate« pointiert (Bourdieu 1997: 577). Die location kann mit den Worten des marxistischen Philosophen Henri Le-fèbvre als »Vektor Null« (Lefèbvre 1991 [1970]: 58) bezeichnet werden, der

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den »Bewohnern des städtischen Raums« dazu dient, die »Entfernung [zueinander] zu annullieren« (ebd.) (wobei freilich auch neue Distinktions-formen entstehen). Dieser Raum steht in Wechselwirkung mit dem sozia-len Raum der Gesellschaft und die Verflüssigung der Grenzen innerhalb dieses Raumes verweist auf eine Veränderung auch des sozialen Raums, dessen Grenzauflösung nicht, wie postmoderne Theorien es nahelegen, automatisch gegeben ist, sondern die aktiv in Form eines subkulturellen Projekts hergestellt werden muss. Die Verflüssigung des traditionellen bürgerlichen Gesellschaftsraums, der die gesellschaftlichen Gruppen ten-denziell in ein oben und unten unterteilt, verwirklicht sich aus der Per-spektive des Techno-Underground nur dadurch, dass auch der physisch konkrete Raum fließend wird, in den sich diese Ordnung einschreibt, und durch den sich diese Ordnung reproduziert. An die Stelle des Ordnungs-raums (als materieller Manifestation des abstrakten Gesellschaftsraums) tritt der fluide Atmosphärenraum als Ort der Begegnung und der Gesellig-keit (vgl. Simmel 1917), der in permanenter Wandlung begriffen ist, wobei das neue Kleinbürgertum Träger dieses neuen Raumprinzips ist. Anders formuliert: Der Techno-Underground praktiziert eine Loslösung vom Raummodell des Eigenheims und des Schrebergartens hin zu neuen Paläs-ten, die, anders als im Traum ihrer kleinbürgerlichen Stammkultur, nicht in den Vorstädten und wohlhabenden Vierteln angesiedelt sind, sondern locations für eine Nacht darstellen, die anschließend aufgegeben werden, um neue locations zu finden. Die Bewohner dieser festlich inszenierten Orte sind wie die Bewohner der echten Paläste Akteure innerhalb des sozialen Raums der Gesellschaft. Ihr Streben zielt jedoch nicht auf die räumliche Zementierung der eigenen Position (im Sinne eines Gegenraums), sondern darauf, das Prinzip des Raums an sich, als Verfestiger sozialer Hierarchien, aufzubrechen und die ewige Raumtransformation an seine Stelle zu setzen. Das neue Kleinbürgertum, das sozial nicht verortet werden will, setzt alles daran, die selbe Logik des ewigen Wandels auch auf den physisch konkreten urbanen Raum zu übertragen.

Die revolutionäre Künstlergruppe Internationale Situationisten hat diese fluide Stadt einst als urbane Utopie formuliert und damit in ihren um 1960 entstandenen Manifesten gedanklich vorweg genommen, was seit der Wende, und provoziert durch das Übermaß an Freiräumen, real praktiziert wird. Die Situationisten gingen davon aus, dass die räumliche Logik des aktuellen Stadtraums einer konservativen Logik folgt, die gegebene gesell-schaftliche Machtverteilungen und Hierarchien untermauert. Der Raum in

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seiner alten, überkommenen Gebrauchsweise, reproduziere und manifes-tiere die gegebene gesellschaftliche Ordnungen, er unterteile die Gesell-schaft in ein oben und unten, in wohlhabende und arme Viertel, in Arbeit und Freizeit, in Ökonomie und Spiel. Ihr revolutionäres Subjekt war da-mals die Arbeiterklasse, wobei sie die Bedeutung der Populär- und Mas-senkultur für diese Klasse aufwerteten und somit implizit eine Verklein-bürgerlichung nahe legten, bei der im positiven Sinne auch die Grenze der eigenen proletarischen Klasse zur Disposition stand (vgl. Kracauer). Die Situationisten plädierten für ein »dérive« (Umherschweifen) im Stadtraum, bei dem Orte nicht ihrer Funktion und Bedeutung wegen aufgesucht wür-den, sondern auf Grund ihres »psychogeografischen« Potenzials, das heißt auf Grund ihres Vermögens, bestimmte Stimmungen und Gefühle bei den Anwesenden zu erzeugen. Dérive bedeutete eine Erkundung des Stadt-raums, dessen Atmosphären auf ihre Tauglichkeit zur Schaffung von »Situ-ationen« überprüft werden, das heißt in der Sprache des Techno-Under-ground ihre Eignung als location zur Ausrichtung von events.4 Ihre Stadt ordnete sich nach Zerstreuungsqualitäten, nicht nach Wohn-, Geschäfts- und Einkaufsvierteln. Lefèbvre, der seine »Theorie der Momente« (Le-fèbvre 1977: 176ff.) sowie der »Produktion des Raumes« (ders. 1974) den Manifesten der Situationisten verdankt, formuliert diese utopische neue Stadt im situationistischen Sinne als einen Ort des Vergnügens und der Zerstreuung, dessen Räume sich permanent wandeln.

In der neuen Stadt sollte der konkrete Ort und die Situation, das heißt: die location und der event, über die Logik der sozialen Ordnung dominieren. Situationistischer Urbanismus bedeutete demnach ein Projekt, durch das das Hier und Jetzt zum privilegierten Ordnungsprinzip des Gesell-schaftsraums wird.

Diese Arbeit befasst sich in Fortführung des Konzepts der »Szene«, wie es am internationalen Forschungsprojekt Culture of Cities. Toronto, Montreal, Berlin, Dublin entwickelt wurde, mit einer neuen urbanen Kultur, die in ihren Normen und Werten, in ihrer Stadtraumnutzung und ihren Ver-gemeinschaftungsformen die heutige Stadt als Erlebniszusammenhang

—————— 4 In der von den Situationisten verfassten Lexikon-Definitionen beschrieben sie die

»konstruierte Situation« als ein durch die »kollektive Organisation einer einheitlichen Umgebung und des Spiels von Ereignissen konkret und mit voller Absicht konstruiertes Moment des Lebens« (Definitionen, siehe Ohrt 1995: 51).

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herstellt. Erst durch Szenen wird das fluide Gebilde Stadt zur Stadt und erst durch sie wird Berlin zu Berlin in seiner heutigen symbolischen Form.

Am Berliner Techno-Underground lässt sich studieren, wie sich heut-zutage urbane Erlebniskulturen in all ihren Widersprüchlichkeiten konkret vollziehen. Nicht Umfragen stellen das methodische Fundament dar, wie es der in Deutschland bekannte Soziologe und Szeneforscher Ronald Hitzler unternahm, sondern die teilnehmende Beobachtung am Ort des Geschehens. Durch die lange Dauer der Feldforschung und eine Fülle an Erfahrungen in der Lebenswelt des Techno-Underground können Sinn und Bedeutung dieser hedonistischen Stadtkultur nachvollzogen werden. Es geht um ein Verstehen dieser Kultur und ihrer Akteure, ihrer Haltung und ihrer Sicht auf die Welt, mithin um ein tieferes Verständnis, was Zer-streuung und Genuss bedeutet und welchen zentralen Stellenwert sie in der »fluid society« (Hannerz 1980: 275) einnehmen.

Die Leitfrage ist somit, durch welche Subjektivitäten sich Urbanität herstellt, aber auch, in welcher Weise sich das wirkliche Leben der spätka-pitalistischen Fluidität entzieht. Hierfür soll den Momenten im Alltag des Techno-Underground besondere Beachtung zukommen: Welche Bedeu-tung hat der konkrete Moment, das Fest, für die Szene? Was wird mobili-siert, um die Momente zu gestalten? Welche Wünsche, aber auch, welche Enttäuschungen verknüpfen sich mit dem Moment? Was bedeutet er in Bezug auf das Szeneleben insgesamt und den Lebensstil der Akteure? Diese Fragen knüpfen an die Situationen sowie Henri Lefèbvres Vorüber-legungen zu einer Theorie der Momente (Lefèbvre 1977) an. Ziel ist es nicht, zu einer Definition der Momente zu kommen, sondern vielmehr, deren zentrale Bedeutung für das Szeneleben empirisch und evokativ nachvollziehbar zu machen. Während die Entstehung von Momenten einer bestimmten Logik folgt und in ein Set subkultureller Normen und Werten eingeordnet ist, hat der Moment selbst keine Logik. Doch gerade in der grenzensprengenden Kraft der Momente und nicht in den subkulturellen Normen und Werte wird das Potenzial von Szenen für gesellschaftlichen Wandel plausibel.

Angesichts der zunehmenden Rede von der Verflüssigung räumlicher Grenzen, vom »Raum der Ströme« (Castells 1994), von der »fluidité ur-baine« (Petonnet 1979) oder vom »urban swirl« (Hannerz 1992), ist die Bedeutung des Techno-Underground und seine Praxis des Umherschwei-

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fens nicht hoch genug einzuschätzen.5 In diesem Zusammenhang ist auf-schlussreich, dass der Techno-Underground zur selben Zeit Ende der 1980er Jahre entstand, wie der Globalisierungsdiskurs sich formierte. Noch bevor Marc Augé 1988 seine Gedanken zu non-lieus veröffentlichte, fanden in England die ersten Partys in Warehouses statt. Ein Jahr später fiel die Mauer und machte für die Subkultur das »Übermaß an Raum«, von dem Augé sprach, zur Wirklichkeit. In dieser historischen Gleichzeitigkeit ist die temporäre Raumnutzung nicht mehr nur Teil einer Wirklichkeit, die von der Wissenschaft beschrieben wird, sie ist Ausdruck der selben Wirk-lichkeit, die auch die Theoriebildung formt. »Space« ist der Schlüsselbegriff sowohl innerhalb des Theoriejargons des »spatial turn« als auch in der Alltagssprache des Techno-Underground. Sowohl die theoretische als auch die kulturelle Praxis sind Bestandteil einer kulturellen Strömung, die sich einerseits in der Denkfigur des non-lieu, andererseits in der Praxis der temporären location niederschlägt.6

Indem die kulturelle Praxis des Techno-Underground die theoretischen Diskurse einholt und überholt, weist sie einen Ausweg aus der postmoder-nen Falle, bei der »all that is solid melts into the air« und deshalb nichts mehr verbindlich ist, denn sie zeigt, wie die Fluidität nicht gegeben ist, sondern aktiv hergestellt wird. Während postmoderne Kulturtheorien zunehmend weniger in der Lage sind, ihren Gegenstand empirisch zu ver-orten – je mehr beispielsweise Ulf Hannerz versucht, seine Theoriemodelle der postmodernen Gegenwart anzupassen, desto abstrakter und weniger ethnografisch werden sie – handelt es sich bei der Szene in Berlin um ein empirisch beobachtbares Phänomen, dessen fluide Praxis konkrete Orte und Beziehungen produziert und als solche ethnografisch beobachtbar ist. Durch ihr Projekt der psychogeografischen Umgestaltung des Stadtraums praktiziert sie eine Kultur der Verflüssigung, die von der postmodernen

—————— 5 Auch Michel Foucault schreibt: »Ich glaube also, dass die heutige Unruhe den Raum

betrifft […]. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt« (Foucault 1991: 66).

6 Man könnte diese Gleichzeitigkeit als intertextuellen Effekt interpretieren. Subkulturen nutzen Theorieangebote um sich selbst zu definieren. Hieraus entsteht eine Rückkopp-lung, wodurch die Realität, die die Theorie beschreibt, wieder durch Realität eingeholt wird (Lindner 1995). Im Falle der Subkultur in Berlin geht jedoch die Verwirklichung theoretischer Diskurse weit über die intertextuelle Aneignung hinaus. Subkultur und Theorie sind Ausdruck einer gemeinsamen kulturellen Verfasstheit auf einer viel grund-sätzlicheren Ebene, bei der die intertextuellen Effekte nur einen Teilbereich ausmachen.

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Verflüssigung von Kultur darin unterschieden ist, dass sie die Verflüssigung als Ziel formuliert und nicht als gegeben wahrnimmt.

Berlin als Untersuchungsfeld

Die Stadt Berlin, die als Untersuchungsfeld fungiert, ist dabei gleicherma-ßen »charakteristisch« wie »anormal«, um Gottfried Korffs Diagnose vom Berlin der Industrialisierung zu borgen, anhand derer er die These der »inneren Urbanisierung« entwickelte.7 Zwar ist das Phänomen der temporären Raumnutzung auch in anderen Städten anzutreffen, nachdem die Deindustrialisierung der Metropolen auch dort Freiräume entstehen ließ, dener sich die lokalen Subkulturen bemächtigten (Zukin 1989). Doch fand die Szene in Berlin nach 1989 einzigartige räumliche Möglichkeiten vor. Der hohe Leerstand und der vorübergehend rechtsfreie Raum provo-zierten geradezu, vom Techno-Underground erforscht zu werden und machten Ostberlin ganz allgemein zu einem Labor für alternative Lebens-stile. Die urbane Gestalt dieser Subkultur tritt in Berlin besonders prägnant hervor. Nach 1989 fand eine subkulturelle Umfunktionierung und Be-schleunigung des urbanen Raums von vorher nicht gekanntem Ausmaß statt, bei dem das »Übermaß« an Raum auch die »Stadt aus Stein« betraf,8 die physische Trägheit des Raums scheinbar gänzlich aufhob und ähnlich flexibel und wandelbar machte wie Kleidungsstile und Musik. Rolf Lindner beschreibt Berlin als »Zone in Transition« (Lindner 1993), als Stadt im ewigen Wandel – ein Motiv, das sich seit der Industrialisierung Berlins wiederholt und reproduziert. Auch noch 2004 reproduziert die Webseite der Fachmesse für Popmusik, der Popkomm, dieses Image von Berlin: »Eine Stadt, die sich noch nicht zu Ende gedacht hat, die unfertig bleiben will, die Veränderung mehr in den Genen hat als irgendeine andere euro-päische Metropole« (www.popkomm.de, Zugriff am 1.6.2004).

Mit der ethnografischen Beschreibung und der kulturwissenschaftlichen Analyse der Szene in Berlin soll ein Beitrag zur anthropology of the city (Hannerz 1980) geleistet werden, die Urbanität als kulturelle Form analy-

—————— 7 »Innere Urbanisierung« meint eine »Mentalität, wie sie sich im kommunikativen Bezie-

hungsgeflecht der Großstadt herausgebildet hat« (Korff 1985: 343f). 8 Eine Paraphrase auf Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der

westlichen Zivilisation, Berlin 1996.

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siert, also nicht Kulturen in der Stadt, sondern eine Kultur der Stadt be-schreibt. Indem die Träume, Ideale und Wünsche sowie die konkreten Handlungen, Raumaneignungen, Bewegungen und Vernetzungsformen der Szene beobachtet werden, soll die kulturelle Logik der Szene herausgear-beitet werden, die Berlin erst zum Ort des permanenten Wandels werden lässt.

Dabei wird ein zentraler Aspekt Berliner Stadtkultur in Konkurrenz zum Mythos des ewigen Wandels werden: seine proletarische Tradition. Mit ihm wird sich zeigen, dass auch im Techno-Underground subkulturelle Symboliken von wir und sie, oben und unten nicht obsolet geworden sind.

2. Urbane Ethnografie – Methode

Meine erste Begegnung mit dem Berliner Techno-Underground fand nicht in der Stadt, sondern in der Natur statt und ging der Entscheidung, im Techno-Underground eine Feldforschung zu unternehmen, voraus. Der Freund eines Kommilitonen nahm mich auf ein »illegales« Open-Air-Festi-val mit. Wie ich mich erinnere, bestand die Party nur aus einer Musikanlage und zwei Lautsprechern und fand am Ostseestrand nahe des schon in der DDR beliebten Ferienorts Kühlungsborn statt. Die Gruppe der Gäste war überschaubar, es kamen 100 bis 200 Personen, es gab nur eine Tanzfläche, die sich direkt auf dem Strand befand. Es war eine intensive Natur-Erfah-rung, die durch die Musik und die für mich exotisch aussehenden Men-schen spektakulär in Szene gesetzt wurde. Wir waren im Morgengrauen angekommen und wohnten einem prächtigen Sonnenaufgang bei, saßen zwischen den malerischen Dünen, aus denen die Grashalme in Büscheln stachen, blickten aufs Meer, das mit der aufgehenden Sonne an diesem wolkenfreien Tag geheimnisvoll zu glitzern begann und lauschten den noch nie gehörten Klängen, die von den Lautsprecherboxen herüberweh-ten. Ab und zu schoben »normale« Strandbesucher mit irritierten, nach innen gekehrten Blicken ihre Fahrräder an der Festgesellschaft vorbei. Später tanzten wir am Strand, bis uns die Mittagshitze in die Knie zwang. Die Tanzfläche war so nah am Wasser, dass Tanzen und Baden ineinander übergingen. Barfuß und teilweise nur noch mit Badehosen und Bikinis bekleidet, tanzten und schwammen die Anwesenden im Wasser. In einiger Entfernung wurde nackt gebadet.

In den Wochen darauf lernte ich auch verborgene locations in der Stadt kennen, alte Kellergewölbe, Fabrikhallen und bauliche Reliquien der unter-gegangenen DDR, wobei die neue Erfahrung auch eine neue Raumerfah-rung darstellte. Die atmosphärischen Qualitäten der Stadt traten stärker hervor und beeinflussten so das Gefühl des In-der-Stadt-Seins. Sie schulten eine ästhetische Wahrnehmung der Umwelt, die Gernot Böhme, wie in der

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Einleitung beschrieben, als allgemeine Tendenz einer »Ästhetisierung des Realen« (Böhme 1995: 13) beschreibt. Die ästhetische Gestaltung von Umwelt dominiert zunehmend das Empfinden der gesellschaftlichen Ak-teure und beeinflusst somit gesellschaftliche Prozesse insgesamt.

Erfahrung

Um die Kultur zu verstehen, die sich an Orten wie dem Ostseestrand und in den Zwischenräumen der Stadt ihre locations sucht, ist eine lebensnahe Feldforschung die einzig vorstellbare Methode. Feldforschung versucht, in eine andere Lebenswelt einzutauchen und sie von innen heraus nachzu-vollziehen. Ihr Ziel ist es, den Standpunkt der Akteure dieser Kultur, ihren Bezug zum Leben zu verstehen und sich ihre Sicht ihrer Welt vor Augen zu führen. Wie William Foote Whyte schreibt, Autor der klassischen Studie Street Corner Society (Whyte 1943), versucht der Forscher Teil der Gruppe zu werden, die er untersucht und in ihr zu leben (»living in the community«, ebd.: 279). Durch dieses Eintauchen erfährt er, was es bedeutet, ein anderes als das eigene Leben zu führen. Der Feldforscher (oder die Feldforscherin) »steps out of his own usual walks of life and gains an intimate knowledge of individuals and groups whose acitivities and beliefs were far different from his own« (ebd.: 283). Die Ethnografin untersucht das, was die Akteure »am unmittelbarsten betrifft, nämlich ihre konkreten Lebensumstände« (Malinowski 2001 [1922]: 49), wie der Ethnologe Mali-nowski, auf den sich auch Whyte bezieht, in seinem ethnografischen Stan-dardwerk Argonauten des westlichen Pazifik schreibt. Wie Malinowski betont, sollte dabei den »Imponderabilien des wirklichen Lebens« (ebd.: 43) sowie den subjektiven Empfindungen besondere Beachtung zuteil werden: Wer eine Kultur »ohne den subjektiven Wunsch studiert, zu erspüren, wodurch diese Menschen leben, und ohne die Substanz ihres Glücks wahrzunehmen«, so Malinowski, »der muss meiner Meinung nach auf die größte Belohnung, die wir vom Studium des Menschen erhoffen können, verzichten« (ebd.: 49).

Die Kategorie der »Erfahrung« (Willis/Trondman 2000: 6) ist hier zent-ral, im Sinne einer durch alltägliche Anschauung und Interaktion erworbe-nen Form der Erkenntnis. Sie war die genuine Form der Datengewinnung innerhalb der Chicago School, die mit ihrer Erforschung urbaner Subkultu-

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ren sich nicht nur einen kulturell randseitigen Forschungsgegenstand wählte, sondern auch eine von den Standards der scientific community abweichende Methode, die sich »in das ungesicherte Terrain des ›wirkli-chen Lebens‹« (Lindner 1990: 11) begab. Für die Chicago School ging dem Wissen über eine Kultur (als »knowledge about« im Sinne eines angelesenen, systematisch erworbenen Wissens) immer die durch erste Hand erworbene konkrete Erfahrung (als »acquaintance with«) voraus (ebd.: 60; siehe auch Willis/Trondman 2000). Dies gilt umso mehr für das Feld der Berliner Szene, die vom Pathos des Hier und Jetzt getragen wird und wo die körperlich-sinnliche Anwesenheit vor Ort, der Moment, als irreduzible Gefühlsqualität angesehen wird. Der Moment des Festes ist nach Ansicht der Szene-Akteure nicht repräsentierbar, er ist jenseits medialer oder ande-rer Formen der Repräsentation lokalisiert und hat seine eigene Wertigkeit, weshalb eine analytische Auseinandersetzung mit ihm sich nicht auf medi-ale Quellen reduzieren kann. Wie mir eine Akteurin der Szene einmal sagte, könne man den Rausch des Festes nicht in Worte fassen (Feldforschungs-tagebuch vom 8.1.02). Obgleich man hier auch Gefahr laufen kann, den esoterischen Tendenzen der Szene aufzusitzen, legt sie dennoch ein ein-fühlsames Nachvollziehen der Ereignisse vor Ort als Bedingung für das Verstehen nahe. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass die Romantik der Feldforschung, der Überzeugung einer »irreducibility of human expe-rience« (Willis/Trondman 2000: 5), mit der Romantik des subkulturellen Hier und Jetzt homolog ist.

Interaktion

Bedingung hierfür ist, wie die Soziologin Anne Honer schreibt, »der Er-werb einer praktischen Mitgliedschaft am Geschehen, das erforscht werden soll, der Gewinn einer existenziellen Einsicht« (Honer 1989: 300f.; s. auch Schmidt-Lauber 2007a). Der Weg der Erkenntnis führt von den vor Ort (vgl. Geertz 1993) erworbenen Erfahrungen zu abstrakten Begriffen, also durch die Feldforschung hindurch und über sie hinaus (vgl. Lindner 1981: 58). Der Weg zum Erwerb der Mitgliedschaft und die Reaktionen der er-forschten Gruppe auf die Forscherin haben dabei den größten Erkennt-niswert, weil hier das Anderssein der beforschten Kultur am stärksten erfahren wird und die Forscherin lernen muss, sich in diese Kultur einzu-

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finden. Dieser interaktionistischen und prozesshaften Perspektive geht die Annahme voraus, dass die Szene trotz aller Flüchtigkeit einer kulturellen Logik folgt, die nicht nur ein bestimmtes Verhalten der Szene-Akteure nahe legt und sinnvoll erscheinen lässt, sondern auch die Rolle und Posi-tion, die sie der Forscherin zuweist und die damit verbundenen Erfahrun-gen. Wie die Szene auf mich als Forscherin reagiert und welchen Platz und welche Rolle sie mir im Szenegeschehen zuweist, sagt etwas über die Be-schaffenheit der Szene selbst aus. Der Interaktionsprozess ist deshalb nicht als Störung wissenschaftlicher Objektivität zu verstehen, sondern im Ge-genteil »als Erkenntnisstand und Erkenntnisquelle« (ebd.: 52). Die Dyna-miken des Feldes und der damit verbundene Umgang mit der Forscherin sind »ganz und gar nicht zufällig, denn in ihnen kristallisieren sich soziale und kulturelle Erfahrungsgehalte« (Lindner 1981: 58). – Schon die Tatsa-che, dass ich über den Freund eines Kommilitonen Zugang zu meinem späteren Feld fand, ist beispielsweise aufschlussreich: Die Szene überlappt sich personell mit dem Studierenden-Milieu, so dass für einige Szene-Ak-teure wie auch für mich als Feldforscherin, der Zugangsort zur Szene die Universität darstellt.

Allerdings bestand eine erste Schwierigkeit bereits darin, in den Weiten des Stadtraums die Szene und ihre wechselnden Orte überhaupt erst ein-mal auszumachen, denn das Heimliche, Illegale der Zusammenkünfte gehört zum Selbstverständnis der Szene: »there is an esoteric aura connec-ted with any scene which often makes knowledge of its whereabouts a problem for outsiders«, schreibt Alan Blum (Blum 2001: 9). Um mit der Szene in Interaktion zu treten, musste ich diese überhaupt erst finden.

Auch nachdem ich einige Akteure der Szene näher kennen gelernt hatte passierte es mir immer wieder, dass ich Orte und Zeiten der Szene ver-fehlte. Ihre Räume blieben mir auch nach längerem Szenedasein nicht selten verborgen und die Zeiten, an denen sie zusammen kamen, folgt einem Rhythmus, den ich immer wieder verfehlte. So besuchte ich eine location, die ich am Wochenende zuvor kennen gelernt hatte, am nächsten Wochenende abermals in der Hoffnung, dass sich hier das Ereignis der letzten Woche wiederholen würde. Die location existierte noch, aber den-noch wurde ich enttäuscht, als ich ankam. Während vergangene Woche eine ekstatische Stimmung geherrscht hatte, hatten sich an diesem Wo-chenende nur Architekturstudierende eingefunden und keiner der mir bekannten Szene-Akteure war dort (die Architekturstudierenden waren von einem Architekten eingeladen worden, der an dieser location, einer

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ehemaligen Brauerei im Prenzlauer Berg, genannt »Schweizer Garten« auch sein Atelier hatte). Die Studierenden waren spürbar nicht aus der Szene, wie Szene-Akteure die Party später auch kommentierten, die meisten standen still und etwas verklemmt im Raum verteilt herum. Die flüchtigen Akteure der Szene hatten sich derweil an diesem Wochenende an einer anderen location vergnügt. Frustriert ging ich wieder nach Hause und musste mein Feldforschungsvorhaben für dieses Wochenende abbrechen.

Zeitlich verfehlte ich die Szene unter anderem an Heiligabend, wo eine Feier in der Werkstatt eines Künstlerkollektivs stattfinden sollte (gelegen in einem ehemaligen Volkseigenen Betrieb, dem Rohstoffkombinat »SeRo«). Weil ich von einem Weihnachts-Abend und nicht einer Weihnachts-Nacht ausging, erschien ich recht früh. Allerdings bestand ein stillschweigendes, nur von mir nicht geteiltes Einvernehmen, erst nach dem Abendessen dorthin zu kommen (einzelne Akteure trafen sich in ihren Privatwohnun-gen zum Kochen zusammen). Nur Kalle war bereits da, ein DJ der Szene, den ich zuvor auf der Strandparty in Kühlungsborn kennen gelernt hatte, weil er an diesem Abend die Platten auflegte, sowie eine Frau an der Bar und ein alter Bekannter von Kalle, der bezeichnenderweise einen ähnlichen Außenseiterstatus wie ich hatte (später am Abend unterhielt ich mich hauptsächlich mit ihm, weil auch er Anschluss suchte). Kalle begrüßte mich mit einem »du kommst ja früh«. Als ich mich irritiert an den selbst gezimmerten leeren Bar-Tresen setze, sagt eine Frau, die dahinter gerade aufräumte: »Am besten nochmal heim und den Acht-Uhr-Film sehen« (Feldtagebuchnotiz vom 24.12.01).

Auf Grund dieser Erfahrung ging ich zu einer Party an Silvester, die die »Pyonen« in der Kongresshalle veranstaltete, besonders spät, nämlich erst um zehn Uhr morgens. Dies war in diesem Fall allerdings zu spät. Ich war sicher, dass, wenn die Partys ohnehin noch den Folgetag andauerten, dies erst Recht für eine Silvesterparty gelten würde. Doch in diesem Fall waren die meisten Feiernden in den Morgenstunden bereits gegangen (um sich, was ich nicht erfuhr, am frühen Abend erneut an einer anderen location zu treffen). Kalle und andere aus dem sogenannten »Muh-Bar«-Collective, deren Akteure wir noch kennen lernen werden und die hier eine Cocktailbar organisiert hatten, saßen müde auf den Stühlen und blickten stumm vor sich hin. Eine Frau aus dem Collective sagte grinsend zu mir: »Na, ausgeschlafen und frisch geduscht?« Kalle sagte vorwurfsvoll, als hätte ich mich um etwas gedrückt: »Du kommst ja früh« (Feldtagebuchnotiz vom 1.1.02). – Collectives sind temporäre Zusammenschlüsse von Szene-Ak-

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teuren mit dem Ziel der »nichtkommerziellen«, das heißt nicht Gewinn-orientierten Durchführung von Partys.

Meine anfängliche Hilflosigkeit, überhaupt Kontakt zur Szene aufzu-nehmen und ihre geheimen Orte zu entdecken, verrät etwas über das Ge-heimnisvolle und Flüchtige, das der Szene anhaftet und das von dieser auch gepflegt und kultiviert wird (die Erfahrung, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein oder auch etwas gänzlich zu verpassen ist keineswegs nur ein Problem der Feldforscherin, sondern, wie mir später Akteure der Szene bestätigen, zehrt auch an ihnen immer das Gefühl, »etwas zu verpas-sen«). Wer die locations findet und an den Partys teil hat, gehört zum Kreis der Auserwählten, der Happy Few, die ein geheimes Wissen teilen, das sie im eigenen Empfinden gegenüber der normalen Gesellschaft zu Privili-gierten macht. Es zeigt zudem, dass die Szene einen Rhythmus an Orten, Zeiten und Personen auszeichnet, der mir lange Zeit verschlossen blieb. Nur diejenigen haben an diesem Rhythmus teil, die eng in das Szenenetz-werk eingebunden sind und detaillierte Informationen über Orte und Zei-ten erhalten. Ich musste zu einem Teil dieses Rhythmus und einem Mit-glied dieser Happy Few werden, was bedeutet, ihre Regeln und Codierungen zu verstehen.

Indem ich meinen Zugang zum Techno-Underground reflektierte, er-schlossen sich mir drei kulturelle Logiken der Szene: Zum ersten waren auch in dieser Szene tradierte Gender-Rollen wirkmächtig, die männliche und weibliche Szene-Akteure in ein bestimmtes Verhältnis zueinander setzten und also auch mir als weiblicher Forscherin bestimmte Hand-lungsmöglichkeiten eröffneten (und andere verwehrten). Zum zweiten und trotz der Flüchtigkeit der Szene zeigte sich, dass sich die Szene nach be-stimmten Personen, Orten und Gruppenzugehörigkeiten ordnet, die relativ stabil sind und denjenigen, die sich innerhalb dieser vorgegebenen Ord-nungsmuster bewegen, eine gewisse Kontinuität garantieren. Die Teil-nahme an der Szene war abhängig von der Teilnahme an diesen Zusam-menhängen, dem Kontakt zu bestimmten Personen und der Präsenz an bestimmten Orten. Wer sich in diesen Bahnen bewegt, kann sicher gehen, auch am Informationsfluss der Szene über geheime Orte und Ereignisse teil zu haben. Zum dritten zeigte sich, dass trotz einer Ideologie des anything goes im Szenekontext durchaus Erwartungen an Szene-Akteure heran getragen werden, so dass Teilnahme auch bedeutet, diesen Erwar-tungen nachzukommen. Ich war von diesen Erwartungen nicht ausge-nommen und so erfuhr ich, indem ich bestrebt war, ihnen zu entsprechen,

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was es heißt, zur Szene dazu zu gehören. Insgesamt lernte ich, dass die Akteure der Szene sich an subkulturellen Idealen und Traditionen orientie-ren, so dass ich nur dadurch Teil der Szene wurde, dass ich jenen Akteuren folgte, die diese Ideale intensiver als andere lebten. Auf diese drei Punkte innerhalb meines Interaktions-Ansatzes – Gender, Ordnungen, Hierar-chien – wird im Folgenden eingegangen.

Gender

Meine Präsenz in der Szene als Feldforscherin wurde in der Anfangszeit überwiegend mit Nichtachtung bedacht, da die Szene sich nicht als ge-schlossene Gruppe definiert, sondern vielmehr den permanenten Zustrom neuer Gesichter gewohnt ist. Es besteht ein gewisses Desinteresse gegenüber diesem Zustrom, das mit Simmel auch als »Blasiertheit« (Simmel 1903: 232) bezeichnet werden kann – blasiert meint einen für die städtische Umwelt typischen Zustand der Reizüberflutung, der dazu führt, dass man die Dinge und Personen nicht in ihrer Individualität und Besonderheit, sondern in einem gleichmäßig getönten Grau wahrnimmt. In dieses gleichmäßige Grau reihte sich mein Gesicht ein und meine Präsenz oder Nicht-Präsenz stellte für die Anwesenden keinen Unterschied dar.9 Gelegentlich mag ich aufgefallen sein, weil ich zu brav gekleidet war und alleine und schüchtern in einer Ecke saß oder stand, aber allein die Anwe-senheit einer Außenseiterin provozierte die Szene nicht, sie geht vielmehr im allgemeinen Szenetrubel unter – die Ethnologin Victoria Schwenzer schildert hingegen beispielsweise, wie sie bei einer Feldforschung in einem Dorf in der Niederlausitz in diesem enger gesteckten Rahmen der Dorf-struktur sehr wohl als Außenseiterin wahrgenommen und mit misstraui-schen Blicken bedacht wurde (Schwenzer 1997: 276).

Sofern ich in der Anfangszeit doch einmal bewusst wahrgenommen wurde, so in erster Linie in meiner gesellschaftlichen Rolle als Frau. In der Szene, wo das Auge und ganz allgemein die Sinnlichkeit die Wahrnehmung der Umwelt dominieren, wo man sich an den Atmosphären der Räume und den Klängen der Musik berauscht, fügt sich diese Gender-Codierung

—————— 9 Andererseits wird von einer Übersensibilisierung der Sinne im Szenekontext zu reden

sein, die meiner Ansicht nach die Kehrseite der Blasiertheit darstellt. Hier scheint die Umwelt nicht in gleichmäßigem Grau, sondern im Gegenteil in einer ekstatischen, ebenso unnatürlichen Buntheit und Vielfalt.

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wie natürlich ein: Frauen gelten nach wie vor und auch in der Szene als diejenigen, die durch ihre Erscheinung zur festlichen Atmosphäre beitra-gen. Sie färben und erotisieren durch ihr Aussehen die Atmosphäre, die Qualität des Hier und Jetzt. Mein Aussehen und meine Erscheinung wurden als erstes Identitätsmerkmal wahrgenommen, entsprechend traditionellen gesellschaftlichen Wahrnehmungscodierungen von Frauen als dem schönen Geschlecht. Freilich werden diese Rollenklischees in der Szene auch aufgebrochen. Auch männliche Akteure der Szene kleiden sich schön – dandyhaft –, wollen auffallen und gesehen werden und gerade die Szene stellt eine Bühne dar, wo diese Eitelkeiten mehr als in anderen gesellschaft-lichen Bereichen gelebt werden können. Aber ebenso gilt, dass gerade im kulturellen Kontext der Szene, wo Atmosphären und flüchtige Erschei-nungen die Qualität der Umwelt dominieren, grobe Dichotomien wie männlich/weiblich eine hohe Wirkmächtigkeit haben. Dabei ist zwischen symbolischen Festschreibungen gemäß dieser Dichotomien zu unterschei-den und einer eher in ihrer Erscheinungsqualität wirkmächtigen Dichoto-mie, einer Art und Weise, die Umwelt zu »tönen«, wie Gernot Böhme schreibt, deren Relevanz nach dem ersten Moment des Aufscheinens sich relativiert.

Die Erfahrung, als weibliche Erscheinung wahrgenommen zu werden, sensibilisierte mich allgemein für die Qualitäten von Atmosphären im Kontext der Szene. Es führte mich zu Betrachtungen anderer Dichoto-mien (vor allem der Dichotomie von Stadt und Natur) in Bezug auf ihre atmosphärische Qualität.

Meine Rolle als Frau führte mich auch zu einem sozialen Ort der Szene, einem Plattenladen im Prenzlauer Berg, der von Akteuren der Szene re-gelmäßig frequentiert wurde und als eine Art Informationsbörse fungierte. In dem Laden arbeitete einmal in der Woche der bereits genannte DJ Kalle. Ich gab ihm damals am Strand von Kühlungsborn meine Telefon-nummer, damit er mich anrufen und über anstehende Partys informieren könne – es ist gängige Praxis, dass DJ’s ihren weiteren Freundeskreis per Telefon oder E-Mail informieren, wenn sie an einer location auflegen. Ich spekulierte erfolgreich darauf, dass populäre Gestalten der Szene wie DJ’s, Musiker, Partyorganisatoren, etc. sich gerne mit Frauen umgeben, um ihre eigene Bedeutung zu unterstreichen und auch, um vor Ort an der location durch einen expressiven Auftritt glänzen zu können. DJ Kalle war über mein Interesse nicht verwundert, sondern verstand es im Sinne der klassi-

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schen Gender-Rollen und sah mich als einen weiblichen Fan an. Er nahm meine Telefonnummer entgegen und erzählte auch von dem Plattenladen.

Ordnungen

Der Plattenladen (sein Name war mit Referenz zu einer LP von Frank Zappa »Freak Out« und wird im folgenden Kapitel noch vorgestellt wer-den) eröffnete mir einen weiteren Aspekt der Szene und mit ihr von Urba-nität. Während die locations der Szene ständig wechseln, gewähren Orte wie dieser ein gewisses Maß an Kontinuität. Es sind Orte, um mit Marc Augé zu sprechen, mit »Identität« und »Geschichte«, die den Szene-Monaden eine kollektive Identität geben, einen geteilten Ort und eine geteilte Geschichte, die im Aufsuchen der Orte reproduziert, verfestigt und weiter gesponnen wird. Hier finden sich die Akteure immer wieder ein, begegnen einander und tauschen sich aus, versichern sich ihrer Ansichten und schreiben ihre geteilte Geschichte fort. Anders als bei den wechselnden locations lagern sich diese Ereignisse und Geschichten in den Raum ein und werden durch die physische Gestaltung des Ortes gespeichert und präsent gehalten. Im ständig sich wandelnden Szenegeschehen erfüllte dieser Ort für die Akteure der Szene und damit auch für mich als Feldforscherin eine wichtige Funktion. Hier wie auch an anderen Orten dieser Art erhält die Szene ihr soziales Fundament (und die Forscherin Halt in der Flüchtigkeit der Szene). Hier verfestigen sich Beziehungen, die auf Partys nur flüchtig eingegangen werden, und hier vertieft sich das Wissen der Szene über sich selbst (und der Forscherin über die Szene). Wie die Szene-Akteure einander näher kommen und sich tiefer gehend austauschen, so fand auch ich hier einen tieferen Zugang zur Szene. Ich erfuhr dadurch, wie bedeutsam diese kontinuierlichen Orte für die Szene sind und welchen zentralen Stellenwert sie für das Funktionieren der Szene haben. Bezeich-nenderweise handelt es sich bei diesen stabilen Orten und verbindlichen Beziehungsformen oft um ökonomische Orte und Beziehungen, das heißt Verkaufsläden, Agenturen und Büros von Szene-Akteuren und ihrer ent-sprechenden Netzwerke. Anders als die »illegalen« locations – »illegal« ist hier keine juristische Kategorie, sondern ein Attribut, das auf subkulturel-len »Spirit« verweist – sind diese der Warenwirtschaft verpflichteten Orte gesellschaftlich legitimiert.

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Gleichermaßen bedeutsam sind auch symbolische, räumliche und sozi-ale Strukturen in der Szene, die ebenfalls eine ordnende Wirkung auf das Szenegeschehen haben. Bestimmte Namen und Gruppen sind für die Szene wichtig und konzentrieren die Aufmerksamkeit der Szene auf be-stimmte Zeiten, Orte und Ereignisse. Sie legen nahe, welche Partys und locations aus der Fülle des städtischen Angebots ausgesucht werden und sie strukturieren auch das Ereignis vor Ort, die durch eine Logik der Raumnutzung sichtbar werden. Sie machen deutlich, dass die Bewegungen der Szene durch den Stadtraum, die Frage, wann man sich wo aufhält und auch, wie sich die Aufmerksamkeiten während des Partygeschehens ver-teilen, einer kulturellen Logik folgt. Auch dies erfuhr ich durch meinen kontinuierlichen Austausch im Plattenladen, sodass der Plattenladen so-wohl gewährte, die kulturelle Logik der Szene besser zu verstehen als auch, dass er selbst sich als Teil dieser (stabilitätsstiftenden) Logik erwies. Ich erfuhr dies zudem durch meine Erfahrungen an den locations selbst, an den Aneignungsweisen des Raums von einzelnen Gruppen, die auch mir persönlich bestimmte Orte zugänglich machten und andere verwehrten. Bis zu einem gewissen Grad kann von einer sozialen Hierarchie der Szene gesprochen werden, der auch ich mich fügen musste.

Indem ich also durch die Besuche im Plattenladen versuchte, mich im Szenegeschehen zurecht zu finden, lernte ich auch etwas darüber, wie die Akteure der Szene selbst sich orientieren. Daran knüpfen sich Fragen nach dem Verhältnis von stabilen und flüchtigen Orten der Szene, oder, um mit Marc Augé zu sprechen, von Orten und Nicht-Orten, sowie von verbindli-chen Beziehungen, Gruppenzusammenschlüssen und Hierarchien und offenen »Hi-and-bye-realtionships«10. Wie viel Stabilität benötigt die Szene, um ihre Flüchtigkeit leben zu können? Auf wie viel Bewegung und Verän-derung will sich die Szene (als Speerspitze der »fluidité urbaine«) tatsächlich einlassen und ist nicht die Stadt gerade auch da urban, wo die Bewegungen

—————— 10 Ulf Hannerz verwendet »Hi-and-bye-relationship« zur Charakterisierung der sogenann-

ten »Swingers« in seiner Ethnografie eines amerikanischen Ghettos. Auf die Intensität von Beziehungen wird zu Gunsten eines »flows« an stetig neuen Bekanntschaften verzichtet, wodurch sich »a wide and shifting friendship network« (Hannerz 1969: 45) knüpft. Die Swinger sind »action seekers« (im Gegensatz zu »routine seekers«) frönen einem hedonistischen Lebensstil und ihre Existenz basiert auf dem »Seeing and being seen«: Sie gehen viel aus, sind auffällig und modebewusst gekleidet, fahren mit ihren Autos, sofern sie eines besitzen, demonstrativ durch die Straßen des Ghettos und hegen besonders viele Bekanntschaften. » (They) lead lifes full of company and spend much time away from home.« (ebd. S. 44)

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zum Erliegen kommen? Allgemeiner formuliert: Wie verhält sich der Mo-ment zur Dauer? In Bezug auf die Ökonomie ist zudem zu fragen, in wel-chem Verhältnis die städtische Ökonomie zu Stabilisierungs- und Verflüs-sigungstendenzen des Stadt-Raums steht. Wirkt die Ökonomie an der Auflösung sozialer Räume (und mit ihr sozialer Beziehungen) mit oder nicht umgekehrt auch an deren Verfestigung? Die Antwort auf diese Frage hilft, die Rede von der »fluidité urbaine« in ein richtiges Maß zu setzen.

Hierarchien

Um die kulturelle Logik der Szene nachzuvollziehen versuchte ich, mehr über die Personen und Gruppen zu erfahren, nach denen sich die Szene strukturiert. Bestimmte Gruppen haben die Definitionsmacht über die Szene, sie legen fest, was für gut und richtig erachtet wurde, was als legitim gilt und was nicht. Pierre Bourdieu beschreibt diese Definitionsmacht als symbolisches Kapital. Sarah Thornton überträgt sie auf Subkulturen (Thornton 1996). Personen und Gruppen mit hohem symbolischen Kapi-tal vereinen in sich Eigenschaften und Fähigkeiten, die von dem sozialen Feld des neuen Kleinbürgertums, in dem sie verortet sind, insgesamt als besonders relevant gelten, das heißt als legitime Kultur erachtet wird (Bourdieu 1997). Wie ich erfuhr, zeichnen sich die Gruppen mit einem hohen symbolischen Kapital durch zwei Merkmale aus: Sie stammen ent-weder aus der Besetzerkultur, wie sie seit den 1970er Jahren existiert und in den Nachwendezeiten in Ostberlin weiter tradiert wurde und/oder sie stammen aus einer Fortführung der Hippie-Kultur, was sich darin äußert, dass sie nicht nur im Stadtraum umher, sondern auch in die Natur schwei-fen und eine entsprechend romantische Hippie-Ideologie pflegen. Man kann deshalb in Bezug auf die Szene von der Dominanz subkultureller Ideale sprechen, die traditionelle bürgerliche Wertigkeiten (gesellschaftli-ches Ansehen qua beruflichen Status) auf den Kopf stellt: das unten (Be-setzerkultur) und das Außen (hippieske Naturromantik) dominieren ge-genüber dem gesellschaftlichen Oben. Dass Besetzer und Anhänger einer Hippie-Orientierung das meiste symbolische Kapital akkumulieren wurde zum einen darin deutlich, dass Partys, die diese Akteure veranstalteten, am besten besucht waren. Während normale bürgerliche Gruppen (zum Beispiel Studierende), die als Partyveranstalter agierten, kaum wahrgenommen wurden, kamen Informationen über Partys von Besetzern und Hippies

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schnell in Umlauf und zirkulierten mit hoher Frequenz durch die geheimen Informationskanäle der Szene.11 Zum anderen wurde ihr symbolisches Kapital darin deutlich, dass ihre Präsenz an den locations sich in Raum-Hierarchien niederschlug (für mich als Feldforscherin, die wie alle anderen Akteure der Logik der Szene zu folgen hat bedeutete dies, dass ich mich an bestimmten Orten problemlos aufhalten konnte und andere mir verwehrt waren). Sie traten nicht vereinzelt, sondern in größeren Gruppen – die »Posses« genannt wurden – auf, die bestimmte Territorien an der location besetzten. Diese Territorien hatten Insignien der Exklusivität: Sie waren zum Beispiel bequemer als andere Orte, weil sie zum Beispiel mit Sofas bestückt waren oder sie befanden sich in der Nähe des DJ-Pults, also je-nem Ort, das dem gesamten Ereignis seinen musikalischen Rhythmus gibt. Die Szene zeichnete somit die Dominanz subkultureller Wertigkeiten aus: soziale Gruppen, die gesamtgesellschaftlich betrachtet eine Randseiter-Position einnehmen, bildeten im Kontext der Szene das Zentrum der Party. Sie waren die Gruppen, nach denen sich das Geschehen ausrichtete und die die Tönung der Atmosphäre definierten (dabei ist auch zu berück-sichtigen, dass in der Erlebnisgesellschaft diese randseitigen Orientierun-gen wiederum das dominante Orientierungsprinzip ist, also die Gesell-schaft insgesamt subkultureller wird).

Um mehr über diese Gruppen zu erfahren (und mir somit auch an den locations Zugänge zu diesen Gruppen und ihren Räumen zu erarbeiten) versuchte ich, ihre alltäglichen Orte zu erkunden. Ich hielt mich in Beset-zerkreisen beziehungsweise Wagenburgler-Kreisen auf (Wagenburgen stehen in der Tradition der Hausbesetzung und die Szenen überschneiden sich) und ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf soziale Gruppen, die Par-tys in der Natur feiern und einen alternativen Lebensstil führen, also in der Szene als »Hippies« galten. Ich fand mich auf Punk-Konzerten wieder, die von Wagenburglern auf alten Fabrikgeländen »illegal« veranstaltet wurden und ich fand mich auf Partys in der Natur wieder, setzte mich mit Hippie-Ideologien, schamanistischen Ritualen und dem utopischen Modell der Landkommune auseinander.

Die Wagenburgen wurden außerdem auch deshalb zu einem bevor-zugten Anlaufpunkt, da sie, im Gegensatz zu den wechselnden Szene-Or-

—————— 11 Dies muss nicht heißen, dass Punks/Hippies und Studierende Ausschlusskategorien

darstellten. Viele Akteure mit Hippie- oder Punk-Orientierung sind Studierende oder haben zumindest Abitur. Aber die Identität als Student oder Studentin allein führt noch nicht zu symbolischem Kapital.

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ten, keine »moving targets« (Welz 1998) darstellten. Sie okkupierten einen dauerhaften Ort im Stadtraum und sicherten den Szene-Akteuren und der Feldforscherin eine räumliche Kontinuität und Stabilität. Allerdings wird in der Wagenburg auch mehr zwischen Innen und Außen unterschieden als an der location:

Als ich im späteren Verlauf der Feldforschung einmal Fotos in einer Wagenburg machte (ich meinte, dort inzwischen ausreichend bekannt zu sein), wurde ich von mehreren Wagenburglern mit aggressiven Verbal-angriffen attackiert. Man hätte mich vom Platz geworfen, wenn Cody, den wir noch kennen lernen werden, nicht eingeschritten wäre.

Die Auseinandersetzung mit diesen Gruppen und ihren Ideologien machte mir auch das Szenegeschehen verständlicher. Ich erfuhr die tiefere kulturelle Bedeutung der Objekte, Symbole und Narrative, die auf den Partys nur oberflächlich aufscheinen. Beispielsweise war der hippieske oder Punk-artige Kleidungsstil vieler Szene-Akteure mit diesen Ideologien ver-woben. Kehrte ich anschließend in die Szene zurück an die locations, er-wiesen sich diese Exkursionen als sinnvoll. Ich hatte nun einen Platz in der Szene, weil ich durch meine Bekanntschaften mit zentralen Figuren der Szene, mit Besetzern und Akteuren mit Hippie-Orientierung, in ein sozia-les Gefüge integriert war. Ich bewegte mich nun mit größerer Selbstver-ständlichkeit auf den Partys und die Gruppen und Räume, die mir anfangs verwehrt waren, öffneten sich mir nun. Meine persönlichen Erfahrungen zeigten mir die Integrationslogik der Szene. Eine Mitgliedschaft in der Szene zu erwerben bedeutete, sich an der Besetzer- und Hippiekultur zu orientieren, was ich als Orientierung nach unten beziehungsweise in die Natur interpretierte.

Zusätzlich zu diesen Exkursionen in die Besetzer- und Hippiekultur erwarb ich die Mitgliedschaft auch dadurch, dass ich selbst aktiv wurde und einen Beitrag zum Szenegeschehen leistete. Ich lernte die Szene als Kultur mit distinkten Sprachregelungen kennen, wo an die Akteure der Szene die Erwartung heran getragen wird, »nicht nur zu konsumieren, sondern auch zu produzieren« (Interview mit Kalle vom 27.6.02). Dies bedeutet für die Szene-Akteure, sich als DJ’s, als Bands oder Performer zu versuchen oder selbst eine Party zu organisieren. Diese Fähigkeiten hatte ich nicht und so fand ich meine Aufgabe darin, das Szenegeschehen zu fotografieren und die Fotos anschließend wieder der Szene zurück zu geben. Diese typisch ethnografische Praxis erscheint in anderen kulturellen Kontexten auf Grund ihrer kolonisatorischen Geste problematisch, weil sie Machtverhält-

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nisse zwischen schauendem/fotografierendem Forscher und angeschau-ten/fotografierten Forschungssubjekten manifestiert. Innerhalb der kultu-rellen Logik der Szene erwies sie sich jedoch als passförmig. Die Akteure der Szene begrüßten das Fotografieren auf Partys, weil dadurch der Mo-ment der Vergänglichkeit entrissen und konserviert wurde. Die Fotografien unterstrichen die Bedeutung des Hier und Jetzt des Partyereignisses, indem sie es auf Papier bannten. Sie bestätigten den Wert des Atmosphärischen (in diesem Fall speziell des Visuellen) innerhalb der Szene und würdigten den expressiven Auftritt von Personen. Nicht zuletzt befriedigten sie die Eitelkeit der sich zur Schau stellenden Akteure. Als Fotografin leistete ich meinen individuellen Beitrag zum »Projekt« Szene (vgl. Blum 2001).

Im späteren Verlauf der Feldforschung wurde außerdem ein großes »nicht-kommerzielles« Open-Air-Festival durchgeführt, »Camp Tipsy«, an dem sich der gesamte Techno-Underground beteiligte und wo ich ein zweites Mal an Aktionen der Szene teilnahm, indem ich eine musikalische Lesung organisierte, die am sogenannten »Spoken Word Floor« auf dem Festivalgelände zur Aufführung kam. Hier konnte ich noch einmal am eigenen Leib erleben, wie durch das nichtkommerzielle do-it-yourself-En-gagement Netzwerke geknüpft werden. Indem ich mir von etlichen Akteu-ren der Szene helfen ließ wurde ich zu einem Teil des Projektzusammen-hangs der Szene. In dieser Zeit hatte ich das Gefühl, gänzlich Teil des Rhythmus’ der Szene geworden zu sein. Ich stand in engem Kontakt zu vielen Akteuren der Szene und erfuhr so von allen Ereignissen, die das Szenegeschehen betrafen.

Um also die Logik der Szene zu erkennen, müssen weite Wegstrecken zurückgelegt werden, die aus der Szene hinaus führen und dennoch immer wieder zu ihr zurückkehren. Während die Szene-Akteure diese scheinbar ziellosen Kreisbewegungen automatisch und unreflektiert vollziehen, musste ich als Feldforscherin lernen, mein Ziel absichtlich aus den Augen zu verlieren um es anschließend wieder in den Blick zu bekommen. Als Feldforscherin musste ich mich auf die Orte und Ideologien der Besetzer- und Hippiekultur einlassen, diese kennen und verstehen lernen und den-noch nicht vergessen, dass es mir eigentlich um die Szenelogik ging, die sich nicht darauf reduzieren lässt. Dies ist methodisch nur zu meistern, wenn man sich die Haltung der Umherschweifenden aneignet, die sich auf Wege und Abwege einlässt ohne sich gänzlich von ihnen davon tragen zu lassen. Mit Umherschweifen ist eine Haltung zur Umwelt gemeint, die in

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alle Richtungen offen bleibt und bereit ist, sich auf unterschiedlichste Ver-führungen einzulassen. Wie der Flaneur Franz Hessel über das mit dem Umherschweifen verwandte Flanieren schreibt, darf man, »um richtig zu flanieren […] nichts allzu bestimmtes vorhaben« (Hessel 1984 [1929]: 145). Die Eindrücke und Ereignisse, denen man in der Stadt ausgesetzt ist, er-halten eine Gleichwertigkeit, durch die sie zu »gleichberechtigten Buchsta-ben« werden, »die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben«. Die Fülle der Umwelt übersteigt die Aufnahmekapazitä-ten des Individuums und in der Flanerie wird versucht, ihrer Vielfalt und Verschiedenartigkeit beizukommen. Angesichts dieser latenten Überforde-rung eine Gelassenheit zu bewahren, ist die Leistung, die die Flaneurin zu erbringen hat. Die Umwelt behält bei der Flanerie ihre Rätselhaftigkeit und Fremdheit bei, und in dieser andauernden Ferne zu den Personen und Dingen liegt keine Angst, sondern Verzauberung, die erst die eigentliche Szeneerfahrung ausmacht. Ich lernte die Szene nicht als festes Gefüge kennen, sondern als Weg, der sich endlos fortspinnt und doch – kontinu-ierlich durch neue Erfahrungen bereichert – immer wieder an die location zurück führt. Der Zugang zur Szene findet somit in Kreisbewegungen statt, bei der man sich der Szene annähert, indem man sich von ihr ent-fernt, um anschließend mit neuen Erfahrungen und tieferen Einsichten zurück zu kehren. Durch diese Praxis des Umherschweifens und bis zum Schluss Offenbleibens zeichnet sich meiner Ansicht nach eine Urbane Ethnografie aus.

Fühlen

Mit der Methode der Feldforschung und teilnehmenden Beobachtung versuchte ich also, mich der Szene von innen her zu nähern und ihre kul-turelle und soziale Logik zu verstehen. Dabei wurde mir bewusst, dass die kulturelle Logik der Szene verstehen nicht nur heißt, ihre Normen, Werte und Symbole nachzuvollziehen, sondern auch, den Atmosphären der Orte und der Qualität der Momente nachzuspüren, an denen sich die Szene aufhält. Das Handeln der Akteure ist auf den Moment gerichtet und die folgliche Schlüsselfunktion des Moments kann nur verstanden werden, wenn seine atmosphärischen Qualitäten nachvollziehbar gemacht werden. Mit Atmosphäre ist dabei die Theorie der Wechselwirkung zwischen Raum und

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Befindlichkeit gemeint, um mit Gernot Böhme zu sprechen, durch die eine eigene Wirklichkeitsebene entsteht, die nicht ganz bei den Akteuren und nicht ganz bei dem Raum angesiedelt ist.

Um Momente zu beschreiben muss die Ethnologin sich zu ihnen »hin-wenden« (Bretthauer 1999: 33) und sich von ihnen »ergreifen« (ebd.) las-sen, wie der Europäische Ethnologe Bastian Bretthauer in seinem Buch »Nachtstadt« über das nächtliche Berlin schreibt.12 Es ist ein Verstehen aus der Nähe, das die sinnlichen Qualitäten der Umwelt auf sich einwirken lässt. Momente leiblich zu spüren und darüber Auskunft geben zu wollen, erfordert einen Raum und eine Situation in seiner atmosphärischen Ge-samtheit wahrzunehmen und den in ihm hervorgerufenen Emotionen, Affekten und Imaginationen nachzugehen. »In der sinnlichen Wahrneh-mung, im leiblichen Spüren einer Umgebung, kommuniziert das wahrneh-mende Subjekt mit dem Wahrgenommenen« (ebd.: 35). Indem diese sinnli-chen Eindrücke notiert wurden wurde versucht, die Atmosphäre und die Situation an der location als »gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und Wahrgenommenen« (Böhme 1995: 34), also des Raumes und der Festgesellschaft, nachvollziehbar zu machen. Erst diese sinnlichen Quali-täten des Raumes können erklären, warum die Szene den Stadtraum er-kundet und sich immer neu von seinen Oberflächen berauschen lässt.

Neben diesem unmittelbaren sinnlichen Wirken, das Momente produ-ziert, ist auch die Geschichte zu berücksichtigen, die sich sedimentartig an den Orten ablagert und seine Atmosphäre entscheidend mitgestaltet. Das, was die Atmosphäre der locations ausmacht, ist zum größten Teil durch die Bedeutungen und Zwecke bestimmt, die die jeweiligen Orte einst inne hatten und die in der Jetztzeit aufgehört haben, in diesem ursprünglichen Zwecke zu wirken. Aus dieser erloschenen Geschichte, die durch die Mate-rialität des Ortes präsent und erfahrbar bleibt, erfährt die Zerstreuungspra-xis der Szene ihre kunstvollste Form. Sie provoziert schwebende Existen-zen, die den atmosphärische Nuancen in einer der Alltäglichkeit enthobe-nen Weise nachgehen und die dennoch als Rückstände gelebter Geschichte in die Alltäglichkeit zurück führen. In der Wahrnehmung der Orte wird die Szene der Geschichte gewahr, die die Orte prägte und auf eigenartige Weise in die Jetztzeit hinein wirkt.

—————— 12 Den nächtlichen Atmosphären der Stadt ist der Europäische Ethnologe Bastian Brett-

hauer in seiner Ethnografie Nachtstadt bereits nachgegangen und die hier praktizierte Ethnografie der Atmosphären ist von seiner Methode inspiriert.

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Fühlen bedeutet für die Ethnologin aber nicht nur, Atmosphären zu er-spüren und sich ergreifen zu lassen, sondern es ist auch eine Form des Schreibens, des die-Dinge-in-Worte-fassens, das nicht nur nachvollzieht, sondern selbst eine Konstruktionsleistung ist. Der Eindruck (des Raumes und der Situation auf die Empfindung) korrespondiert mit einem Aus-druck, durch den das Erlebte kommunizierbar gemacht wird. Eine Ethno-grafie der Momente muss, so Bretthauer, »die sinnliche Erfahrung der [Atmosphäre] erzählbar machen und sucht in der Sprache, in der Arbeit am einzelnen Wort, nach dem Ausdruck größtmöglicher Nähe« (Brett-hauer 1999: 35). Deshalb wurde in der Beschreibung der Szene-Ereignisse und ihrer Räume eine evokative Sprache gewählt. Auch wenn man hier-durch Gefahr läuft, die Szene zu romantisieren, so ist diese Form der em-pirischen Wirklichkeit doch näher als eine sachlich nüchterne und ver-meintlich objektive Sprache. Mit der Beschreibung von Atmosphären und Momenten soll die Gefühlswelt der Szene-Akteure zum Ausdruck kom-men und sollen ihre Beweggründe deutlich gemacht werden.

Fotografieren

Die Methode der Fotografie ermöglicht es, den Augenblick visuell zu re-präsentieren. Die Fotografien können die ethnografischen Beschreibungen des Szenegeschehens nicht ersetzen, aber sie eröffnen dem Leser und der Leserin eine weitere Verstehens-Perspektive auf die Szene. Die Ästhetik der Räume und Situationen wird durch die Fotografien in einem adäquaten Medium repräsentiert.

Kartieren

Das Umherschweifen der Szene durch den Stadtraum ist Teil der kulturel-len Logik der Szene, die ich dadurch dokumentierte, dass ich die von mir aufgesuchten locations im Stadtraum kartierte. George Marcus hat diese Bewegungsmethode als »multisited ethnography« (Marcus 1995) tituliert, bei der die Forscherin ihren Forschungssubjekten durch den Raum, in meinem Fall durch den Stadtraum folgt (»follow the people«). Mit der

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Dokumentation soll gezeigt werden, dass die Bewegung durch den Stadt-raum einer kulturellen Logik folgt. Ich ging davon aus, dass, ebenso wie meine Erfahrungen in der Szene einer kulturellen Logik folgen, auch meine Wege durch den Szeneraum und meine Präsenz an den jeweiligen Orten nicht zufällig waren. Wohin ich ging und wo ich mich aufhielt, wurde mir und den anderen Akteuren der Szene von der Szene nahe gelegt. Diese topografische Logik zeigt einerseits die Ausmaße dieser postmodernen Bewegungskultur, andererseits aber auch ihre räumlichen Grenzen. Die Bewegung ist nicht beliebig, sondern gesellschaftlich ausgehandelt und sie zeugt von den Möglichkeiten und Begrenzungen, die der Szene durch äußere Faktoren (räumlich, ökonomisch, politisch) auferlegt werden.

Sie zeigt zudem, dass auch eine flüchtige kulturelle Praxis Orte produ-ziert. Die Szene bewegt sich nicht im luftleeren Raum, sondern sie benötigt Orte, um sich zu reproduzieren. Die Existenz von Räumen der Szene zeigt den Trägheitsgrad an, den die Szene trotz allem aufweist und es zeigt die Notwendigkeit einer fluiden Kultur, sich räumlich zu artikulieren.

Die Methode des »Mapping« steht in der Tradition der Chicago School. Die Chicago School hat die Verteilung sozialer Gruppen im Stadtraum untersucht und für die Darstellung dieser »natural areas« Karten erstellt. Der Klassiker dieser Kartierungen ist Ernest W. Burgess Kartierung der Stadt Chicago, mit der er ein idealtypisches Segregationsmodell von Städten entwickeln wollte. Die Stadt teilt sich hier neben sozialen und ökonomischen Faktoren nach ethnischen Gruppen auf, der Stadtraum ordnet sich nach »Little Italy«, »Chinatown«, »Black Belt« und »The Ghetto« und »Deutschland« (im Original). Diese Viertel stellen den von einer sozialen beziehungsweise ethnischen Gruppe kollektiv geteilten Raum dar und es ist davon auszugehen, dass sich die Bewohner vorrangig in den eigenen Vierteln aufhalten. In unserem Zusammenhang ist das »Mapping« keine Kartografie der Zweck-Orte, sondern eine die Atmo-sphäre der Orte hervorhebende Psychogeografie.

Wie die Abbildung 1 im farbigen Bildteil zeigt, erstreckt sich das Terri-torium der Szene auf die Bezirke Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg. Mit Ernest W. Burgess können sie als »Zones in Transition« beschrieben werden (Burgess 1925). Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie historisch von einer proletarischen und/oder migrantischen und alter-nativen Kultur geprägt sind, sowie einem vielfältigen Angebot nächtlicher Vergnügungsformen. Sie sind auf Grund ihrer relativen ökonomischen Rückständigkeit in einem räumlichen Transformationsprozess, der mehr

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als in anderen Vierteln ungenutzte Räume und »Resträume«, wie sie ein Szene-Akteur nannte, entstehen lässt. Das Aufeinandertreffen dieser unter-schiedlichen Randkulturen und die Verdichtung von Vergnügungsangebo-ten, lässt (relativ zu anderen Vierteln) ein Klima der Toleranz und einen Raum der Möglichkeiten entstehen. In diesen »Zones in Transition« ist die Urbanität Berlins (und Städten allgemein) am weitesten fortgeschritten, weshalb sie auch das räumliche Territorium markieren, innerhalb dessen sich die Szene bewegt. »Zones in Transition« sind somit zugleich Territo-rien der Szene. Sie ermöglichen Szenen und sie sind auch deren Produkt, weil die Anwesenheit der Szene den Raum fluid hält, das heißt eine Stabili-sierung der räumlichen Ordnung verhindert. »Zones in Transition« sind die »natural areas« der spätkapitalistischen Stadt.

Innerhalb der »Zone in transition« bildet der Techno-Underground ein fluides inselartiges Territorium aus. Genauso wie sich das neue Kleinbür-gertum einer gesellschaftlichen Verortung entzieht, sucht es sich auch Orte, die unbeschrieben sind, das heißt die ihre ursprüngliche gesellschaft-liche Bedeutung verloren und noch keine neue Bestimmung gefunden haben. Das neue Kleinbürgertum und Szenen als ihre Sozialisationsform haben somit einen konkreten Ort im Stadtraum, auch wenn ihr kulturelles Selbstverständnis auf Dislokation beruht: es ist die Brache, die solange der Szene einen Ort gibt, wie ihre gesellschaftliche Funktion unbestimmt bleibt.

Material finden

Wenn die Vorzüge der Feldforschungsmethode darin bestehen, gelebte Kultur zu untersuchen und nicht nur deren Repräsentationen, so gehört dennoch zu einer umfassenden Kulturanalyse die Analyse dieser Reprä-sentationen. Die von einer sozialen Gruppe angeeigneten und produzierten kulturellen Produkte (Musik, Filme, Literatur, etc.) bilden eine zen-trale Bedeutungsdimension dieser Kultur. In ihnen lagern sich Deutungen und Gefühle ein und verdichten sich zu Ausdrucksformen dieser Kultur. Wäh-rend im Alltagsleben zentrale Bedeutungsdimensionen mitunter verdeckt und als Nebensächlichkeit vorbeiströmen, werden diese in den kulturellen Produkten einer sozialen Gruppe gespeichert und expliziert. Die Ausein-andersetzung mit diesen Produkten vertieft das Verständnis der Kultur. So

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schreibt Rolf Lindner, dass die Feldforschung durch die Analyse von Ro-manen und Kultromanen, Spielfilmen, Dokumentarfilmen, Fotografien und Fernsehserien der jeweiligen Zeit und Kultur, die man untersucht, ergänzt werden sollte (Lindner 2003). Auf diese Weise bekommt man ein Gespür für die »Atmosphäre« (ebd.: 185) der jeweiligen Kultur und es ist die Bedingung dafür, eine Kultur ganzheitlich (als »a whole way of life«, wie Raymond Williams sagt) zu erfahren. Sich einem Thema in »totaler Weise« (ebd.) zu nähern heißt, »der Komplexität des Gegenstandes, die sie gerade in der Vielfalt der Bezüge und Verschränkungen artikuliert, annä-hernd gerecht zu werden« (ebd.).

So wurden die Musik der Szene, ihre Bücher und Filme sowie mediale und poptheoretische Diskurse über sie in die Betrachtung einbezogen. In der Tradition der Cultural Studies wurde dabei besonders auf ihren spezifi-schen Gebrauch geachtet. Die gebrauchsorientierte Analyse sub-kultureller Stile geht davon aus, dass die Inhalte der Massenkultur nicht gleichzuset-zen sind mit den Gruppen, die sie nutzten. Einem manipu-lationstheoreti-schen Ansatz, der Konsumenten von Populärkultur mit kulturellen »Dummies« gleich setzt, stellt diese Analyse die subversive Aneignung und eigenwillige Umdeutung dieser Inhalte entgegen. Vorgefertigte kulturelle Produkte werden genutzt, um die subjektiven Gefühle in ihnen einzulagern und ihnen einen je spezifischen Ausdruck zu verleihen.

Noch wichtiger im Szenekontext ist allerdings, dass die Akteure der Szene sich kulturelle Produkte nicht nur aneignen, sondern dass sie die kulturellen Produkte auch selbst produzieren. Auf dem Selbermachen, dem do-it-yourself, liegt der Fokus der Szene. Die ästhetische Produktivität der Szene stellt selbst ein kulturelles Merkmal dar. In der Szene ist eine Haltung zu beobachten, die die eigenen kulturellen Produkte selbstbewusst über das Angebot des kulturellen Mainstream stellt. Als ästhetische Ausdrucksfor-men der Kultur der Szene wurden selbst gestaltete E-Mails, Flyer und Webseiten ebenso analysiert wie Performance-Darbietungen und Band-Konzerte. Der kulturellen Produktivität und Kreativität der Szene folgend, wurde deshalb der Analysefokus auf die selbst produzierten Objekte gelegt, zu denen auch die locations selbst als ästhetische Produkte der Szene zu zählen sind.

Weitere Quellen sind zwei Hochschulabschlussarbeiten von Akteuren der Szene, ein Programmheft zu einem alternativen Symposion sowie di-verse Dokumentationsmappen durchgeführter Projekte, die mir die Szene-Akteure freundlicherweise zur Verfügung stellten.

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Gespräche führen

Ergänzend wurden außerdem Gespräche geführt (Schmidt-Lauber 2007b), wobei ich hier vor der Schwierigkeit stand, dass es keine konsistente alter-nativkulturelle Ideologie mehr gibt, wie das bei Punks und Hippies der Fall war. Die Haltung der Szene-Akteure zu ihrer eigenen Kultur ist postmo-dern gebrochen, weshalb Gespräche über das eigene Szeneverständnis schwierig sind. Die Akteure möchten sich nicht auf einen subkulturellen Standpunkt einlassen, da sich diese Standpunkte in der Geschichte der Subkultur immer wieder als ideologische Verblendungen erwiesen haben und da die persönlichen Erfahrungen gezeigt haben, dass sich alternative Ideale auf Dauer nicht konsequent verwirklichen lassen.

Deshalb sind die subkulturellen Tendenzen der Szene weniger diskursiv zu erfragen als eher durch die kulturellen Praxen der Szene zu erfahren: durch die Beobachtung des alltäglichen Miteinanders, der gemeinsam durchgeführten Projekte, der gestalteten Räume, der selbst produzierten Medien und anderen kulturellen Produkten, etc. Es ist erkenntnisfördern-der, das konkrete »Machen« zu beobachten und die Orte und Objekte, die daraus entstehen, als von Akteuren eine Erklärungsleistung darüber einzu-fordern.

Dennoch können Gespräche Aufschluss über Sprachregelungen der Szene geben, die Art und Weise, wie über Gefühle wie »Spirit« geredet wird. Sie dienten mir außerdem dazu, den sozialen Hintergrund zu erfah-ren und Kurzportraits erstellen zu können, um zu zeigen, dass trotz der postmodernen Verfasstheit der Szene die Akteure an einer kulturellen Logik Anteil haben, die zu vergleichbaren biografischen Verläufen führt.

Flyerwegen folgen

Die Nutzung diverserer Kommunikationsmedien zur Organisation der eigenen Gruppe und zur Kanalisierung der Bewegungsströme durch den Stadtraum ist ebenfalls ein zentrales Moment der Szene-Aktivität. Flyer, E-Mails und Internet wurden deshalb neben ihrer Existenz als ästhetisches Produkt auch in ihrer sozialen und kulturellen Funktion als informelle Kommunikationsmedien analysiert.

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Die Flyer helfen, »mit der Szene Schritt zu halten« (Gespräch mit Wolf-gang, 3.5.2006). So lange man regelmäßig auf Partys geht, findet man vor Ort die Flyer, die einen zur nächsten Party und zur nächsten location leiten. Auf diese Weise wird, um mit Michel de Certeau zu sprechen, das Prinzip des kontinuierlichen Raums durch Wege ersetzt (de Certeau 1988: 237). An die Stelle eines kontinuierlich aufgesuchten Ortes tritt ein Netz an Wegen von location zu location, das von den Akteuren der Szene kollektiv abgeschritten wird (wobei sich die Wege immer wieder gabeln und es die einen hier hin, die anderen dort hin treibt). Auf diese Weise entstehen die für die Szene typischen Flyerwege, die kreuz und quer durch die Stadt ver-laufen und einer für Außenstehende nicht sichtbaren Logik folgen. Auf der Abbildung 2 im farbigen Bildteil wird am Beispiel meiner eigenen Wege von location zu location gezeigt, wie durch das Referenzsystem der Flyer Flyerwege enstehen. Der erste Flyerweg zeigt, wie ich von Kalles Plattenla-den in die »Bar 23« geführt werde und von dort zur Silvesterparty des Col-lectives »Pyonen« in der Kongresshalle am Alexanderplatz. Der zweite Flyerweg zeigt, wie ich von der »Laster & Hänger«-Wagenburg, wo eine Party stattfand, zu einem Hoffest bei Toni und Tim vom »Muh-Bar«-Col-lective geleitet wurde und von dort zur Party des Collectives »Gelee Royal« auf dem damals noch brach liegenden Schienengelände am Ostbahnhof. Die dritte Karte bei Abbildung 2 zeigt ein Fantasie-Netz an Flyerwegen mehrerer Szene-Akteure. An den mit Pfeilen markierten Orten finden potenzielle Begegnungen statt.

Einen Flyerweg haben auch die »Pyonen« für eine Veranstaltung kartiert (siehe Abbildung 1 im Text), um auf die räumliche Nähe zweier von ihnen bespielter locations aufmerksam zu machen, meine Kartierungspraxis ist also auch Teil der Szenepraxis.

Wenn jedoch einmal eine Party ausgelassen wird, kommt man aus dem Schritt und muss durch persönliche Kontakte den Anschluss wieder finden. Dabei hilft einem, dass es bewährte Flyer-Orte gibt. Diese Orte sind die hoch frequentierten Orte der Szene, die auf Grund dieser Funktion auch eine Börse für Flyer sind. Sie leiten die Szene zu vielen verschiedenen Orten, weshalb ich sie Stern-Orte nennen möchte. Stern-Orte, darunter auch Kalles Plattenladen »Freak Out«, sind immer Orte mit einer hohen Bedeutung für die Szene.

Das andere Kommunikationsmedium der Szene sind E-Mail-Verteiler. Diese Form der Kommunikation über Partys hat sich in den letzten 10 Jahren in Berlin und weltweit in Städten im Zuge des Internets entwickelt.

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Man trägt sich mit seiner E-Mail-Adresse in Listen ein, die an den locations ausliegen oder aber man schreibt sich auf den Webseiten der Party-Collec-tives ein und wird dann per E-Mail informiert, wenn das Collective eine Party veranstaltet. Auf diese Weise hält man Schritt mit den wechselnden locations und ist auch dann informiert, wenn ein Collective an einem anderen Ort als dem gewohnten eine Party veranstaltet.

Abb. 1: Flyer mit markiertem Verbindungsweg (Quelle: Pyonen)

Auch die E-Mail-Verteiler helfen einem, mit der Szene Schritt zu halten. Ist man einmal in einem Verteiler eingetragen, so erhält man stabile Infor-mationen des jeweiligen Collectives, auch wenn diese an wechselnden locations agieren. An die Stelle eines angestammten, kontinuierlich aufge-suchten Ortes tritt der angestammte Eintrag in eine E-Mail-Datenbank. Es ist sicher kein Zufall, dass diese moderne Kommunikationstechnologie zeitgleich mit der ephemeren Szenepraxis entstand. Der E-Mail-Verteiler relativiert die Notwendigkeit eines kontinuierlichen sozialen Ortes. An die Stelle des tradierten Ortes tritt eine tradierte Weg-Information, die jedoch die selbe Bedeutung wie der tradierte Ort hat. Das Prinzip des »Stamm-publikums« verlagert sich auf die E-Mail-Verteiler. Die E-Mail-Information hat jedoch einen geringeren Wert als die Flyer-Information, da sie von einem konkreten Ort (an dem man die Information erhält) abstrahiert ist. Erhält man eine E-Mail in den Posteingang zu Hause, so ist man mit der Information allein gelassen, während man sich bei Flyern vor Ort über die zukünftige Party austauscht und zugleich an der Mundpropaganda antizi-piert. Verlässt man sich allein auf den E-Mail-Verteiler so kann es passie-ren, dass man sich in der schnelllebigen Szene allein auf einer Party wieder findet oder nicht die Akteure trifft, die man glaubt zu treffen. Für die

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Spontaneität der Szene, bei der Collectives neu entstehen und andere zer-fallen oder unwichtig werden, sind die Datenbanken deshalb oft zu träge.

Szene und Techno-Underground im Sprachgebrauch der Szene

Als ich die ersten Partys in alten Gebäuden und Kellern und in freier Natur besuchte, blieb mir lange Zeit eine Eigenbezeichnung verborgen. Das Geheime und Verbotene der Veranstaltung sowie der deviante Kleidungs-stil weckten zwar Assoziationen einer Subkultur, aber die Selbstbezeich-nung »Subkultur« tauchte ebenso wenig auf wie ein Präfix (zum Beispiel Techno-Subkultur), mit dem sich diese Gruppe eine Spezifikation gegeben hätte. Erst als ich einige Akteure näher kennen lernte und tiefere Gesprä-che führte, tauchte dann der Begriff »Technoszene« auf, bezeichnender-weise im Gespräch mit einer Akteurin der Szene (der damaligen Lebensge-fährtin von DJ Kalle), die wie ich ihre Doktorarbeit (in den Kulturwissen-schaften) über die »Technoszene« schreiben wollte (was sie jedoch ver-warf).

Erst unter dem Druck, einen wissenschaftlichen Gegenstand zu formu-lieren, benutzte sie den Begriff »Technoszene«, um ihre Partyerfahrung in einen strukturellen Kontext zu stellen. So wird der Begriff »Technoszene« nur in Bezug auf bestimmte Verwertungsinteressen genutzt.

Die Akteure der Szene verstanden sich durchweg als Wanderer zwi-schen den Welten. »Szeneübergreifend« war hier das Schlagwort. Dies betraf sowohl die Verortungsstrategie einzelner Akteure – »Ich bin im Prinzip zwischen den Szenen« (Interview mit dem Wagenburgler und Par-tyveranstalter Hektor vom 23.7.03) – als auch ein Streben, das die Szene insgesamt betraf. Man favorisierte soziale Gruppen und Ereignisse, die, wie man sagte, »open minded« (Interview mit Malcolm vom 22.2.06) sind. Sie brechen aus der Begrenzung des Technostils aus und öffnen sich für an-dere Stile (Punk, Rock, HipHop, Country). Auf Partys zu gehen, auf denen Technomusik gespielt wurde, war zwar die zentrale kulturelle Praxis der Szene, aber zugleich bezog sie andere Gruppen und Stile mit ein und auch im Sprechen über das eigene Tun dominierte der Aspekt des Szeneüber-greifenden gegenüber dem der Homogenität. Die Bezeichnung »Techno-szene« konnte in diesem Zusammenhang auch zu einer Negativbezeich-nung werden, als Bezeichnung einer Gruppe, die, im Gegensatz zu einem

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selbst, nur auf ein Thema fixiert war. Grenzte man sich solchermaßen von der Technoszene ab, so wurde diese auf eine inhaltslose, oberflächliche Partykultur reduziert.

Den Begriff »Technoszene« will sich diese auch deshalb nicht gefallen lassen, da er zu sehr einen kulturellen Mainstream evozierte. In den Medien ist das Bild des Techno von kommerziellen Großveranstaltungen wie der Loveparade dominiert. Und mit diesen Ereignissen wollen sie nicht in Verbindung gebracht werden. »Wo du dich bewegst, das ist eher ein sub-kultureller Nischenkosmos«, wurde mir gesagt (Interview mit Kirk vom 3.7.02). In diesem Zusammenhang fielen dann Begriffsangebote wie »alter-native Technoszene« oder »Techno-Underground«, die den subkulturellen Aspekt dieser Kultur hervorhoben. Es existierte also ein subkulturelles Selbstverständnis in der Szene, das aber nur situativ zum Tragen kam.

Die schwache Ausprägung einer Selbstbezeichnung und eines kollektiv geteilten Themas korreliert mit einer schwach ausgebildeten Gruppen-Identität, die aber nichtsdestotrotz vorhanden ist. Diese Gruppen-Identität wird am deutlichsten in Erzählungen über die eigene Szene-Sozialisation formuliert. Das erste Partyereignis stellt in der Darstellung der Szene-Ak-teure eine Form der Initiation dar, man tritt in einen neuen sozialen Zu-sammenhang. So erzählte eine Akteurin von den vielen neuen Bekannt-schaften, Räumen und Erfahrungen. Nicht selten spielen dabei Drogener-fahrungen eine Rolle. Die Bezeichnung »Szene« gibt diesem spontanen außeralltäglichen Gefühl eine soziale Struktur, eine, wenn auch diffuse Form von Kollektivität und Dauer. Der Begriff der »Szene« wird in diesem und auch in anderen Kontexten immer dann verwendet, wenn man impli-zieren möchte, dass ein Ereignis, ein Objekt, ein Thema oder eine Musik-richtung eine soziale Struktur hat und durch soziales Handeln kontextuali-siert ist. »Szene« impliziert ein »mehr« gegenüber dem Ereignis, dem Ob-jekt, dem Thema oder der Musikrichtung an sich. Es gibt Technomusik, aber auch eine Techno-Szene, Ambient-Musik aber auch eine Ambient-Szene, politisches Engagement aber auch eine Politszene (auf diese und andere Erwähnungen von Szenen stieß ich während der Feldforschung). Dabei ordnet man bezeichnenderweise andere Akteure einem Präfix zu, sich selbst verortet man aber nur in »der Szene«, also ohne Spezifikation. Die Akteure der (Techno-)Szene fühlen sich »der Szene« zugehörig, sofern »Szene« unspezifisch blieb.

Die Widerborstigkeit gegenüber Selbstbezeichnungen und Zuschrei-bungen berührt drei verschiedene Aspekte dieses sozialen und kulturellen

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Zusammenhangs: erstens die Frage nach einer subkulturellen Verortung (die die Vorstellung von sich als »Szene« in die Nähe der Subkultur rücken würde), zweitens die Frage nach einem von allen gleichermaßen geteilten Thema, einem Stil oder einer Musikrichtung, das der Gruppe ihre Spezifik geben würde (»Techno« beziehungsweise »Technomusik« als das Thema, um das sich die Gruppe herum formiert) und drittens die Frage nach einer kollektiven Identität und der damit zusammenhängenden Frage nach der Notwendigkeit einer Gruppenbezeichnung (Szene oder Subkultur als Be-zeichnung einer Vergemeinschaftungsform). In allen drei Aspekten bleiben die Akteure der Szene diffus und bestätigen hiermit den von Bourdieu konstatierten Zwang des neuen Kleinbürgertums sich bloß nicht verorten zu lassen. Weder verorten sie sich in der Subkultur, noch ordnen sie sich einem bestimmten Musikstil zu. So sagte mir Kalle:

»Die kann man nicht einordnen. Das ist ja das Coole, dass man die nicht einordnen kann. Cody spielt Country-Musik und weißt du… die kann man einfach nicht einordnen. Die sind einfach, die passen in kein Bild. In kein bestimmtes Bild. Das sind alles irgendwie… Verrückte.« (Interview mit Kalle vom 27.6.02)

Sie verorten sich aber auch nicht nicht in einer Subkultur, sie ordnen sich nicht nicht einem Musikstil zu und definieren sich nicht nicht als soziale Gruppe. – Der hier erwähnte Cody betrieb mit Kalle und einigen anderen eine Bar. Er studiert Architektur, jobbt in einer Baufirma und als Koch bei Greenpeace, lebt in einem ausgebauten Lkw in einer Wagenburg und tritt auf Partys mit seiner Country-Band »Dead County Cool Boys« auf.

Ich benutze in der Bezeichnung meines Forschungsgegenstands die Bezeichnung »Techno-Underground«, um die subkulturelle Orientierung hervorzuheben, in dem Bewusstsein, dass diese und andere Begrifflich-keiten nur sehr vage ausgeprägt sind. Sie erlauben es, einem letztlich doch relativ kohärenten Ensemble an Personen, Gruppen, Ereignissen, Orten und Beziehungen einen Namen zu geben, wobei die Ambivalenz zwischen einer latenten und einer manifesten Gruppe zu reflektieren ist.

Der Titel dieses Buches, »Kosmonauten des Underground«, ist hinge-gen inspiriert von einer Modenschau in der Szene, bei der die typische Trägerin der präsentierten Kleider als »urbane Kosmonautin« beschrieben wurde. Der Name versinnbildlicht das Umherschweifen der Szene sowie die Aneignung und Umfunktionierung von Objekten und Begriffen der ehemaligen DDR, wie es in der Szene praktiziert wird.

Durch meine teilnehmende Beobachtung im Techno-Underground verstand ich allmählich die (brüchige) kulturelle Logik einer urbanen Szene.

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Im folgenden Kapitel wird die Sprachregelung der Szene rund um den Moment des Festes genauer untersucht, bevor dann den Gefühlsqualitäten des Moments selbst nachgespürt werden.

3. Spirit – Eine subkulturelle Inszenierung

Worte können die Erfahrung des Moments des Festes nicht beschreiben – dies wurde der Forscherin oft versichert. Umso aufschlussreicher kann es sein, wenn das Schweigen gebrochen wird, wenn doch ausgesprochen wird, was eigentlich unsagbar ist. Denn die Szene ist beredt: nicht nur in dem, was sie in Gesprächen sowie in E-Mails, Webseiten und Flyern artikuliert, auch in dem, was sie durch die Gestaltung der locations von sich erzählt. Jenes wohl inszenierte »public imagery«, so soll im Folgenden ge-zeigt werden, ist die Grundlage für das Szene-Netzwerk. Wo die ästheti-sche Erfahrung der Communitas im Moment des Festes sprachlos ist, da halten verbale und visuelle Inszenierungen, das permanente Beschwören des »Spirit«, die soziale Gruppe zusammen.

Das »public imagery« einer Gruppe bildet sich nach Ulf Hannerz aus den Ideen der Gruppe zu einer bestimmten Sache, die aus persönlichen Erfahrungen aber ebenso aus Interpretationen anderer gespeist wird. Indi-viduelle Erfahrungen werden dem »public imagery« angepasst. Es wird zur Folie, nach denen Eindrücke ausgesiebt werden (Hannerz 1969: 94).

Spirit

»Spirit« markiert für die Akteure der Szene den Unterschied zwischen kommerziellen Unterhaltungsangeboten, bei denen, wie Kirk einmal äu-ßerte, eine »Konsumhaltung« (Feldforschungstagebuch vom 8.7.03) vor-herrschend ist und nichtkommerzielle Veranstaltungen der Szene, wo die Tatsache der Zusammenkunft und das festliche Miteinander im Zentrum steht. Er markiert auch den Unterschied zwischen traditionell kulturellen Veranstaltungen wie Konzerte oder Theaterveranstaltungen, wo das künstlerische Ereignis im Mittelpunkt steht und das soziale Ereignis auf

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diesen Mittelpunkt fokussiert ist und Partys der Szene, deren Ästhetik (Raum, Licht, Musik) das soziale Ereignis nicht dominieren, sondern ihm einen festlichen Rahmen geben. Die Akteure unterscheiden zwischen einer konsumorientierten Haltung, die danach entscheidet, was (künstlerisch beziehungsweise an Unterhaltung) geboten wird und einer Haltung, der es, wie ihnen selbst, um den »Spirit« geht. So unterhielt ich mich einmal mit Konrad aus dem »Spacebar«-Collective über das Open-Air-Festival »Fusion« (das im Techno-Underground als das »Weihnachten« der Szene gilt, Feldtagebuchnotiz vom 1.7.02). In diesem Sommer kamen nur die Hälfte der erwarteten Gäste. Konrad sagte, es sei im Vorfeld zu wenig über die guten »Acts«, also auftretende DJs und Bands, informiert worden. Ich fragte ihn, ob es nicht primär um andere Dinge gehe. Konrad, der meine Frage naiv fand, antwortete: »Es gibt auch Leute, die sind nur an den Acts interessiert und wenn die auf den Flyern nicht sehen, welcher DJ auftritt, dann kommen sie nicht. Nicht allen geht es um Sommer und Spirit und Freunde treffen« (Feldforschungstagebuch vom 3.7.04).

»Spirit« bedeutet für die Akteure der Szene auch, dass keine klare Tren-nung zwischen Produzenten und Rezipienten besteht. Das kollektive En-gagement vereine alle. Der Wechsel zwischen der Rolle des genießenden Rezipienten und des aktiven Produzenten sei fließend. Der Wagenburgler und Partyveranstalter Cody sagt: »So würd’ ich das definieren, wenn ich sagen würde, ich bin jetzt in ’ner Szene. Dass ich da auch ’nen Input gebe… Was ’rausziehe und wieder was reintu« (Interview mit Cody 15.5.03). Sich am »Spirit« zu beteiligen ist eine Form des Kultur-Schaffens, der dem künstlerischen Schaffen verwandt ist, da Atmosphären, Situatio-nen und Objekte erzeugt werden (locations, Konzerte, Dekorationen, Performances, etc.), der sich jedoch einem elitären Kunstverständnis ver-weigert. Den Slogan hierzu fand einst die Punk-Kultur: Do-it-yourself. Er entstand im Zusammenhang mit einer Abbildung in dem englischen Punk-Fanzine13 »Sniffin Glue«, mit der den Lesern die Fingerstellung eines Riffs auf der Gitarre erklärt wurde und die dazu aufforderte: Hier ist ein Akkord, hier ein zweiter und jetzt geh und gründe eine Band. Damit agierte man sowohl gegen die Produkte der Kulturindustrie, die die Konsumenten mit anonymer Massenware versorgt, als auch gegen den elitären Kulturbetrieb, bei dem Kunst als Mittel der »Distinktion« eingesetzt wird und setzte bei-den einen breiten Kunst- und Kulturbegriff entgegen, bei dem im Sinne

—————— 13 Fanzine = ein Magazin, das von Fans herausgegeben wird.

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von Joseph Beuys »jeder Mensch ein Künstler ist«. Seinen utopischen Ge-halt, nämlich die Trennung zwischen den Individuen zu überwinden (Le-fèbvre 1977), erhält der Spirit angesichts der Tatsache, wie Georg Simmel schreibt, dass die menschlichen Tauschbeziehungen in der Großstadt zu-nehmend von der Geldwirtschaft diktiert werden. »Dadurch bekommt das Interesse beider Parteien eine unbarmherzige Sachlichkeit; ihr verstandes-mäßig rechnender wirtschaftlicher Egoismus hat keine Ablenkung durch die Imponderabilien persönlicher Beziehungen zu befürchten« (Simmel 1903: 230). Während die Handlungen der Städter, bezogen auf das Stadt-gebilde insgesamt, überwiegend ökonomisch bestimmt sind, gilt »Spirit« den nicht-ökonomischen Beziehungen. Diese einstige Punk-Rhetorik be-stimmt noch heute die Sprachregelung der Szene.

Das Wort »Spirit« wird auch dazu bemüht um profane Tätigkeiten zu nobilitieren. Weil man zum »Spirit« beitragen wollte, waren die Tresen-Schichten an der »Spacebar« (einer mobilen Bar, an der Kräutercocktails verkauft wurden) so populär, dass sie auf einer Veranstaltung allein durch freiwillige Helfer organisiert werden konnte. Der gemeinschaftliche Pro-jektcharakter kann zur Aussage führen, dass eine Party »langweilig« sei, auf der man nicht tatkräftig (bei der Organisation, beim Aufbau, beim Design, als DJ, an der Bar) engagiert ist. So sagt Kalle:

»Es geht ja darum, einfach, dass die Leute was machen wollen, Bock haben, was auf der Party zu machen und nicht nur zu konsumieren und nicht nur, irgendwie, da hinzugehn, zu feiern und… das reicht denen einfach nicht. Das ist für die meisten Leute dann langweilig. So geht’s mir auch. Wenn ich nicht irgendwie in-volviert bin auf der Party, kann ich mit der ganzen Party irgendwie meistens echt selten was anfangen. Da nervt es mich eher.« (Interview mit Kalle vom 27.6.02)

Aus eigenen Beobachtungen kann ich diese Aussage nicht unbedingt bestä-tigen – Kalle ist ein begnadeter Müßiggänger – aber im Reden darüber wird das Engagement in den Vordergrund gestellt.

Oft wird anstelle von »Spirit« auch von »Nicht-kommerziell« gespro-chen. Über die Motivation, Partys zu veranstalten, sagt Cody:

»Einfach aus Lust heraus, was zu machen, Veranstaltungen zu machen; aber in ’nem Bereich, der nicht kommerziell ist, der nicht sich diesen kommerziellen Zwängen unterwirft. Wo ich sagen kann, wenn ich jetzt hier ’n Abend allein steh mit drei guten Freunden, dann ist mir das scheißegal, weil ich zahl keine Miete (sofern es sich um eine besetzte location handelt) und so hab ich meinen Spaß. Und in dem Moment, wo ich’s blöd finde, kann ich alle rausschmeißen und nach Hause gehen. Das war halt immer die Grundidee dahinter, und das war bei ›Camp Tipsy‹

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(Open-Air-Festival am Stadtrand von Berlin, das Cody mitinitiierte) natürlich auch die Grundidee; dass ich jetzt nicht darauf angewiesen sein muss, dass da 1000 Leute kommen, weil ich ... einfach los surfe... aber eigentlich dadurch was Gutes entsteht.« (Interview mit Cody vom 15.5.03)

Victoria, eine Freundin von Kalle und Cody, bringt die Haltung des do-it-yourself auf den Punkt: »Wir trau’n uns, etwas anderes auf die Beine zu stellen« (Interview mit Victoria vom 10.9.03). Es gehe nicht darum, so sagt auch Gabi, »dass ich meinen Kühlschrank voll kriege« (Interview mit Gabi vom 10.7.03). Cody fährt fort:

»Ich merk das ja selber, ich spiel ja mit Bill in ’ner Country-Band. Und das ist auch ein bisschen so’n Ding, wenn ich jetzt irgendwo gebucht werde in Essen, und ich weiß genau, die nehmen an der Tür ’n Zehner Eintritt, oder acht Euro Eintritt, und da denk ich mir: ›Warum soll ich da umsonst spielen?‹ Mach ich nicht. Und dann überlegt man sich: ›Was bin ich wert...‹ Und da denkt man sich: ›Ok, der DJ kriegt 200 Euro und wir sind zu viert, da müssen wir eigentlich 800 Euro krie-gen… Ok, is’n bisschen viel, dann müssen wir wenigstens 500 Euro kriegen.…‹ Und dann sagt der Beleuchter auch: ›Ok, die kriegen 500 Euro, ich muss hier auch die ganze Nacht arbeiten, ich muss da auch mindestens 200 Euro kriegen...‹ Und es muss der Türsteher (etwas bekommen) und die Bar und jeder Hansel irgendwie... Und da machste so’n Berg von Kosten und jeder will Geld haben. Und irgend-wann war aber auch mal die Idee, dass man sich eigentlich nur getroffen hat, um Spaß zu haben. Und dass du an dem Punkt, wo du jedem Geld gibst, eigentlich keinen mehr Fragen kannst, was umsonst zu machen... Und da baut man sich ’nen Zwang auf, den ich überflüssig finde oder anstrengend finde. Und das war ’n ab-solutes (Muss) in der ›Muh-Bar‹, so ’ne eiserne Regel: ›Niemand kriegt Geld, es verdient keiner Geld.« (Interview mit Cody vom 15.5.03)

Alle Akteure der Szene inszenieren sich in vergleichbarer Weise. Man wolle »selbst etwas machen«, den Spaß »selbst produzieren« und sich die Aus-gestaltung der Geselligkeit nicht von der »Kulturindustrie« diktieren lassen – diese traditionell linke, von Adorno geprägte Terminologie wird von Malcolm vom Party-Collective »Pyonen« benutzt. Kulturschaffen und ökonomisch Handeln sind in der Selbsterzählung der Akteure der Szene Ausschlusskriterien, auch wenn ökonomisches Handeln Teil der Szene ist. In einem Interview kritisiert Malcolm deshalb auch die aktuelle Entschär-fung des Kulturindustrie-Begriffs durch die an der Wirtschaftlichkeit von Kultur ausgerichteten Stadtpolitik. Malcolm sagt kategorisch: »Es kann keine Kulturindustrie geben. Die beiden Wörter widersprechen sich kom-plett: Industrie und Kultur haben nichts miteinander zu tun: Industrie: böse, Kultur: gut. Sag ich jetzt so Schwarz-weiß-gemalt« (Interview mit Malcolm

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vom 22.2.06). Deshalb begreifen die Akteure der Szene ihr Engagement nicht als ökonomisches Handeln, sondern als kreative gemeinschaftliche Tätigkeit.

Auf die Organisation des Lebens angesprochen, wird die Inszenierung des nicht-kommerziellen »Spirit« jedoch mitunter brüchig. So sagt Cody:

»Wenn jemand ein richtig guter Gitarrist ist, der geht nicht acht Stunden arbeiten und macht dann halt auch so die Wäsche und packt ein und kocht sich was und probt dann auch noch fünf Stunden Gitarre... Das funktioniert einfach nicht. Es ist schon so, dass man, wenn man Künstler ist, von seiner Kunst auch leben muss. Und deswegen hat es auch seine Berechtigung, dass es Veranstaltungen gibt, wo man Geld verdient. Is auch ok. Ich geh auch auf Veranstaltungen, wo ich Geld kriegen möchte. Die gibt’s auch. Aber vielleicht ist es dann eher so was wie ein Gegengewicht, dass es auch gut ist, wenn es Veranstaltungen gibt, wo es wirklich überhaupt nicht um Geld geht, sondern einfach nur um den Spaß an der Sache. Und gleichzeitig kannst du dann da auch machen, wozu du einfach Lust hast... Denn wenn Du als DJ irgendwo für Geld gebucht wirst, dann kannst du halt nicht mehr machen, was du willst. Du musst auch eine bestimmte Erwartungshaltung erfüllen. Was ja auch bestimmt Spaß macht, sonst würdest du es ja nicht machen... Aber Kalle zum Beispiel sagt auch, wenn er irgendwo 300 Euro kriegt, das strengt ihn zum Teil mehr an, weil er halt dann auch da das Programm runterfahren muss, weswegen die ihn haben wollen. Wenn er hingegen kein Geld nimmt kann er machen, was er will.« (Interview mit Cody vom 15.5.03)

Cody betont hier die Irrelevanz des Geldes. Das Einvernehmen von Cody und Kalle, Finanzielles spiele keine Rolle, ist für das Funktionieren der Szene unabdingbar, auch wenn die Szene von ökonomischen Strukturen durchzogen ist.

Wenn von Inszenierung die Rede ist, soll damit nicht behauptet wer-den, die Szene heuchle etwas vor. Zweifellos spielen finanzielle Interessen eine weit geringere Rolle als in der Unterhaltungsökonomie des Mainstream. Es geht hier um die Herstellung des public imagery der Szene, die ohne eine glaubwürde kollektive Inszenierung zerfallen würde.

Die Sprachcodes des »Spirit« zeigen sich auch in den den Rundmails, die anlässlich der Partys verschickt werden. Die Rundmails sind sehr persön-lich gehalten, als richte man sich an einen privaten Freundeskreis, das heißt an konkrete, persönlich bekannte Individuen. So schrieben beispielsweise die »Pyonen« anlässlich ihrer alljährlichen Silvesterparty, die dieses Jahr in der »Heeresbäckerei« stattfand:

liebe jahreswechselfeierwillige,

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hier in kurzform unser sylvesterprogramm – kommen – tanzen – trinken – küssen – glücklich sein (Pyonen, 4.12.03)

Der »Schweizer Garten« kündigte eine seiner Partys an mit:

hallo ihr (hello you) am wochenende mal wieder schüttelprogramm (shakin' program) auf elektrischen klangteppichen (electric sound carpets). '''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''' ' teppichklopfer (carpetknockers): ' ' - roner ' ' - kalle ' ' - por.no ' '''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''' (Schweizer Garten, 11.6.02)

Gabi kündigte in ihrer Rundmail einen Abend mit hausgemachten Schwä-bischen Spätzle an, der musikalisch von Kalle begleitet wird. Die Köche Brummel und Puk aus Baden-Würtemberg, letzterer Gabis Freund, bilde-ten mit Kalle ein bewährtes kulinarisch-musikalisches Team, das sich »Spätzlefreeschtyle« nannte (mit folkloristischem »sch«). In der Rundmail schrieb Gabi:

hi ihr lieben das letzte mal vor der ›sommerpause‹ gibts in der sprechstunde kulinarisches für mund und ohr: maitre brummel und käptn puk kredenzen den original ›gaisburger marsch‹ (kartoffelschnitz mit spätzle) und big champion master of the univers kalle verzückt mit seinem beliebten freeschtyle. und schwester gabi is auch da... und das alles diesen freitag, den 04. juli ab 20 uhr in der oderberger 2 im salon c14. na denn hoschdmi sagt die g**** (Spätzlefreeschtyle, 1.7.03)

Die E-Mails sind somit ein Medium, den »Spirit« der Szene herzustellen. Durch die Inszenierung und gegenseitige Bestätigung des »Spirit« wird das soziale Netzwerk der Szene ausgebildet. Die Netzwerke sichern der Szene Kontinuität und Stabilität in einer sich ansonsten wandelnden Umwelt. An den Gruppen und sozialen Strukturierungen der Szene orientieren sich die Szene-Akteure, sie geben dem Szenegeschehen Ordnung und Verbindlich-

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keit. In der sich ständig wandelnden Szene, in der Orte ihre verbindliche und verbindende Funktion verlieren und zu flüchtigen locations werden, kommt den auf »Spirit« basierenden sozialen Netzwerken eine besondere Bedeutung zu.

Collectives und Netzwerke

Die gegenseitige Bestätigung des »Spirit« versetzt die Mitglieder der Szene in eine Art Bringschuld, die durch Teilnahme an Projekten eingelöst wird. In der Durchführung gemeinschaftlicher Projekte treten die Szene-Akteure in Austausch miteinander. Wie Alan Blum schreibt, sind Szenen »Projekte«, in denen man für kürzere oder längere Zeit an gemeinsamen Zielen arbei-tet. Wie auch der Netzwerk-Theoretiker Boissevain schreibt, treten die Akteure von Netzwerken über das Verfolgen gemeinsamer Ziele (die Bil-dung von Collectives) in temporäre Beziehung zueinander (Boissevain 1974). Die sozialen Beziehungen, die sich durch die gemeinsamen Projekte ergeben, bilden neben den im Methodenkapitel beschriebenen »Hi-and-bye-Beziehungen« das soziale Netzwerk der Szene.

Collectives sind temporäre Zusammenschlüsse von Partyorganisatoren, die ihre Arbeit als »nichtkommerziell« bezeichnen. Im Szene-Alltag redet man allerdings nicht von Collectives, sondern von »Leuten« (»die Muh-Bar-Leute«), von »Crew« oder von »Posse« (bei der Bezeichnung »Posse« steht der Partykontext im Vordergrund; »Posses« bezeichnet man die Gruppen, die auf Partys als geschlossene Einheit auftreten). Ich habe mich für die Bezeichnung Collective in Anlehnung an die in englischen Subkultur-Analysen sogenannten »Soundsystem-Collectives« entschieden. Die englischen »Soundsystem-Collectives« sind gleichermaßen lose organisierte Gruppen, die sich um ein Soundsystem (eine Musikanlage) für kürzere oder längere Zeit zusammenschließen und mit diesem Soundsystem durch die Lande ziehen und an wechselnden Orten Partys veranstalten (St John 2001). Auch in England stammen sie meist aus der Hausbesetzer-Szene. Die saloppe englische Bezeichnung Collective soll gegenüber der deutschen Bezeichnung »Kollektiv« (die zudem durch die DDR-Geschichte belastet ist) die Lockerheit und geringe ideologische Unterfütterung des Zusammenschlusses hervor heben. In einem Collective kann es hierarchische Rollenaufteilungen geben. Malcolm und Johnny beispielsweise sehen sich

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ausdrücklich als Leiter und Organisatoren ihres Collectives, auch wenn Johnny mit Verweis auf seine Besetzervergangenheit von sich sagt, sie kämen aus »kollektiven Strukturen«.

Das bereits mehrmals erwähnte »Muh-Bar«-Collective, dem u.a. Cody, Kalle und Victoria angehörten war ein solcher Teil des Szenenetzwerks. Das Collective besetzte Ende der 1990er Jahre eine alte Baracke im Scheu-nenviertel (weshalb die Bar auch ironisch »Muh-Barack« genannt wurde). Auf dem Gelände befand sich außerdem eine ehemalige Auto-Werkstatt, die von einem anderen Collective als eine Bar namens »Waffengalerie« betrieben wurde sowie das alternative und ebenfalls besetzte Kulturzen-trum »Eimer«, einer der berühmtesten Veranstaltungsorte des Nachwende-berlins.14

Das Wissen um die Baracke des »Muh-Bar«-Collectives kursierte in der Szene als Geheimtipp, nachdem der Eimer stadtbekannt geworden war. »Die Baracke stand da schon immer und, es war nichts drin und die war auch total kaputt und wir ham die dann renoviert und angemalt und Tresen reingebaut und den Hof sauber gemacht und so. Das war halt einfach so’n leerer Hof«, erzählt Cody lapidar. »Muh-Bar« wurde sie genannt, weil man hier eine Milchbar einrichtete, womit auf die in Ostberlin zu DDR-Zeiten populären Milchbars angespielt wurde und außerdem auf die amerikani-sche Prohibitionszeit, die den (antialkoholischen) Milchbars zu ihrer Popu-larität verhalf – Cody, Bill und Kalle aus dem Collective sind leidenschaft-liche Anhänger der amerikanischen (Alternativ-)Kultur. Über die Entste-hung der »Muh-Bar« erzählt Cody:

»Mit Bill, Kalle und einigen andern hab’ ich damals zusammen eine Milchbar ge-macht, hinter’m Eimer… Also wir sagen immer vor dem Eimer, auf dem Hof. Da war der Ansatz, dass wir da Kultur schaffen wollen, szeneübergreifend... Da gab’s dann ganz unterschiedliche Veranstaltungen. Da gab’s Leute, die ham Bock gehabt auf Rockmusik und ich war damals im Technobereich unterwegs und hab gesagt,

—————— 14 Über den »Eimer« berichtete die bürgerliche Wochenzeitung Die Zeit. Er war als Wohn-

haus gebaut und in den frühen 1930er Jahren in ein Stundenhotel umgebaut worden. Hierfür waren zusätzlich Wände eingezogen worden, so dass das Gebäude sehr verwinkelt ist. Nach dem Krieg wohnten hier Flüchtlingsfamilien, dann wurde es als La-gerraum für verschiedene Firmen genutzt. Nach der Wende wurde das Gebäude am 17.1.1990 besetzt und sah, wie Die Zeit berichtete, »wie ein rechteckiger, alter Keks« aus, »an dem das Wetter und die Zeit nagen und dabei weder Stuck noch Stein ganz gelassen haben« (Die Zeit, 1.2.2001). Über die kleine Eingangstür hängte man einen Eimer, der dem Ort den Namen gab und der wie die Eingangslampe einer Spelunke nachts mit einer Glübirne von innen beleuchtet war.

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ich mach Montags einen Chillout. Da war hier so’ne Sprayer Crew aus Mitte, das war deren Homebase und die ham sich da verewigt auf dem Gelände (sie bemalte die Baracke in den scheckigen Mustern einer Kuh) ... Es war sehr heterogenes Publikum. Und wir hatten immer den Anspruch, unkommerziell zu sein, und einfach nur ein Forum zu bieten.« (Interview mit Cody vom15.5.03)

Die Beteiligten am »Muh-Bar«-Collective waren Künstler, Lebenskünstler, Studierende und Herumtreiber. Ihre Beziehungen zueinander haben sich im Laufe der Jahre durch die gemeinsame Organisation der »Muh-Bar« und weiterer Folgeprojekte verfestigt.

Um einen besseren Eindruck von dem Charakter der Gruppe zu geben, möchte ich ihre Akteure steckbriefartig vorstellen, wie sie sich vor mir zu Beginn der Feldforschung inszenierten. Dabei darf man sich dieses Collec-tive wie auch die anderen Collectives der Szene nicht als statische Gruppe vorstellen, sondern als ein loses Freundesnetzwerk mit wechselnden Betei-ligten und Verbindlichkeiten. So sagt Kalle über einen der Teilnehmer, Pitt:

»Pitt ist so’n bisschen Mitglied im Kormoran. Mal mehr mal weniger. Aber das geht ja auch darum, da kann jeder mitmachen oder so oder… Da ist keiner ver-pflichtet was zu machen. Da macht jeder so viel wie er Bock hat und jeder, irgend-wie… ist auch immer gut, es gibt immer die, die mehr machen und weniger. Da-durch gibt’s dann natürlich wieder welche, die dann nach ’ner Zeit wieder absprin-gen, weil se denken, oh, wir ham so viel gemacht, ich hab kein Bock mehr oder so…« (Interview mit Kalle vom 27.6.02)

Die in diesem Sinne mal mehr mal weniger engagierten Mitglieder waren, soweit ich das überblicken kann:

Pitt: Verlobt mit einer Indianerin. Will Buschpilot in Kanada werden. Lebt im Sommer in einem Zelt auf einem Dach im Prenzlauer Berg.

Nana: Nach Kalles Aussage »die schlauste Braut, die ich kenne«. Interes-siert sich für Zahlenmystik und magistrierte mit »sehr gut« bei dem Berliner Kulturwissenschaftler Gunter Gebauer.

Toni: Erzählte mir auf der Jahresparty der »Laster & Hänger«-Wagenburg von seiner Vergangenheit mit den »Free Party People«, die als Kara-wane durch Ost-Europa tourten, von der Hand im Mund lebten, von der Polizei wegen kleinerer Delikte gesucht wurden und in unterschied-lichen Dörfern, Städten und abgelegenen Waldlichtungen Partys veran-stalteten.

Tim: Ist offizieller Mieter der alten Lagerhalle des ehemaligen Sekundär-Rohstoff-Kombinats »SeRo«. Er wurde gerade von der Künstlersozial-kasse abgelehnt.

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Helena: Ist nach Kalles Aussage »eine echte Prinzessin«, sie trägt in ihrem Nachnamen ein »von«. Sie fertigte Skulpturen an, die nach eigener Aus-sage alle »zu große Füße hatten« und schloss sich später einer Zirkus-truppe an.

Stella: Lebte in Düsseldorf in einem besetzten Haus in der Kiefernstraße, gehörte dort zur stil- und modebewussten Fraktion, Trini Trimpop von den »Toten Hosen« war ihr Kita-Betreuer; jobbte bei den Toten Hosen und nimmt gerne LSD. Sie trägt selbstgeschneiderte martialische schwarze Kleidung, die sie über ihren halbrasierten Kopf zieht und an ihrem zierlichen Körper herunter hängen lässt. Lebensgefährtin von Joe.

Joe: Unbeschreiblich. Sagte mir einmal, er komme aus Atlantis, tatsächlich kommt er aus Irland. Sein Oberkörper ist meist nackt, teils auch an Wintertagen. Seine Tätowierungen und sein kahl rasierter Schädel las-sen erkennen, dass Punk im Indianer-Stil verwurzelt ist. Auf Partys verwandelt sich seine Sprache in unartikuliertes Fiepsen.

Thorsten: Blondes gewelltes Haar, rote Lippen. Von Bond aus dem »Goldmund«-Kollektiv »Frau Müller« genannt.

Europa: Trinkt gerne Champagner, besitzt eine Riesendogge namens Oleg und ritt einst auf einem jungen Stier. Sie ist nach Aussage von Nadine »immer überall«. Auf ihrer Hüfte klebte einmal der Spruch »Immer schön geschmeidig bleiben«.

Kirk: Ist auch Mitglied des »Goldmund«-Collectives. Kirk wurde in seiner Punk-zeit von der Polizei zu Hause abgeholt, wegen Körperverletzung, Brandstiftung und Sachbeschädigung. Hat sich dann den Kopf abra-siert, um näher an den Schallwellen zu sein und sanfte, meditative Plattenmusik aufzulegen.

Die »Muh-Bar« stellte den kollektiv geteilten Fokus der beteiligten Akteure dar und ihre Beziehungen zueinander waren dadurch geprägt, dass sie gemeinsam die »Muh-Bar« unterhielten. Sie räumten gemeinsam das Ge-rümpel aus der alten Baracke, renovierten den Raum und machten ihn betriebsfähig, schreinerten einen Bar-Tresen und andere für den Barbetrieb erforderliche Möbel, bemalten das Innere und dekorierten es mit Acces-soires, besorgten Sofas, Matratzen und Tische für den Sitzbereich, etc. Als die Baracke fertig renoviert war, kümmerten sie sich monatelang gemein-sam um den Bar-Betrieb. Besorgten allwöchentlich Getränke und die Zu-taten für die Milchshakes, arbeiteten hinter dem Bar-Tresen, organisierten auftretende Bands und DJ’s oder machten selbst Musik, räumten jeden

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Abend wieder auf, etc. Diese Zeit war zudem von gesteigerten nächtlichen Aktivitäten geprägt. Man ging viel gemeinsam aus und feierte auf anderen Partys, die von anderen Idealisten organisiert wurden, besuchte Konzert-veranstaltungen und Kinoabende und lief sich auch zufällig im Kiez oder in den Wohnungen anderer Szene-Akteure über den Weg. Dieses gemein-same Projekt führte zu einer besonders tiefen Verbundenheit, die Kalle in die schicksalhaften Worte kleidete, man hätte einander »gefunden« (Inter-view mit Kalle am 27.6.02). Auf den Partys war diese Verbundenheit, diese Verdichtung des Szenenetzwerks dadurch sichtbar, dass die Beteiligten des »Muh-Bar«-Collectives meist als Gruppe auftraten. Sie sammelten sich nahe des DJ-Pults – einem privilegierten Ort der location, der aktiven Szenemitgliedern vorbehalten ist – und richteten ihre Aufmerksamkeit aufeinander. Für Außenstehende konnte dies exklusive Züge annehmen. So erinnere ich mich, dass die Gruppe in den Morgenstunden einmal be-gann, sich gegenseitig zu massieren. Ich wollte mich hinzugesellen, scheute aber vor der Intimität zurück.

2001 wurde das Gelände der »Muh-Bar« und des Eimers geräumt, weil es der Besitzer sanieren wollte. Eine Zeit lang veranstaltete das Collective, nun ortlos, Partys an wechselnden locations, indem sie eine Musikanlage und eine improvisierte Bar an unterschiedliche Orte schafften – hier entstand die Idee des Wohnwagens als mobile Bar, die später das »Bar 25«-Collective verwirklichte und den Wohnwagen übernahm, wobei man den Wohnwagen auf dem »SeRo«-Gelände ausbaute. Sie fanden ihre locations u.a. auf einer Brachfläche an der Michaelibrücke in der Nähe der Ruine einer ehemaligen Seifenfabrik, von wo aus man die Silhouette des Alexan-derplatzes sehen konnte – das Forum Hotel und der Fernsehturm – und wo im Vordergrund die gelb-roten Züge der Hochbahn entlang fuhren. Auf dem Dach einer Halle an der Spree, in der zur DDR-Zeiten Boots-motoren hergestellt wurden, sowie am »Märchenbrunnen« im Volkspark Friedrichshain.

Schließlich bezogen sie für einen Winter und einen Sommer die Räume eines ehemaligen Frisörsalons und veranstalteten hier die »Kormoran«-Bar als Nachfolgerin der »Muh-Bar«. Der Raum befand sich ebenfalls in Mitte und nur etwa zehn Gehminuten vom ehemaligen Gelände der »Muh-Bar« entfernt, an einer Straßenecke gegenüber des alten Gemeindehauses der Elisabethkirche. Dort veranstaltete man einmal in der Woche eine Cock-tailbar, an einem anderen Abend einen Kino-Abend und die Gruppe »kan-gongi« propagierte vegetarisches Leben.

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Die selben Gruppenbildungen und Vernetzungen wie beim »Muh-Bar«-Collective sind allerorten in der Szene anzutreffen. Die »Pyonen«, das »Goldmund«-Collective, das Antamauna-Collective, das Collective des »Schweizer Gartens«, das Collective der »Bar 25«, Gabi und die Schwaben, etc., sind unter dieser Perspektive Akteure der Netzwerkbildungen, deren geteilte Projekte zur Ausbildung und Stabilisierung sozialer Beziehungen führt. Auch diese Collectives schälen sich auf den Partys als Gruppen heraus, wobei die Grenzen zwischen den Gruppen fließend sind: Kirk vom »Goldmund«-Collective gehörte ebenfalls den »Muh-Bar«-Collective und auch den »Pyonen« an, der Stamm-DJ der »Pyonen«, Kalle, war einer der Initiatoren der »Muh-Bar«, die »Bar 25« entstand aus einem Wohnwagen, den das »Muh-Bar«-Collective erstanden hatte, das Antamauna-Collective veranstaltete Partys im »Schweizer Garten«, etc.

Die projektbezogene Netzwerkstruktur ist ein Grundprinzip der Szene-sozialisation. Jede Form der engeren Beziehung in der Szene geht zwangs-läufig mit einem geteilten Projekt einher, womit die Bringschuld des »Spi-rit« eingelöst wird. Wenn man auf Partys auf geschlossene Gruppen stößt kann man sicher sein, dass deren Mitglieder auch ein geteiltes Projekt ver-bindet. Der Ursprung jedes Projekts sind dabei freundschaftliche Bezie-hungen, die dadurch aufrecht erhalten und bestätigt werden, dass man ein gemeinsames Projekt initiiert. Wenn sich auf diese Weise Freundschaften herauskristallisieren, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man auch ein ge-meinsames Projekt durchführt. Dabei geht das »Projektemachenwollen« ebenso wie die Beschwörung des »Spirit« in die Sprachregelung der Szene ein. Gabi sagte zu mir einmal, »wir machen auch mal ein Aktiönchen, was?«, wobei es noch keinen Anlass oder Inhalt des Projektes gab, es war allein ein Sprachcode, der hier bedient wurde. Victoria überhöhte diesen Plan ins Fantastische und schlug vor, mit anderen Frauen aus der Szene gemeinsam ein Schiff zu bauen und um die Welt zu segeln. Ein Projekt zu planen und leidenschaftlich darüber zu reden kann in seiner sozialen Funktion die Durchführung des Projekts ersetzen.

In ihrer Netzwerkstruktur entspricht die Szene dem typischen Soziali-sierungsprinzip in der Stadt. Netzwerke sind nach Ulf Hannerz die zentrale Sozialisationsstruktur in der Stadt: »One of these (networks), or a few, can make up an urban way of life« (Hannerz 1980: 201). Auch viele Analysen postmoderner (urbaner) Organisationsstrukturen beziehen sich auf das Netzwerkmodell, um die Flexibilität und Vielfältigkeit urbaner Beziehun-gen und das daraus resultierende kreative Potenzial zu beschreiben. Dabei

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ist das Netzwerk inzwischen zu einem sich selbst erklärenden Prinzip ge-worden: das Netzwerk existiert um der Vernetzung willen. Im Begriff des »networking«, wie ihn u.a. der Mediensoziologe Andreas Wittel theoretisch einführt (Wittel 2001: 57), wird dieser Selbstzweck des Netzwerks auf den Punkt gebracht. Die Akteure des Netzwerks werden hier zu Netzwerk-strategen, die die sozialen Ressourcen des Netzwerkes gezielt einsetzen und steuern, um wiederum das Netzwerk zu reproduzieren. Hier wird das Prinzip des Netzwerkes zu einem Selbstläufer und zudem zu einem gesell-schaftlichen Manipulationsinstrument. Für den Techno-Underground hingegen ist zu betonen, dass das Netzwerk nicht das Ziel der Szeneakti-vitäten ist, sondern das Resultat der »Spirit«-Inszenierungen, die ihre Moti-vation aus anderen denn aus strategischen Erwägungen zieht. Anlass der Vernetzungen beziehungsweise der das Netzwerk ausbildenden Projekte ist die gegenseitige Bestätigung des Idealismus eines nichtkommerziellen, subkulturellen Engagements.

Damit sich das soziale Netzwerk der Szene ausbilden und reproduzieren kann, bedarf es neben einer verbindlichen Sprachregelung auch Orte im Stadtraum, die den Bedürfnissen und Aktionsformen der Szene entspre-chen. Neben besetzten Häusern und Wagenburgen, auf die später noch genauer einzugehen ist, gehören neben »nicht-kommerziellen« auch »kommerzielle« Orte wie Plattenläden, Galerien, Studios und Startups zur Topografie der Szene – mit »kommerziell« ist hier gemeint, dass sie nicht unter die Sprachregelung der Nicht-Kommerzialität fallen. Ein Beispiel für einen kommerziellen Raum der Szene-Topografie ist der im Methodenka-pitel bereits erwähnte Plattenladen »Freak Out«, in dem Kalle arbeitet.

Das Freak Out

Der Plattenladen »Freak Out« befindet sich zum Zeitpunkt der Feldfor-schung in der Rykestraße im Prenzlauer Berg. Immer Dienstags wird er zu einem Treffpunkt etlicher Szene-Akteure, weil Kalle an diesem Tag dort arbeitet. Hier treffen sich regelmäßig die Akteure des »Muh-Bar«-Collec-tives und auch Akteure der »Pyonen«, des »Goldmund«-Collectives und anderer Collectives und DJ’s gehen hier ein und aus. Der Laden gehört einem ehemaligen Berufssoldaten, Bodo, der zur NVA gegangen war um Pilot

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werden zu können. 1986 ging er nach Berlin und arbeitete als »Ar-beitsökonom« 3 Jahre in der VEB STEREMAT (abgekürzt für: Steuerung, Regelung, Automatisierung), die Werkzeugmaschinen herstellte und an-schließend im Fuhrpark der VEB Deutsche Schallplatte, bevor er nach der Wende einen Plattenladen eröffnete. Er fand den Raum des Plattenladens durch Stadterkundungen und beantragte bei der kommunalen Wohnungs-verwaltung die Nutzung des Gebäudes (Interview mit Bodo vom 14.5.03). Der Laden war ein »völliges Loch« und der ehemalige NVA-Soldat musste den ganzen Laden eigenhändig renovieren, im hinteren Raum fehlte sogar der Fußboden. Die notdürftige Renovierung sah man dem Laden an. Die Fensterkreuze sind mit blauem Lack bestrichen, die Rollos hängen tags-über ein Stück in die Fenster hinein. Auf den Fensterscheiben klebt in großen blauen Lettern »Freak Out« und darunter »Record Store«. Auf das Türfenster sind die Öffnungszeiten geklebt sowie Bodos Name, damit jeder sieht, wem der Laden gehört.

Bezeichnenderweise handelt es sich hier nicht um einen Laden für Technomusik, sondern man verortet sich in der Plattenauswahl und in der Gestaltung des Ladens in der Tradition des Rock beziehungsweise des progressiven Rock, wie er in den 1960er Jahren entstanden ist.

Unter dem Titel »Hier bedient ein Snob – Sehr gut« schrieb die Mor-genpost sehr treffend über den Inhaber Bodo:

»Wer sich das Jagen und das Sammeln in den letzten Jahren abgewöhnte, desertiert zu Amazon, der virtuellen ›World Of Music‹. Alles da, am Lager, oder zu bestellen. Aber folgendes ist in der WOM-Epoche etwas in Vergessenheit geraten: Darum geht es nicht in einem Plattenladen. Worum es tatsächlich geht, erfährt man im ›Freak Out‹, bei Bodo, in der Rykestraße. Kunde: ›Ist das Libertines-Vinyl schon da?‹ Bodo: ›Nee, nur die CD.‹ Kunde: ›Gibt's die denn nicht auf Vinyl?‹ Bodo: ›Ich denke, schon.‹ Kunde: ›Aber die ist noch nicht raus?‹ Bodo: ›Sonst würde die da stehen.‹ Kunde: ›Und wann kommt die?‹ Bodo: ›Wenn sie da ist.‹ Dabei tütet Bodo grimmig Singles um und zeigt sehr deutlich, dass ihn jede Hysterie um eine neue Band, die alle feiern, nervt. Er kennt die wahren, guten, alten Platten.« (Morgen-post, 5.9.2004)

Das Laden-Innere ist mit Plakaten und Schallplattencovern dicht behängt, wobei einige Bands wie das »Broken Arrow«-Album von »Neil Young With Crazy Horse« mehrfach plakatiert sind und die Plakate außerdem als dekorative Rollen an die Wand drapiert sind. Wie Neil Young sind auch viele andere Plakate Rock-Klassiker. Obwohl Bodo auch elektronische Musikplatten und -CD’s verkauft, setzt er auf ein gemischtes Angebot, das unterschiedliche Interessengruppen bedient. Hieraus spricht zum einen ein

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umfassendes musikalisches Interesse, das sich für die Rocktradition ebenso wie für neuere Musikstile interessiert, als auch eine ökonomische Strategie, die sich auf Grund der Breite des Angebots weniger temporären Trends aussetzt. Beim Betreten des Ladens springt einem deshalb als erstes ein großes Plakat des altbewährten Frank Zappa entgegen, dessen Portrait wie der gute Geist des Ladens über der Kasse und dem Tresen prangt – der Tresen selbst ist mit vielen bunten Aufklebern verschiedener Bands dicht beklebt. In der gegenüberliegenden Ecke des Raumes, neben der legendä-ren Velvet-Underground-Banane, reckt ein fast lebensgroßer Jimmy Hend-rix mit Gitarre und Stirntuch ekstatisch seine Hand in die Höhe, daneben, auch das ein wiederkehrendes Motiv des Ladens, eine vollbusige, ebenfalls lebensgroße Frau aus einen Ross-Meyer-Film. Die anderen teils barbusigen Frauen entstammen alten B-Movies, sie tragen Strapse, Tigertops, wilde rote Haare oder einen blutigen Dolch in der Hand. Der restliche Laden ist mit neueren Bands plakatiert, besonders prominent der Hippie-Sohn »Beck« und Gitarren-Rock- aber auch elektronische Musikbands. Verkauft werden sowohl Vinyl-Platten als auch CD’s, die CD’s sind nach Musiksti-len an den Wänden entlang untergebracht, die Platten in der Mitte des Raumes auf mehreren abgegriffen blauen Plattentischen, von denen die Farbe abbröckelt. Außerdem gibt es einen kleinen hinteren Raum mit Se-cond-Hand Platten und CD’s sowie eine sehr schmutzige alte Toilette, zu der man kaum durchkommt vor lauter Gerümpel, und einen gleicherma-ßen zugestellten dritten Raum, dessen Funktion nicht ersichtlich ist.

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet dieser Laden einen der bedeut-samsten sozialen Orte innerhalb der ökonomischen Orte der Szene dar-stellt. Rockmusik kann als Mutter der Alternativkultur angesehen werden und trotzdem die wechselnden Moden, Stile wie die Technomusik hervor-bringen, die mit ihren künstlich erzeugten Klängen gänzlich gegen die Rockmusik gerichtet zu sein scheinen. So kehrt man doch immer wieder zur Rockmusik zurück. Der Laden strahlte eine versöhnliche Wärme aus, wie ihn nur die alternative Rockmusik mit ihren Rebellen verbreiten kann – obwohl er ein »kommerzieller« Ort ist.

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Hausbesetzer als Unternehmer

Das Netzwerk der Szene basiert auf der subkulturellen Sprachregelung ihrer Akteure. Dabei ist die antikapitalistische Inszenierung nicht mit einer dauerhaften Wertebasis zu vergleichen, da die ökonomische und soziale Situation es den Akteuren der Szene nur eine begrenzte Zeit lang erlaubt, die Bringschuld einzulösen. Die Balance von »Spirit«-Rhetorik und sozialer Wirklichkeit gerät früher oder später aus dem Gleichgewicht. Viele Szene-Akteure, die sich mit Idealismus in die Bringschuld des »Spirit« begeben haben, scheiden über kurz oder lang wieder aus. So beklagte Gabi am Ende ihrer Tätigkeit als Barbetreiberin, dass sie nur noch zum Wohle der Szene gelebt und kaum noch Zeit für sich gehabt hätte:

»Das stört mich ein bisschen an der ganzen Sache. Dass ich eben zu gar nichts mehr komme, zum Beispiel kulturelle Veranstaltungen besuchen oder wenigstens einmal im Monat ins Kino zu gehen. Oder mal ausgeh’n ohne selbst hinter der Bar zu stehen. Selber was für mich gemacht hab ich lang nicht mehr. […] Ich bin im Moment so abgegessen. Ich steck all das Geld, was ich verdiene, meine Energie steck ich in die Miete (für den Bar-Raum), aber dass ich mir mal was zum Anzie-hen kaufen würde, das ist nicht drin. Im Moment haben komplett alle meine Ho-sen Löcher und ich denk: ›Das darf doch nicht wahr sein!‹ (lacht) Mir selbst was Gutes zu tun, das habe ich lange nicht mehr gemacht […]. Aber es reicht dann auch irgendwann. Genug hier. Genug beglückt!« (Interview mit Gabi vom 10.7.03)

Mit diesen Worten verabschiedete sich Gabi und stieg aus nach Portugal. Findet man stabilere Strukturen in der Szene vor, so sind diese immer

auch mit ökonomischen Strukturen verwoben – wenn ein Collective drei Jahre überdauert, kann man von einer Stabilisierung sprechen. Während die meisten erfolgreichen Akteure der Szene aus der Szene ausscheiden, weil sie ihre subkulturelle Glaubwürdigkeit verloren haben, schaffen einige Akteure, in ihrer subkulturelle Rhetorik trotz ihrer ökonomischen Etablie-rung glaubhaft zu bleiben.

Der prominenteste Fall der Szene sind die bereits mehrmals erwähnten »Pyonen«, ehemalige Hausbesetzer, die nicht verhehlen, dass sie eine GmbH gegründet haben und die sich auch in der Subkultur als Unterneh-mer präsentieren. Sie sind das angesehenste Collective des Techno-Under-ground und veranstalten bereits seit Mitte der 1990er Jahre die größten Partys (zu Partys an Silvester kommen bis zu 3000 Gäste). Ihren Namen haben Sie von dem »Arbeitervolk« des Kult-Romans »Dune« übernom-men, wobei der romantische Begriff »Arbeitervolk« von Johnny stammt,

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im Roman selbst wird diese versprengt auf dem Planeten lebende Kaste nicht als solche bezeichnet.

Abb. 2: Logo der Pyonen (Quelle: Pyonen)

Ihre Offenheit interpretieren sie selbst und auch die anderen Akteure der Szene als »Ehrlichkeit« und zuweilen scheint es, als würde ihr ökonomi-scher Erfolg ihre Anerkennung noch steigern. Zuzugeben, Geld zu verdie-nen, wird als Aufrichtigkeit interpretiert, während die Rede anderer Grup-pen über ihre »Nicht-Kommerzialität« als heuchlerisch kritisiert wird. Die »Pyonen« stellen ein Beispiel dar, wie sich das Szenenetzwerk stabilisieren kann und somit auch verbindlichere Normen und Werte ausbildet.

Malcolm von den »Pyonen« zeigt in Bezug auf die ökonomische Potenz der Szene durchaus Selbstbewusstsein. Diese hätte auch den Berliner Senat von der Existenzberechtigung der Szene überzeugt und ein »Bewusstsein« geweckt:

»Wie ist denn das Bewusstsein entstanden? Wann ist das Bewusstsein zum ersten mal entstanden in dieser Stadt. Als wir von der Club Commission15 hingegangen sind und denen Zahlen auf den Tisch gelegt haben. Da hat’s bei denen ›Klick‹ gemacht. Kultur interessiert die (Berliner Behörden) ’nen Scheißdreck. Sorry, aber das interessiert sie nicht. Noch ist kein Bürgermeister zu uns gekrochen. Aber bald kommen die auch zu uns, weil das sind ein paar tausend Arbeitsplätze.«

Malcolm zufolge generieren die Berliner Clubs einen jährlichen Umsatz im dreistelligen Millionenbereich und haben mehrere 1000 Beschäftigte.

Die beiden Hauptorganisatoren der »Pyonen«, Johnny und Malcolm sowie ihr Mitarbeiter Kirk, zugleich einer der drei Organisatoren des »Goldmund«-Collectives, kommen aus Hamburg und waren in die damaligen Häuserkämpfe involviert. Als sie in Berlin Fuß fassten, half ihnen die enge

—————— 15 Eine Interessenvertretung kommerzieller Berliner Club-Betreiber, der auch die Pyonen

angehören.

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Verbindungen zwischen Hamburger und Berliner Hausbesetzern. Es ist sicher kein Zufall, dass die Anerkennung, die ihnen die Szene entgegen bringt, mit subkultureller Eloquenz einhergeht. Ihre damalige politische Radikalität habe sich im Laufe der Jahre in ein Bedürfnis verwandelt, für Ideale nicht nur zu kämpfen, wie sie sagen, sondern diese auch zu leben. »Spaß« am Leben zu haben und die eigenen Bedürfnissen nicht abstrakten politischen Zielen unterzuordnen (Interview mit Johnny am 20.9.03). Wäh-rend die 1980er Jahre von einer grundsätzlichen Haltung geprägt war, »gegen irgendwas zu sein« (Interview mit Kirk vom 3.7.02), was sich vor allem in Kämpfen mit der Staatsmacht und den »Faschos« ausdrückte – »Bullen verprügelt, Faschos verprügelt, Steine geworfen, plakatiert, antifa-schistischen Widerstand organisiert« (ebd.) – wurde dies in den 1990er Jahren durch das Genießen ersetzt. Wie auch Malcolm und Johnny das gewaltbereite Schwarzweiß-Denken kritisieren – »du warst halt entweder Antifa oder du warst Nazi« (Interview mit Johnny am 20.9.03) –, war es Kirk »nicht liebevoll genug; und so Gewalt, weiß nicht, das bringt Spaß vielleicht wenn man jung ist, aber wenn man ’n bisschen was in der Birne hat irgendwann nicht mehr« (Interview mit Kirk vom 3.7.02).

Bezeichnenderweise drehte sich ihr hauptsächliches Engagement schon damals um den Erhalt eines alternativen Veranstaltungsorts, einem alten Opernhaus, nun genannt »Rote Flora«, der über Hamburg hinaus Be-kanntheit genoss und noch heute genießt (vgl. Blechschmidt 1998). Dieses sehr repräsentative Gebäude stand im Schanzenviertel, also der Besetzer-Hochburg, und es entsponnen sich Kämpfe, weil das Gebäude an ein Mu-sical-Unternehmen verkauft werden sollte. Die Sensibilisierung für Frei-räume speziell für die künstlerische Produktion (und Unterhaltung) hat sich bei Malcolm, Kirk und Johnny hier bereits entwickelt. Johnny erzählt, wie die Kämpfe um Freiraum zur Alltäglichkeit wurden:

»Es ging damals darum, dass das Schanzenviertel nicht unbedingt wollte, dass ihr Kiez mit Kohle zugeschissen wird. Und auch nicht wollte, dass am Tag 3000 Leute durch den Kiez laufen, um ins Theater zu gehen. Und die Leute ham gesagt: ›Ok, wir machen jetzt Widerstand dagegen. Wir wollen die Flora als Stadtteilzentrum haben.‹ Und es gab ständig Krawall. Und, wenn man, also, immer… man ist was trinken gegangen in Hamburg und nachts um zwei, wenn man betrunken genug war und zufällig an der Flora vorbei gekommen ist, die umzäumt war mit Bauzäu-nen und ständig Polizisten da war’n, da hat man ’n paar Flaschen auf die Polizisten geworfen. Es war einfach so’ne Volksbewegung. Wo man einfach irgendwie mit Steinen und Flaschen und allem möglichen geworfen hat. Da war praktisch jedes Wochenende ’n größerer Krawall direkt vor der Flora. Nach jedem blöden Kon-

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zert sind die Leute danach zur Flora gegangen und ham nochmal ’ne Stunde Ran-dale gemacht. Das war so praktisch ’n Hobby. Und jeder hat’s gemacht. Also, da läufste durch die Straße… Du musst es dir einfach total banal vorstellen. Du läufst durch die Straße und da ist irgendwie, genauso wie da ’n Hund hinter’m Käfig sitzt, den versuchste dann nochmal zu ärgern. Und das ist genau der Plan. Und irgend-wann wurd’s dann einfach zu teuer für den Hamburger Senat. Dass die gesagt haben: ›Ok, das funktionierte nicht.‹« (Interview mit Johnny am 20.9.03)

Der Kampf um »Freiräume« stellte schon hier eine Form der Zerstreuung dar, wie er im Berliner Techno-Underground fortgesetzt wurde.

Als Johnny und Malcolm nach Berlin gingen, setzten sie zunächst ihr Engagement im Häuserkampf fort – der »Verteidigung von Freiräumen« (ebd.), wie Johnny es nennt, unterlegt er eine leise Ironie – und waren in die (unter großem Medieninteresse stattfindenden) Kämpfe um die Main-zer Straße im Friedrichshain involviert, in der nach dem Mauerfall viele Häuser besetzt worden waren und die im Oktober 1990 von der Polizei gewaltsam geräumt wurden, wobei Johnny sich den Arm brach. Zuletzt lebten sie in einem besetzten Haus in der Lychener Straße, wo sie ihre ersten Partys veranstalteten (genau genommen hatten sie schon in ihrer Hamburger Zeit Partys veranstaltet, wurden aber nun als Party-Collective bekannt). Mit der Veranstaltung von Partys, sagen Malcolm, Johnny und Kirk, habe die Besetzung von Räumen endlich einen konkreten Sinn erfah-ren. Die Befreiung aus den dogmatischen Zwängen der Hausbesetzerbe-wegung habe erst den »Spaß« frei gesetzt, der heute genossen werden kann. In einem Gespräch mit der Musikwissenschaftlerin Sabine Vogt, sagten diese:

»Johnny: Und so, wie ich jetzt lebe, geht es mir halt viel viel besser. Ich habe viel mehr Spaß am Leben... muss mir eigentlich um ... Politik schon einen Kopf ma-chen. Aber ich muss da einfach andere Schritte einleiten, damit es mir in meinem Leben mit meiner Persönlichkeit einfach besser geht. Spaß am eigenen Leben haben.

Malcolm: Wobei ich das ›die Welt retten‹ eigentlich bis heute nicht ganz aufge-geben habe. ... ja, ich will immer noch die Welt retten ... aber nicht mehr so verbis-sen.« (Interview mit Johnny und Malcolm vom 15.3.2001, geführt von Sabine Vogt)

Kirk fasst die Entwicklung zusammen:

»Man kann nicht länger als ein Jahrzehnt nur gegen irgendwas sein, das erschöpft sich. Irgendwann wollten die Leute auch einfach Spaß haben (wobei freilich auch Häuserkämpfe eine Form des ›Spaßes‹ darstellten, A.S.). Und nicht nur kämpfen. Und dann gab’s natürlich den Techno-Underground, der es geschafft hat, die

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politische Bewegung soweit zu morphen, dass man sagt, man kann durch das Feiern auch ein politisches Statement geben. (Es gab dann) die erste Loveparade, die ›U-Site‹ in Hamburg und die Open Airs. […] Und da hat sich die politische Szene mit der Technoszene zusammen gefunden. Und Leute, die dann neu dazu gekommen sind, […] sind gleich in so’n Tool, in ’ne Szene reingekommen, wo ein hedonistisches Bewusstsein da ist, was Ekstase, Drogen und Sex angeht, und auf der anderen Seite ein Bewusstsein für die Natur – weil das war ja auch eine Sache, für die man sich vorher zehn Jahre geprügelt hat – und (wo ein Bewusstsein be-stand) dass wir Räume brauchen, um zu feiern, einfach, und dass das Politik be-deutet.« (Interview mit Kirk vom 3.7.02)

Als Partyveranstalter sind »Pyonen« und »Goldmund« nicht nur subkultu-relle Idealisten, sondern sie sind auch Kleinunternehmer geworden, die mit ihrer Tätigkeit auch ihre ökonomische Existenz sichern – eine Notwendig-keit, die, wie mir ein ehemaliger Besetzer erzählt, von der Hausbesetzerbe-wegung ausgeblendet wurde. Die »Pyonen« finanzieren sich zum einen durch die Veranstaltung von Partys ca. einmal im Monat, für die sie pro Person fünf bis zehn Euro einnehmen, zum anderen haben sie eine zusätz-liche Veranstaltungsagentur gegründet, die sogar den Status einer GmbH hat und sich »Art Event« nennt, und die für so renommierte Firmen wie Hagan Daaz und BASF Veranstaltungen, Betriebsfeiern und Messe-Auf-tritte organisiert.

Dass für die »Pyonen« heutzutage das Partyfeiern einen ökonomischen Aspekt birgt, ist das Resultat eines Erfahrungsprozesses. Die Einnahmen ihrer anfänglichen Partys in der Lychener Straße gaben sie wie alle anderen Aktionsgruppen in dem besetzten Haus an die Kollektivkasse des Hauses ab. Doch als ihr Erfolg zunahm, empfanden sie ein steigendes Missver-hältnis zwischen ihrem eigenen Engagement, durch das ein hoher Prozent-satz der Gesamteinnahmen bestritten wurde und den anderen in dem Haus, die aus der Perspektive der »Pyonen« von der Kollektivkasse profi-tierten, ohne selbst einen Beitrag zu leisten. Umgekehrt wollten sie andere, die zum Beispiel als Lichtdesigner oder DJ’s für sie arbeiteten, nicht da-durch ausnutzen, dass sie sich auf den Kollektivgedanken beriefen. Indem sie über ihre eigenen Einnahmen eigenständig verfügten, wollten sie »klare Verhältnisse« schaffen, wie Johnny erzählt. Zu dieser Zeit war die Beteue-rung des »nicht-kommerziellen Spirits« für ihn zu einer hohlen Formel geworden:

»Es hat nicht wirklich lange gedauert, dass wir rausgefunden hatten, dass das für uns und unser Verständnis von Leben kein ehrlicher Weg ist. Andere Leute für uns arbeiten zu lassen ohne dass wir ihnen Geld dafür bezahlen. Wir sagen von vorn

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herein: ›Ok, du machst den und den Job und dafür kriegst du soundsoviel Geld.‹ Das Ganze wird im Vorfeld abgesprochen. Klare Strukturen, klare Verhältnisse. Wir tragen das Risiko für ’ne Veranstaltung, ganz egal wie’s gelaufen ist. Wenn’s schlecht gelaufen ist, bezahlen wir unsere Leute trotzdem, wenn’s gut gelaufen ist, stecken wir uns das Geld in die Tasche. Wir finden’s beide ehrlicher, das auf diese Art und Weise zu betreiben, dass jeder von Anfang weiß, woran er ist. Statt so’n Topf zu haben, wo alle das Geld reinschmeißen und letztendlich keiner weiß, wo das Geld geblieben ist.« (Interview mit Johnny vom 20.9.03)

Ähnlich äußert sich auch Malcolm:

»Ich bin durch die ganzen Instanzen durch. Ich war Antifa, ich hatte ’nen Prozess wegen 129a, wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung, ich war Rädels-führer… Ich hab’ dieses ganze andere Thema einfach sowas von durch, dass ich mich jetzt auch hier hin setzen kann und sagen kann: ›So und so.‹ Also ich hab das alles durch. Ich hab die Plenas, ich hab die Hausbesetzerzeiten durch. Ich hab den autonomen Antifa-Kampf durch. Das ewige ausdiskutieren. Und ich hab halt auch gesehen, dass es auch meist nicht zum Ziel führt. Das ist einfach, wenn du mit 20 Leuten am Tisch sitzt… Lychi 60 war so das klassische Beispiel. Es gab so vier, fünf Leute, die wollten echt, die wollten was machen. Aber dann gab’s immer dieses Plenum, das nur gebremst hat, wo immer der Konsens hergestellt werden musste. Was gerade Johnny und mich total ausgebremst hat.« (Interview mit Mal-colm vom 22.2.06)

Die »Pyonen« werden innerhalb der Szene als »Punks« bezeichnet, womit nicht nur auf ihre Hausbesetzervergangenheit Bezug genommen wird, sondern womit auch ein subkulturkompatibles Erklärungsmuster für ihre kommerzielle Strategie geliefert wird. Die Subkultur des Punk hat zeitge-schichtlich die Subkultur der Hippies abgelöst und vieles, was die Denk- und Verhaltensmuster des Punk ausmacht, kann als negative Reaktion auf die Hippiekultur gedeutet werden. Die Kurzformel dieser Haltung lautet: Alles, was die Hippies gut fanden, findet Punk schlecht. Diese Negation der Hippiebewegung basiert auf der Enttäuschung unverwirklichten Hip-pie-Rhetorik, die nun als blauäugiger Idealismus verstanden wird. Die Ro-mantisierung der Natur wird als Eskapismus entlarvt, das Ideal des »To-getherness« als Harmonie-Terror, die Verschmelzung mit dem Kosmos als versponnene Esoterik, etc. Zu dieser Negation gehört im Kern auch die Erkenntnis des Auseinanderklaffens von Sprachregelung und sozialer Wirklichkeit (wobei übersehen wird, dass Sprache auch Teil der sozialen Wirklichkeit ist). Die Konsequenz, die Punk aus dieser Erkenntnis zog, war eine radikale Affirmation dessen, was die Hippies vorher radikal bekämpf-ten. Punk war die berühmte Negation der Negation, wie der Poptheoreti-

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ker Greil Marcus unter Bezugnahme auf Adorno es ausdrückte (Marcus 1996: 12). Waren die Hippies dagegen, so war Punk nun gegen die, die dagegen waren. »Zurück zur Natur« wurde zu »Zurück zum Beton«, »Love« wurde zu »Hate«, Harmonie wurde zu Kampf und ökonomische Abstinenz wurde konsequenterweise in eine kultische Haltung gegenüber dem Kapitalismus umgemünzt, in eine letzte Wahrheit in einer Welt, der alle Werte abhanden gekommen waren. Man macht sich keine Illusionen darüber, dass der Kapitalismus die Gesellschaft durchzieht, sondern blickt den gesellschaftlichen Verhältnissen offen ins Gesicht und redet auch darüber. Diese radikale Akzeptanz kapitalistischer Spielregeln muss sich jeder utopischen Hoffnung der Hippies verwehren. Die typische »No Fu-ture«-Haltung des Punk findet in der apokalyptischen Ikonographie der »Pyonen«-Webseite ihre Entsprechung und in der ganzen Grundstimmung der »Pyonen«-Partys schwingt immer auch etwas düsteres, unergründlich Unheilvolles mit. Man tendiert zu der Überzeugung, die Gesellschaft sei ohnehin dem Untergang geweiht. Machen wir also das beste draus und versuchen wir, möglichst viel Spaß herauszuholen. Wie Johnny in dem Gespräch sehr desillusioniert sagte:

»Es geht darum, ein halbwegs ok’es Leben zu führen. Was ich nicht mal unbedingt am Geld fest machen will. […] Die ganzen großen Revolutionäre sind halt einfach gescheitert und ich versuch halt, halbwegs glücklich aus der Affäre rauszukom-men.« (Interview mit Johnny vom 20.9.03)

Von der Szene wird diese Strategie der Offenheit akzeptiert. Die »Pyonen« gelten als kommerzielles Unternehmen und werden gerade darin geachtet, dass sie nichts anderes von sich behaupten. Wie die »Pyonen« erachten es viele als heuchlerisch, Nichtkommerzialität zu behaupten, wo doch schon das Benzingeld für den Transport von Geräten ein Zugeständnis an das kapitalistische System darstellt. Teils paart sich dieser verständige Pragma-tismus mit einem Anflug von Selbst-Aggression. Als ich mich mit Kirk einmal über die »Pyonen« unterhielt und die »Pyonen«-Arbeit als romanti-sches Miteinander eines kreativen Netzwerks verklärte, so stellte er mit einer geradezu diktatorischen Entschiedenheit klar, dass die »Pyonen« ein durch und durch kommerzielles Unternehmen seien und fügte fast diabo-lisch hinzu: »Da muss ich dich leider enttäuschen« (Interview mit Kirk vom 3.7.02). Zur Akzeptanz trägt auch bei, dass viele Akteure der Szene durch das do-it-yourself-Ideal die »Pyonen«, wenn nicht als subkulturelle Mit-streiter, so doch als Kollegen erachten, die mit den selben Problemen zu kämpfen haben wie man selbst. Viele wissen aus eigener Erfahrung, dass

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die Durchführung kreativer Projekte, zum Beispiel auch die Organisation größerer Partys, einen großen Aufwand und somit auch einen großen öko-nomischen Aufwand bedeutet, sodass man gar nicht umhin kann auch ökonomisch zu agieren. Wer die Kommerzialität der »Pyonen« kritisiert, läuft Gefahr, als naiver Konsument zu gelten, der keinen Sinn für den Produktionsaufwand hat.

Für viele steigen die »Pyonen« sogar im Ansehen, da ihre erfolgreiche Gradwanderung zwischen subkultureller Akzeptanz und ökonomischem Erfolg rätselhaft, wenn nicht gar magisch erscheint. So erzählte mir Toni auf dem Jahresfest der »Laster & Hänger«-Wagenburg:

Früher waren die ›Pyonen‹ für ihn ein Mysterium. Er hatte schon immer gehört, dass bei denen ›alles entspannt läuft‹, und sie trotzdem ›straight die Sachen auf die Beine stellen‹ können. Das seien ja auch organisatorische Fähigkeiten, die man in Manager-Seminaren lernen könne. ›Da lernt man, was man sagen muss, um die Energie richtig zu steuern.‹ Und das könnten die ›Pyonen‹ genauso gut, auch ohne Seminare. Das war für Toni wie Magie. ›Die hatten’s ja auch mit der 23.‹ Die 23 ist die magische Zahl der Illuminaten, von denen Verschwörungstheoretiker glauben, dass sie die Weltgeschicke im verborgenen lenkten. (Feldtagebuchnotiz vom 5.1.03)

Es ist aber andererseits nicht so, dass das unternehmerische Handeln völlig unkritisiert bleibt. Trotz ihrer Akzeptanz sind die »Pyonen« kontinuierlich dem Vorwurf ausgesetzt, »Kapitalisten« zu sein, sowohl seitens der Ak-teure, die für die »Pyonen« arbeiten, also ihrer Arbeitnehmer, als auch seitens der Akteure, die die Partys besuchen. Diese Konflikte sprechen aus dem Lamento von Johnny, die Szene sei von »Neid und Missgunst« ge-prägt, und gäbe es dies nicht, so könnten sie viel mehr Partys veranstalten.

»Die Berliner Szene ist von Neid und Missgunst besetzt. So. Das ist einfach schwierig, da so heranzugehen, dass man das Idealbild hat, jede Woche ’ne Veran-staltung zu machen, mit der man sich dann seine Miete finanziert. Also es würde funktionieren (ein Underground ohne finanzielle Schwierigkeiten), aber man hat da einfach mit sehr vielen Widerständen zu kämpfen. Wir ham halt keine Lust mehr und es verstärkt sich halt auch. Wir ham keine Lust mehr uns mit diesem Szenege-baren auseinander zu setzen. […] Und die Szene ist ja auch relativ undankbar und sagt einem, sobald man Erfolg gehabt hat, eigentlich auch nur schlechte Sachen nach.« (Interview mit Johnny vom 20.9.03)

Auch seitens der Partygäste ernten sie Kritik, weil man sich durch die Ein-trittspreise, die man unangemessen hoch findet, ausgebeutet fühlt. So lau-fen viele Beschwerden bei den »Pyonen« ein, u.a. auch über das schwarze

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Brett, auf die die »Pyonen« in einer Rundmail unter dem Betreff »totge-sagte leben länger« einmal antworteten:

[…] und an die ewigen nörgler und die leute, die u.a. ewig behaupten veranstalter waeren sowieso nur kapitalisten und millionaere – bei uns sieht es so aus das wir pleite sind und sehr viele sachen die uns ans herz gewachsen sind verkaufen mues-sen um die veranstaltung zu zahlen. ihr macht euch weder gedanken darueber, wie viel arbeit es ist, solch eine veranstaltung zu machen, noch habt ihr einen blassen schimmer davon was so eine veranstaltung kostet. wir koennen eigentlich nur sagen wenn ihr wisst welche dj`s auflegen und wie hoch der eintrittspreis ist und ihr euch trotzdem immer wieder beschweren wollt – geht einfach woanders hin, wir jedenfalls tun immer unser bestes, tragen immer das risiko und haben einfach keinen bock mehr uns mit euch auseinanderzusetzen weil es uns langweilt und ihr es eh nicht verstehen wollt. kritik ist super und erwuenscht, aber bitte konstruktiv. bis eines tages an einem sonnigen platz eure pyonen. (Pyonen, 3.9.02)

Die Kritik ist auch deshalb oft besonders scharf, da sie aus einem linken Hausbesetzerkontext kommen und einige offenbar der Ansicht sind, die »Pyonen« hätten antikapitalistische Ideale verraten. In das Büro der »Pyo-nen« wurde bereits achtmal eingebrochen. Dem muss nicht so sein, doch wurde einmal auch die private Flyersammlung aus dem Tresor entwendet, die keinen finanziellen, dafür aber einen hohen symbolischen Wert besitzt. Daraus schließen die »Pyonen«, dass radikale linke Kreise hinter den Ein-brüchen stecken und sie gezielt schädigen wollen.

Dass die »Pyonen« trotz dieser Kritik und der Konflikte mit ihren »Ar-beitnehmern« ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren und weiterhin als Col-lective funktionieren, begründet sich zum einen davon, dass sie durch ihre wechselnden locations, ihre subkulturelles Engagement für die Gemein-schaft der Szene, für den Moment, immer wieder unter Beweis stellen. Darüber hinaus existiert ein organisch gewachsenes Netzwerk, das in ge-meinsamer Besetzervergangenheit verwurzelt ist. Die gemeinsamen Pro-jekte heutzutage finden vor dem Hintergrund dieses geteilten Erfahrungs-horizonts statt. Solidarität angesichts von Krisensituationen wurde hier eingeübt und die geteilte Geschichte ist auch ein Unterpfand dafür, dass subkulturelle Werte weiter tradiert werden. Je länger dieses Netzwerk hält, desto stabiler und krisensicherer ist es.

Die »Pyonen« sind ein Beispiel, wie die Szene auch eigene ökonomische Strukturen ausbildet, durch die die Akteure ihre Existenz innerhalb eines Szenelebens sichern. Der ökonomische Erfolg und die Sicherung der sozi-

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alen Existenz qua Start Up gelingt jedoch nur in den seltensten Fällen. So sagt Gabi:

»Es gibt die Leute, die wissen was sie wollen, die ihr Ding machen, die das durch-zieh’n. Die sich in der alternativen Szene sich bewegen, weil sie vielleicht alterna-tive Jobs machen… So Leute wie Future oder Lenin oder so… Aber es gibt eben viele, die das nicht wissen. So wie ich… Und die halt g’rad hier in Berlin in dieser Community mehr oder weniger gut aufgehoben sind und da auch gut abgammeln können und sich… Siehe Kalle, der ist in der Szene bis ins Greisenalter (lacht) und es wundert sich keiner.16 Guck uns alle an, jetzt werden wir langsam alle Mitte 30 und richtig viel getan hat noch keiner was. Na gut, der eine oder andere, was heißt, ›kriegt den Absprung‹, kann man ja auch nicht sagen… Aber so richtig machen tun die Leute immer noch alle nix… Die meisten, ja irgendwie… weiß ich nicht recht. Bei vielen weiß ich einfach nicht, was sie machen, womit sie ihr Geld verdienen… (überlegt) Gestern, da war ich wieder bei einem, den ich aus der Trommel (Gabis ›Stammkneipe‹, wie sie sie nennt) kenne, mit dem hab ich MD’s überspielt. Den hab ich gefragt: ›Was machst’n du eigentlich?‹ – Der macht halt zum Beispiel schon seit längerem Abi nach (lacht)… Macht Abi nach (lacht abermals). Und dann will er irgendwas mit Musik machen (rollt mit den Augen). Und ich so: ›Aha‹. Der ist eben auch so einer (amüsiert): Arbeitslos und ›Abi nachmachen‹ und weißte so, öhh, (lacht) also auch nicht wirklich was Konkretes…« (Interview mit Gabi vom 10.7.03)

Und Malcolm von den »Pyonen« sagt:

»In meinem ganzen Bekanntenkreis sind die Leute entweder richtig arm, und die, die sich selbständig gemacht haben, denen geht’s genauso beschissen. Es geht echt keinem wirklich gut. Und selbst die, die ’n Job haben, brauchen noch ’n Zweitjob, um überleben zu können.« (Interview mit Malcolm vom 22.2.06)

E-Mails und Flyer als Medien des Spirit

Die Gemeinschaftlichkeit der Szene basiert also auf einem geteilten, wenn auch stetig hinterfragten Spirit und auf geteilten Orten. Dieser Spirit wird nicht nur zwischenmenschlich artikuliert, er sucht sich neben der gespro-chenen Sprache noch andere Medien. Die Szene nutzt Flyer und E-Mails

—————— 16 Kalle hat auf Gabis Partys seine ersten Gehversuche als DJ unternommen. Lachend

erzählt Gabi über seine DJ-Künste: »Mittlerweile hat er’s ja gut drauf, find ich, aber frü-her, das war schon ein Gerumpel immer.« (Interview mit Gabi vom 10.7.03)

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als Kommunikationsmedien, um sich zu organisieren und an den wech-selnden Orten zusammen zu finden. Diese Medien sind das Komplemen-tär zur transitorischen location: Während der stabile Ort sich verflüchtigt, verfesti-gen sich Flyer und E-Mails als Kommunikationsinstanz.

Die Flyer werden durch ein Schneeballsystem persönlich in der Szene verteilt und wandern entlang des Netzwerks persönlicher Beziehungen, die unter den Szene-Akteuren bestehen: Die Collectives geben Flyer päck-chenweise an Freunde und Freundesfreunde weiter, die sie wiederum an andere Akteure der Szene weiter verteilen, wobei die locations selbst der hauptsächliche Umschlagsplatz für Flyer sind. Auf Partys werden die Flyer verteilt und auch gemeinsam in Grüppchen studiert und gelesen, und oft kristallisiert sich hier schon heraus, zu welcher Party man als nächstes gehen wird. Der gemeinschaftliche »Spirit« der Szene führt zu einem Be-dürfnis, sich gegenseitig über Partys zu informieren und über dieses Be-dürfnis des »come together« funktioniert die Distribution der Flyer auf natürliche Weise, ohne dass hier mechanisch (durch professionelle Distri-butionsfirmen) nachgeholfen werden müsste. Wenn mir Kalle beispiels-weise einen Flyer gab, so tat er das immer so, als würde er mir ein Ge-schenk überreichen. Die jeweilige Party hatte immer eine besondere Be-deutung für ihn und er freute sich, mir und seinen Freunden und Bekann-ten davon erzählen zu können und der Überbringer der frohen Botschaft sein zu dürfen. Dieser Akt der Kommunikation hatte seine eigene Wertigkeit, die durch den Flyer eine Materialität bekam. Die großen Party-Collectives wie die »Pyonen«, die überproportional viele Personen mobilisieren, legen ihre Flyer auch an markanten Punkten aus – an der Bar oder neben der Kasse am Eingang – aber die meisten übergeben ihre Flyer per Hand und auch die »Pyonen« können sich auf das persönliche Netzwerk verlassen, wenn es Flyer zu verteilen gibt. So schreiben sie in Ankündigung ihres jährlichen Open-Air-Festivals »Nation of Gondwana«:

»Wir sind auf der Suche nach Leuten, die ueberall außerhalb Berlins Flyer für die Nation Of Gondwana verteilen können/wollen?? Wäre toll, wenn ihr euch mit E-Mail Anschrift und Telefonnummer bei [email protected] melden könnt damit wir mit euch in Kontakt treten können, um alles weitere zu besprechen. Meldet euch bitte zahlreich.« (Rundmail vom 29.5.2002)

Diese Art der Kommunikation hat auch etwas Archaisches, da es eine massenmediale Kommunikation ist, die aber auf dem prä-elektronischen Hand-zu-Hand-Prinzip basiert. »Handzettel als Kommunikationsmittel einer multimedialisierten Jugend wirken auf den ersten Blick wie ein Ana-

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chronismus«, schreibt auch das Kiezmagazin »Scheinschlag« (Scheinschlag, Juli 1998). Die Flyer zirkulieren von Hand zu Hand durch den Stadtraum und verhalten sich hierdurch wie die Datenströme elektronischer Medien, kommen aber charakteristischerweise ohne elektronische Datenübertra-gung aus. Quer zu den massenmedialen Möglichkeiten der Kommunika-tionsgesellschaft halten sie an einer taktilen und persönlichen Form der Informationsübermittlung fest. Indem sie die elektronischen Medien simu-lieren, ohne selbst elektronisch zu sein, tritt auch in dieser Abgrenzung der »Spirit« der Szene hervor. Flyer haben die raum- und personenübergrei-fenden Potenzen der elektronischen Medien, ohne selbst elektronisch zu sein.

Die Flyer sind im do-it-yourself-Stil gehalten. Es gibt zwar sehr an-spruchsvolle, professionell gestaltete Flyer, die von ausgebildeten Grafik-Designern gestaltet werden, wie es viele von ihnen in der Szene gibt. Die Flyer sind insbesondere aber ein Terrain für grafische Laien, die hier eine Plattform finden, an der sie sich ausprobieren können.

Anstelle von Papier werden gerne Materialien verschiedenster Beschaf-fenheit benutzt und jedes einzelne entsprechend zurecht geschnitten und zum Flyer transformiert. Man bedient sich vorzugsweise der ausrangierten Überschussware aus Fabriken, Bürobeständen, Abbruchhäusern, Baustel-len, Supermärkten oder ähnlichem und der dort auffindbaren Pappe, Pappkartons, Plastikteilen, Tapeten, Stoffen, Folien, etc. Der Scheinschlag erwähnt außerdem »Bauklötzchen, Streichholzschachtel, Platten-Singles, Wäscheklammern, Elektronikteile; sogar silberlackierte Äpfel mit kleinen runden Infoaufklebern wurden verteilt« (Scheinschlag, Juli 1998). Hier steht nicht nur billig eine große Materialmenge zur Verfügung, die alten Materialen, die noch Spuren ihrer ursprünglichen Bedeutung tragen, haben auch einen ästhetischen Reiz. Ein Flyer, der auf eine Kino-Reihe bei »SeRo« hinwies und den Toni verteilte, bestand beispielsweise aus einer alten Werbeleinwand von Mercedes, die am Alexanderplatz an einer Haus-fassade gehangen hatte.

Besonders populäre Materialen entstammten den Resten der materiel-len Kultur der DDR, die nach 1989 keine Verwendung mehr fanden. Die Materialreste von still gelegten Betrieben tauchten als Flyer wieder auf, ebenso wie Formulare der Bürokratie. Einen solchen Stapel hatte der DJ aus dem »Flo« ergattert und füllte bei der Übergabe des Flyers jedes For-mular persönlich aus und setzte noch seine Unterschrift darunter. Auch Blümchentapeten und Linolium wurden zu Flyern verarbeitet. Die

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Betreiberin der »Waffengalerie« im Scheunenviertel, einer ehemaligen Trabi-Werkstatt, beschrieb jedes Stück Linolium eigenhändig mit Kugel-schreiber.

Abb. 3: Pyonen-Flyer (Quelle: Pyonen)

Die »Pyonen« haben eine einfache, aber effektvolle Form für ihre Flyer-gestaltung gefunden. Die Flyer sind ungewöhnlich klein und fallen nicht auf, sofern man nicht gezielt nach ihnen sucht. Sie haben gerade mal die Größe einer Briefmarke und sind durch eine Laminatverschweißung zu kleinen Plättchen verhärtet. Die kleinen Flyer waren auf Grund ihrer mar-kanten Größe und der Tatsache, dass sie schon seit Mitte der 1990er Jahre auf diese Weise im Umlauf sind, ein »Klassiker« der Szene. Ihr Erscheinen auf Partys war ein Moment der Kontinuität. Durch ihre geringe Größe missachten sie die Regeln des »Aufmerksamkeits-Managements«. Sie spie-len sich nicht in den Vordergrund, sondern halten sich im Gegenteil be-wusst im Verborgenen. Dass sie dennoch entdeckt werden (sofern man die Flyer nicht ohnehin in die Hand gedrückt bekommt) liegt daran, dass die Akteure der Szene im genauen Beobachten eingeübt sind. Die Pyonen arbeiten mit dieser Sensibilität. Genauso wie die Ästhetik der Flyer genau studiert wird, wird auch der Raum genau studiert, in dem die Flyer auslie-gen. Die Neugierde für ästhetische Details und Besonderheiten führt auch zur Entdeckung der Flyer, die durch das umgekehrte Verhältnis von großer Bedeutung und kleiner Größe nahezu geheimnisvoll erscheinen. Wenn man sie in einem düsteren Winkel des Bar-Tresens entdeckt, wirken sie wie ein kostbarer Fund. Durch die Pyonen-Flyer hat sich in der Szene die Re-gel des »Aufmerksamkeits-managements« geradezu umgekehrt. Ein Akteur der Szene erklärte mir einmal, die guten Partys seien die mit den kleinsten Flyern.

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Als Motive verwenden die »Pyonen« Fotografien vergangener Partys, so-dass eine Kontinuitiät zwischen vergangener und zukünftiger Party erzeugt wird (Abbildung 3). Bei den Fotografien können die »Pyonen« auf profes-sionelle Fotografien zurück greifen, die die mit ihnen befreundeten Foto-grafen und Fotografinnen anfertigen.

Abb. 4: Camp-Tipsy-Flyer (Quelle: Camp Tipsy)

Besonders bekannt sind zwei Motive, die jedes Jahr aufs Neue auf den Flyern der »Pyonen« zu sehen sind: Zum einen die Performance-Gruppe »Rent-a-Friend«, die die »Pyonen« jedes Jahr für ihre Open-Air-Party »Na-tion of Gondwana« engagieren. Die Performance-Gruppe, die einst mit den »Pyonen« in der Lychener Straße ein Haus besetzte, mischt sich jedes Jahr leise und in unterschiedlicher Verkleidung unter die Tanzenden. Als Kühe, Frösche oder Grashüpfer lassen sie die surrealen Phantasien der Party-Ekstase Wirklichkeit werden oder kommentieren sie auch ironisch. Auf den Flyern sind sie u.a. mit überdimensionalen, aus Pappe angefertig-ten Instrumenten einer Blaskapelle abgebildet, die vor dem kleinen Bagger-see am Waldrand, an dem die Party stattfindet, posierten. Das andere tra-ditionelle Flyer-Motiv ist ein alter verrosteter Hanomag, der alljährlich auf dem Kreuzberger Karneval der Kulturen zum Einsatz kommt. Die »Pyo-nen«, deren Affinität zum multikulturellen Karneval der Kulturen auf ihre Indien-Passion zurück zu führen ist, nehmen hier regelmäßig mit einem dekorierten Lkw teil. Auf dem Lkw ist eine Musikanlage installiert, dem die Szene-Akteure in Partylaune hinterher tanzen. Auf den Flyern sieht man diesen Hanomag mit seinen jährlich wechselnden Dekorationen im Tanz-getümmel.

Das »Muh-Bar«-Collective, das keinen E-Mail-Verteiler hat und auf Mundpropaganda setzt, hatte bezeichnenderweise Flyer ohne Botschaft. Es war darauf lediglich ein fliegender Kormoran zu sehen. Die Informationen

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zirkulieren auch ohne dass sie auf Flyer gebannt werden mussten. Die (sehr wenigen) Flyer wurden offenbar nur aus der Freude am Gestalten produ-ziert. Sie sind zwecklos (erfüllen allenfalls eine Erinnerungsfunktion) und simulieren das Zirkulationsprinzip der Flyer als Spiel.

Um die Flyer zu vervielfältigen, wird meist auf Kopiermöglichkeiten zurückgegriffen. Schwarzweiß und auch Farbkopien sind inzwischen güns-tig, manchmal bestehen Kontakte zu lokalen Druckereien (zum Beispiel bei der »Bar 25«), von denen es im Prenzlauer Berg mehrere gibt. Verwen-det man allerdings ausrangierte andere Materialien, so muss die Herstellung der Flyer mechanisch per Hand erfolgen. Dies bedeutet die hundert- oder tausendfache Wiederholung der selben Handgriffs. Jeder einzelne Flyer ist dann ein Unikat, als würde man jeden potenziellen Partygast persönlich einladen wollen. Hier kämpft die Szene im wahrsten Sinne gegen die Ma-schine und mit ihr gegen die Anonymität der Großstadt an (Abbildung 4). Wie auch bei der Distribution werden durch den gemeinschaftlichen Spirit der Szene die elektronischen Medien symbolisch und real umgangen, man könnte auch sagen »überlistet«. Für das Open-Air-Festival »Camp Tipsy«, das von Cody, Kirk und Kalle initiiert wurde (siehe Kapitel In Wäldern und an Seen – Hippieromantik der Szene) wurden 2500 Flyer per Hand gefertigt.

Wir gehen zur Kommune ›Morgenlandung‹ in der Marienburger Straße im Prenz-lauer Berg, die sich als Party-Collective bei ›Camp Tipsy‹ beteiligt. Dort findet die Flyerproduktion statt: Alte Supermarkt-Kartons werden zu handlichen Dreiecken geschnitten und bestempelt. 2300 Stück werden angestrebt. Es ist ein Ladenraum in der Marienburger Straße. In der Mitte ist eine Tür aufgebockt, daneben steht ein Tisch mit einem großen Zahnrad als Tischplatte. Darauf wird geschäftig geritzt, geschnitten und gestempelt. Um die Tische stehen alte Sofas und Sessel. Auf der linken Seite steht eine Musikanlage mit großen Lautsprecherboxen (Kirk zur Funktionstüchtigkeit: man weiß nie, ob man auf die Box oder den Verstärker klopfen soll). Daneben ein Kühlschrank mit Bier, Wasser und Cola. In die Wand eingelassen (wo einmal eine Tür war) ein Regal mit Gläsern und härteren Alkoho-lika.

Es wird an diesem Abend mehrmals von ›Produktion‹ geredet. Vor Beginn der Arbeit zog Kirk eine ›Line‹ der Droge ›speed‹, weil dies als arbeitsintensivierendes Mittel gilt. Kirk und Bond (Bond gehört wie Kirk dem ›Goldmund‹-Collective an) verfolgen ambitionierte gestalterische Interessen. Bond ermahnt mehrmals, die Dreiecke doch gleichschenklig zu schneiden, wo andere die Arbeit schnell erledi-gen wollen. Bond freut sich über schöne Motive, die in den Kartons zum Vor-schein kommen: ein gestanztes Recycling-Zeichen in der Mitte des Dreiecks, ein rundes Loch in der oberen Spitze. Bond findet die braunen Dreiecke aus dickerem Karton besonders ›schick‹. Kirk zeigt mir eine Farbtreppe (rosa, gelbe und blaue

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Sechsecke) auf einem Karton; ich soll die Augen aufhalten, das hätte er ›nach der Verarbeitung‹ gern als Flyer.

Ich sitze an erster Stelle der ›Produktionskette‹ mit dem Stempel ›camp‹. (›CAMP, TIPSY, www.camp-tipsy.de, OPEN AIR 27. JULI 2002). Neben mir stapeln sich die Rechtecke. ›Camp‹ und ›tipsy‹ sind die schwersten Stempel, man muss mit beiden Händen aufdrücken, während Kalles Datumsstempel ein einfa-cher kurzer Druck ist. Vorher hatte sich Bond mokiert, dass das ›p‹ von camp bei meiner Stempeltechnik nicht zu lesen sei (anfangs wurden die Buchstaben noch einzeln nachgestempelt). Deshalb bin ich jetzt sehr sorgfältig. Dann moniert Bond, dass wir zu langsam werden. Einer antwortet: die Ansprüche sind ja auch gestie-gen. Bond erwidert, dass er das Schneidegerät noch heute in seine Agentur zurück bringen muss. Bei den letzten 200 Flyern werden die Anwesenden verspielt. Die genaue Platzierung der Stempel wird aufgegeben und kunterbunt auf das Rechteck gestempelt. Die letzten Pappe-Reste reißt ein Anwesender mit der Hand auseinan-der anstatt es zu schneiden. Kirk betrachtet die chaotischen Flyer und amüsiert sich. Kalle: Pinie würde dieser ›trashige‹ Stil sicher gefallen. Kirk hebt einen Flyer vom Boden auf: ›der zeigt keinen Willen‹, amüsiert er sich. Er stellt sich vor, wie er ihn einem guten Freund gibt und sagt ironisch: ›Du, der ist extra für dich, würd’ mich echt freu’n wenn du kommst.‹ Der Flyer hängt zerfleddert in seiner Hand. Am Ende sucht sich jeder noch einen Lieblingsflyer aus. Jeder nimmt ein Päckchen an Flyern mit, um sie bei passender Gelegenheit zu verteilen. (Feldtagebuchnotiz vom 25.6.02)

Auf diese Weise gerieten »Camp Tipsy«-Flyer in Umlauf und in den Wo-chen vor dem Festival stieß ich an unterschiedlichen locations immer mal wieder auf Personen, die »Tipsy-Flyer« verteilten.

E-Mailverteiler stellen neben Flyern das wichtigste Kommunikations-medium dar. Obwohl die E-Mail-Verteiler Medien der Vergemeinschaf-tung sind, gibt es allerdings auch hier Distinktionsstrategien, das heißt eine alltäglich produzierte Abgrenzung zu anderen sozialen Gruppen, die ge-mäß Bourdieu nicht strategisch sein muss, jedoch de facto Ausgrenzung produziert. Diese Ausgrenzung wird in den E-Mail-Verteilern sichtbar, darin, wer in welchem E-Mail-Verteiler enthalten ist und wer nicht. Johnny von den »Pyonen« beispielsweise sagte einmal, »wir sind in allen E-Mail-Verteilern drin« (Feldforschungstagebuch vom 16.10.02), womit er auch eine Aussage über die Gruppen-übergreifende Stellung der »Pyonen« machte. So gab es auch einen E-Mail-Verteiler, von dessen Existenz ich wusste, in den ich jedoch nie aufgenommen wurde, nämlich der Verteiler des »Goldmund«-Collectives. Das »Goldmund«-Collective verfolgte mit seinen »Lounge-Abenden« an wechselnden locations sehr hohe ästhetische Ansprüche. Ihre Musik war experimentell und relativ anspruchsvoll, und

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obwohl Kalle auch sie in seine Beschreibung der »Verrückten« einschloss (er brannte gemeinsam mit Kirk, einer ihrer Organisatoren, wöchentlich CD’s), zogen sie verstärkt den aufstiegsorientierten Teil des neuen Klein-bürgertums an. Mit der Lounge verfolgte »Goldmund« aufstrebende Ziele, und wollte einen kleinen Kreis von Kennern ansprechen, die ein ausge-prägtes Gehör für die diffizile »Goldmund«-Musik mitbringen. Tim be-schwerte sich einmal, über ihre unzugängliche Musik. Uwe nannte sie: »Musik für Musiker«, also von Experte zu Experte. Kalle sagte einmal »das groovet nie«, wenn »Goldmund« auflegt. Hierin drückt sich eine soziale Hierarchie aus, der die Szene zwar entgegen arbeitet, der sie jedoch nie ganz entkommt. Der Ästhetizismus des »Goldmund«-Collectives ist im Vergleich beispielsweise zum »Muh-Bar«-Collective eine bürgerliche Ge-schmackskultur im Sinne Bourdieus, die nur dadurch zur angestrebten Verfeinerung gelangt, indem sie andere Gruppen, die auf Grund ihrer Sozialisation diese Verfeinerung nicht mit vollziehen wollen oder können, ausschließt. So blieb auch mir ihr Verteiler verschlossen – für sie war ich eine der Studierenden, die zu Hauf die Szene bevölkern und für »Gold-mund« ein weniger hohes Kapital einbringen als die Film-, Musik- und Medienschaffende.

Communitas als Sprachcode

Communitas (»Spirit«) als »eine Form des Zwischenmenschlichen« (Turner 1989b: 70) entsteht nach Turner in Schwellensituationen, wo die aktuelle soziale Ordnung gelockert ist und daher gesellschaftliche Rollen- und Sta-tuszuschreibungen aufgehoben sind beziehungsweise eine weniger hohe Wertigkeit besitzen. An die Stelle der gesellschaftlichen Ordnung, die jeder und jedem eine Position im »sozialen Raum« zuweist, tritt das freie Wech-selspiel menschlicher Beziehungen und das Gefühl einer universalen, grenzüberschreitenden Nähe. Im »Einswerden« (ebd.: 71) mit der Umwelt spürt man die Wichtigkeit, sich im Hier und Jetzt(ebd.: 75) auf den anderen, so wie er sich darstellt, zu beziehen, ihn auf einfühlende Weise zu verstehen, frei von den kulturell definierten »Lasten« (ebd.) seiner Rolle, seines Status, seines Rufs, seiner Klasse, seines Geschlechts oder anderer »Strukturnischen« (ebd.). Individuelle und gesellschaftliche Probleme scheinen Kraft der gespürten Communitas lösbar zu werden. Das »Aufblit-

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zen luziden, gegenseitigen Verstehens« (ebd.: 74) ist mit dem Gefühl ver-bunden, dass alle, nicht nur die eigenen Probleme, emotional oder kognitiv gelöst werden können, »sofern nur die als ›wesenhaftes Wir‹ empfundene Gruppe diese intersubjektive Erleuchtung aufrechterhalten könnte« (ebd.: 75).

In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass »Communitas« (»Spirit«) nicht einfach unstrukturiert im Moment des Festes geschieht, sondern dass die-ses nicht in Worte zu fassende Gefühl Resultat eines Herstellungsprozesses ist, der bestimmter Orte (»central places«) und Medien (Flyer und E-Mail-verteiler) bedarf, sowie auf einer spezifischen Sprachregelung beruht. Es handelt sich also nicht nur um ein Gefühl im Moment des Festes, sondern auch um einen szenespezifischen Sprachcode (der Victor Turners Formu-lierungen sehr ähnlich ist). Die Sprache der Gemeinschaftlichkeit und ein glaubhaftes »public imagary« ist für die Ausbildung des Szenenetzwerks keineswegs unerheblicher als die Erfahrung selbst, sie ist Voraussetzung dafür, dass der Moment des Festes stattfinden kann. Auf die Gefühlsquali-täten jenes Moments wird im Folgenden einzugehen sein.

4. Sex, Drugs und Melancholie – Kosmonauten des Underground

Die an den Festen, an Rausch und Ekstase orientierte Kultur der Szene ruft den berühmten Slogan der Rock-Ära der 1960er Jahre, »Sex, Drugs and Rock’n’Roll«, in Erinnerung. Durch Drogen, Sex und andere Formen des Sinnenrausches wird die Umweltwahrnehmung gesteigert und intensi-viert, wird ganz allgemein ein Leben propagiert, das die Intensität der Empfindungen und Erlebnisse gegenüber dem sprichwörtlichen grauen Alltag aufwertet und zur eigentlichen Lebensform erklärt. Diese Wünsche sind heutzutage Teil der postmodernen Erlebnisgesellschaft geworden, die durch Musik, Filme, Zeitschriften, Mode, Werbung, Videoclips, etc. ein abenteuerliches und ganzheitliches Leben vermittelt und verspricht.

Genusskultur

Eine Partynacht wird gerne mit einem gemeinsamen Abendessen in kleine-rem Kreis eingeläutet, und auch unabhängig von den Partys treffen sich Akteure der Szene unter der Woche zum gemeinsamem Kochen, Essen und Trinken, sei es bei einem ausgedehnten Frühstück oder bei einem Abendessen, wie man es von den typischen Fotos der Bohème kennt. Victoria vom »Muh-Bar«-Collective erzählte mit gespielter Genervtheit, dass sie ununterbrochen zum Essen eingeladen sei (Feldtagebuchnotiz vom 22.7.02). Matthias vom selben Collective berichtet, dass Friedrich Nietzsche jeden Tag in sein Tagebuch geschrieben hätte, was es zu essen gibt. Selbst wenn er sonst nichts eingetragen hätte, hätte er dieses immer vermerkt. (Feldtagebuchnotiz vom 15.7.02) Im gemeinschaftlichen Essen und Trinken, das in der Ethnologie als Teil des Rituals beschrieben wird, wird geteilte Erfahrung, jene Basis der Gemeinschaftlichkeit, unmittelbarer spürbar durch geteilte Geschmacksempfindungen bei der gemeinschaftli-

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chen Einnahme von Speisen und Getränken. Georg Simmel sieht in ihm ein Medium der Sozialisierung (Simmel 1957).

Ich selbst kam erst gegen Ende der Feldforschung in den Genuss eines Abendessens mit Akteuren der Szene. Das gemeinsame Kochen und Essen ist ein intimerer Vorgang als das gemeinsame Partyfeiern und so erzählte zwar Pitt auf einer Party im »Schweizer Garten« ausgiebig von seinem Käsefondue und Cody wusste von einem vorzüglichen Burgunder-Gericht zu erzählen (»agneau de bologne«), für das er lange nach einem Burgun-derwein gesucht hätte, den es selten gäbe, weil er schwer zu handeln sei. In den Genuss des Gerichts kam ich jedoch nicht. Gegen Ende der Feldfor-schung, nachdem ich die Akteure besser kennen gelernt hatte und selbst mit einem kleinen Projekt zum gemeinschaftlichen Spirit der Szene beige-tragen hatte (hierzu später), wurde ich zu einem Essen eingeladen, und zwar an einem so besonderen Tag wie Weihnachten. Das Abendessen fand in einer Wohnung am Helmholtzplatz statt, die zwei Organisatoren des »Bar 25«-Collectives bewohnten: Alex und Manuel. Unter den Anwesenden waren außerdem Konrad, der Betreiber des »Elixiers«, Pitt und ein Organisator aus dem sogenannten »Max-und-Moritz«-Collective. Zwei weitere Szene-Akteure, die ich nicht näher kennen lernte sowie der Ex-Partner von Alex aus dem »Bar 25«-Collective, der mit Alex gemeinsam ein Kind hat, das ebenfalls anwesend war. Weihnachten, das sei ergänzt, wird als Anlass für eine festliche Zusammenkunft gerne genutzt, wenn man diesem christlich-bürgerlichen und inzwischen auch stark kommerziali-sierten Fest auch mit Ironie und Skepsis begegnet – eine Frau trug beim Abendessen ein T-Shirt mit Fernseher, das passe zu Weihnachten, sagte sie. Cody versendete als »Weihnachtsgruß« eine E-Mail, immerhin ein Weihnachtsgruß, allerdings mit einem »Fuck-Finger«, auf dessen Spitze als Hütchen der Kopf von Cody (mit Cowboyhut) saß und das mit »Merry Christmas« untertitelt war (Rundmail vom 20.12.2003). Andererseits wird die weihnachtliche Botschaft, das »Fest der Liebe«, von der Szene aber auch verstanden und zelebriert. Mit herzlichen Umarmungsgesten und einigem Pathos wünscht man sich »Frohe Weihnachten«. Doch nun zum Weihnachtsessen:

»Acht Gäste haben sich eingefunden, die meisten aus dem ›Spacebar‹-Collective und der ›Bar 25‹. Es wird Fleisch-Fondue gekocht. Jeder köchelt an irgendeiner Speise. Die Stimmung ist sehr munter. Die kleine Küche ist übervoll. Manuel (›Bar 25‹) wünscht sich in diesem Moment eine ›toskanische Küche‹. Alex' Exfreund fragt Alex scherzhaft, wie viel Backstage-Ausweise sie für die Küche vergeben hätte. Er

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selbst spielt mit seinem und Alex' gemeinsamen Sohn unter dem Weihnachtsbaum. Ein mir Unbekannter liegt schläfrig daneben.

Immer wieder wird das Essen befeiert und wie köstlich alles werden wird. Ich schäle die Champignons vom Markt und finde einen spitzhütigen, zeige ihn Sarah. Ob der genießbar ist? Sie: Wirf ihn doch einfach rein, mal sehn wer ihn erwischt. Pitt zupft thailändischen Basilikum. Manuel ist begeistert von dem Geruch. ›Hier riecht’s wie in Bangkok auf der Straße.‹ Pitt und Sarah gehen in das Wohnzimmer und rauchen eine ›Bong‹ (eine gläserne Wasserpfeife), kommen dann zurück und kochen weiter. Alex schaut neugierig in die Dose, in der ich das Schokoladenpulver für das von mir mitgebrachte Tiramisu aufbewahrt habe und stäubt sich in einer Wolke ein.

Dann wird gegessen, im Eckzimmer am Helmholtzplatz, eine Seite geht zur Lychener Straße, eine zur Raumer Straße hinaus. Die Wände des Zimmers sind unverputzt. Nur der Stuck unter der Decke ist weiß bemalt, um ihn hervorzuhe-ben. An der Wand, auf einer Schnur aufgezogen, hängen blaustichige Fotos von einem Open Air Festival. Die Speisen sind auf einer Holzplatte verteilt, die am Boden liegt. Daneben steht der Christbaum mit elektrischen Lichtern, dahinter eine schöne alte Engelskulptur, die angestrahlt wird. Die Tischplatte ist voll mit kleinen Schüsseln und Tellern, Soßen und Eingelegtem, zusätzlich noch Maronis und ein indisches Curry. Die Leckereien kreisen über den Tisch. Wir beginnen zu essen.

Es wird zunächst über dem entspannten Kauen wenig geredet. Manuel ist noch nicht ganz zufrieden mit der Musik, dann findet er aber eine von allen gelobte Musik. Die Entspanntheit wird durch Haschisch-Konsum unterstützt. Pitt schläft schon nach einer Viertelstunde ein. Langsam beginnen Gespräche. Man lehnt sich zurück auf Matratzen und Kissen. Alex schwärmt davon, wie gut ihr Sohn massie-ren könne, indem er auf dem Rücken auf und ab marschiert. ›Voll die Indien Nummer‹, sagt Manuel. Er lässt Alex' Sohn auf seinen Rücken. Der Sohn findet aber nicht das Gleichgewicht. Der Unbekannte, der vorhin neben dem Christbaum schlief, kommt aus dem Nachbarzimmer, legt sich zu uns auf den Boden und schlummert wieder ein. Alex sagt, dass sie nicht begreift, wie er so viel kiffen kann, und trotzdem so viel organisiert und managed (wie ich erfahre, ist er Initiator des sogenannten ›Max und Moritz‹-Collectives, die u.a. einmal im Jahr den ›Karneval der Verpeilten‹ organisieren). Er sagt später, wenn er nicht kiffe, gehe er sich nach kurzer Zeit so sehr selbst auf die Nerven, dass er wieder kiffen müsse.

Der Sohn soll seine Großeltern anrufen. Wir hören ihm dabei zu. Er zählt auf, was er alles bekommen hat, unter anderem eine Rennbahn von Alex. Dann fragt er seine Großeltern: ›Und, was geht bei euch so?‹ Alle brechen in Lachen aus ob des saloppen Tons gegenüber seinen Großeltern. Zum Abschluss des Essens zieht Konrad (›Spacebar‹) einen Betelnussschnaps aus der Tasche, über dessen wasch-mittelartigen Geschmack man sich lange amüsiert. Manuel überlegt, ob er zusätz-lich noch die eingelegten Fliegenpilze holen soll, entscheidet sich aber dagegen, da diese noch nicht lange genug eingelegt sind.« (Feldtagbuchnotiz vom 24.12.03)

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Bei dem Essen wird eine Sinnlichkeit zelebriert, wie sie das gesamte Szene-geschehen betrifft: das gemeinsame Tanzen und Musikhören, das gemein-same Trinken an der Bar, die gemeinsamen Gespräche und der gemein-same Genuss des Raumes, in dem man sich befindet.

Als besonderes Indiz für diese Sensibilisierung der Wahrnehmung mag gelten, dass man sich auch solcherlei körperlichen Reizungen und Irritatio-nen emphatisch hingibt, die ansonsten negativ besetzt sind. So können die kalten Wintertemperaturen oder auch eine Operation am eigenen Körper als Wahrnehmungsexperimente interpretiert werden. Sie werden nicht zwangsläufig positiv gedeutet, aber sie sind es wert, dass man von ihnen erzählt:

Stella sagt, dass sie den letzten Winter ›geil‹ fand. Gerade weil er so kalt war. Das war so ein ›Körperding‹. Austesten und beobachten, wie viel man dem Körper zumuten kann. Auch kalte Temperaturen seien erträglich, aber sie habe die Beo-bachtung gemacht, dass, wenn man die Handschuhe auszieht, es dann auf einen Schlag eiskalt ist, während man es bei höheren Temperaturen länger aushält. Aber dann war es doch so kalt, dass sie nach Gomera geflogen seien. (Feldtagebuchnotiz vom 29.5.03)

Und Manuel von der »Bar 25« erzählt:

Manuel gefällt die Kälte. Auch in Berlin habe es ihm diesen Winter gefallen. Er erzählt, dass sein Vater beim Militär war, da hätten sie so Verpflegungsflüge ge-macht. Da seien sie ganz hoch im Norden gewesen. Da hätte es Minus 30 Grad gehabt, mit Wind-Faktor minus 45. ›Wenn du da pisst, gefriert das noch bevor’s am Boden ankommt.‹ Da sei ein Militärstützpunkt, sonst nichts. Da kannste nichts anderes machen als dich besaufen. (Feldtagebuchnotiz vom 6.6.03)

Rauschmittel

Zur Zerstreuungskultur der Szene gehört auch der Genuss von Rausch-mitteln. Rauschmittel objektivieren die Erfahrung einer ästhetischen Welt-wahrnehmung und werten sie gegenüber einer nüchternen, alltäglichen Wahrnehmung auf. Drogen sind mit dem Gefühlsempfinden der Szene »homolog« (Willis 1978). Sie sind im Empfinden der Szene-Akteure Me-dien der Suche nach alternativen Existenzformen, als Konsumprodukte sind sie aber zugleich Teil der Suche nach Ekstase innerhalb der Erlebnis-gesellschaft.

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Die Wirkung von Rauschmitteln, das haben mir mehrere Akteure der Szene erzählt, zielt in erster Linie auf eine gesteigerte Wahrnehmung sinn-licher Eindrücke: Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen. Farben treten deut-licher hervor, Gerüche duften intensiver, die Zunge und der Tastsinn sind stärker sensibilisiert. Ein prominenter Alt-Hippie der Szene, der Bücher über Rauschmittel verfasst, beschreibt diese Wirkung (in Abgrenzung zur Wirkung von Alkohol), insbesondere die Wirkung der Hippiedroge LSD, als »aisthetikos«, das heißt »zur Wahrnehmung befähigen«, wobei er darauf hinweist, dass »Ästhetik« im ursprünglichen, griechischen Sinne »fühlen, empfinden und wahrnehmen« bedeutet (Cousto 1998: 13). Rauschmittel öffnen »die Pforten der Wahrnehmung«, wie Aldous Huxley in seinem viel zitierten Buch über Meskalin schrieb, das das »psychedelische Zeitalter« der Hippies einläutete. Wie der Schweizer Chemiker Albert Hofmann schreibt, der die Wirkung von LSD 1943 in den Sandoz-Laboratorien entdeckt hat und von der Szene sehr verehrt wird:

»Die Schönheit eines Wohnraumes oder eines Ortes in der freien Natur wird mit den im LSD-Rausch hochempfindlichen Sinnen besonders tief erlebt und trägt wesentlich zum Verlauf des Versuches bei. Auch die anwesenden Personen, ihr Aussehen, ihre Charakterzüge gehören zum erlebnisbestimmenden setting. Ebenso bedeutungsvoll ist das akustische Milieu. Schon an sich harmlose Geräusche kön-nen zur Qual werden und, umgekehrt, schöne Musik zum beseligenden Erlebnis.« (Hofmann 1993 [1979]: 75)

Haschisch ist das am meisten konsumierte Rauschmittel der Szene. Ha-schisch zu rauchen hat in der Szene eine eben solche Selbstverständlichkeit wie der allgemein übliche Genuss von Alkohol im Rahmen geselliger Er-eignisse. Kein geselliges Beisammensein der Szene, wo die Luft nicht vom typischen Haschisch-Geruch getränkt ist und wo nicht in regelmäßigen Abständen ein »Joint« die Runde macht. Die Szene reproduziert mit dem Haschisch-Konsum eine kulturelle Praxis, die seit den Hippies zur Aus-stattung subkultureller Existenzen gehört und die bis ins 19. Jahrhundert zurück reicht (seine kulturellen Ursprünge wurzeln in arabischen Ländern, von wo aus Haschisch nach Europa exportiert wurde). Legendär ist der »Club des Hachichins«, eine lockere Versammlung von Bohème-Künstlern, der neben Nerval, Daumier und Balzac auch Charles Baudelaire und Gus-tave Flaubert angehörten, und der sich um 1840 wöchentlich in Paris im Hotel Pimodan auf der Ile Saint-Louis traf um Wahrnehmungsexperimente mit dem Rauschmittel zu begehen und diese literarisch fest zu halten (vgl. Müller/Zöllner 2002: 7f). In ihren Texten berichten sie von einer gestei-

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gerten ästhetischen Sensibilität, von einer veränderten räumlichen und zeitlichen Wahrnehmung, wie auch von Schreckensmomenten… »Im Ha-schisch«, schreibt Walter Benjamin, »sind wir genießende Prosawesen höchster Potenz« (Benjamin 1972: 51). Benjamins eigene Experimente führten ihn in die Hafenbars von Marseilles, und er beschreibt hier sehr eindrücklich, wie die Gesichtszüge der Hafenarbeiter plastisch hervor tre-ten und er, ästhetisch berührt von der »Rohheit oder Hässlichkeit« »zum Physiognomiker« wird. Die Erkenntnis, der Benjamin hier mit einiger ro-mantischer Verklärung offenbar wird, ist, dass die hässlichen, rohen Züge der Unterschicht »das wahre Reservoir der Schönheit« (ebd.: 48) darstellen.

Die Faszination von Oberflächen und Details, die Benjamin hier pflegt, beschreibt treffend die ästhetisierende Wirkung von Haschisch. Allerdings sind es selten so intensive Erfahrungen und auch die vollständige Kon-zentration auf das Haschisch-Erlebnis ist ungewöhnlich für die Szene. Haschisch wird in der Szene eher nebenher und als Ergänzung konsumiert, um das Ereignis und die Umwelt in ein bestimmtes Licht zu tauchen. Man sieht zwar auf Partys immer wieder Akteure, die still und entspannt vor sich hingucken und von denen man ausgehen kann, dass sie gerade »einen Film« haben, wie es in der Szene heißt, doch routinierten Haschischkon-sumenten ist der Haschischrausch nicht anzumerken, sie interagieren all-täglich und ohne den Pathos des »Berührtseins« mit den anderen Akteuren, lediglich eine leichte Verschiebung oder Irritation macht sich hier bemerk-bar, die jedoch entscheidend ist für die ästhetisch sensibilisierte Grund-stimmung innerhalb der Szene.

Die Königsdroge der Bewusstseinserweiterung ist die Hippie-Droge LSD, die die versponnene, ornamentale Natur-Ästhetik der Hippies ent-scheidend mit beförderte, sowie der mexikanische Pilz Pyotl, auch »magic mushroom« genannt, der eine mit LSD vergleichbare wahrnehmungsstei-gernde und halluzinogene Wirkung entfaltet (und in Stammeskulturen zu schamanischen Ritualen verwendet wird). LSD befähigt einen, so die all-gemeine Annahme, hinter die Oberfläche der Dinge zu blicken, den Schleier des Scheins zu lüften und einer tieferen Erkenntnis gewahr zu werden. Cousto schreibt:

»Die veränderte Wahrnehmungsstruktur im optischen, akustischen und sensori-schen Bereich ermöglicht eine völlig neue Sichtweise der Welt. Die aufgenomme-nen Reize erscheinen zumeist klarer und intensiver als im Zustand des Normalbe-wusstseins. Man sieht nicht nur wie gewöhnlich das äußere Erscheinungsbild der Dinge, sondern kann durch die Fassade oder hinter die Kulisse dieses äußeren Erscheinungsbildes schauen und etwas vom Wesen der betrachteten Dinge erken-

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nen. […] In diesen Bewusstseinszuständen erklären sich die Dinge zuweilen wie von selbst.17«

Die alternative Sicht auf die Welt, die die Szene ohnehin praktiziert, die Privilegierung der Schönheit, werden durch die Drogenerfahrung objekti-viert. Wie Kalle mir erzählte, habe die Hippiedroge LSD ihm geholfen, seine Perspektive auf gesellschaftliche Normen und Werte zu relativieren: »Acid hat mir auch viel klar gemacht über… weiß ich nich… über was wichtig ist, und was, was wirklich Wert hat, nicht Geld oder so oder Besitz oder irgend sowas, das hab ich schon auch durch Drogenerfahrung ge-lernt« (Interview mit Kalle vom 27.6.02). Für Victoria hat sich durch den Konsum von LSD im Jahr 1996 eine »neue Ebene« aufgetan, »da hat sich irgend ’ne Tür geöffnet«, die ihr Leben verändert hat:

»Viel Positives ist dazu gekommen und mehr Schönheit ist in mein Leben getreten. […] Da habe ich das erste Mal erlebt, dass Wahnsinn auch schön sein kann. Dass Verrücktsein nicht nur was Pathologisches ist, sondern zum Beispiel auch Teil der Kunst ist. Und alles was nach ’96 kam, war ein positives Erlebnis. Die Hinwen-dung zur Schönheit und zum Licht, auch wenn sich das jetzt ’n bisschen kitschig anhört, aber schon… und auch nicht das Verhaftetsein im Leid.« (Interview mit Victoria vom 10.9.03)

Die neue, geänderte Weltsicht nahm sie als Befreiung wahr, ähnlich wie ihre Reisen nach Indien und Afrika, die eine vergleichbare Wahrneh-mungsverschiebung bewirkten. Sie habe…

»… gelernt, dass es einfach viel mehr Betrachtungsweisen der Welt (gibt). Nicht nur unser westlich deutsches Denken… Und das ist gut, das zu wissen. Das tut mir gut. Das befreit mich, das öffnet, das fördert Toleranz… (denkt nach) Und was es dann für Lösungsmöglichkeiten gibt, das weiß ich noch nicht genau. Das ist eine Aufgabe für mich.« (ebd.)

Der »Drogenpapst« der Hippies, Timothy Leary, zieht eine explizite Ver-bindung zwischen dem ästhetischen Raum der Rauschmittelerfahrung und dem sozialen Raum der Gesellschaft. Er konzeptualisierte in seinem »Ma-nual« mit dem Titel »The Psychedelic Experience« die LSD-Erfahrung als eine Reise, bei der der »voyager« sich von der gesellschaftlichen Realität löst, die Timothy Leary als »Game« interpretiert. Wenn das Individuum

—————— 17 Hans Cousto (o.J.), Drogeninduzierte und andere außergewöhnliche Bewusstseinszustände. Ein

Bericht über Sucht und Sehnsucht, Transzendenz, Ich-Erfahrungen und außergewöhnliche Bewusstseinszustände, herausgegeben vom Verlag Eve + Rave Schweiz. Online einsehbar unter: www.eve-rave.net

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innerhalb des »repressiven« gesellschaftlichen Regelwerks seine Rollen (»roles«) zu spielen hat, so legt er diese im Laufe der LSD-Reise allmählich ab. Danach tritt er in die Phase gesteigerter ästhetischer Erfahrung ein, die Halluzinationen einschließt und nach Leary einer Todeserfahrung nahe kommt (er orientiert sein gesamtes Modell an der religiösen Schrift »Tibe-tan Book of the Dead«). Nachdem der LSD-Konsument eines symboli-schen (und damit auch sozialen) Todes gestorben ist, wird er, gereinigt und als erneuertes Individuum in die Gesellschaft reintegriert, bereichert durch eine Grenzerfahrung, die hilft, so Leary, das Leben leicht und gelassen und – auch ohne LSD-Einfluss – ästhetisch zu betrachten:

»The key to this return voyage is simply this: take it easy, slowly, naturally. Enjoy every second. Don't rush. Don't be attached to your old games. Recognize that you are in the re-entry period. Do not return with any emotional pressure. Everything you see and touch can glow with radiance. Each moment can be a joyous discove-ry.«18

Doch ebenso wie LSD in seiner Bedeutung überhöht wird, wird es auch als heiteres »Kopfkino« empfunden. Jener hedonistischen Dimension von LSD, der nichts heilig ist, hat Tom Wolfe in seinem autobiographischen Roman The Electric Kool-Aid Acid Test ein Denkmal gesetzt hat, der nach der Einschätzung der »New York Times« das wichtigste Buch über die Hippie-Bewegung darstellt. Eine Gruppe um den Schriftsteller Ken Kesey (Einer flog übers Kuckucksnest) macht sich als »Ken Kesey und die Merry Prankster« in einem ausgebauten Schulbus und reichlich LSD im Gepäck auf den Weg nach »Edge City«. Am Steuer sitzt kein anderer als Neal Cassady, der Vorzeige-Underdog aus Jack Kerouacs Kultroman der Beat Generation On the Road. Mit Lautsprecherboxen beschallen sie die amerikanischen Landschaft und verschrecken die amerikanische Öffentlichkeit. Ihr Weg führt sie nach New York, wo sie auf Künstler und Literaten der New Yorker Szene treffen, die ihnen jedoch zu künstlerisch sind, zu Timothy Learys sektenhaftem Retreat auf dem Land, der den Pranksters zu langwei-lig ist, und Keseys »Haçienda« im Yosemite Nationalpark, deren Gelände sie zu einem permanenten Happening ausbauen und wo sie auf dem Hö-hepunkt ihres Aufenthalts mit den berüchtigten »Hell’s Angels« eine Party veranstalten. Zuvor in New Orleans war ihr Bus von tanzenden Farbigen besetzt worden, die jedoch die Pranksters verprügelten. All diese Begeben-heiten finden unter der wahrnehmungsverzerrenden Wirkung von LSD

—————— 18 Timothy Leary, The Psychedelic Experience, online einesehbar unter www.lycaeum.org

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statt, deren Verrücktheit und Zügellosigkeit mit vielen »Yeeaaahhs« und »Ouuiiiees« zum Ausdruck gebracht wird. Er stellt eine Tiefenpsychologie der Spaßkultur dar, die rätselhafter Weise sehr still und nachdenklich in einer mexikanischen Enklave endet und trotz der Zelebrierung von LSD bereits mit der Forderung Keseys eingeleitet wird, sich von LSD zu eman-zipieren.

Wenn LSD in der Szene als »Kopfkino« bezeichnet wird, so drückt man darin auch die Überzeugung aus, dass eine bessere Welt nicht durch den Rauschmittelkonsum erreicht werden kann. Wie Kalle einmal sagte, dürfe man nicht glauben, in LSD »Gott« gefunden zu haben. Nichts pro-voziert in der Szene mehr als vermeintlich »Erleuchtete«, die andere zu ihrer höheren Einsicht bekehren wollen. So erzählte Hektor von einer Begegnung in Indien mit zwei Engländern, von denen der eine schon gänzlich in einer spirituellen Welt versunken war: »War’n beides spannende Typen, aber ich hab gemerkt, mit dem einen kann ich viel lockerer um-geh’n und bei dem andern hab ich immer das Gefühl, der ist schon so halb auf dem Weg zur Erleuchtung und das war halt nicht meine Welt« (Inter-view mit Hektor vom 23.7.03). Im Gegenteil wird ein zu exzessiver Rauschmittelkonsum stark kritisiert, weil die Sensibilität für das gesellige Miteinander verloren geht, das ja den Kern der Szeneexistenz ausmacht. Das selbstbezügliche Verhalten der »Drogenfreaks« zerstört die »Schön-heit« der Szenerie, weshalb man sich über die oft unkontrollierten Gesten der »Druffis« (von »drauf« sein, auf Drogen sein) lustig macht, ihr mani-sches Tanzen und ihre irren Blicke gerne ironisch imitiert. Es besteht all-gemeiner Konsens, dass Drogen allein keine bessere Welt herbei führen, aber sie bestätigen der Szene, dass es eine »andere«, schönere Welt jenseits der Alltagsrealität gibt, der es Sinn macht, nachzuspüren. Diese schönere Welt ist kein eskapistisches Anderswo, sondern sie existiert bereits im Hier und Jetzt, in den locations in Stadt und Natur, in der Raumästhetik, die von der Szene geschaffen wird. Die Rauschmittelerfahrung hilft, trotz widriger Umstände an der Raumästhetik fest zu halten.

Sensatonics

Aus der Genusskultur der Szene heraus ist das Start Up »Sensatonics« entstanden, das wie kein anderes die Neo-Hippiekultur der Szene verkör-

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pert. Victoria, Stella, Helena, Joe und Nana vom »Muh-Bar«-Collective arbeiten für »Sensatonics«.

Die Erfindung der Elixiere geht, wie sollte es anders sein, auf eine Par-tyreihe 1993 zurück, die immer Montags in einem Hinterhof von dem Collective – einem besetzten Haus in der Ackerstraße – veranstaltet wurde. Im Hof stand ein Einkaufswagen mit Getränken und einer Sparkasse darin, aus dem man sich bedienen konnte. Das Collective hatte ein hippieskes Interesse an Bewusstseinserweiterung, Gemeinschaftsleben und fremden Kulturen. Hieraus entstand die Idee einer Landkommune (eines »Land-projekts«, wie sie es nannten), die bald darauf in einem halb verfallenen Haus in Polen realisiert wurde, in einem sagenumwobenen Gebiet, wo einer Volkserzählung nach eine jugendliche Festgesellschaft einst in Steine verwandelt worden sein soll. Dort wurde in langen Nächten mit psychede-lischen Drogen experimentiert und allerlei alternatives Wissen über Al-chemie und Kräuterkunde zusammen getragen. Wie es auf der Kommune-eigenen Webseite heißt, befasste man sich mit der »Herstellung von Alko-holika im eigenen Hause, Siebdruck mit einfachen Mitteln, Schwitzhütte nach kabalistischem System, ethnobotanischen Garten, Stammesphiloso-phie, und vieles mehr« (www.transformmodul.de). Ein studierter Biologe und Ethnologe aus der Gruppe hatte ein professionelleres Interesse an diesen Experimenten. Inspiriert durch das von Albert Hofmann und dem Ethnobotaniker Richard Evan Schuldes verfasste Buch »Pflanzen der Götter« (1980) forschte er nach eigenen Angaben systematisch nach histo-rischen Quellen, die die alchemistischen Formeln und Mixturen des Mittel-alters dokumentierten (zum Beispiel das Kochbuch der innerhalb der Pop-kultur breiter rezipierten Nonne Hildegard von Bingen). Auf Reisen in Südamerika lernte er außerdem die Naturdrogen dortiger Stammeskulturen kennen. In der Gruppe wurden diese Rezepte nachgebraut und auspro-biert. Der Geschmack muss anfangs grauenvoll, die Effekte aber begrü-ßenswert gewesen sein – man empfand sie als Alternative zu »syntheti-schen Stimulanzien […] zum Wachbleiben oder Berauscht-Sein«19.

Ab Mitte der 1990er Jahre organisierte das Collective Partys an wech-selnden locations in Berlin, wo sie auch ihre Elixiere verkauften, u.a. in dem besetzten Haus »Supermolly« im Friedrichshain, das wegen eines spektakulären Straßenkampfes lokal bekannt wurde, und in dem alternati-ven, ebenfalls besetzten Kulturzentrum »Eimer« in der Nähe des Hacke-

—————— 19 Mushroom 2003, Nr. 99: 55.

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schen Marktes. Kalle unternahm hier seine ersten Gehversuche als DJ (»die ham mich sozusagen, wie nennt man das, gefördert«). Ihre Party-Aktivitä-ten entwickelten sich zeitgleich mit den »Pyonen« und beide Collectives sind freundschaftlich und inzwischen auch kooperativ verbunden. Die Lichtdesigner der »Pyonen«, Future und Lenin, haben ihre ersten Geh-versuche auf einer »Spacebar«-Party in der Supermolly unternommen und gehören zu den Mitbegründern der Kommune in Polen. Ein Link verweist von den »Pyonen« zum »Elixier« und auf jeder »Pyonen«-Party gibt es auch eine »Spacebar«.

Ende der 1990er Jahre etablierten sich einzelne Akteure aus dem Col-lective zu wirtschaftlichen Unternehmern. Der Biologe gründete mit einigen anderen das Unternehmen »Sensatonics« und stellte die Elixiere pro-fessionell her. Sie zogen in eine Etage eines ehemaligen DDR-Filmbetriebs und richteten hier ihre »Alchemisten-Küche« ein. 20

Inzwischen genießt die Marke »Sensatonics« in bürgerlichen Medien wie in Lifestyle-Magazinen eine beachtliche Popularität. Der Focus, die taz, die Berliner Zeitung und mehrere Frauenmagazine berichteten von der Pflanzenkraft. Sogar die eher konservative Wochenzeitung Die Zeit be-richtet von den Elixieren. Im Ressort »Leben« beschreibt der junge Berli-ner Literat Norman Ohler, der mit den Betreibern der »Spacebar« befreun-det ist, sehr plastisch ihr Wirkung und die Vorstellungswelt, die sich mit den Elixieren verknüpft:

»Gold herzustellen, das geht nur intern, über eine Veränderung der Wahrnehmung – und dafür bedarf es Hilfsmittel. Ein solches hat die Firma ›Sensatonics‹ entwi-ckelt, Alchemisten aus Berlin, die nichts anderes tun, als Drogen zu entwerfen, die legal sind. Ihr neuester Griff nach den Sternen heißt Rogui de Edena, ein Kräuter-likör, dessen Hauptbestandteil eine aphrodisierende brasilianische Wurzel ist, für die es auf Deutsch leider keine Bezeichnung gibt. Wer sie trinkt, nimmt in Kauf, dass sich das Bild, das man sich von der Realität macht, mit einem feinen goldenen Hauch überzieht. Das Gegrissel in der Atmo glänzt, die Welt bekommt schärfere Konturen, die Zeit sanftere Rundungen, Details treten hervor. Auch die Men-schen, die man anschaut, werden deutlicher, interessanter, schöner – goldiger eben…« (Die Zeit, Nr. 12/2000)

Ohne das kulturelle Umfeld der Szene wäre die Entstehung dieses kre-ativen Unternehmens nicht vorstellbar.

—————— 20 Die Beschreibung »Alchemisten-Küche« ist dem auf der »Sensatonics«-Webseite publi-

zierten Pressespiegel entnommen.

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Samadhi-Tank

Ein mit der Drogen-Erfahrung vergleichbares Erlebnis, wie mir Akteure der Szene sagten, ist das Eintauchen in einen sogenannten »Samadhi-Tank«. Der Tank ist für die Szene Symbol und Objektivierung des Bedürf-nisses nach gesteigerter Sinnlichkeit. Insbesondere die »Posse« rund um das Start Up »Sensatonics«, darunter auch Victoria, Gabi und die Lichtde-signer Future und Lenin, nutzen den Samadhi-Tank und haben ihren eige-nen Tank, der in einer Galerie in Kreuzberg steht. Auch hier besteht eine Ambivalenz zwischen subkultureller Bedeutung und Affirmation der Er-lebnisgesellschaft.

Der Samadhi-Tank ist ein langer, flacher Container, der mit warmem, mit Himalaya-Salz versetzten Wasser gefüllt ist und in den man sich zur Entspannung für anderthalb Stunden hinein legt und dort, vom Dunkel umschlossen, im Wasser schwebt. Der Tank liefert eine sehr intensive Form der Körpererfahrung, bei der Außeneinflüsse völlig ausgeschaltet werden und man nichts anderes als den eigenen Körper spürt. Wie es in einer Broschüre heißt, bewirkt »das Schweben eine außergewöhnliche tiefe körperliche und mentale Entspannung und erzeugt ein Hochgefühl. Ganz ohne Anstrengung führt der Samadhi-Tank seine Gäste aus dem Alltags-bewusstsein in meditative Bewusstseinszustände« (Flyer). Er wird auch in Ashrams in Indien den Alternativtouristen als Mutterleibs-Erfahrung an-geboten und wurde schon in der Hippiebewegung genutzt. Erfunden wurde der Samadhi-Tank 1954 von dem amerikanischen Arzt John C. Lilly. Lilly war Gehirnforscher, Kommunikationsforscher, Delphinforscher sowie Autor der esoterischen Bücher Im Zentrum des Zyklons, The deep self, The man and the dolphin. Wie es für esoterische Produkte üblich ist, lässt man sich seine Wirkung gerne »wissenschaftlich« bestätigen. Laut einer Webseite wurde der Tank »an vielen amerikanischen Universitäten und der NASA in Forschungsprogramme miteinbezogen« (www.samadhi-bad.de).

Allerdings wurde der Samadhi-Tank inzwischen von der Freizeitindus-trie angeeignet und seine subkulturelle Symbolik verblasst. Es gibt inzwi-schen mehrere sogenannte »Float-Centers«, u.a. am Gendarmenmarkt. Im Gegensatz zur Szene grenzt man sich von der Hippie-Tradition ab und diktiert der Berliner Morgenpost: »Esoteriker ›entweihten‹ in den 60er Jahren die harmlosen Relax-Tanks. Mit Drogen vollgepumpt dümpelten sie in den Riesenwannen und hatten dabei wohl ihre ganz eigenen Grenz-erlebnisse«. (Berliner Morgenpost vom 15.6.02) Die Passförmigkeit des

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Samadhi-Tanks mit der Erlebnisgesellschaft zeigt zugleich, dass auch in-nerhalb der Szene die Nutzung des Tanks nicht auf seine subkulturelle Symbolik reduziert werden kann, sondern auch hier seine zerstreuende Wirkung überwiegt.

Sex und Erotik

Angesichts der Feier der Sinnlichkeit ist es naheliegend, dass Sexualität und Erotik integraler Bestandteil der Genusskultur der Szene sind.

Bei einem Partygespräch, bei dem man ursprünglich über Kochrezepte redete, gingen die Anwesenden dazu über, sich eine Welt zu imaginieren, in der Essen und Sex miteinander ausgetauscht würden und Essen die Be-deutung von Sex und Sex die Bedeutung von Essen hätte. Essen wäre tabu und dürfte nur heimlich stattfinden, während Sex offen und mehrmals täglich zu regelmäßigen Uhrzeiten praktiziert würde. Besondere Erheite-rung erzielte signifikanterweise weniger die Vorstellung der öffentlich praktizierten Sexualität als vielmehr die Geheimhaltung des Essens, das nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit und im Dunkeln praktiziert werden würde und bei dem man darauf Acht geben müsse, von anderen nicht bei der Essensverrichtung ertappt zu werden.

Wie das Beispiel zeigt, wird offen und typischerweise ironisch über Sex geredet, allerdings ist das Amüsement über die Geheimhaltung von Sexua-lität auch auf die eigene Szene bezogen, für die Sex nur graduell weniger tabubeladen ist als in der bürgerlichen Mainstream-Kultur. Ein erotisches Knistern ist in subtiler Weise überall präsent: Auf der Tanzfläche einander anlächeln, sich sanft berühren oder auch umarmen. Doch wird selten ex-plizit darüber geredet geschweigedenn dass Sexualität öffentlich praktiziert würde. Die Szene pflegt einen offeneren Umgang mit Sexualität als man dies von der bürgerlichen Kultur kennt, gleichzeitig sieht sie die »sexuelle Befreiung« aber nicht als ihren Auftrag an, wie es einst die Hippies taten. Man antizipiert zwar die Errungenschaften der Hippiebewegung, aber diese stellen für die Akteure der Szene heute kein Politikum mehr dar. Die größere sexuelle Freizügigkeit der Szene ist aus dem Repertoire öffentlicher Provokationen ausgemustert.

Bezeichnenderweise ist die Referenzkultur eher die schwullesbische Kultur als die prüde bürgerliche Kultur, die es so nicht mehr gibt. Die

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Offenheit und Freizügigkeit, mit der in der schwullesbischen Kultur Sexu-alität praktiziert wird, wird positiv bewertet. Man begrüßt es, findet es »cool«, dass auf schwullesbischen Partys Erotik öffentlich ausgelebt wird, dass man sich küsst oder zuweilen auch vor den Augen anderer Sex mit-einander hat. Einer der Lichtdesigner der »Pyonen«, Future, fragte einmal im Scherz, warum es denn im Techno-Underground keine »Darkrooms« gebe und dass er die Einrichtung einer »Klappe« für Heterosexuelle begrü-ßen würde, bei der der Triebstau schnell und unkompliziert entladen wer-den könnte. Future wie auch andere aus der Szene, darunter Kalle, be-suchten in den 1990er Jahren des öfteren den »Kitkat«-Club in Kreuzberg, in dem Sex öffentlich praktiziert wird (der aber kein Swinger-Club ist, sondern eher aus einem alternativen Kreuzberger Milieu entstanden ist, wo sich eine heterosexuelle mit einer schwullesbischen Szene mischte), was zeigt, dass der Techno-Undrground nicht nur eine Affinität zur Freizügig-keit der schwullesbischen Kultur hat, sondern es hier auch vereinzelt Über-schneidungen der Szenen gibt. Nichtsdestotrotz findet man das öffentliche Praktizieren von Sexualität letztlich eher skurril. Future erzählte amüsiert über die Vorgänge im Kitkat-Club, die er unter LSD-Einfluss erlebte, von Körpertableaus, die er auf dem Weg zur Toilette passiert hätte (ineinander gesteckte Glieder und Gliedmaßen mehrerer Beteiligter), von einem »Ty-pen«, der ihm einen Becher in die Hand drückte, in den er, Future, hinein urinieren solle, von einer abgetakelten Pornokönigin, die ihre melonenhaf-ten Brüste zum Wogen brachte und von einer »Sex-Göttin«, die sich vor den Augen einer Gruppe von Männern geräkelt habe und die er, wie Fu-ture zumindest behauptet, vor den Augen dieser Zuschauer verführt hätte (Feldtagebuchnotiz vom 6.4.05). Von solcherlei sexueller Freizügigkeit ist der Techno-Underground weit entfernt, aber wie Futures offenes Erzählen darüber zeigt, besteht zumindest eine Offenheit in der Auseinandersetzung mit diesem Thema.

Gelegentlich materialisieren sich die Themen Sex und Erotik auch durch die Gestaltung von Orten und Objekten, an denen Sex und Erotik zumindest als Idee öffentlich werden.

Dies geschieht selten, aber es geschieht. Hierzu drei Beispiele, die ich während der Feldforschung beobachten konnte:

Zum einen wurde auf dem Open-Air-Festival »Camp Tipsy«, das die Szene veranstaltete (siehe Kapitel In Wäldern und an Seen – Hippieromantik der Szene), ein »Stundenhotel« mit mehreren Zimmern eingerichtet, in das sich Pärchen und auch Gruppen für jeweils eine Stunde einmieten konnten.

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Das »Hotel« war in einem der Bungalows eingerichtet (»Camp Tipsy« fand in einem ehemaligen DDR-Kinderferiencamp statt, in dem es etliche Bungalows gab) und die Zimmer waren mit Plüsch, Sofas und Matratzen ausgestattet. Meines Wissens fand hier nicht tatsächlich Sex statt (Future erzählte, man hätte stattdessen allerlei Unsinn getrieben, die Droge »Speed« genommen und sich, hier wurde er derb, »mit dem Arsch auf den Spiegel gesetzt« um die Drogen versuchsweise von unten anstatt durch den Mund zu konsumieren; Feldtagebuchnotiz vom 6.4.05), aber die Existenz eines Stundenhotels zeigt, dass Sexualität und Erotik in der Vorstellungswelt der Szene ihren eigenen Platz einnehmen. Dass es sich um ein Stundenhotel handelt ironisiert dabei sowohl die Welt des Rotlichtmilieus, für die Erotik käuflich ist und nicht Spiel, als auch die Mainstreamgesellschaft, für die Stundenhotels bei aller Fortschrittlichkeit dennoch ein Tabu darstellen.

Zum zweiten betrieb die Performance-Gruppe »Rent-a-Friend« auf ei-ner Open-Air-Party der »Pyonen« im Sommer 2002 die sogenannte »Kupplerei«.21 Wie der Name sagt, konnte man sich hier »verkuppeln« lassen. Es ging hier nicht tatsächlich darum, einen Partner zu finden, viel-mehr wurde das Motiv der anonymen Partnersuche zum Gesellschafts-spiel. Man füllte einen Fragebogen zur eigenen Person aus und wurde von einer professionellen Zeichnerin portraitiert. Lippenstifte und Nagellack lagen auf einem Tischchen, um sich »hübsch« zu machen. Die Identitäts-optionen, die man ankreuzen konnten, waren gegenüber den gängigen Partnerschaftsfragebögen zum Teil subkulturell modifiziert. Sie lauteten unter anderem »Raver« (wurde von niemandem angekreuzt), »Terrorist«, »mag Drogen« (kreuzen viele an), »kritisch«, »kreativ«, etc. Außerdem konnte man angeben, was man mit dem potenziellen Partner vor hatte. Die Angaben hier waren verhältnismäßig unerotisch, teils bewusst absurd. Man gab an »Zigaretten rauchen« oder »hingehen, wo der Pfeffer wächst«. Nur ein Fragebogen war explizit sexuell, bezeichnenderweise von zwei Frauen ausgefüllt, die als Identitätsoption »Lesben« angekreuzt hatten. Sie schrie-ben »lauter schweinische Sachen«. Die Fragebögen mit den Portraits wur-den an die Innenwand des Zeltes gehängt (die Kupplerei befand sich in —————— 21 Die Schauspieler von »Rent-a-friend« sind zugleich Mitglieder des Architekten-Team

»Raumlabor«, das mit den »Pyonen« gemeinsam das Haus in der Lychener Straße be-setzte. Sie begreifen Architekturen im Sinne des Techno-Underground als temporäre Performances und bauen keine dauerhaften Häuser, sondern sie entwerfen mobile Kap-seln und Module, die an wechselnden Orten und in Verbindung mit inszenierten Ereig-nissen (beispielsweise dem gemeinsamen Kochen unter Autobahnbrücken) einsetzbar sind.

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einem Zelt mit roten Herzen auf der Außenwand) und man konnte sich einen Partner auswählen und diesem Nachrichten hinterlassen. Während die Fragebögen recht häufig ausgefüllt wurden, reagierte man jedoch mei-nes Wissens kaum auf die aushängenden Fragebögen und es kam kaum oder gar nicht zu tatsächlichen »Verkupplungen«. Der Performance-Ge-danke stand hier im Vordergrund und die Festgesellschaft war zu stolz, sich in die niederen Sphären einer Kupplerei zu begeben und sich tatsäch-lich verkuppeln zu lassen, auch wenn man an dem als-ob-Spiel gerne anti-zipierte. Ein Akteur neckte einen anderen, indem er auf seine Kontakt-anzeige eine Liebeserklärung fingierte. Der Geneckte darauf hin: »Du treibst Schindluder mit meinen Gefühlen!« Um Werbung für die Kupplerei zu machen, lief die Performance-Gruppe mit Werbeschildern über die Tanzfläche, auf denen geschrieben stand, »Wir nehmen Deinen Alten in Zahlung«, »Schluss mit Schüchtern«, »Sei dabei Kupplerei« und »Komm zur Kupplerei«. Auch die »Kupplerei« ist wie das »Stundenhotel« ein Expe-riment, Sexualität und Erotik öffentlich verhandelbar zu machen, sie dabei jedoch im Bereich des Spiels und der Ironie anzusiedeln. Zudem nimmt der Name der Gruppe, »Rent-a-Friend«, auf die Oberflächlichkeit vieler Szene-Beziehungen Bezug, als könne man Freundschaften mieten, was einmal mehr den Charakter der »Hi-and-bye-Beziehungen« in der Szene zeigt.

Zum dritten bietet die »Spacebar« auch mehrere Elixiere an ihrem Tre-sen an, die aphrodisierend wirken sollen. In den an den Bars ausliegenden Broschüren wird die Wirkung dieser Trünke in blumigen und teils ebenfalls ironischen Worten beschrieben, wobei auch auf die ursprüngliche Bedeu-tung dieser Kräutertrank-Mischungen innerhalb magischer Stammesrituale Bezug genommen wird. Das beliebteste Elixier dieser Art heißt »Aphro-dite« und verweist schon im Namen auf die beabsichtigte Wirkung. Zu »Aphrodite« heißt es »Babarellas Geheimtip für spontane Zwischenstops auf Liebesplaneten«. Zu den anderen Trünken heißt es:

»Amazonic-Jungle-Tonic-Liquer – Die unbändige Vitalität der tropischen Wälder strahlt aus dem Aroma dieses kraftvollen Likörs. Der Kopf darf Pause machen, das Becken lebt auf, ein Glitzern hängt in der Luft. Energie für körperbetonte Vergnü-gungen.

Satyr-Liquer – Satyrn sind die Begleiter des Dionysos: gewitzt, lüstern, horny. Mit klaren Gedanken meistern sie Leben und Liebe. Diesem Sinnbild hedonistischer Ausgelassenheit ist unser Likör gewidmet – wie geschaffen für ausgedehnte Streif-

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züge durch das Reich der Musen. Spontane Erfrischung für Körper und Geist.« (www.elixier.de)

Außerdem bietet das »Elixier« in seinem Laden erotische Öle an. Pärchen trinken auf den Partys gerne die aphrodiadisierenden Elixiere, um die Nei-gung zueinander zu unterstreichen und das erotische Knistern symbolisch zu überhöhen. Die Liebes-Elixiere werden jedoch auch ohne Hintergedan-ken und auch von Einzelpersonen oder in Gruppen eingenommen, um die Sinne zu beleben. Ob und wie stark die Pflanzen-Elixiere tatsächlich wirken, wird in der Szene unterschiedlich beurteilt. Sicher ist, dass die Effekte nur dann als erotisierend wahrgenommen und als solche besprochen werden, wenn die Situation dies auch nahe legt.22

Auch die Droge Ecstasy, die von Akteuren der Szene gelegentlich kon-sumiert wird, gilt als Liebes-Droge wobei bezeichnenderweise »Liebe« in Bezug auf Ecstasy gerade keine sexuellen Konnotationen hat, sondern eher ein »intensives Zusammengehörigkeitsgefühl«, ein »Gefühl der Entspan-nung, von Wärme und Liebe« (Walder 1997: 18f.) ausdrückt, wie es der Journalist Patrick Walder in einem Buch über Ecstasy formuliert. Dieses allumfassende Gefühl der Liebe und Zärtlichkeit, das noch nicht erotisch ist, aber zur Erotik hinführen kann, ist eine typische Erfahrungsqualität der Partys. So erzählte mir Kalle einmal von einer jungen Friseurin aus Leipzig, die er »auf E« kennen gelernt hätte und die zu ihm gesagt hätte: »Komm mal her, ich weiß doch, was Du brauchst« (Feldtagebuchnotiz vom 11.12.01). Daraufhin hätte sie seinen Kopf in ihren Schoß genommen und ihm hingebungsvoll und ausführlich das Haar gekrault. Das unverbindliche »Kuscheln« und »sich lieb haben« ist eine Form der Zuneigungsbekun-dung, die im Gegensatz zur Sexualität öffentlich praktiziert wird, wenn auch ebenfalls nur in bestimmten Situationen, typischerweise in den Mor-genstunden, wenn die Festgesellschaft sich müde in die Sofas sinken lässt.

In Bezug auf die Wirkungen von Ecstasy erzählt man sich in der Szene die Anekdote, dass der verstorbene Drogenpapst Timothy Leary einst unter Ecstasy-Einfluss zur unfreiwilligen Heirat bewegt wurde (Ecstasy wird auch in der Paartherapie als »Herzöffner« verwendet; ebd.: 20) und wurde bereits Ende der 1970er Jahre innerhalb der Hippiekultur zur »Frei-zeitdroge« (ebd.: 39) und nicht erst mit der Technokultur). Damals soll man vom »Instant Marriage Syndrom« gesprochen haben (ebd.).

—————— 22 Zur kulturellen Konstruktion der Drogenerfahrung siehe Paul E. Willis, The Cultural

Meaning of Drug Use, in: Hall/Jefferson 1998 [1975].

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Es steht außer Frage, dass in dieser gefühlsbetonten Atmosphäre in-nerhalb der Szene – sei es als ironisches Spiel, wie mit dem Stundenhotel und der Kupplerei oder als praktizierte Zärtlichkeiten durch gelegentliche Massagen und Umarmungen – häufig finden Affären zwischen den Szene-Akteuren statt. Dies wird in den Momenten sichtbar, wo sich Affären auf der Tanzfläche anbahnen oder wo sie gerade geschehen sind. Pärchen, die sich finden und einander antanzen, sind plötzlich verschwunden und keh-ren, wenn überhaupt, mit beseelten Blicken zurück. Europa und Tim vom »Muh-Bar«-Collective beispielsweise sah man nach einer nächtlichen Open-Air-Party verliebt auf dem Steg an einem See liegen. Tim erzählte fasziniert, Europa habe am Tag zuvor auf einem jungen Stier geritten, der in der Nähe der Party auf einer Weide stand. Mit dieser »Amazonen-Geste« habe sie ihn, Tim, erobert.

Im Techno-Underground lebt somit die Hippie-Tradition der freien Liebe fort. Dennoch haben sich viele Errungenschaften der Hippiekultur als Sackgasse erwiesen oder zumindest als bislang ungelöste Probleme. Eine der Hauptfragen, die auch die Szene-Akteure beschäftigt, ist die Frage der Treue und der Polygamie. Während für die Hippies monogame Bezie-hungen eine Form der Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse waren, vertreten viele der heutigen Akteure das Ideal der Treue und der ungeteil-ten Liebe zu einem einzelnen Partner (Codys Lebensziel beispielsweise ist es, so sagte er im Interview, eine Familie zu gründen und Kinder zu haben) andere hingegen verfolgen »offene« Partnerschaften, was jedoch oft mit Konflikten einhergeht, weil bei einem tatsächlichen Seitensprung doch die Eifersucht zurückkehrt. Ein Treueschwur führt jedoch im geselligen Sze-neleben, wo man ununterbrochen einander kennen lernt und neu kennen lernt, zu einer endlosen Kette an Verletzungen und Eifersüchteleien. Die Dramen, die sich auf den Partys vollziehen, habe ich nur sehr am Rande miterlebt, doch wäre das Bild der Szene einer harmonievollen und konflikt-freien Liebesgemeinschaft weit verfehlt.

Melancholie

Auch wenn die Akteure und Akteurinnen des Techno-Underground durch die Ästhetisierung ihres Alltagslebens ein gefühlvolleres Leben konkret zu verwirklichen suchen, so besteht paradoxerweise ein tiefes Bewusstsein

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dessen, dass etwas fehlt, dass die Partys und der Hedonismus noch nicht das Eigentliche sein können, dass es noch etwas »anderes« geben muss, das sich der Szeneexistenz verschließt und auf eine irgendwie andere Art er-reicht werden muss, dessen Weg jedoch verborgen bleibt.

Dass die Melancholie Teil des Szenelebens ist, wurde mir schlagartig deutlich, als ich mir einmal die Fotos des Hausfotografen der »Pyonen« ansah und mit Bestürzen bemerkte, wie sehr viele Akteure der Szene in den letzten fünf Jahren doch gealtert waren. Mir führten die Fotos plas-tisch vor Augen, dass die fröhliche Partywelt (alle Akteure haben auf den Fotos lachende Gesichter) auch eine Kehrseite hat, die sich durch die ver-lebten Gesichter der Feiernden andeuten und das Partygeschehen mit einer Melancholie unterlegen. Die existenziellen Sorgen, so der Fotograf, zehren (neben den Drogen) an den Gesichtern. Diese Sorgen bleiben meist ver-deckt – die »Pflicht zum Genuss« drängt einen dazu. Als ich Victorias damaligen Freund einmal fragte, was er zur Zeit arbeite, wehrte er sofort ab und stellte klar, dass er sich jetzt amüsieren und hierüber nicht reden wolle. In manchen, allerdings seltenen Gesprächen, schienen diese Sorgen auf. Der Ton-Ingenieur der »Pyonen« schüttete mir – mit vom Wein be-schwerter Zunge – auf einer Party in der »Laster & Hänger«-Wagenburg sein Herz aus und berichtete von seinen finanziellen Sorgen, seinen ge-scheiterten Projekten und der fehlenden »Solidarität« der »Pyonen« (die heutzutage für ihre Partys lieber einen »Billigheimer« anstellen würden als ihn). Gabi lag apathisch auf ihrem Bett, als ich sie für das Interview be-suchte, und war den Tränen nahe, als sie ihren Wünschen Luft machte, alles hinzuschmeißen, ihr Atelier aufzugeben und mit ihrem Freund Puk nach Portugal auszuwandern (was sie später auch tat). Victoria inszenierte sich vor mir als mutige Frau, die, um ihre Visionen zu verwirklichen, ihren gesicherten Arzt-Beruf aufgibt, doch sagte sie mir auch, dass sie in den Nächten von Sorgen geplagt sei. Eine dritte war so übervoll mit Sorgen wegen ihres neuen Ladens, den finanziellen Nöten und den Konflikten mit ihrer Partnerin, einer Modedesignerin, dass sie sich nach dem Gespräch überschwänglich bedankte, endlich einmal »reden, reden, reden« zu können (Feldtagebuchnotiz vom 18.12.05).

Angesichts dieses Leidensdrucks wird die Fröhlichkeit der Szene auch von Akteuren selbst als oberflächlich kritisiert. Kalle warf auch mir einmal vor, die Sorgen der anderen zu übersehen, was mir besonders zu denken gab, denn ich musste mich fragen, ob ich nicht die ganze Zeit den Hedo-nismus der Szene zu sehr und die Nöte zu wenig berücksichtigt hatte. Als

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ich Kalle einmal fröhlich im Plattenladen aufsuchte und ihm ein be-schwingtes »Hallo, wie geht’s?« entgegen schmetterte, knurrte er mir zy-nisch entgegen, mir mit meinem Promotionsstipendium und meinem be-hüteten bürgerlichen Familienhintergrund würde es doch immer gut gehen. Hatte ich mir das Diktat der Fröhlichkeit zu sehr zu eigen gemacht und hatte es meinen Blick versperrt? Die Genusskultur der Szene kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Akteure wie Kalle mit einer permanent unsi-cheren Zukunft leben.

Dass etwas fehlt in dieser scheinbar wunderbaren Szenewelt, dass das, was man hier erlebt, noch nicht das Eigentliche sein kann, ist die Erkenntnis, die in unerbittlicher Folgerichtigkeit jedes Partywochenende beschließt, wenn Tänzerinnen und Tänzer vom Tanzen so erschöpft und von den Drogen so verwirrt sind, dass sie ziellos umher irren oder mitten auf der Tanzfläche einschlafen, wenn zwei Frauen eng umschlungen umfallen ohne wieder aufstehen zu können, wenn Uringeruch in der Luft des Hin-terhofs liegt, weil die Dixie-Toilette überquillt, wenn ein junger Mann un-ablässig einen Handstand versucht und seine Beine bei jedem Scheitern die Urinlache streifen oder wenn eine junge Frau plötzlich von Heulkrämpfen geschüttelt wird – »Heulen wie bei Arabella Kiesbauer« beschrieb eine Akteurin einmal selbstironisch ihre regelmäßig am Ende der Party wieder-kehrenden Zustände. Und wenn Joe (der wie ein Magier aussieht und einen tätowierten Pilz auf der Wirbelsäule trägt) im Hof des »Schweizer Gartens« früh am Morgen mit dem Feuer spielt, Holzscheite verschiebt und mit den Glutstücken Billard spielt und wenn eine Frau namens »Radieschen« über das Feuer schaukelt und laut ausruft, wie »BORING« das alles sei und vor Langeweile beginnt, Joe wie einen Sportreporter zu kommentieren: »Fire Joe rettet uns alle...«, dann bleibt nichts außer Katzenjammer.

Am Ende jeder Party steht die Depression. Die Energien sind verpufft, die Körper sind erschöpft vom Tanzen, die Drogen sind aufgebraucht und die Ekstase der Nacht beweist ein weiteres Mal ihre Vergänglichkeit, von ihr bleibt nichts zurück außer Augenringen, Kopfschmerzen und Müll, der sich in den Ecken und zwischen den Sofas sammelt, und auf den die auf-gehende Sonne ihre gnadenlosen Strahlen schickt. »Verstrahlt« nennen die Akteure der Szene in zynischer Weise diesen Zustand, der an die Folgen eines Atomschlags erinnert. Die Stadt, das wird in diesen Momenten er-kennbar, ist nicht nur »Zone intensiven Lebens«, sondern auch eine »Kli-nik«, wie Robert E. Park schrieb, zugleich Ort und Narkotikum der Ka-putten und Angeschlagenen – deshalb auch Bar-Namen wie »Therapie«

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und die Referenz des Start Ups »Sensatonics« und ihrer psychoaktiven Elixiere als »Apotheke«.

Doch wäre die Szene nicht die Szene, wenn diese Erfahrungen nicht zugleich wieder in neue Sprachregelungen eingingen: ebenso wie der Spirit nicht nur ein Gefühl des Moments, sondern auch ein Code ist, gehört diese Sprache des sozialen Realismus zum Repertoire der Szene.

Techno – Musik für den Moment

Die musikalische Rahmung der Partys zielt ebenfalls auf die Konstruktion des Moments. Die Funktion von Technomusik und elektronischer Musik allgemein besteht genau darin, dem Augenblick eine klangliche Tönung zu geben und ihn melodisch-rhythmisch zu überhöhen. Durch die Entste-hung der Technomusik in den 1990er Jahren wurde die Aufmerksamkeit auf den Raum und das Ereignis gelenkt. Das Eigentliche war nun nicht mehr die Musik, sondern der Augenblick, das festliche Zusammensein an der location, das die Musik lediglich ästhetisch untermalte. Wie bereits für die Untergattung »Ambient« beschrieben, soll durch die elektronische Musik die Umgebung und die Stimmung der Anwesenden in bestimmter Weise klanglich gestaltet werden. Bei der sphärischen, ruhigen Ambient-Musik wird der Raum in einen Entspannungsraum verwandelt, bei rhyth-misch wilder Technomusik sollen hingegen die Anwesenden in Ekstase versetzt werden, die Körper sollen vom Rhythmus angetrieben und mitge-rissen werden, die Anwesenden sollen zu einer wogenden, tanzenden Ein-heit verwoben werden. Wie Johnny es von den »Pyonen« formuliert, schürt Techno die »Energie« des Ereignisses und ist darauf ausgerichtet, diese Energie stundenlang, ja die ganze Nacht aufrecht zu erhalten (Interview mit Johnny vom 20.9.03). So schreibt auch Christine Steffen in dem Sam-melband »Techno« von Anz und Walder über die Musik, sie dringe…

»… wie zäher Sirup aus allen Ritzen und umspült den ganzen Körper. Sie packt unbarmherzig zu, fährt in alle Glieder und nimmt den ganzen Körper in Besitz. Diese Musik stürzt sich nicht nur auf den Bauch, sondern auf Arme, Beine, Kopf, Herz und Leib gleichzeitig. (… Sie) ist der fliegende Teppich, die Welle, die alle mitnimmt, die mitwollen auf die Reise ins Wunderland.« (Anz/Walder 1997: 176)

Ähnliches berichtet auch der Schriftsteller Rainald Goetz, der in seinem Buch Rave (Goetz 2001) die durch Technomusik evozierten ekstatischen

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Erfahrungen durch expressionistische Satz-Collagen einfängt und durch die Störung der Semantik dem Leser den Sinn verweigert. Gerade in dieser Inhaltslosigkeit, so sinniert Goetz an einer Stelle des Buches, liege die Be-deutung des Techno. Techno sei Augenblicksmusik, sie beziehe sich auf den Moment des Erlebens und entziehe sich einer Botschaft, eines Inhalts oder einer Handlung jenseits des konkreten und ebenso intensiven wie flüchtigen Erlebens. Der Kulturwissenschaftler Matthias Waltz liefert zu Goetz’ Buch eine theoretische Erklärung nach: »Techno handelt von dem, was Lacan das Reale nennt, von dem Präsentischen, dem Jenseits der Ver-weisung und der Sprache« (Waltz 2001: 224).

Techno unterstreicht und bestätigt die Moment-Kultur der Szene. Es geht um keine subkulturelle Botschaft, um keine intellektuelle Auseinan-dersetzung mit gesellschaftlichen Problemlagen, sondern nur um die Ver-schönerung des Augenblicks, um die Intensitätssteigerung der Wahrneh-mung. Im Hier und Jetzt der Erlebnisgesellschaft liegt der Anfang und das Ende der Technomusik, sie vermittelt ein wohliges Körpergefühl und versetzt einen in eine fröhlich Stimmung, sei es beim ekstatischen Tanzen oder beim entspannten geselligen Beisammensein. Kein transzendentales Jenseits ruft nach seiner Verwirklichung, man ist am Ziel, in der Gegen-wart angekommen.

Rock – Musik mit message

In die Rockmusik hingegen werden Ideale projiziert, die durch die Prä-senzmusik des Techno nicht ausgedrückt werden können. Der Praxis der Grenzüberschreitung, die mit Hilfe der Technomusik konkret vollzogen wird, wird durch die rebellische Rockmusik ein Symbol gegeben. Der Aus-ruf »Rock’n’Roll!« wird in der Szene dann gebraucht, wenn eine Handlung jenseits gesellschaftlicher Konventionen vollzogen wird, zum Beispiel wenn ein Stromaggregat mit Musikanlage auf eine Brache gestellt wird, um sie zur location zu deklarieren. »Rock’n’Roll!« wird zudem immer dann gebraucht, wenn etwas nicht perfekt ist, aber man den dahinter stehenden Idealismus honorieren möchte (zum Beispiel die Leistung eines jungen Literaten, der auf einer Party einen »Spoken Word Floor« einrichten wollte und diesen aus alten Stahlbetten, Reifen und einer verrosteten Stehlampe äußerst behelfsmäßig zusammen montierte). »Rock’n’Roll« heißt, trotz

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widriger Umstände etwas zu bewegen, was dann mit Hilfe des treibenden Beats der Technomusik tatsächlich bewegt wird.

In der Rockmusik – nicht in der Technomusik – kulminiert zudem all das, was in der Szene an Hippie-Idealen fort lebt: sie ist Ausdruck des Protests gegenüber den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen, der Sehnsucht, auszusteigen und zu einem anderen Leben zu finden, des Traums von einer anderen, besseren Welt. Sie wirkt somit über den Mo-ment hinaus, öffnet einen Imaginationsraum hin zu einer anderen, besse-ren Welt. Während Techno als tatsächliches und konkretes Mittel der Grenzüberschreitung fungiert, stellt die traditionell widerständige Rockmu-sik eine Form der reflexiven Sinnstiftung dar. Während Techno das kon-krete »Machen« provoziert und unterstreicht, liefert die Rockmusik die Sinnressource, die die Richtigkeit dieses »Machens« bestätigt.

Auf Grund dieses sinnstiftenden Aspekts treten auf Techno-Partys deshalb gelegentlich auch Rockbands auf. Die beliebteste Band der Szene sind die »Dead County Cool Boys«, auf die im Kapitel Wagenburgen – Proletarierromantik der Szene einzugehen sein wird. Diese Band besteht aus einer Gruppe Wagenburglern, Cody ist ihr Leadsänger. Auf allen größeren Partys, die ich besuchte, insbesondere den »Pyonen«-Partys, traten auch die »Cool Boys« auf. Wenn die Band »Breaking the Law« spielt, singen alle Akteure der Szene mit.

Durch den in der Szene zirkulierenden Slogan »Rock’n’Roll« und die musikalischen Rockeinlagen auf den Partys wird der politische Inhalt des eigenen Tuns kollektiv bestätigt. In den kämpferischen Posen des Rock’n’Roll manifestiert sich das Bewusstsein, dass der von der Szene praktizierte Hedonismus die Grenzen auch der Erlebnisgesellschaft über-schreitet. Dabei entsteht jedoch wiederum ein Zirkelschluss der mit dem »Abenteuer Raumbesetzung« korrespondiert: Gerade jene authentischen Symbole der Devianz sind es, durch die sich die Erlebnisgesellschaft auf ihrer Suche nach dem permanent Neuen reproduziert. Heißt das, dass der gefühlte Moment völlig in der Erlebnisgesellschaft aufgeht?

5. Beautiful People – Der Stil der Szene

Der Stil des Techno-Underground changiert zwischen seiner Besetzertra-dition einerseits und seiner Suche nach einer Ästhetisierung des Lebens andererseits. Er bewegt sich zwischen einem anarchistischen Besetzer- beziehungsweise Punk-Stil, durch den sich die Praxis der Raumbesetzung und die damit verknüpften Weltdeutungen symbolisch verdichten, und einem weichen, fließenden, »schöne« Formen favorisierenden Hippiestil, der den Wunsch nach einer Ästhetisierung des Lebens in einem Stil aus-drückt. Im Verständnis der klassischen Cultural Studies (u.a. Paul Willis) ist der Stil einer Subkultur das nach außen verlegte Selbstbild einer Gruppe, durch das sich eine deviante Haltung zur dominanten Gesellschaft aus-drückt. Stil ist ein Medium der Abweichung, in dem das Nichteinverstan-densein mit der aktuellen Gesellschaft sowohl artikuliert wird als auch eine Form symbolischer Grenzüberschreitung konkret vollzogen wird. In der Beschreibung des Stils soll somit das bisher Gesagte noch einmal als ästhe-tischer Ausdruck der Kultur des Techno-Underground zusammen gefasst werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Verortung in der Subkultur brüchig ist und immer wieder durch die Strategie des »Sich nicht verorten lassens« durchbrochen wird, die sich durch die Orientierung an der dem permanenten Wandel unterworfenen Populärkultur und Mode ausdrückt. Einerseits zeigt der Techno-Underground Tendenzen, sich in der Besetzer- und in der Hippiekultur stilistisch zu verorten, andererseits bricht er diese Verortung durch eine Orientierung an der Mode wieder auf, durch die die subkulturelle Orientierung relativiert wird.

Um den Stil der Akteure zu beschreiben eignet sich eine Bezeichnung am besten, mit der Tom Wolfe in seinem autobiografischen Roman über die Hippiekultur die Hippies bezeichnet hat: Beautiful People. Beautiful People, das war für Tom Wolfe die Generation der Blumenkinder, die scharenweise nach San Francisco strömten, um im Park von »Hight Ash-

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bury« den »Summer of Love« zu feiern, »Peace«, »Make Love not War«, »Come together« und die psychedelische Droge LSD.23

Der Stil der Berliner Szene steht in der Tradition der Hippiekultur. Ei-nige tragen bunte Kleider mit fließenden Formen, wie man sie von den Hippies kennt (die ihren Stil wiederum von Indern und Indianern abge-schaut haben), Lederschuhe mit weichen Sohlen, verspielte Blusen und Hemden, Perlenketten und Armbänder (auch bei Männern), bunte Röcke, Jeans, weite Hosen und Schlaghosen. Die Kleider werden teils mehrlagig getragen, wie man es von armen Kindern kennt, einen Rock und einen Wickelrock darüber, drei Hemden übereinander oder einen Rock über einer Jeans, sodass man an der Hüfte beziehungsweise am Hals die ver-schiedenfarbigen Lagen durchspitzen sieht. Ich beobachtete, wie einer Frau ihre weiten Hemden immer über die Schulter rutschten, eine andere zeigte auf den Hüften ihren kindlichen Blümchenschlüpfer, eine dritte trug ein ledernes Muschelband unter dem kleiderfreien Bauchnabel. Einige Frauen und Männer haben lange, offene Haare oder die Dreadlocks der Rastafari, auch Bärte und die Schlapphüte der Vagabunden kann man gelegentlich sehen. Ein junger Mann beispielsweise zwirbelte altmodisch seine Bartspit-zen nach oben, ein anderer gestaltete ihn wie Dschingis Khan. Viele sind ungeschminkt, tragen jedoch gelegentlich Silberstaub auf den Wangen. Außerdem gibt es unter den Akteuren auch solche anderer nationaler Her-kunft. Auffallend viele Spanier, sowie einige Farbige, Inder, Asiaten, Ara-ber, Israelis und Latein-Amerikaner. Im Rahmen der Szene, für die der erste Blick und die Atmosphäre entscheidend ist, fallen sie als exotisch auf und sind gerade deshalb Teil der Szene.

Aber ihr Stil erschöpft sich nicht in den weichen, verspielten Formen des Hippie-Stils. Viele neigen auch zu einer aggressiven, männlichen,

—————— 23 Die Bezeichnung »Beautiful People« unterstreicht auch noch einmal die kleinbürgerliche

Herkunft der Szene-Akteure. Denn schon Tom Wolfe betonte, dass es sich hier nicht um gut situierte Mittelschichts-Sprösslinge handelt, sondern um deviante Kleinbürger, für die das Streben nach »Schönheit« eine Alternative zum zwangsläufigen Streben nach sozialem Aufstieg darstellt. Vor Bourdieu identifizierte er die »Beautiful People« bereits als neue Kleinbürger: »it was… beautiful, it was a… whole feeling, and the straight world never understood it, this thing of one's Status sphere and how one was only nineteen, twenty, twenty-one, twenty-two or so and not starting out helpless at the bottom of the ladder (gemeint ist hier die Stufenleiter der Gesellschaft), at all, because the hell with the ladder itself – one was already up on a… level that the straight world was freaking baffled by! […] They were… well, Beautiful People! – not ›students‹, ›clerks‹, ›salesgirls‹, ›executive trainees‹ – Christ, don't give me your occupation-game labels! we are Beautiful People, ascendent from your robot junkyard« (Wolfe 1968: 143f.).

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kämpferischen, düsteren Kleidung. Hierin erinnern sie an den Stil des Punk, der die Hippiekultur ablöste und eher die proletarisch städtische Subkultur der Rocker sowie die Anarchisten beerbte. Die Übergänge zwi-schen weichem Hippie-Stil und proletarischen Punkstil sind dabei oft flie-ßend. Während einige Akteure betont im Hippie-Stil gekleidet sind, gibt es ebenso Akteure, die betont im Punk-Stil gekleidet sind. Diese sind beson-ders muskulös und sehen martialisch aus, sie können abrasierte oder halb rasierte Köpfe haben, stachelige Kurzhaar-Frisuren oder auch die Andeu-tung eines Punk-typischen Irokesenschnitts. Schwere schwarze Lederja-cken sind zu sehen, Nietengürtel, Stiefel und Hosen der Arbeiter oder der Armee, die sie auch zur täglichen Arbeit (viele jobben auf dem Bau oder im Messebau, vgl. Kapitel Wagenburgen – Proletarierromantik der Szene) benutzten, sie sind abgenutzt, haben Löcher und Farbflecken.24 Kapuzenpullis, wie man sie bei Straßenkämpfen über den Kopf zieht, werden oft getragen. Jene typischen Punks sind an Armen und Beinen tätowiert, haben Ringe im Ohr und manchmal auch in der Nase und Ketten um den Hals. Die spielerische, weniger kämpferische Variante besteht aus den ebenfalls Punk-typischen, knöchelhohen und bunten Stoffturnschuhen (die Marke »Converse« hat ikonographischen Status erlangt), abgerissenen Jeans, grell bunten, verwaschenen Pullis und T-Shirts sowie verstrubbelten, gelegentlich auch wasserstoffblond oder bunt gefärbten Haaren. Diese Variante bevorzugen meiner Beobachtung nach Akteure, die schmächtiger sind und müde Ringe unter den Augen hatten, die weniger auf Grund ihrer Männlichkeit auffallen als vielmehr ausdrucksvoll vorführen, wie sie das harte Leben in der Stadt krank macht. Die Frauen, die weniger dem Hippiestil und mehr dem Punk-Stil zugetan sind, sind entweder ebenfalls kämpferisch gekleidet, haben muskulöse Arme, kurz geschorene Haare, Muskelshirts, Arbeiterhosen und Stiefel, den Stil, den man gehässig als »Kampf-Lesbe« bezeichnet. Oder sie sind auf eine selbstbewusste Art weiblich gekleidet, sind geschminkt und tragen pechschwarzes oder wasserstoffblondes Haar, haben hochhackige, spitze Schuhe, kuriose Stiefel, Mini-Kleider oder Mini-Röcke und enge Tops, unter denen man teils den BH sieht – sie sind schön, allerdings auf eine provozierend erotische und ordinäre Art. Die Schmuddeligkeit und gezielte Nachlässig-keit der Kleidung sowie die Favorisierung von Second-Hand-Kleidung eint dabei den Punk- und den Hippie-Stil.

—————— 24 Bereits die Hippies hatten Armee-Kleidung und Lederjacken getragen, aber die Punks

haben das kämpferische Moment stärker herausgearbeitet.

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Auf T-Shirts, Flyern, Ansteck-Buttons, Armbändern, Hüten und Müt-zen sind außerdem entsprechend dem Punk-Stil in auffallender Häufigkeit Pistolen und Gewehre (die an die RAF erinnern), Totenköpfe (die an Pi-raten, die Hell’s Angels oder auch den FC St. Pauli erinnern) und Anar-chisten-Sterne zu sehen. Teilweise werden diese Insignien ironisch gebro-chen: Ein Akteur der Szene stellt kleine Totenköpfe als Häkelarbeit her, die er »Schädel-Erna« nennt und auf Jeans genäht werden können, Pistolen gibt es als samtene rote Anstecknadeln.

Mit der Mischung aus Punk- und Hippie-Stil ist der Stil aber noch nicht umfassend beschrieben. Im Stil artikulierte sich nicht nur ein Statement der Andersartigkeit, sondern auch eine Orientierung an der Mode, viele sind zeitgemäß gekleidet, neuesten Trends entsprechend, modisch, up-to-date, angesagt, »hip«. Ihr Stil demonstriert nicht nur Abweichung, sondern be-kundete auch, mit der Zeit und mit der Mode zu gehen, sich an neuen Trends zu orientieren und auf der Höhe der Zeit zu sein. Man will nicht nur ein Statement setzen, sondern auch gefallen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, Neues ausprobieren, schön sein. Jenseits ihrer devianten Grundhaltung sind die Akteure und Akteurinnen sichtbar Fähnchen im Modewind, kleiden sich diese Saison so und nächste Saison anders und haben Freude am Wechsel der Mode und an der Kurzlebigkeit der Stile. Zur Zeit der Feldforschung war beispielsweise die Country-Mode gerade in Mode, man trug Cowboystiefel, Cowboyhüte, Sonnenbrillen und die typi-schen Cowboyhemden, die durch ihre ornamentalen, teils paillettenbe-setzten Muster bestechen, wie man sie aus dem Fernsehen von Country-Sängern kennt. So beobachtete ich auf einer Party im »Schweizer Garten« zwei besonders auffällig gekleidete Zwillingsschwestern. Die Cowboymode war ein weltweiter Trend (auch Madonna kleidete sich in dieser Saison als Cowgirl), durch die »Dead County Cool Boys« erhielt er aber eine beson-dere Bedeutung: man positionierte sich durch den Cowboystil in die Nähe der Wagenburgen. Ob dies allerdings auch bei den beiden Schwestern der Fall war, die ich im »Schweizer Garten« sah, vermag ich nicht zu beurteilen:

Gegen drei Uhr morgens kreuzen die Zwillingsschwestern auf, die mir auf der Silvesterparty der ›Pyonen‹ bereits aufgefallen waren. Gianni, der ›Haus-DJ‹ der ›Pyonen‹, war mit ihnen Arm in Arm an der Bar entlang gegangen, hatte sich lässig an ihre Schultern gehängt, eine Schwester rechts, eine links. Sie staksen in knallro-ten beziehungsweise weißen, unterschiedlich gemusterten Cowboystiefeln durch den Raum, dazu Miniröckchen, von denen der eine mit einer dicken, strassbesetz-ten Gürtelschnalle in Form eines Schmetterlings hoch gehalten wird. Die eine trägt ein Cowboyhemd, das mit Strass besetzt ist, wie man es von amerikanischen

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Showmastern kennt, die andere eine weite weiße Bluse mit Spitzen, die am Dekol-leté mit einem Gummizug gerafft ist. Die Farben und die Glitzersteine versprühen einen Las Vegas-artigen Glamour, der jedoch dadurch gebrochen wird, dass die Kleider sichtlich aus der Klamottenkiste stammen und das Patina ihrer ca. 20jährigen Bestehenszeit tragen, wobei dieses Patina der Kleidung wiederum einen antiquarischen Wert verleiht. Über dem ganzen trägt die eine skurrilerweise einen alten Ski-Anorak aus den 70er Jahren, der mich an den Anorak erinnert, den ich selbst als Kind getragen habe. Gekrönt wird das Arrangement bei beiden durch Cowboyhüte, bei der einen eher ein Cowboyhütchen, aus dem die langen blonden, seitlich gestuften Haare quillen. (Feldtagebuchnotiz vom 6.12.01)

In diese Lust am Oberflächlichen fügt sich, dass aus der Szene auch lokale Berliner Modelabels hervorgegangen sind. Das Label »marsfront« gründete eine Frau aus dem »Spacebar«-Collective. Ihre futuristischen Kleider, die sie als Kleidung »für die urbane Kosmonautin« bezeichnet, sah ich öfters auf Partys von Akteurinnen der Szene getragen. Für eine Modenschau in einer alten Fabrik, bei der die Lichtdesigner der »Pyonen«, Future und Lenin, das Licht setzten, verzichtete sie auf professionelle Modells und schickte stattdessen ihre Freundinnen aus der Szene auf den Laufsteg – darunter auch Stella und Victoria. Auf ihrer Webseite kann man sich eine Dokumentation der Modenschau ansehen, auf der die Frauen selbstbe-wusst als »die schönsten Frauen Berlins« kommentiert werden. Sie traten auf in einer Mischung aus wilden Amazonen und erotischen James-Bond-Frauen, die am Ende der Show mit Plastikpistolen ins Publikum schossen.

Somit ist der Stil des Techno-Underground letztlich auf den Moment bezogen, der alles in Frage stellt, auch die Ausformung eines kohärenten Stils der Abweichung, der selbst wieder eine kulturelle Festlegung bedeuten würde. Durch die Praxis der Stilbildung wird auf der urbanen Bühne, die die Szene darstellt, sowohl eine Form der symbolischen Ordnung herge-stellt als auch diese durchbrochen. Als Ausdruck von Devianz zeigt der Stil der Szene-Akteure an, dass man hier an einem subkulturellen Projekt ar-beitet, das die Normen und Werte der Gesellschaft auf den Kopf stellt. Als Ausdruck der Affinität zur Mode zeigt der Stil der Szene-Akteure an, dass man sich jeglicher sozialen und kulturellen Zuschreibung, auch jener einer geschlossenen Subkultur entziehen möchte und ganz im Moment lebt.

6. Raumästhetik – Die zweite Stadt

Die Akteure des Berliner Techno-Underground schweifen im Stadtraum umher und erkunden durch ihre Feste die sinnlichen und atmosphärischen Qualitäten des Ortes. »Atmosphäre« meint den Zusammenhang zwischen Räumen, das heißt der »Qualität von Umgebungen« und der Befindlich-keiten der anwesenden Personen, die Einheit von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem. Gernot Böhme schreibt: »Wenn ich in einen Raum hineintrete, dann werde ich in irgendeiner Weise durch diesen Raum ge-stimmt. Seine Atmosphäre ist für mein Befinden entscheidend« (Böhme 1997: 15). Die Theorie der Atmosphäre, das heißt die Theorie der Wech-selwirkung zwischen Raum und Befindlichkeit basiert auf der Annahme, dass die Dinge, die den Raum bilden, keine abgeschlossenen Einheiten sind. Man kann sie sich als Musikinstrumente vorstellen, die ihre Umge-bung in Schwingung versetzen und in spezifischer Weise tönen. Durch Farbe, Gerüche, Klänge, etc. treten sie aus der Geschlossenheit ihrer Mate-rialität hervor und ergießen sich in die Umgebung: »Die Form des Dinges wirkt nach außen. Sie strahlt gewissermaßen in die Umgebung hinein, nimmt dem Raum um dem Ding seine Homogenität, erfüllt ihn mit Span-nung und Bewegungssuggestion« (ebd.: 33). Um diese Atmosphäre geht es der Berliner Szene bei ihrem Umherschweifen im Stadtraum. Die Kultur-wissenschaftlerin Sadie Plant sieht in diesem »postmodernen Spiel in den Ruinen einer vergangenen Industriewelt« (das allerdings nicht auf Indus-triebauten beschränkt ist), eine Nähe zum Happening und zur »Environ-ment«-Kunst (Plant 1997: 130), die die musealen Hallen der Kunst verlässt und Alltagsräume selbst zum Kunstraum erklärt (vgl. Richard und Kruger 1998: 163). Die atmosphärische Wahrnehmung der Umwelt steht in der Tradition der Hippiekultur.

Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die kulturelle Praxis des Umher-schweifens das postmoderne Prinzip der Erlebnisgesellschaft, des perma-

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nenten Wandels, wie es bereits Kracauer in seinem Aufsatz »Die Reise und der Tanz« beschrieben hat (siehe Kapitel 12), bestätigt und reproduziert. Diese Praxis ist nicht ortlos, sondern sie hat im Gegenteil sehr spezifische Orte, so dass man sagen kann, dass durch die Praxis des Umherschweifens die Ortlosigkeit einen konkret im Stadtraum lokalisierbaren Ort erhält. Ohne konkrete Räume, spezifischer: ohne die verfügbaren Leerstände, kann kein Moment entstehen. Es entsteht eine zweite Stadt.

Zuvor ist jedoch auf die Zeit der »Wende« einzugehen, weil die durch sie verfügbar gewordenen Leerstände einer maroden Stadtstruktur die Initialzündung der Raumerkundung des Techno-Underground darstellte und viele Akteure der Szene damals in Ostberlin Häuser besetzten, wobei sie eine neue Generation von Hausbesetzern darstellten, die das Räume erobern weniger politisch als kulturell deuteten. Über diese Zeit resümiert der Poptheoretiker Diedrich Diedrichsen:

»Nach der Freigabe der großen, unbeschrifteten Territorien des östlichen Berlin (schienen) die Steine und Balken, Gläser und Wände, aus denen die Architektur besteht, vollständig durcheinandergepurzelt zu sein, und alles Feste war plötzlich weder niet- noch nagelfest. Man hätte glauben können, dass all die abgerissenen Häuser und die verfallenen Häuser und die vielen Baustellen eine neue Stadt erge-ben würden.« (Diederichsen 1999: 28)

Der Wilde Osten

Berlin war ein zerklüftetes Territorium, an dem die Narben der Geschichte deutlich erkennbar waren. Die Stadt musste zwei Weltkriege und fünf Regime über sich ergehen lassen. Das Deutsche Reich, die Weimarer Re-publik, der Nationalsozialismus, die BRD und die DDR versuchten jeweils, durch Abriss und Aufbau der Stadt ihren Stempel aufzudrücken. Das Wechselspiel aus Größenwahn und Zerstörungswut schuf eine »Stadt ohne Form« (Oswalt 2000) mit Lücken, Brüchen und Ungleichzeitigkeiten, die besonders auf dem maroden Territorium der DDR noch überall sichtbar waren. Der damalige Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer schreibt in einem von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte 1993 herausgegebenen Sammelband über die Berliner Stadtkultur:

»Die City Kernstadt Ost wie auch die ehemaligen Zwischenzonen zur Weststadt bestehen aus Gebieten, und Bruchstücken, die, z.T. aus früheren Zeiten über-

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kommen, nach Zielen einer abgelösten Gesellschaftsordnung entstanden oder als Stadtbrachen belassen sind. Soweit eine sozialräumliche wie auch städtebauliche Ordnung gegeben ist, befinden sich diese im Umbruch, unterliegen einem sprung-haften Veränderungsdruck, was die betroffenen Besucher wegen der für sie nicht übersehbaren Perspektive beunruhigt. Insbesondere in den Gebieten, die vom sozialistischen Städtebau geprägt sind, sind die Wunden, die Brüche in der konti-nuierlichen Städtebaugeschichte so vehement, dass erst noch ein Umgang damit auf dem Weg der Entwicklung Berlins gefunden werden muss.« (Fischer 1993: 38)

Diese historischen Narben bestimmen das »Imago Berlin« als die Anwe-senheit des Abwesenden, wie der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann es im Rahmen einer Vortragsreihe am Wissenschaftszentrum Berlin 2005 formulierte.25 Sie führen zu einer Orientierungslosigkeit der Stadt, die die Stadtplaner und Politiker einerseits auf eine nervöse Suche nach ordnungs-stiftenden Symbolen schickt – nach Häußermann braucht »eine politische Gemeinschaft eine ungeteilte Identität« (ebd.) – die jedoch der neu entste-henden Subkultur andererseits einen imaginären wie realen Freiraum ge-währte, der zu Träumereien nicht nur inspirierte, sondern diesen auch räumlich möglich machte.

Der hohe Gebäudeleerstand in den Berliner Innenstadtbezirken war zu DDR-Zeiten durch die sozialistische Bauideologie entstanden, die Altbau-gebiete als »Überbleibsel früherer Klassengesellschaften« betrachtete, wie der Publizist Wolfgang Kil in dem 1992 publizierten Sammelband über die Berliner Städtebauentwicklung »Die Stadt als Gabentisch« schrieb (Kil 1992: 512), und wenig dagegen unternahm, die Substanz zu pflegen bezie-hungsweise in Stand zu setzen. Die Gebäude, so Kil, galten im Prenzlauer Berg zu DDR-Zeiten »generell als minderwertig und nur in Ausnahmefäl-len erhaltenswert« (ebd.). Neben ideologischen Gründen schien es schlichtweg kostengünstiger, Neubausiedlungen am Stadtrand zu errichten. »Die Folge war eine mit den Jahren immer deutlicher werdende Wohn-wertverschlechterung. Unter undichten Dächern wurden ganze Oberge-schosse leergezogen. Straßenweise verödeten die Ladenzonen wegen Ge-schäftsaufgaben« (ebd.: 513). Allein in Berlin Mitte gab es 1994 ca. 2200 leer stehende Wohnungen, »zumeist in einem katastrophalen Zustand«, wie Klaus Bädecker von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte 1993 schreibt (Bädecker 1993: 50). Was die Sanierungsprozesse zusätzlich verlangsamte war die komplizierte Rückübertragung der vielen Gebäude, die jüdisches Eigentum waren und einst von den Nationalsozialisten enteignet worden

—————— 25 Post Conflict City Spaces, Tagung am Wissenschaftszentrum Berlin im Sommer 2005.

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waren. Im Sozialismus wurden die Gebäude zwangsverwaltet. Als man dies 1993 aufhob, musste allein in Berlin Mitte bei 468 Häusern die Eigentümer gefunden werden. Bei fast 2/3 der Häuser wurden die Eigentümer zu-nächst nicht gefunden, sodass sie notverwaltet wurden.

Schon zu DDR-Zeiten wurde dieses »Ausnahmegebiet« (Kil 1992: 512) zum »Künstler-, Chaoten- und Kreativen-Viertel Ostberlins« (ebd.: 510). Auch für die jungen Westdeutschen, die nach der Wende nach Berlin ka-men, stellte diese verfallende Bausubstanz eine romantische Kulisse dar, wie Johnny von den »Pyonen« erzählt:

»Ja, es war wunderbar… Weißt du, schwierig zu beschreiben… Ich komm aus’m Westen. Und Ostberlin war neues Land. Und es war ein anderes Land. Wildheit, und durch die Wildheit ’ne totale Schönheit. Und es war alles kaputt und total viel am neu entstehen. Es waren Sachen, die ich so nicht kannte. Es gab Freiräume von denen ich dachte, dass es sie in Deutschland nicht gibt. Und es war’n neues Land und ne neue Erfahrung.« (Interview mit Johnny vom 20.9.03)

Die halb oder völlig leerstehenden Häuser und Wohnungen wurden ein-zeln oder in Gruppen besetzt. Es bestand eine derartige räumliche Über-fülle, dass in alternativen Kreisen in Münster Listen auslagen, in die man sich eintragen konnte, wollte man ein Haus besetzen, wie mir Uwe von der »Laster & Hänger Wagenburg« erzählte. Innerhalb von sechs Monaten wurden 1990 in den Ost-Berliner Stadtteilen Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain 140 Mietshäuser und unzählige Wohnungen besetzt, wie Henkel und Wolff 1996 in einem populärwissenschaftlichen Buch über den Berlin Underground schreiben (Henkel/Wolff 1996: 62).

Hier entwickelte sich nicht nur ein Labor für alternative Lebensstile, sondern mit und durch den Techno-Underground (der allerdings nicht die einzige subkulturelle Szene darstellte) auch eine Kleinst-Unternehmer-Kultur, die es quasi jedem und jeder ermöglichte, am alternativen Kultur-service teil zu haben. »Eine neue Stadteilkultur entwickelt sich hier und schafft sich ihre eigene Infrastruktur. Bars, Clubs, Partyorte und Kunstga-lerien ohne Konzession schießen wie Pilze aus dem Boden und verschwin-den wieder, um an anderer Stelle erneut aufzutauchen« (Henkel/Wolff 1996: 62). Henkel und Wolff nennen sie daher »Einweg-Clubs« (ebd.: 81).

Johnny erzählt von der Fülle alternativer Angebote, die einen allabend-lich an andere Orte in Ostberlin führten: Es gab…

»… sehr sehr viele klitzekleine Läden, in irgend einem besetzten Haus. Und dann hieß es ›Hier ist eine Donnerstagsbar‹, ›Hier ist eine Freitagsbar‹, ›Hier ist eine Montagsbar‹. Und so zog man dann Tag für Tag von A nach B. […] Fast jedes

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Haus, besetzt oder nicht besetzt, hatte damals eine Kneipe im Hinterhof oder im Vorderhaus oder im dritten Stock, im Keller oder… also überall gab es auf einmal Bars. Aus irgendwelchen Gründen, jeden Tag eine andere, manche jeden Tag offen, manche nur einmal in der Woche.« (Interview mit Johnny vom 15.3.2001, geführt von Sabine Vogt)

Durch das administrative Chaos der Nachwendezeit war es meist relativ problemlos, diese Räume zu nutzen. Herrschte deutschlandweit Unsicher-heit, wie die neue Situation zu gestalten sei, so begann der Techno-Under-ground, in den Freiräumen zu experimentieren. Bevor Ostberlin der west-lichen Verwaltungsstruktur angepasst wurde, herrschten eine Zeit lang Zustände »wie im Wilden Westen«, wie es Uwe bezeichnete (Feldfor-schungstagebuch vom 11.7.2004). Ging ein westdeutscher Beamter nach Ostdeutschland, so bekam er eine »Buschzulage«, wie es unter Beamten inoffiziell genannt wurde, um für den Mehraufwand angesichts einer chao-tischen Infrastruktur entschädigt zu werden. In den ehemals ostdeutschen Amtsstuben fehlte es an materiellen, personellen und kulturellen Kapazi-täten, die leerstehenden Gebäude und Brachen zu verwalten. »Die ehema-ligen DDR-Polizei- und Verwaltungskräfte scheinen 1990/91 völlig paraly-siert und handlungsunfähig. Ihnen ist ihr autoritäres Selbstverständnis verloren gegangen. Alles scheint erlaubt und möglich im Osten« (Hen-kel/Wolff 1996: 62). Zudem waren Eigentumsverhältnisse und somit auch Zuständigkeiten oft ungeklärt, sodass die Besetzer sich ungestört die Räume aneignen konnten. Die administrative Kontrolle über diese Räume konnte nur sehr langsam hergestellt werden. Gesetzliche und organisatori-sche Grundlagen mussten erst geschaffen werden, um nach westdeut-schem Recht zu verwalten. Die Bürokratie musste umstrukturiert, Personal qualifiziert und umgeschult werden. Aufgrund der Umstrukturierungen waren Zuständigkeiten einzelner Beamte ungeklärt, sodass nach Katharina Peters ethnografischer Analyse einer Verwaltungsbehörde eine Situation wie bei »Warten auf Godot« bestand (Peters 1997). Wie Peters schreibt, hätte es den ostdeutschen Beamten nicht nur an Wissen, sondern oft auch an Selbständigkeit und Spontaneität gemangelt. Bestand beispielsweise ein Kaufinteresse an einem bestimmten Grundstück, so tat man wenig, um die Klärung der Verhältnisse voran zu treiben und verwies schulterzuckend auf die »gelähmten Mühlen« der Bürokratie (ebd.: 208). Für die Besetzer bedeutete dies, dass sie so lange wohnen bleiben konnten, bis die Situation geklärt war. Wenn man davon ausgehen kann, dass die meisten Besitzver-hältnisse bis Mitte der 1990er Jahre geklärt werden konnten, so ist dieser

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Prozess in Einzelfällen bis heute noch nicht abgeschlossen. Der Bar-Raum »Waffengalerie« in einer alten Autowerkstatt in Berlin Mitte existiert seit seiner illegalen Inbesitznahme immer noch und wurde nur ein einziges Mal von der Polizei besucht, und nur mit der Bitte, die Musik etwas leiser zu stellen.

Einen Eindruck von der Fülle entdeckter und genutzter Räume gibt die Webseite »Verblichene Locations«, die 1999 angelegt wurde um das Wissen um die Orte archivarisch zu konservieren (www.diskokugel.de, siehe Ta-belle 1). Hierin äußert sich sowohl eine Form der Trauerarbeit angesichts der heute schwindenden Freiräume durch Gentrifizierungsprozesse seit der Wende (die der Techno-Underground allerdings selbst unwillentlich durch seine Pionier-Funktion mit voran getrieben hat; vgl. Smith 1993), anderer-seits wird hier aber auch das Transitorische, Vergängliche der Räume ze-lebriert. Die Liste, die durch ihren Charakter des Geheimwissens auch ein Distinktionsmoment des Techno-Underground verdeutlicht, ist »nicht den großen stadtbekannten Clubs und Bars« gewidmet, »sondern den kleinen mit viel Liebe und Mut gemachten Mittwochsbars, Samstagsclubs und vielen, vielen anderen locations, die es in Berlin gab und immer noch gibt und die das Nachtleben hier in Berlin so interessant machen wie in keiner anderen Stadt« (ebd.). Aus der Liste gehen die Eckdaten einer typischen location hervor: Die Lokalisierung im Stadtraum durch Nennung des Stra-ßennamens und der Hausnummer sowie die Erwähnung der ursprüngli-chen Bestimmung vor der Umfunktionierung. Zu einigen locations hat der Verfasser außerdem persönliche Erinnerungen vermerkt und somit auch zur Legendenbildung der eigenen Szene beigetragen. Von der location »Grüne Hölle« in der Neuen Grünstraße:

»Zweckentfremdete Tiefgarage in der Nähe des Spittelmarktes. Am Eingang musste man durch einen Metalldetektor und wurde am ganzen Körper abgescannt. Aber das war nur Show und sollte gegen Rasterfahn-dung und Sicherheitswahn demonstrieren. Mit einem grünen Laser schrie-ben sie die nächsten Demo-Termine an die Wand, z. B. gegen den Groß-flughafen Schönefeld.« Und von einer namenlosen location, an deren genaue Lokalisierung sich der Autor nicht mehr erinnert, bei der »man durch einen Kanaldeckel einsteigen und dann einige Meter durch ein dickes Kanalrohr auf allen Vieren zurück legen musste. Getanzt wurde dann in einem Kohlenbunker. Die Sichtweite betrug 3 Zentimeter, weil die Nebel-maschine die Luft absolut undurchsichtig machte.

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Tabelle 1: Verblichene locations (Quelle: www.discokugel.de)

Zwischen den Zähnen knirschte dicker Kohlenstaub und in den Ohren dröhnte harter Techno. Ich habe leider vergessen, wie das Ding hieß, aber es war in der Nähe der Schönhauser Allee.«

Name Straße Bemerkungen Dienstagsbar Libauer Str. 6 Ehemaliges Fußpflegestudio Death Metal Man rückte die Badewanne zur Seite

gerückt hat, wenn der Club offen war Imbiss Beamer-Loung

Frankfurter Allee 2 Ehemalige Fleischerei HO Gaststätte

Kohlenquelle Kopenhagener Str. 16

Vorderhaus UG (ehemaliger VoPo Posten, Fledermäuse)

Kommandantur Rykestr./Knaackstr. Das war ca. 1991/92 der erste Laden dort in der Ecke, es gab fast nichts außer Becks in Flaschen, aber im Sommer lungerten immer ca. 100 Leute glücklich auf den Mauern vor dem Turm herum

Kunst und Technik

Monbijoustr. 2–3 Ehemaliger Bauhof, am Spreeufer, hatte nur an allen durch 6 teilbaren Ta-gen geöffnet

Loop Schlegelstr. 26/17 Ehem. Kondensatorenfabrik Maria Straße der Pariser

Kommune 8–10 Ehem. Paketzentrum Ost

Praxis Dr. Mc-Coy

Köpenicker Str. Ehem. Nähmaschinenfabrik

Schneewittchen Eine Baulücke. Unter dem ehemaligen Hof: 400 qm Gewölbekeller. Die Zu-gänge verwinkelt, ein Labyrint an Räu-men und Treppen

Snipers Rosenthaler Str. 1. Hof Quergebäude (ehemaliger RFT Straßfurt Reparaturdienst)

St. Kilda’s Trips Drill

Bernauer Str. / Schwedter Str.

Ehem. Kartoffel- und Rübenhandlung

Stellwerk FFL Danneckerstr. 1 Ehem. Güterverkehr-Stellwerk Temple/Grüne Hölle

Neue Grünstr. Zweckentfremdete Tiefgarage in der Nähe des Spittelmarktes.

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Raumästhetik

Die »Pyonen« sind das angesehenste Party-Collective des Techno-Under-ground. Ihr Erfolg besteht darin, als Hausbesetzer ihre Erfahrungen und »Kompetenzen« auf den Bereich der Zerstreuung anzuwenden. Die »Pyo-nen« nennen ihre Praxis »Raumästhetik« und die Eroberung von Räumen ihr »Hobby«, was angesichts ihrer Hausbesetzervergangenheit eine gewisse Komik hat (Interview mit Johnny vom 16.10.02). In dem Auffinden neuer locations, so Malcolm, schwingt noch das Abenteuer der Hausbesetzungen mit. Er sagt,…

»… dass wir einfach geil drauf sind, Räume zu erobern. Das stimmt schon so. Wenn ich in irgend so’ne alte Fabrik reingehe oder auf’n Grundstück habe ich immer noch dieses Gefühl im Bauch: ›Ja, geil, was kommt da jetzt? Was entdecke ich und was sind das für Räume?‹ So’n kleiner Forscherdrang steckt da schon dahinter. Also wenn ich uns dann sehe, wenn wir ’ne neue location entdeckt haben, zwei Stunden jede Tür aufgemacht, jeden Gang entlang gegangen: ›Und hier, komm mal her. Ich hab hier noch ne kleine Tür gefunden, da geht’s noch weiter nach unten.‹ Klar, so’n Kind… also es hat was von so’nem kindlichen Forscher-drang.« (Interview mit Malcolm vom 22.2.06)

Den E-Mails der »Pyonen« war zuweilen der Stolz anzumerken, eine neue location ausfindig gemacht zu haben. Sie inszenierten sich als Pioniere. In einer E-Mail hieß es: »Und damit auch Ihr beim location-Suchen mal wieder neue Wege gehen könnt, haben wir uns einen alten Ballsaal mit Rundhe-rumgalerie in unserem neuen Lieblingskiez Kreuzberg« ausgesucht (Rund-mail vom 29.10.04). Über eine aufgetane location im ehemaligen »Milchhof« in der Anklamer Straße schrieben sie, »freuen wir uns ziemlich den Arsch ab, dass es noch vor Schließung des Milchhofs im Oktober zu einer »Pyonen«-Party dort kommen wird« (Rundmail vom 30.5.03). Und als sie die Lagerhallen des ehemaligen Görlitzer Bahnhofs in Kreuzberg bespiel-ten erwähnten sie stolz, die ersten zu sein, die hier eine Party veranstalten:

Liebe Freunde der Elektronischen Livedarbietungen, Es ist soweit! Der Frühling ist da und die Halbleiterartisten stehen vor der Tür. Und zwar am 22.04.2005 in einer neuen location im Herzen von Kreuzberg 36. Wir haben die besondere Ehre, als erste, einen Teil der ehemaligen Lagerhallen des Görlitzer Bahnhofs mitten im Görlitzer Park, um genauer zu sein, die Häuser Skalitzer Ecke Görlitzer Strasse – neben dem Pamukale Brunnen und hinter dem Spreewaldbad, zu bespie-len. Das sind diese Häuser, wo sich jeder von uns schonmal gefragt hat warum dort eigentlich keine Partys stattfinden. Aber nun ja, die Zeit des Wartens ist vor-bei! In Zukunft werden die Gebäude den Namen ›Station Park‹ tragen und die

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Anschrift wird Görlitzer Straße 1-2 sein. Schenkt euch bitte das Nachgucken bei Stadtplandienst, denn die Anschrift wurde neu geschaffen und wird dementspre-chend nicht korrekt angezeigt. […] Entspannte Tage bis zum 22.04 Pyonen« (Rundmail vom 8.4.2005)

Auf die Frage, wie sie ihre locations finden, sagt Malcolm, sie würden ei-nerseits Tipps von anderen in der Stadt umherschweifenden Szene-Akteu-ren erhalten, »die selber unterwegs sind, die uns nett finden und die uns informieren«, andererseits würden sie selbst intensiv »Location-Scouting«, wie Malcolm es nennt, betreiben:

»Man fährt rum, klingelt, ruft Leute an. Das ist Türklinken putzen. Man fährt durch die Gegend und guckt sich… Also wir machen’s halt so, wir fahr’n rum, inzwischen kennen wir die Stadt ganz gut, gucken uns die location an, meist von außen, gucken uns das Umfeld an: Sind Wohnhäuser in der Nähe oder nicht. Das ist ganz wichtig. Wegen Lärmbelästigung und so weiter. Und wenn wir dann den-ken, das könnte ’ne coole location sein, dann versuchen wir herauszufinden, wem die gehört, wer die vermietet. Entweder wir klingeln oder wir rufen an, manchmal lassen wir auch Recherche-Aufträge am Kataster-Amt laufen. Da kriegst du raus, wer Eigentümer ist. Und dann gehst du an die ’ran. Stellst ’ne offizielle Anfrage, kostet ’ne Gebühr, wie alles, und dann kriegst du so’n Zettel hier, das sieht dann so aus (zeigt mir einen), das is’n Kataster-Auszug… location-Scouting ist schon richtige Arbeit. Das geht nicht so einfach.« (Interview mit Malcolm vom 22.2.06)

Die »Pyonen« scheuen sich, ihre Arbeit als künstlerisch zu bezeichnen, weil das Wort für sie elitär konnotiert ist, aber ihr gestalterischer Anspruch ist damit wohl am ehesten bezeichnet (»Naja, halt auch vielleicht auch so’n bisschen so’n künstlerischer Anspruch, ich weiß nicht genau, wie ich das nennen soll«, Interview mit Johnny vom 20.9.03). Der Musikwissenschaft-lerin Sabine Vogt26 erklärte er:

»Wir sagen, dass wir Raumästhetik machen. Wir machen uns Gedanken zu dem Raum, wo wir sind, ob es ein Open-Air-Raum ist, ob es ein Kellerloch ist, wir setzen uns damit auseinander. Wir arbeiten viel mit Licht. Wir versuchen eigentlich grundsätzlich, auf Deko komplett zu verzichten, weil: Warum soll man was zuhän-gen. Das ist ja Blödsinn. Und versuchen halt, auch verschiedene andere Elemente immer wieder reinzubringen in die Partys.« (Interview mit Johnny vom 15.3.2001, geführt von Sabine Vogt)

—————— 26 Sabine Vogt führte mit Johnny ein Interview für ihre Dissertation über Musik-

sozialisationen in der offiziellen Berliner Clubkultur (Vogt 2005). Auch hierin zeigt sich die Undergroundprominenz des Collectives. Sie sind diejenige Gruppe, die auch in der etablierten Clubkultur wahrgenommen werden. Sabine Vogt stellte mir freundli-cherweise die Transkription des Interviews zur Verfügung.

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Typisch ist ein flächiges aber nicht zu grelles Neonlicht, das die gesamte Gebäudestruktur durchdringt und die Gebäude in ein kühles blau, pink oder grün taucht. Dazu werden Neonröhren an markante Stellen gesetzt, um gerade laufende Linien des Gebäudes zu betonen, zum Beispiel den Eingangsbereich, hohe Fenster oder Treppenaufgänge. Die Benutzung von Neonlicht rührt von ihrer Punk-Vergangenheit her – Punk war von der Künstlichkeit von Neonlicht fasziniert – und es scheint fast so, als wolle man durch das Licht die Gebäude nicht nur ästhetisch überhöhen, sondern auch symbolisch zerstören. Das grelle Neonlicht eignet sich besonders für so monumentale Gebäuden wie dem wilhelminischen Palais Dernburg an »Unter den Linden« oder der Staatsbank an der Französischen Straße, ebenso wie für die typischen stalinistischen Gebäude Ostberlins, um die pompöse Architektur einerseits zu unterstützen, ihr andererseits durch die Kraft von Licht und Farbe entgegen zu wirken. Bei alten Fabrikgebäuden hingegen, bei Handwerkshöfen und Kellergewölben, die verfallener und von der Natur teilweise schon zurück erobert wurden, widmet man sich besonders gerne dunklen Ecken und Winkeln, in die geheimnisvolle Mus-ter und Figuren projiziert werden, sodass das Gebäude wie von einer Feenwelt belebt zu sein scheint. Architektonische Besonderheiten der einzelnen Gebäude, werden besonders hervorgehoben. Die Kuppel des Kongresszentrums am Alexanderplatz beispielsweise wurde mit einer gro-ßen Discokugel in ein Sternenfirmament verwandelt. Die Brandmauer eines Berliner Mietshauses wurde großflächig mit einer Lichtspirale be-strahlt. In freier Natur werden Wald und Bäume mit großen Musterungen angestrahlt, mit Lichtkreisen oder weißem Rasterlicht, die sich auf dem windbewegten Laub effektvoll brechen. Die Bäume erscheinen dann wie verwachsene Labyrinthe, die aus der Vogelperspektive betrachtet werden.

Zur Perfektion ihrer Lichtinszenierungen haben die »Pyonen« eine Technik entwickelt oder zumindest weiterentwickelt, die bis jetzt noch verhältnismäßig selten anzutreffen ist: die Bewegung von ansonsten stati-schen Projektionsbildern. Hierzu werden in langwieriger Tüftelarbeit ei-gene Diaprojektoren gebastelt, die sich entweder selbst drehen oder deren Projektionslinse sich bewegt. Auf diese Weise wandern komplexe Licht-muster, Gestalten und auch Fotoabbildungen durch den Raum oder dre-hen sich um die eigene Achse und geben den Gebäuden eine surreale An-mutung. »Realitätsfluchthilfen« nennen die »Pyonen« die Lichtwelten, die sie auf diese Weise entstehen lassen (www.pyonen.de).

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Das geheimnisvolle Licht der »Pyonen«, die seltsamen Licht-Muster und Neon-Röhren und die teils anarchistischen, teils auch ironischen Dia-Projektionen gestalten maßgeblich die Atmosphäre der »Pyonen«-Räume. Auch wenn die locations wechseln, bleibt der Stil der Lichtsetzung gleich. In der Szene wird dieser Stil schlicht »Pyonen-Licht« genannt. Die Lichtde-signer der »Pyonen« sind Future und Lenin, die sich den Namen »Pen-taklon« geben. Lenin, der in Kreuzberg aufwuchs (und dessen Vater Pro-fessor an der Universität der Künste ist), erzählte mir einmal, dass er sich als Kind immer auf dem romantisch verfallenen Gelände des Anhalter Bahnhofs aufhielt und ihn als »Abenteuerspielplatz« benutzte. »Pentaklon« ist inzwischen über Berlin hinaus bekannt und sie beleuchteten u.a. auch das Technikmuseum in Dresden zu seiner Neueröffnung. Durch die Aus-einandersetzung mit Räumen – einem ewigen »work in progress« (Inter-view mit Johnny vom 20.9.03) – erhalten die Partys ihre Besonderheit und werden, wie Johnny sich beeilt zu versichern, zu mehr als dem gewöhnli-chen Unterhaltungsprogramm, das eine Stadt sonst zu bieten hat.

Auf der Webseite der »Pyonen« wird die ästhetische Auseinanderset-zung mit Räumen noch einmal visuell eindrücklich dargestellt. Schon das Design der Website ist künstlerisch sehr anspruchsvoll: geheimnisvolle, mittelalterlich anmutende Tabellen und Pentagramme auf apokalyptisch grauem Hintergrund, seltsam alchimistische Formeln, eine verrätselte, technizistische Sprache und das groteske »Pyonen«-Logo, zwei tanzende Hirschmänner, das sich auf allen Seiten wiederholt. Das Kernstück der Webseite ist eine Bildergalerie, auf der die Fotos der »Pyonen«-Partys zu sehen sind (siehe Abbildung 3 im farbigen Bildteil). Der Gegenstand der Fotografien sind die Räume und ihr Lichtdesign, die der Festgesellschaft einen ästhetischen Rahmen geben. Der Menüpunkt, unter dem die Bilder-galerie zu sehen ist, wird »Ästhetische Modifikationen« genannt, was an das situationistische »détournement« (Umfunktionieren) erinnert. Mehrere Pyonen-locations sind hier zu sehen, durch die sich eine Art »Dritter Raum« (so auch der Name eines DJ-Teams der Pyonen) der Stadt öffnet.

Außerdem kann man sich auf der Webseite einen kurzen Videoclip ei-ner Party im Palais Dernburg Unter den Linden ansehen. Der Videofilm tastet die location förmlich mit seiner Linse ab. Es sind flüchtige, zwielich-tige Impressionen, deren einzelne Motive man erst nach zwei dreimal An-sehen identifizieren kann.

Die »Pyonen« reden vom »Spirit« einer Party und beziehen diesen auf die Atmosphäre des Raums. Bezeichnenderweise verstehen sie »Spirit«

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nicht nur als Qualität des menschlichen Miteinanders, sondern auch als eine Denkleistung, eine geistig wache Aufmerksamkeit gegenüber dem Raum und dem Partygeschehen insgesamt. Hierin wollen sie einer passiven Konsumhaltung entgegen wirken, wie sie sich auf Partys ihrer Größenord-nung einstellen kann. Sie teilen die Ansicht mit der gesamten Szene, dass Partys nicht nur eine Angelegenheit des Körpers, sondern auch des Geistes sind. Hierin widersprechen sie Klischees von Technopartys, die diese als körperzentrierte kulturelle Praxis beschreiben, wie zum Beispiel Gabriele Klein: »Ausgehend vom Körper wird Welt konstruiert« (Klein 1999: 270). Im Gegensatz dazu bedeutet Feiern auch eine intelligente Auseinanderset-zung mit der Umwelt.

Mehr denn auf den intimeren Szene-Partys wie auf der in der Einlei-tung beschriebenen ehemaligen Amerikanischen Abhörstation, droht bei großen Partys jedoch der »Spirit« in einer anonymen Masse verloren zu gehen und der Raum wirkt hier als Medium, das diesen Nivellierungsten-denzen entgegen wirkt:

»Es geht, glaube ich, dann eher darum ... zwischendurch mal aufzuzeigen, dass man auch aus seiner kleinen eigenen Gedankenwelt ausbrechen muss. Von Zeit zu Zeit. […] Ich will denkendes Publikum. Ich will Leute haben, die irgendwie sich auch damit auseinandersetzen. Und die ... die sollen ja feiern. Das ist ja auch Sinn und Zweck der ganzen Übung. Sie sollen sich ja auch amüsieren. Sie sollen Spaß haben. Sie sollen glücklich sein da. Aber sie sollen nicht einfach nur kommen und sagen: ›Ich erwarte jetzt, dass ihr uns glücklich macht. Ich erwarte jetzt, hier ir-gendwie berieselt zu werden.‹ Und fertig ist der Salat. Und ich glaube, das ist sicher ein wichtiger Grund, warum wir das mit den Räumen machen.« (Interview mit Johnny vom 20.9.03)

Das Ideal, das die »Pyonen« mit ihrer »Raumästhetik« verfolgen, ist aller-dings nach 15 Jahren Veranstaltertätigkeit nicht mehr nur ein selbstloser Beitrag zum »Spirit« der Berliner Szene, es ist inzwischen auch ein Stück weit zur Pflicht geworden. Die Erkundung immer neuer Räume ist zu einem Image der »Pyonen« geworden – Image im werbestrategischen Sinne, denn die »Pyonen« finanzieren inzwischen ihre Existenz mit der Veranstaltung von Partys – dem die »Pyonen« inzwischen auch hinterher jagen müssen.

»Und das Publikum mit dem wir arbeiten, glaub ich einfach mal, hat halt von uns immer wieder was Neues erwartet. Es gibt Veranstalter in dieser Stadt, nicht da-mals aber heute, die dürfen 20 mal in der selben location ’ne Party machen. Aber von uns wurde halt immer wieder erwartet, dass was Neues kommt. Und da sind

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wir auch ’n bisschen selbst dran Schuld, weil wir ham’s ja gemacht. Aber, naja, es ist halt so.« (ebd.)

Sie reden hier von »Publikum, mit dem sie arbeiten« und meinen damit die Akteure des Techno-Underground, die ihre Partys immer noch besuchen. Andere, ursprünglich subkulturelle Akteure sind entweder gescheitert oder haben durch ihren kommerziellen Erfolg ihren »Spirit« verloren, weil sie aufhörten, der Szene immer etwas Neues zu bieten oder, um in der Spra-che der Szene zu sprechen, die Szene immer neu zu »beschenken«. Indem die »Pyonen« hingegen die Erwartungen, die sie in ihren anarchistischen Besetzerzeiten schürten, weiterhin erfüllen und immer in Bewegung bleiben, behalten sie für die Berliner Szene ihr symbolisches Kapital und ihre Glaubwürdigkeit.

Ähnlich äußert sich auch Malcolm, wobei deutlich wird, dass das Räume wechseln auch eine Form des Kapitals darstellt, ein Alleinstel-lungsmerkmal gegenüber etablierten Clubs, die diese wechselnden Atmo-sphären und das Abenteuer, das sich mit ihnen verbindet, nicht zu bieten haben:

»Man will auch was Neues haben, womit man spielen kann. Immer wieder das selbe zu machen, irgendwann haste ’nen Raum fertig ausgeleuchtet und dann hast du ihn auch fertig gefeiert. Das ist halt ein großer Anreizpunkt. Auch was Neues zu haben. Was zu finden, was Neues zu machen. Weil sonst wird das so’ne Rou-tine, die nicht gut ist meiner Meinung nach. Und das andere ist natürlich auch der Druck von außen. Durch die Gäste, durch’s Publikum… Wir waren drei Jahre in der Heeresbäckerei und ich hab schon aus allen Ecken und Enden gehört: ›Öh, Heeresbäckerei, ich kann’s nicht mehr sehen, ich hab kein Bock mehr.‹ Die Leute wollen auch was Neues sehen.« (Interview mit Malcolm vom 22.2.06)

Innerhalb der Szene gibt es auch eine Musikrichtung, die explizit auf die Bespielung der Räume ausgerichtet ist: Ambient. »Ambient«-Musik – es wird englisch ausgesprochen – eignet sich weniger zum Tanzen als zum stillen Zuhören oder für verhaltene Gespräche. Die Musik wird in der Musiktheorie als Fortführung der »environmental music« von Komponis-ten wie John Cage und Karlheinz Stockhausen definiert, es ist jedoch auch von »Muzak« inspiriert, jenes Musikgenres, das in Kaufhäusern verhalten im Hintergrund »dudelt«, um Käufer in eine positive Grundstimmung zu versetzen. Wie die atmosphärische, raumbezogene Bezeichnung »Ambient« es bereits nahe legt, ist Ambient keine Melodie, die den Raum beherrscht, sondern ein Klangteppich oder Hintergrundrauschen, das hinter die Atmo-sphäre der Räume zurück tritt, diese rahmt und ihre ästhetischen Qualitä-

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ten hervorhebt. Seine Funktion ist »to highlight acoustic and atmospheric idiosyncracies«, wie der britische Pop-Journalist und Ambient-Musiker David Toop in seinem viel beachteten Buch über Ambient schreibt (Ocean of Sounds. Aether Talk, Ambient Sound and Imaginary Worlds). Und weiter: »This music does not create a song for our ears. It is a ›state‹, such as moonlight poured over the fields«. Der Begründer der Ambient-Musik, Brian Eno definiert Ambient als Tönung der Umwelt: »an ambience is defined as an atmosphere or a surrounding influence: a tint« (Toop 1996: 9).

Das »Goldmund«-Collective ist in der Szene das bekannteste Ambient-Collective. Es ist aus einer Abspaltung von den »Pyonen« und der Koope-ration mit zugezogenen Rostocker Künstlern entstanden. Kirk, einer der Initiatoren, stammt wie die »Pyonen« aus Hamburg und war dort in Häu-serkämpfe involviert. In Berlin gehörte er mehrere Jahre dem »Pyonen«-Collective an, bevor er zwei Rostocker kennen lernte und mit ihnen das »Goldmund«-Collective gründete. Die Rostocker, Bond und Samtbody, organisierten zuvor in Rostock Partys und Konzerte in der »Stubnitz«, einem alten Schiff im Hafen von Rostock, das als alternatives Kulturzent-rum genutzt wurde. In Berlin arbeitet Bond als Webdesigner, Samtbody ist angehender Sänger und Musikproduzent (Samtbody konnte mir nicht erklären, warum sie sich den Namen eines Romanhelden von Hesse gaben, aber es ist sicher kein Zufall, dass Samtbody strohblond ist und so aussieht, wie man sich auch den Romanhelden vorstellt).

Ihre »Goldmund-Lounge«, wie sie sie nennen, besteht aus einem Wohnzimmermobiliar, das sie an wechselnden locations aufstellen und die Räume auf ironische Weise in eine Wohnzimmer-Kulisse verwandeln. Das Mobiliar besteht aus mehreren sehr bequemen Sofas, Sesseln, Sofatischen, ornamentalen Teppichen, Wandlampen und Stehlampen im Rokoko-Stil, die, wie man sich in der Szene erzählt, aus aufgegebenen Wohnungen des Prenzlauer Bergs stammen – es könnte auch ein Boudoir gewesen sein. Es eignet sich gut zum bequemen Sitzen und Zuhören. Die Sofas sind aus grünlichem und beigem Samt, ihr fragiler Holzrahmen ist leicht geschwun-gen, die Stehlampen sind golden mit einem soliden Sockel und rot und grün bespannten Lampenschirmen. Außerdem gibt es einige Kristall-Lüs-ter, die in den Räumen einen zauberhaften Schimmer auf den bröckelnden Putz werfen sowie einigen Nippes: ein strahlenförmiges Bündel Pfauenfe-dern, ein Strauß Seidenrosen und ein goldener Frauen-Torso (so gold wie

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»Goldmund«), die im Dunkeln wie Kunstobjekte bestrahlt werden. Finden keine Partys statt, so wird das Mobiliar in dem ehemaligen Sekundärroh-stoffkombinat »SeRo« im Prenzlauer Berg zwischen gelagert, das ein ande-res Künstlerkollektiv angemietet hat.

Abb. 5: Goldmund-Flyer (Quelle: Goldmund)

Im Stadtbad Oderberger Straße schufen sie in Kooperation mit »Pen-taklon«, den Lichtdesignern der »Pyonen«, ein begehbares Kunstwerk. Wie mir ein Grafikdesigner aus der Szene erzählte (ich selbst war dort nicht anwesend), müssen die Räumlichkeiten des alten Stadtbads sehr eindrucks-voll inszeniert worden sein. In dem gekachelten wasserleeren Schwimmbe-cken wurden Papierpyramiden aufgestellt, die wie die wuchtigen Steinsäu-len am Schwimmbadrand geheimnisvoll angestrahlt wurden. Das »Gold-mund«-Mobiliar stand am Beckenrand und wenn man von den Sesseln aus den Kopf nach oben hob, konnte man unter der Kuppeldecke ein Spiel aus Lichtern, Farben und Formen beobachten. Die Musik durchdrang die Atmosphäre und »Goldmund« spielte das Skurilste, Merkwürdigste, Son-derbarste aus seiner Plattensammlung. In einem kleineren Raum wurden außerdem surrealistische Hörspiele ausgestrahlt. Wie die »Pyonen« wollen sie mit ihrer Raumgestaltung zur Gestaltung des sozialen Ereignisses bei-tragen, doch die Gestaltung neigt dazu, sich zu verselbständigen, das Er-eignis nicht mehr nur zu rahmen, sondern zu einer eigenen Aussage zu werden. Der Lounge-Abend wird zum Konzert-Abend und die Räume zu

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begehbaren Kunstwerken, doch wird die Festgesellschaft dadurch zu Zu-schauern degradiert.

Neben den großen Party-locations der Szene, die »Pyonen« und »Goldmund« veranstalten, gibt es zahllose kleine Veranstalter, die eine Lounge oft nur für wenige Wochen oder Monate öffnen, wie die beschrie-bene »Muh-Bar«. Eine ähnliche location betrieb Gabi. Sie lernte Modedesign und betrieb unter anderem eine illegale Bar in einem unrenovierten Ladenraum in der Oderberger Straße. Die Bar nannte sie »Therapie« und gab damit ihrem Bestreben Ausdruck, es anderen schön zu machen, »be-hilflich zu sein«, wie sie sagt. Das Motto Therapie wählte sie darüberhinaus »weil, da kann man sich halt drumrum viel überlegen. Also so konzeptmä-ßig.« Sie wollte keine reguläre Bar betreiben, sondern den Raum eher als eine Form des Happenings nutzen und den Gästen eine bestimmte »Idee« vermitteln. Die Räume hatten unterschiedliche therapeutische Motti, die Gabi erklärt:

»Wir hatten vier Räume, die richtig groß waren und total schön. So Altbau und hohe Türen und so, und Stuck, so ganz alt… Und man kam rein und da war dann natürlich Empfang. Ich hab halt da immer ›Tür‹ gemacht (das heißt den Eintritt kassiert). Und dann gab’s diesen ersten Raum, wo man nur so sitzen konnte, das war die ›Gruppentherapie‹. Sitzen und quatschen (lacht)… miteinander. Und im mittlere Raum, da war der DJ drin, das war die ›Tanztherapie‹. Klar. Dann kam der Barraum, da war die ›Medikamenten-Ausgabe‹. Und dann war hinten noch so’n Raum, da waren nochmal Sofas und dort konntest du dieses Teletennis spielen und Pacman. Dort haben wir auch immer Filme gezeigt. Und das war dann ›Gestaltthe-rapie‹. Auf dem ersten Flyer haben wir geschrieben: ›Wir bieten an‹ und ›Betreuen-des Fachpersonal‹ und ›Gasttherapeut/audio‹, das war meistens Kalle.« (Interview mit Gabi vom 10.7.03)

Wie liebevoll sie Räumlichkeiten gestaltet, wird in einem Fotoalbum deut-lich, das sie über ihre zweite location erstellte, eine temporäre Bar in der Oderberger Straße. Das Fotoalbum gibt einen Eindruck von den improvi-sierten Räumlichkeiten der Bar, ihrer Gestaltungsideen und ihres Bricolage-Charakters.

Die Räumlichkeiten der Bar selbst haben den typischen unrenovierten, improvisierten Charme des Prenzlauer Bergs, an der Wand liegt der Putz offen, die Sofas, Sessel, Stühle und Tischchen sind alt und zusammenge-sammelt. Ikonografien von Tod und Leben, Heilung und Schmerz tauchen als Motive an mehreren Stellen auf. Auf der Bar liegt neben einer Blumen-vase mit hübschen Blümchen ein Totenkopf, den ein Besucher auf einem anderen Foto in der Hand hält und Hamlet-gleich versonnen anblickt,

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während er sich eine Zigarette anzündet. Hinter der Bar klebt an der Wand ein Poster mit der Aufschrift »Achtung! Hier wird ein Mensch gemacht« – ein Aufklärungsplakat, das aus einer Klinik entwendet wurde. Über einer Tür hängt ein vergilbtes entwendetes Schild »Forschungsgruppe zu Hause sterben«, an dem eine Barbie-Puppe baumelt. Im nächsten Raum ist die Wand mit fröhlichem, sattem Rot bemalt, wobei weiße Kreuze wie bei einem Notarztwagen ausgespart wurden. An der Wand hängt der Sieb-druck eines Gehirns. Am Boden wurde für einen Abend welkendes Laub aufgeschüttet, an einem anderen Gedichte an die Wand gehängt, u.a. von Jandl, Rothmann und Gabis Lieblingslyriker Gottfried Benn. Das Gedicht von Benn hing etwas abseits neben einem Bündel Kornähren und unter-halb einer niedlichen Wandbordüre, die ein Vögelchen auf dem Ast zeigt (ein Motiv aus der Kultserie Twin Peaks).

Mobile Bars

Durch die wechselnden locations ist die Szene auf einer kontinuierlichen Reise durch den Stadtraum. Was Victoria vom »Muh-Bar«-Collective über ihre Reiseleidenschaft aussagt, trifft auch auf die Reisen der Szene-Akteure durch den Stadtraum zu:

»Es hat schon noch immer mit Bewegung zu tun, diese Reisen, sich irgendwo hin bewegen. Und dann gibt es immer ’n paar zentrale Punkte, die mich interessieren, aber die sind relativ offen gehalten und dann lass ich mich schon überraschen durch das, was kommt, also die sind ziemlich frei gehalten. Und auch, die sehn auch immer wieder unterschiedlich aus. […] Meine Reisen haben keine wirklich feste Form. Sondern ich guck schon auch, was passiert.« (Interview mit Victoria vom 10.9.03)

Es mag bereits aufgefallen sein, dass temporäre locations gelegentlich ihre Verortung im Stadtraum im Namen tragen. »Lotterie« spielt beispielsweise auf die »Lottumstraße« an. Auch die »Bar 23« der »Pyonen« verweist auf die Hausnummer (die Nummer 23), die »Lychi 60« und die »Greifswalder 23a« (wie der »Schweizer Garten« alternativ genannt wird) haben ihre Ad-ressen zu Namen gemacht. Bei einer Party in der Greifswalder Straße 23a wurde eine Luftbildaufnahme von dem Straßenblock verschickt, die die location im Stadtraum verortet (was auch damit zusammen hängt, dass die

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Betreiber Architekten sind, die auch ihre eigene location städtebaulich reflektieren; siehe Abbildung 6).

Wie diese locations ihre Verortung reflektieren, so hat auch die Reise zwischen den locations zu dem Symbol der »mobilen Bar« gefunden, die die Mobilität der Szene und den Wechsel der locations in einem Objekt aus-drückt. Es gibt mehrere »mobile Bars« in der Szene, die bekannteste ist die »Spacebar«, die wie erwähnt vom Startup »Sensatonics« betrieben wird. Die »Spacebar« – ein weißes Kuppelzelt – wandert mit den Partys als eigen-ständige Einheit von Ort zu Ort, veranstaltet gelegentlich auch eigene Partys im Stadtraum und verköstigt an einem Tresen unter dem Kuppelzelt die Festgesellschaft mit Kräuter-Elixieren.

Abb. 6: Flyer des Schweizer Gartens (Quelle: Schweizer Garten)

Der Name »Spacebar« bezieht sich auf die Erkundung »innerer« und äuße-rer Räume (»spaces«), er hat zudem eine technische Konnotation: So wird im Englischen auch die Leertaste am Computer genannt. Die Bar sieht aus wie ein Ufo, das an unterschiedlichen locations »landen« kann. Auf einer Werbebroschüre der »Spacebar« wird genau auf dieses Ufo-artige Bezug genommen: Die Halbkugel der »Spacebar« hebt gerade in den Himmel ab, um zur nächsten location zu fliegen. An der Unterseite sind Comic-artig einige Düsen eingezeichnet. Unter ihm hüpfen vier fröhliche »Spacebar«-Konsumenten mit ihren Cocktails umher, deren unterschiedliche Charak-tere augenzwinkernd bedeuten, der Genuss der Elixiere würde alle sozialen Schichten, Ethnien und Altersgruppen verbinden: ein kleiner, südamerika-nisch aussehender Junge, ein älteres, fröhlich miteinander tanzendes, klein-

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bürgerliches Rentnerehepaar und ein (etwas lächerlich aussehender) Sze-negänger mit fröhlich erhobenen Armen.

Die Ufo-artige Form der »Spacebar« geht auf die »geodätische« (waben-artige) Bauweise des kalifornischen Architekten Buckminster Fuller zurück, der seine futuristischen Wohnkapseln als Bausteine eines »künstlichen Paradieses« verstand, deren Utopie in dem Glauben bestand, durch Wis-senschaft und Forschung könne eine naturähnliche aber der Natur überle-gene Welt geschaffen werden. Neben diesen Reisen durch den realen Stadtraum fördert die »Spacebar« auch imaginäre Reisen, die man mit den Kräuter-Elixieren unternehmen kann. Die »Spacebar« zielt auf den Kopf (nach oben, ins Weltall) und lädt zu Erlebnisreisen in andere Räume und Welten ein. Hier verbindet sich die eine urbane Cocktail-Laune mit kultur-kritischer Naturromantik. Einerseits will die »Spacebar« mit ihren Elixieren »die Kommunikation von Menschen und Pflanzen verbessern«. Der har-monische Dialog des Menschen mit der Natur, wie er durch die »Entzau-berung der Welt« (Weber) gestört wurde, soll mit Hilfe der magischen Kraft der Pflanzen wiederbelebt werden. Die durch »Sensatonics« ent-deckten Kräutermischungen des Mittelalters sind Kalle zufolge einst die durch die katholische Kirche und Hexeninquisition »kaputt gemacht« wor-den waren; Interview mit Kalle vom 27.6.02). Andererseits kleidet die »Spacebar« die Werbung für ihre Elixiere in eine moderne Sprache und hebt die Einfachheit und Unkompliziertheit des Konsums hervor. So heißt es auf der Webseite von »Sensatonics«: »Sensatonics Kräuterbitter sind reine Pflanzenextrakte, in denen die Kunst alchemistischer Pflanzeninter-pretation verwirklicht ist. Ihr Geist lässt sich leicht in einen Longdrink locken, indem man bis zu 1cl des Extraktes beigibt« (www.elixier.de). Durch die mobile »Spacebar« findet die reale Reise durch den Stadtraum zu einer objektiven Form.

Eine location, an der die »Spacebar« landete war der Schlossplatz vor dem Palast der Republik. Man lud zu einem »Public Mars-Watch« ein – der Mars hatte sich gerade besonders nahe der Erde angenähert und war als rot glühende Stecknadel sichtbar. In der Rundmail hieß es:

Ein teleskopisches Picknick mit Mars im Auge, Musik im Ohr und Mars-Rooms27 im Mund. Donnerstag, der 28.8.2003, 21 Uhr auf dem Schlossplatz vor den Toren des Palastes der Republik. Heisser Asphalt – weder Flechten noch Moose stören die Großstadtneurose. Eine Bar mit gut verkühlten Planetentönen steht bereit, der Dom bietet uns Schutz vor dem Himmel? (Rundmail vom 21.8.03) —————— 27 Eine Anspielung auf die psychoaktiven sogenannten »Magic Mushrooms«.

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Das selbe Prinzip verfolgen auch die Betreiber der »Bar 25«, indem sie mit einem zur Bar ausgebauten alten Wohnwagen die Stadt durchfahren. Die Zahl »25« steht dabei für die Geschwindigkeitsbegrenzung von Wohnwa-gen (siehe Abbildung 4 im farbigen Bildteil). Die Bar befindet sich inzwi-schen allerdings an einem dauerhaften Ort am Ufer der Spree und wird von Zitty und Spiegel zum Symbol des Berliner Underground stilisiert, während die Szene das »Festsitzen« an einem Ort als Kommerzialisierung kritisiert.

Eine sportliche Variante der mobilen Bar ist eine mobil eingesetzte Tischtennisplatte, die von einer selbst sich so bezeichnenden »Tischtennis-guerilla«, die an unterschiedlichen Orten in der Stadt aufgestellt wird, um unter Musikbegleitung Tischtennis zu spielen. Ein Organisator der Tisch-tennisguerilla, Stefan Klinker, verfasste hierüber eine Diplomarbeit, und stellte Verbindung zum situationistischen »dérive« her (Klinker 2003).

Historisch betrachtet fand dieses Prinzip der Bewegung und der tem-porären Partys an wechselnden Orten seine technische Materialisation in den sogenannten »Soundsystemen« – mobile Musikanlagen, die zum spe-ziellen Zweck der Partybeschallung auf LKW’s befestigt sind und auf die-sen von Ort zu Ort transportiert werden können. Soundsysteme entstan-den auf der für die schwarze Subkultur legendären Insel Jamaica, wo einst deportierte afrikanische Sklaven eine eigene Kultur ausbildeten, die in den 1960er Jahren in die weltweit vermarktete Reggae-Musik mündete. Hier arbeiteten schwarze Musiker und Entertainer Mitte der 1950er Jahre an der akustischen Optimierung ihrer Musikanlagen, mit denen sie in lokalen Dancehalls auftraten. Sie schlachteten Radios aus um »monster sound systems« (St. John 2001.: 60) zu bauen und einen neuen Sound zu kreieren, »a type of electric folk music for a new generation« (ebd.). Das Prinzip wurde nach London exportiert und verbreitete sich von dort aus weltweit. Als Ende der 1980er Jahre im Zuge der aufkommenden Techno- und Housemusik die sogenannten »Warehouse-Partys« sowie Partys in freier Natur populär wurden – die Partykultur des Jahres 1988 wurde von der britischen Presse als »summer of love« tituliert – waren die Soundsysteme die geeignete Technik, die leer stehenden Räume sowie idyllische Landstri-che zu besetzen und zu beschallen. Die Soundsysteme sind nach Enda Murray (ebd.: 59), Londoner Schriftsteller und Hausbesetzer, das techni-sche wie symbolische Zentrum der Ravekultur, um das herum sich ein loses Netzwerk an Künstlern und Musikern gruppiert, die die Partys orga-

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nisieren und gestalten. Soundsysteme formen »the heart of the collective« (ebd.), wie Murray schreibt.

Besetzt – ein postmodernes Abenteuer

Das Besetzen von Räumen ist Teil der Strategie, die atmosphärischen Qualitäten der Stadt aufzuwerten. Welche Räume angeeignet werden ist dabei ein Aushandlungsprozess mit den gesellschaftlichen und räumlichen Möglichkeiten.

Die dominierende Selbsterzählung der Szene ist in der Tradition der Hausbesetzung, dass die meisten Brachen und Leerstände den Akteuren der Szene durch Staat und Gesellschaft verwehrt seien. Oft sei hier die illegale Besetzung die einzige Möglichkeit, Partys im Stil der Szene veran-stalten zu können. Einerseits bestätigt die Erfahrung der Party-Collectives diese Kritik, andererseits werden hiermit aber auch subkulturelle Mythen reproduziert.

»Von 20 Anfragen, um die du dich wirklich intensivst kümmerst, fin-dest du vielleicht eine location«, sagt Malcolm von den »Pyonen« (Interview mit Malcolm vom 22.2.06). Die genannten Gründe sind, wie mir Malcolm erzählt, dass dann »das ganze asoziale Gesocks« kommen würde und dass man Angst habe, Mieter zu verprellen. Er erzählt von einem Beispiel, wo ein Gebäude jahrelang leer stand und dennoch den »Pyonen« nicht erlaubt wurde, eine Party zu veranstalten:

»Pfuhlstraße 5 in Kreuzberg. Ist ein wunderschönes Gewerbeobjekt. Mit Keller-räumen, die direkt auf Wasserhöhe liegen. An der Spree, direkt neben der Ober-baumbrücke. Traum. Traumhaftes Gebäude. Wunderschöne Räume. Gehören der Kuthe GmbH. Da haben wir ein halbes Jahr Wirtschaftlichkeitsberechnungen, Finanztabellen, etc., denen auf den Tisch gelegt, weil wir da unten ’nen Club auf-machen wollten. Da hat sich nichts bewegt. Die haben uns bringen lassen, bringen lassen, bringen lassen. Und dann haben sie irgendwann gesagt: ›Ach ne, wir wollen lieber den andern Laden vermieten.‹ Der heut noch leer ist. Da kümmern sich gerade andere drum, die genauso scheitern werden. Also es ist wirklich so: es gibt genügend Eigentümer und Hausverwaltungen, die lassen ihre Räume lieber leer stehen, als dass sie sie weg geben. Auch für einmalige Sachen.« (ebd.)

Für ihn sind die heutigen temporären Raumbesetzungsbemühungen mit der selben gesellschaftlichen Intoleranz und den selben staatlichen Repres-sionen konfrontiert wie einst die Hausbesetzer. Als Beispiel nennt er eine

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Initiative der Stadtbaurätin von Berlin Mitte im Jahr 2005, alle illegalen Clubs (das heißt Clubs ohne Gewerbe- und Schanklizenz) zu schließen. Der Bohème-Faktor spiele für das Touristenimage hier keine Rolle. In Bezug auf ein stadtpolitisches Umdenken auf das, was als Kultur gewertet wird und die Frage, ob die Szeneaktivitäten nicht auch als kulturelles Schaffen anerkannt werden könnten, sagt er:

»Komm denen bloß nicht mit dem Wort ›Kultur‹. Die machen so (zeigt sich den Vogel), die winken ab. Es zählt nichts anderes in dieser perversen Stadt, in diesem perversen Land als Geld. Die haben ihre gewissensberuhigenden Fonds wie den Hauptstadtkulturfonds, die Verteilung der Lotto-Gelder… Ich mein, wo gehen diese Leute auch hin, die da oben an den Schalthebeln sind. Von denen siehst du keinen in ’nem Club rumrennen. Die siehst du in ’ner gepanzerten Limosine oder mit ’nem eigenen Mercedes Benz vor die Deutsche Oper fahr’n, das ist Kultur für die. Das ist auch ihr Kulturbegriff. Plus vielleicht noch zwei, drei ausgewählte Theater.« (ebd.)

Seitens der Polizei gibt es inzwischen sogar eine Publikation im »Polizei-Verlag« mit dem Titel Techno. Professionelles Einsatzmanagement von Polizei und Ordnungsbehörden bei Veranstaltungen der Techno-Party-Szene (Brenneisen u.a. 2004). Darin wird ausführlich über die Gesetzesbrüche durch das Veranstalten von Partys in besetzten Räumen referiert (die Rechtslage umfasst Erwägungen zum »Besonderen Recht der Gefahrenabwehr«, dem »Versammlungsrecht« und dem »Gewerberecht« bis hin zu »Bauordnung«, »Brandschutz« und »Versammlungsstätten« (ebd.).

Malcolm resümiert in einem bitteren Ton, aus dem noch seine Vergan-genheit als Hausbesetzer aufleuchtet:

»Das Bedürfnis nach Freiraum, das ist geblieben, und das erfüllt heute keiner. Das erfüllt kein Konzern, kein Staat und niemand. Das Bedürfnis, was sie erfüllen, ist ein Konsumbedürfnis. Nichts anderes. Es is ’n reines Konsumbedürfnis, was erfüllt wird. Etwas anderes zu erfüllen hat weder der Staat noch die Industrie einen Hauch von Interesse. Es sei denn es führt sie da hin, dass sie noch höhere Absatz-zahlen generieren können. Ich glaube definitiv nicht an das Gutmenschentum. Und schon gar nicht in der Politik oder in der Industrie. Niemals. Niemals. Das ist denen so scheißegal. Hundert prozentig.« (ebd.)

Malcolm bedient sich hier der typischen Besetzerpolemik, die die realen gesellschaftlichen Möglichkeiten auf polemische Weise zuspitzt und ver-kürzt. Tatsächlich gibt es zahlreiche Möglichkeiten, Räume konfliktfrei und legal temporär anzueignen.

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Der Szene kommt dabei zu Gute, dass sich das Bewusstsein über die Bedeutung von Brachen in breiterem Rahmen gesellschaftlich verfestigt hat und somit die Informationen nicht nur in einem kleinen, eingeweihten Szenenetzwerk zirkulieren, sondern größere Kreise ziehen. Auch Institu-tionen und Unternehmen im Kultur- und Veranstaltungsbereich nutzen heutzutage Brachen und Leerstände und an diese Institutionalisierung der Brachennutzung kann die Szene anknüpfen. Es bestehen Kontakte zu diesen kulturellen Einrichtungen und privaten Unternehmen oder besser gesagt: die Akteure dieser Einrichtungen gehören zugleich der Berliner Szene an, sind also selbst Akteure der Szene. So hatte das »Goldmund«-Collective Kontakte zu der Bookerin der Brauerei Pfefferberg, die inzwischen von einer Veranstaltungsagentur verwaltet wird. Durch sie erhielten sie die Erlaubnis, die Räume des Kinderheims in der »Schultheiss«-Brauerei zu nutzen, da die Bookerin wiederum Kontakte zu der ebenfalls von einer Veranstaltungsagentur verwalteten »Schultheiss«-Brauerei hatte. Die Kon-takte bestanden, da »Goldmund« eine Zeit lang eine Lounge im Pfefferberg veranstaltete.

Wenn über den Kontakt zu Kulturinstitutionen und alternativen Veran-staltern die location gefunden und bespielt wird, so besteht ein fließender Übergang zu der Praxis, dass temporäre Clubs und Bars selbst wieder an Party-Collectives nächteweise untervermieten. Diese Praxis kommt dem ökonomischen Outsourcing nahe, wo die Verantwortung auf mehrere Parteien verteilt wird: eine Partei besitzt oder mietet die location für eine längere Dauer, andere sorgen für die Bespielung. Die »Spacebar« hat dieses Outsourcing zum Prinzip gemacht und wird gerne von Party-Collectives heran gezogen, um den Barbetrieb zu übernehmen. Das selbe Prinzip in größerem Maßstab fand einmal sogar städteübergreifend statt und nannte sich »Club-Exchange«: Züricher Clubs und Party-Collectives gastierten in den Räumlichkeiten Berliner Clubs und Berliner Clubs und Party-Collectives (darunter auch die »Pyonen«) gastierten in Zürich.

Die Institutionalisierung der Brachen-Nutzung hat sich inzwischen so weit fort entwickelt, dass es Agenturen gibt, deren Aufgabe nichts anderes ist, als Brachen-Nutzungen zu vermitteln. Die Agentur »Zurmöbelfabrik« (die ursprünglich damit begann, illegale Partys in dem Gewölbe eines alten Kohlekellers in der Koppenhagener Straße zu veranstalten), bietet ihre Dienste als »location-Scout« an. Die »Zwischennutzungsagentur«, die von der »Projektagentur zukunftsfähiges Berlin« (IZT) gefördert wird, vermit-telt Leerstände zur temporären Nutzung für alternative Kulturveranstalter.

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Und das Kulturwerk des Berufsverbandes Bildender Künstler vermittelt an Künstler leer stehende Fabrik-Etagen zur Atelier-Nutzung. Das Land Ber-lin selbst bietet Zwischennutzungen an. Man kann sich an die Bezirksver-waltungen wenden und bekommt eine Liste an Leerständen, aus der man auswählen kann.

Außerdem gab und gibt es Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen innerhalb der Wohnungsbaugesellschaften, die für alternative Raumnutzungen Ver-ständnis aufbringen. So erschien im April 2006 ein Artikel in der Süddeut-schen Zeitung über die freundliche Sachbearbeiterin der kommunalen Wohungsbaugesellschaft Berlin Mitte, Jutta Weitz, die an Kulturschaffende Gewerberäume vergibt. Sie setzte sich Anfang der 1990er Jahre (wo sie Schlüssel zu 4000 ungenutzten Räumen hatte) und auch heute noch dafür ein, dass leer stehende Räume sozial und kulturell anstatt kommerziell genutzt werden. Ihr ist es beispielsweise zu verdanken, dass der heute in-ternational berühmte Galerist Klaus Biesenbach als junger Medizinstudent die Nutzungserlaubnis für eine ehemalige Margarinefabrik erhielt, die heute die »Kunstwerke« beherbergt. Und Bädecker (ebenfalls WBM) sagt: Die in den 1990er Jahre durch alternative Nutzung entstandenen »kulturellen Zentren« tragen mit zur »gestiegenen Attraktivität« von Mitte bei. Und weiter: »Potentielle Investoren werden vom lebenden Organismus ›Stadt-Kiez-Wohnen-Leben-Kultur-Arbeiten‹ eher angezogen und zeigen Bereit-schaft, sich zu engagieren« (Bädecker 1993: 52).

Eine für die Berliner Szene besonders kooperative Gruppe sind zudem Projektentwickler, die für schwer sanierbare und deshalb auch besonders spektakuläre Leerstände wie Industriedenkmäler und sozialistische Reprä-sentationsbauten Nutzungskonzepte entwickeln. Unter ihnen hat sich herumgesprochen, dass eine subkulturelle Nutzung der Gebäude den Standort aufwerten kann. Sie gewähren die Zwischennutzung und hoffen auf die von Soziologen und Stadtplanern prophezeiten Mechanismen der Gentrifizierung. Diese besagen, dass subkulturelle Nutzer als Pioniere der Stadtentwicklung agieren und in einst unwirtliche Gegenden vorstoßen, die sie durch ihre Nutzung aufwerten, woraufhin wohlhabendere Nutzer, die das subkulturelle Flair zu schätzen wissen, nachziehen (Smith 1993). Dieses Denken der Projektentwickler bestätigte Malcolm (und grenzt es vom Denken der Investoren ab, die weit konservativer agieren würden):

»Projektentwickler sind eigentlich dankbarer und wesentlich aufgeschlossener (als Investoren), durch die Bank weg. Wenn sie irgend ’nen altes Gebäude in die Hand kriegen, das sie entwickeln sollen, dann ist für die Übergangszeit bis zur Sanierung

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da oftmals viel mehr möglich. Ich denke, die ha’m auch ’n großes Interesse daran, ’n Augenmerk auf ihre locations zu kriegen. Weil sie sie dann später wesentlich besser vermieten und vermarkten können. Da sind auch geschäftliche Interessen im Hintergrund, ganz klar.« (Interview mit Malcolm vom 22.2.06)

Wenn Malcolm die Leidenschaft der Projektentwickler so empathisch als ein »altes Gebäude in die Hand kriegen« nacherzählt, so ist zu vermuten, dass er die Leidenschaft der Projektentwickler nachempfinden kann und vielleicht von ihrer Denkweise gar nicht so weit entfernt ist. Das mag um-gekehrt erklären, warum zumindest manche Projektentwickler ein Ver-ständnis für die Szenebelange haben. Über den Projektentwickler der Hee-resbäckerei, wo die »Pyonen« zwei Jahre lang eine location betrieben, erzählt Malcolm:

»Zum Beispiel in der Heeresbäckerei, das ist auch ’n Mensch, der ›open minded‹ unterwegs ist. Der ist zwar Mitte 40, aber den treff’ ich hin und wieder sogar in unserer Bar (die ›Bar 23‹). Der ist einfach… der hat da Bock d’rauf. Der geht nicht mit Scheuklappen durch die Welt, sondern der interessiert sich für alles mögliche. […] Obwohl der in einem Projektentwicklungsbüro arbeitet. Das is’n richtiger stringenter Anzugstyp. Aber der interessiert sich. Der sagt nicht sofort: ›Ach, ihr seid doch Spinner.‹« (ebd.)

Der Projektentwickler ist dankbar für die Arbeit der Pyonen wie auch die Pächter vom Palais Dernburg. So erläutert Malcolm:

»Also es gibt dann immer, wenn wir mal drin gewesen sind, und wir ham’s schick beleuchtet, dann sind sie auch meistens absolut angetan davon. Also gerade dieser Anzugtyp Heeresbäckerei, das ist echt ’n super Mensch. Der war auf den Silvester-partys. Hat sich blendend amüsiert. Und hat auch gesagt: ›Super, wie ihr das Ge-bäude in Szene gesetzt habt. Gefällt mir richtig gut.‹« (ebd.)

Neben Projektentwicklern sind es außerdem meist Besitzer kleinerer Grundstücke oder Gebäude, die eine Zwischennutzung erlauben, weil für sie die Zwischenvermietung einen finanziellen Anreiz darstellt, der für die großen Gesellschaften nur »Peanuts« sind:

»Am einfachsten hat man’s wirklich bei kleinen Privatleuten, wo ein oder zwei Eigentümer sind, die noch nicht so ’ne Angst davor haben und die auch sagen: ›Eyh, das ist einfach mal Miete, die wir einnehmen können, die nehmen wir mit.‹ Aber je größer das Unternehmen, oder je staatlicher, desto weniger Bewegung.« (ebd.)

Die »Pyonen« regeln die Nutzung mit den Vermietern vertraglich und übernehmen auch die Haftung. Jedoch bei weniger professionell agieren-

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den Party-Collectives wie Gabis »Therapie« besteht die Regelung, wie Gabi erzählte, dass die Vermieter offiziell »nichts davon wissen«, in welcher Weise ihre Räume genutzt werden und sich mit dieser Rhetorik auch aus der Affäre ziehen können, sollten sie rechtlich belangt werden.

Es kommt auch vor, dass die Vermieter mit Szene-Akteuren die selbe »Gesinnung teilen«. Die viel zitierten »Alt-Hippies«, die inzwischen zu Geld gekommen und teils Grundstückseigentümer geworden sind, bringen der Szene Verständnis entgegen.

So war für Gabi die Nutzung der alten Lederschneiderei als »Studio G14« deshalb möglich, weil der Besitzer ein »Alt-Hippie« war (so bezeich-nete Gabi ihn) und die Anliegen der Szene verstand und förderte. Gleiches trifft auf die von »Alt-Hippies« betriebene Immobiliengesellschaft zu, die die Besetzer in der Tucholskystraße billig wohnen lässt. Hier ist zu beden-ken, dass mit der zunehmenden Durchsetzung eines alternativen Lebens-stils bei breiteren Gesellschaftsschichten auch die Toleranz und das Ver-ständnis für Szenebelange zunimmt, was auch bedeutet, dass diejenigen, die »an der Macht« sind, der traditionellen Aufteilung von dominantem bürgerlichem Mainstream und untergeordneter Subkultur nicht mehr ent-sprechen. Die dominierenden Akteure der Gesellschaft unterstützen unter Umständen die Belange der Szene. Nicht alle Grundstückseigentümer sind die klassichen verhassten »Kapitalisten«.

Trotz dieser Möglichkeiten, auf legale und konfliktfreie Weise Räume temporär zu nutzen, bleibt jedoch die Besetzerrhetorik bestehen. Der Akt der Besetzung und Grenzüberschreitung wird als ein urbanes Abenteuer inszeniert, das seinen Sinn eben durch die Illegalität des »Freiräumeschaf-fens« erhält. Das Besetzen wird nicht nur aus einem subkulturellen Frei-heitsimpuls heraus praktiziert, sondern auch aus einem selbstreflexiven Moment heraus, es wird das Besetzen um des Besetzens willen praktiziert. Man will eine illegale Tat begehen um eine illegale Tat zu begehen, wobei die Illegalität des Tuns einen ganz besonderen Kick verspricht, der auf andere Weise nicht zu erreichen ist.

Als ich beispielsweise auf der Party auf der Amerikanischen Abhörsta-tion fragte, ob die Party angemeldet sei, legte mir einer der Anwesenden den Arm um die Schulter und verkündete feierlich: »Willkommen, Du bist auf einer illegalen Party!« Mit seiner jovialen Geste wollte er andeuten, dass ich nun auch zu den happy few gehörte, die dieses illegale Ereignis erleben durften.

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In seiner selbstreflexiven Form ist das Besetzen eines Ortes ein urbanes Abenteuer, das gerade deshalb abenteuerlich ist, weil man in ihm die be-reits bekannte Praxis der Hausbesetzung wieder erkennt. Im Nachleben ei-ner bereits vorgefertigten subversiven Praxis bestätigt und verwirklicht sich ein Leben mit »Sex, Drugs and Rock’n’Roll«. Die Grenzüberschreitung, die man damit wagt, ist das Tüpfelchen auf dem i der Genusskultur der Szene.

Die Polizei, deren Erscheinen man durch die Besetzung provoziert, kann dabei selbst Teil des Abenteuers werden. Erscheint die Polizei auf dem Gelände, so ist man einerseits enttäuscht, dass der Party nun ein Ende gesetzt wird, andererseits ist der Auftritt der Polizei der Höhepunkt des Abenteuers, das man mit der Gebäudebesetzung begeht. Die Ordnungs-macht wird zum von ihr ungewollten Mitspieler des urbanen Spektakels und durch ihre Präsenz erhält das Ereignis seine Authentizität. Hieraus kann sich ein regelrechtes Spiel mit der Polizei ergeben, wie das Beispiel einer illegalen Party auf einem stillgelegten Truppen-Übungsgelände auf Rügen zeigt. Wie mir einer der Anwesenden erzählte, wurde in den Mor-genstunden, als die Polizei erschien, zunächst ein Vertreter des Collectives zu Verhandlungen mit der Polizei vorgeschickt. Er konnte eine Fortsetzung der Party bis zur Mittagszeit aushandeln. Als die Polizei abermals erschien, beteiligte sich die Festgesellschaft kollektiv an der »Verteidigung« ihres Territoriums. Alle Partygäste versammelten sich um die Anlage, um sie zu schützen – in der Regel beschlagnahmt die Polizei die Anlage und setzt somit der Party indirekt ein Ende – und dazu spielte der DJ den bekannten Song der Beastie Boys: »We got to fight for our right to party.« Die Partygäste stimmten kollektiv ein und schmetterten den Song fröhlich den Polizisten entgegen. Die Polizei zog sich zunächst zurück, um einige Stunden später jedoch zurück zu kommen. Diesmal waren Hubschrauber im Einsatz, die die spektakuläre Dramatik der Situation noch erhöhten. Als die Festgesellschaft merkte, dass das Spiel mit der Polizei nun ausgereizt war, verließen sie widerstandslos den Platz. Zurück in Berlin war die Ge-schichte der Konfrontation mit der Polizei das erste, was man sich über die Party erzählte. Per E-Mail wurde amüsiert der Bericht der lokalen Ostseezei-tung verschickt, bei dem die Festgesellschaft als »Mitglieder der so ge-nannten Sozialistischen Arbeiterjugend« bezeichnet wurden – ein Phanta-siename, den sich die Organisatoren im Stile der Kommunikationsguerilla zugelegt hatten. Dass in dem Zeitungsartikel außerdem von »linksextremen Kräften aus der Hamburger und Berliner Szene« (Ostseezeitung vom

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29.8.2005) die Rede war, wertete man als Kompliment. Man hatte die anar-chistische Rolle offenbar überzeugend gespielt.

Dass es sich hier um ein selbstreflexives Spiel handelt wird auch darin deutlich, dass die Ästhetik des Ortes nach Auskunft der Beteiligten der Anlass der Besetzung ist. Wie mir ein Veranstalter einmal sagte: »Die wirk-lich schönen locations musst du besetzen, ansonsten kommst du da nämlich nicht drauf.« Der Kampf um Freiräume, der in der Hausbesetzerbewegung aus politischen Gründen geführt wurde, wird hier zu einer ästhetischen Praxis.

Wenn deshalb einerseits die Raumbesetzung einen postmodernen ur-banen Kitzel darstellt und andererseits die Raumbesetzung die einzige Möglichkeit ist, sich Freiräume zu schaffen für eine Form der Kultur, die ansonsten gesellschaftlich nicht anerkannt ist, so liegt eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vor. Die Raumbesetzung ist Ernst und Spiel glei-chermaßen, sie ist sowohl ein postmodernes Vergnügen, das man sich mit der Polizei erlaubt als auch eine notwendige Form der Raumbeschaffung, die auf legale Weise nicht erfolgen kann. Erst auf Grund dieser unauflösba-ren Ambivalenz werden die Partys einerseits zu einem wahrhaft urbanen Spektakel, das sich illegal vollzieht, um illegal zu sein; und erst auf Grund dieser Ambivalenz bleiben die Partys andererseits ein gesellschaftlicher Regelbruch, durch den das postmoderne Spektakel den Bereich der Simu-lation verlässt und sich zu den Repressionen der gesellschaftlichen Realität verhalten muss. Es bedarf einer tatsächlichen Besetzerkultur, um diese Art des Szenelebens stattfinden zu lassen – im Kapitel zu den Wagenburgen wird auf diese heutige Form der Besetzerkultur, die Teil der Szenepraxis ist, einzugehen sein. Gleichzeitig speist sich jedoch die Anarchie auch aus dem postmodernen Bedürfnis, Teil der Besetzerkultur sein zu wollen und hierdurch urbane Abenteuer zu erleben.

Die zweite Stadt

Das Umherschweifen im Stadtraum, bei dem permanent neue Räume erkundet werden, hat Siegfried Kracauer als spezifisch urbane Praxis ge-deutet. In der »Zerstreuung« wird der Wechsel und die Bewegung gegen-über dem Zustand favorisiert. Am Beispiel des amüsierfreudigen Ange-stelltenmilieus zeigte Kracauer, wie der Wechsel der Räume und Raumde-

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korationen in den »Pläsierkasernen« ihren Wünschen und Befindlichkeiten entgegen kam (s. Anhang): Wie der Großstadtrhythmus die Individuen permanent neuen Reizen aussetzt, suchen sie auch und gerade im Nachtle-ben das permanent Neue, das in diesem Fall besonders durch den Einzug der globalisierten Welt in die »Pläsierkasernen« genährt wird (Western-Prärie, Japanisches Kirschblütenfest, etc.), die in der einen Woche diese, in der anderen Woche jene Ausstattung zeigen.

Der Techno-Underground ist mit seiner Raumexplorationspraxis im Kracauer’schen Sinne urban. Man favorisiert, um de Certeau abermals zu zitieren, die Bewegung gegenüber dem Zustand (vgl. de Certeau 1988: 237), die Erkundung neuer Räume gegenüber dem bereits bekannten.

Der Unterschied zu Kracauers Angestelltenmilieu ist allerdings, dass die Fluidität, das heißt die permanente Überschreitung räumlicher Grenzen, nicht im abgesteckten Rahmen nächtlicher Vergnügungsviertel verbleibt, sondern dass die »Pläsierkasernen« verlassen werden und das Zerstreu-ungsprinzip auf die Stadt insgesamt übertragen wird. Während die Ange-stellten der 1920er Jahre innerhalb des »Spektakels« (Debord 1995 [1967]) verharren, das der Kapitalismus für sie inszeniert hat, bricht das neue Kleinbürgertum des Techno-Underground aus diesem Raum aus und sucht gerade nach Räumen, die die kapitalistische Gesellschaft vorübergehend ausgemustert hat.

Erst hierin wird eine tatsächliche Fluidität, das heißt Grenzüberschrei-tung erreicht, denn erst jetzt werden die räumlich vorgegebenen Grenzen der Zerstreuung selbst noch einmal überschritten, entsteht eine zweite Stadt. Stellen die »Pläsierkasernen«, wie Kracauer sie beschrieb, bereits eine Loslösung von der sozialen Verortung eines Berufs mit entsprechenden Kleidungs- und Verhaltenskonventionen dar, so löst sich der Techno-Un-derground, indem er sich die »terra incognita« (siehe oben) der »Rest-räume« aneignet, auch von den Markierungen, die mit der Loslösung von den Markierungen des Arbeitslebens und dem Eintreten in die Welt der Zerstreuung einhergehen, nämlich den Markierungen »Club«, »Bar«, »Disco« o.ä. Hierin wird das neue Kleinbürgertum einerseits tatsächlich ortlos: diese neuen Räume werden als befreiend erfahren, weil sie nicht als Vergnügungsräume markiert sind, sondern sich im Selbstverständnis der Akteure jenseits der »kapitalistischen Verwertungslogik« (so der Lichtde-signer Lenin) befinden. Andererseits findet es gerade zu einem Ort: die gesellschaftlich ausrangierten Brachen und Leerstände sind jene Orte, die mit der Vorstellung des eigenen ortlosen Driftens homolog ist.

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Indem die Brachen durch den Techno-Underground in die Berliner Erlebniskultur integriert werden, fallen auch diese vormals ökonomisch wertlosen Orte der kapitalistischen Logik anheim. Als »terra incognita« verlieren sie die Atmosphäre der Unbestimmtheit jedoch nie ganz. Zu den Festen hat etwas noch nicht eingesetzt (der Verkauf des Geländes, die Sanierung, etc.). Gerade hierin liegt das Potenzial zur Konstruktion von Momenten, das heißt der Ermöglichung des Spontanen, Unerwartetem.

Die »Atmosphäre« der Räume, die die Berliner Szene zu Party-locations umnutzt, ist untrennbar mit ihrer Geschichte verwoben. Das heißt: Nicht nur die Collectives, auch die Geschichte gestaltet die Atmosphäre der Orte. Deshalb sollen als Ergänzung im Folgenden einiger ihrer Geschichten er-zählt werden.

Spuren der Geschichte

Es sind die räumlichen Reste einer vergangenen Zeit, in deren alten und teils verfallenden Mauern die Geschichte, die in und mit ihnen stattgefun-den hat, noch spürbar ist. Sie bezeugen, wie Walter Benjamin über Ruinen schreibt, wie »Geschichte in den Schauplatz hineinwandert« (zit. nach Assmann 2003: 315). Somit sind die Raumexplorationen der Szene auch eine Auseinandersetzung mit dem Stadtraum und seiner Geschichte, deren Spuren in das Partygeschehen auf subtile Weise hineinreichen.

Die Ostberliner Innenstadtbezirke Mitte, Prenzlauer Berg und Fried-richshain beruhen auf dem Prinzip der Mischung aus »Wohnen, Arbeiten und Gewerbe«, wie Hofmann Axthelm es für die typische »Kreuzberger Mischung« beschrieben hat, wie es aber auf alle proletarischen Bezirke Berlins verallgemeinert werden kann – zumindest dort, wo der zweite Weltkrieg keine Narben hinterließ oder die Struktur durch die sozialistische Bauideologie abgewandelt wurde. Auf diese Weise ergibt sich in den ein-zelnen Häuserblöcken eine labyrinthische Hinterhofstruktur, die immer Teil der Partyatmosphäre ist. An der Vorderseite der Häuser entstanden Kneipen und kleine Verkaufsläden, in den Hinterhöfen siedelte sich Klein-gewerbe, Handwerksbetriebe, kleine Fabriken und sogar Viehzucht an. Durchquert man einen Hauseingang, kann es passieren, dass man plötzlich in einer anderen Welt zu stehen glaubt. Entlang der Greifswalder Straße beispielsweise gab es mehrere locations, die sich in kleinen Fabriken hinter

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den Häuserzeilen versteckten. Bei einer dieser locations gab das »Gold-mund«-Collective eine Wegbeschreibung und eine Kartierung mit, die das Verwinkelte deutlich macht: Man müsse durch die Häuserzeile hindurch und dann auf das hintere Fabrikgelände, »dann aber direkt wieder rechts in die Gasse und wieder links immer der Nase nach« bis hinter zur »Sack-gasse« (Rundmail vom 9.8.03; siehe Abbildung 8 im farbigen Bildteil).

Typisch für den Prenzlauer Berg sind seine 22 Brauereien (um die Jahr-hundertwende war der Stadtraum vom Geruch des Biers und vom Klap-pern der Hufe der Bierpferde erfüllt; siehe Kürvers/Roder/Tacke 2005: 9), die heute zu den populärsten locations zählen und die sich wie die kleinen Fabriken und Betriebe oft hinter den Wohnhäusern befinden, da sie vor der Besiedelung des Prenzlauer Bergs entstanden und man bei der Wohn-hausbebauung um sie herum baute. Zwei locations, die sich besonders tief in die Erinnerung gruben, waren in Brauereien untergebracht. Zum einen die ehemalige Brauerei Lipp (mit dem Pratergarten »Schweizer Garten«), deren Party im Kapitel Unfocused gatherings – Partys als Lebensform beschrieben werden wird. Das Collective, das den »Schweizer Garten« betrieb (der Name wurde übernommen), setzte sich tiefergehend mit der Geschichte des Ortes auseinander. Einer von ihnen, der Architektur studierte, schrieb seine Diplomarbeit über den Ort in der er u.a. beschrieb, wie der »Schweizer Garten« in den 1860er Jahren auf einem Acker gegenüber dem Volkspark Friedrichshain entstand, wie er sich zu einem beliebten Ausflugsziel entwickelte, und wie Ende des 19. Jahrhunderts der Bau einer Brauerei hinzu kam. Später im Zweiten Weltkrieg, so erzählte mir ein anderer von ihnen (und dies erzählte man sich auch auf Partys), wurde der Keller des Gebäudes als Luftschutzbunker »für Priviligierte« genutzt, wo-rauf phosphoreszierende Pfeile verweisen, zu DDR-Zeiten gab es unter anderem eine Champignon-Zucht und eine Trabi-Werkstatt, von der noch ein altes Schild zeugt. Der größte Raum der Brauerei, in dem auch die location untergebracht war, wurde als Heizraum genutzt. Die Heizkessel wurden von dem Collective eigenhändig beseitigt, um den Raum nutzen zu können, wobei man jedoch einige Eisenrückstände, u.a. die Rohre an der Wand, am Ort beließ, »damit’s da’n bisschen Ambiente behält«, wie mir Hektor erzählte, der in einem Lkw auf dem Gelände des »Schweizer Gar-tens« wohnt (Interview mit Hektor vom 23.7.03).

Das »Goldmund«-Collective transformierte eine alte Kindertagesstätte in eine location, damals wie heute »Kinderheim« genannt, in der ehemaligen »Schultheiss«-Brauerei. Das Gebäude des ehemaligen Kinderheims war im

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Gegensatz zum Rest der »Schultheiss«-Brauerei (die die Treuhand verwal-tet) aus finanziellen Gründen und wegen mangelndem Nutzungsbedarf noch nicht saniert. Die Partygäste wunderten sich, dass es in der Brauerei ein Kinderheim gab und so machte die historisch richtige Erzählung die Runde, dass es ein Sozialprogramm der »Schultheiss«-Brauerei gab, bei dem auch für die Kinder der Arbeiter gesorgt wurde, die man in Kinderta-gesstätten unterbrachte und für die auch Ausflüge und Urlaube organisiert wurden. Die Festgesellschaft sympathisierte mit dieser Maßnahme und empfand die heutige Betriebskultur demgegenüber als Rückschritt. Bei ihrer historischen Recherche fand das »Goldmund«-Collective ein 1913 verfasstes Buch über die »Schultheiss«-Brauerei, in dem auch das Kinder-heim dargestellt wurde und wo es grafische Zeichnungen von spielenden Kindern gab. Diese Zeichnungen waren wiederum die Vorlage für die Webseite (siehe Abbildung 8 im farbigen Bildteil). Außerdem entdeckte man auf der Toilette noch die selben alten Kacheln, die auch auf den histo-rischen Abbildungen zu sehen waren. Inzwischen gastiert das Collective nicht mehr im Kinderheim, doch seit dieser Zeit ist die Kinderfigur zum Markenzeichen von »Goldmund« geworden. Bis heute ist auf den Flyern ein Kind zu sehen (kein Kind des Kinderheims, sondern das Kind auf der Packung schwedischer Zündhölzer) und auch thematisch wird ein Bezug zwischen den Kindern und dem Partygeschehen hergestellt: »Only under adult supervision« steht auf einigen Flyern.

Die Brauerein sowie die alten Fabriken und Betriebe reichen in ihren historischen Spuren bis ins 19. Jahrhundert zurück. Doch auch die DDR hinterließ ihre Spuren, die in das Partygeschehen Einzug erhielten. Nach dem zweiten Weltkrieg, der den Stadtraum zernarbt, den Prenzlauer Berg allerdings relativ verschont hatte, mischte sich in der noch jungen DDR städtebauliche Lethargie mit der Vision des Aufbaus einer modernen, sozi-alistischen Musterstadt. Zur Sanierung der alten Bausubstanz fehlte meist das Geld und man sah es aus ideologischen Gründen nicht angebracht, in die kapitalistische Stadtstruktur weiter zu investieren. Viele Gebäude ver-fielen oder wurden nur behelfsmäßig saniert, sodass überall noch die Spu-ren der Geschichte sichtbar waren. Ein typisches Bild waren die verblas-senden Schriftzüge an den Hauswänden, die auf das noch vor dem Krieg ansässige Gewerbe hinwiesen, und das zu einem Markenzeichen der tem-porären Bars und auch in Fotobänden über den Prenzlauer Berg ein be-vorzugtes Motiv wurde. Gabis location beispielsweise war eine ehemalige Leder-Schneiderei, wovon der verblassende Schriftzug noch zeugt: »Leder

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Schneiderei. Neuanfertigung nach Maß – Reparaturen – Auffärben«. Wo diese maroden Gebäudezeilen und Wohnblöcke nicht vor sich hin verfie-len, nahm die »Wunderwirtschaft DDR« (NGBK 1996) Einzug. Kombi-nate und »Volkseigene Betriebe« wurden in den Hinterhöfen und Bom-benlücken neu gebaut oder in sanierten alten Fabrikgebäude, Werkshallen, etc. eingerichtet. Die Spuren dieser Betriebe waren im »Schweizer Garten« (wo ein altes Schild auf eine Trabi-Werkstatt hinwies) und im ehemaligen VEB »Sero«, wo Mitglieder des »Muh-Bar«-Collectives in einer Kommune wohnten, noch erkennbar. Auch im sogenannten »Milchhof« in der Anklamer Straße, von dem früher die Milch ausgeliefert worden war, war die materielle Geschichte der später dort ansässigen VEB Kosmetik noch präsent. Hier gab es Berge von Gurkenmilchpackungen und Lippenstift-resten, so dass eine Party zu einer Werkschau wurde, die mit dem alten Material spielte: »Milchhof presents Berlin Kosmetik« hieß es auf den Fly-ern. Ähnlich verfuhren Partyveranstalter bei einer Party außerhalb Berlins in einem ehemaligen Kinderferiencamp, wo das Festival »Camp Tipsy« stattfand. In einem verwitterten Bungalow fanden sie alte Dokumente, u.a. ein Stapel Broschüren, die die Heimregeln enthielten. Diese Hefte machten während des Festes die Runde und die rigiden Regeln wurden amüsiert kommentiert – 7 Uhr Morgenappell, etc. In einem der Bungalows fand man einen Wandschrank voller alter Bürsten und stellte sich vor, dass das Häuschen in den letzten 10 Jahren von zwei putzwütigen alten Damen bewohnt wurde. Außerdem fand man alte Bilder und Schilder aus dem Alltag des Feriencamps, u.a. das Portrait von Ernst Thälmann sowie Wim-pel mit Hammer und Sichel, mit denen das Gelände verziert wurde. Nicht alle waren allerdings von dem »DDR-Chic« begeistert. Einige, die die DDR-Diktatur erlitten hatten, fühlten sich an ihre Schulzeit erinnert. Sie verhinderten nicht den spielerischen Einsatz der DDR-Insignien, aber sie äußerten doch ihr Unbehagen. Andere wiederum, die ebenfalls in der DDR groß geworden waren, darunter auch Kalle, sahen es als Triumph über die untergegangene DDR an und amüsierten sich darüber.

Die DDR hinterließ aber nicht nur ihre Spuren in Alltagsgegenständen und kleinen VEB’s, sondern sie strukturierte (vor allem in Berlin Mitte) ganze Plätze und Straßen neu und auch dies erhielt Einzug in die Atmo-sphäre der Partys. Hier sollte sich der neue, sozialistische Mensch in neuer Umgebung verwirklichen. Für Berlin Mitte beschloss der V. Parteitag der SED 1958 die »Neugestaltung des Stadtzentrums zum politischen und

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kulturellen Mittelpunkt«28. Durch ihn sollten die »Charakterzüge der sozialistischen Metropole des Jahres 2000«, verwirklicht werden, wie es in der Publikation »Berlin. Architektur in der Hauptstadt der DDR« von 1973 hieß.29 Viele der sozialistischen Repräsentationsbauten rund um den Alexanderplatz und entlang der Karl-Marx-Allee, die im Zuge dieser Neu-planung entstanden, werden heute als locations genutzt. Es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass diese Bauten einst auch Bühnenfunktion hatten, um das sozialistische Projekt vor dem Westen zu inszenieren (Lindner 1993), und dass sie, als Lounge transformiert, diese Funktion weiterhin auf eine gänzlich andere Art erfüllen. Die futuristische Bauweise von Gebäu-den wie dem Café Moskau oder dem von Carl Hegemann entworfenen Kongresszentrum kommt dabei den »Realitätsfluchthilfen« der Szene ent-gegen. Bei der Silvesterparty der »Pyonen« in der Kongresshalle wurde ausführlich der futuristische Kuppelsaal besprochen (eine Akteurin sagte mir, sie sei nur deshalb zur Party gekommen, um den Ort einmal von in-nen betrachten zu können). Dieser war, so erzählte man sich, nach den neuesten akustischen Erkenntnissen gebaut und trug in der Mitte ein Geäst aus Kunststoffplatten, das den Schall angeblich optimal im Raum verteilte. Die Diskokugel, die man darunter aufhängte, verwandelte den Kuppelsaal in ein Sternenfirmament und das Interesse der Szene am Weltall (das sich unter anderem in der »Spacebar« objektiviert) fügte sich in den ebenfalls auf das Weltall (Kosmonauten) bezogenen Zukunftsoptimismus des einsti-gen Sozialismus.

Auch der Palast der Republik wurde, kurz bevor man seinen Abriss be-schloss, von den »Pyonen« und anderen Künstlergruppen bespielt. Die location hätte keine so hohe Bedeutung gehabt, wenn die Geschichte des Ortes nicht bei der Party präsent gewesen wäre.

Die locations erzählen also ihre Geschichte und gehen als solche in das Partygeschehen ein. Die Geschichte kann einen Ort aber auch einholen. Die »Pyonen« veranstalteten ein Fest in Schloss Dammsmühle bei Ora-nienburg. Dieses Schloss war zur NS-Zeit im Besitz der SS. Nach der Party entspann sich im Website-Forum des Collectives eine Diskussion, bei der die Wahl der location kritisiert wurde. Ein Mario äußerte sich euphorisch über das Fest, insbesondere war er von der Atmosphäre des Schlosses begeistert. Daraufhin entgegnete ein Theo:

—————— 28 Reiseführer. Deutsche Demokratische Republik, Berlin, Leipzig 1981: 44. 29 Berlin. Architektur in der Hauptstadt der DDR, Leipzig 1973.

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»Hey,… erstmal Mario… warum war denn ausgerechnet auf Schloss Dammsmühle alles so geil (wie immer, gähn)? Doch nicht weil das Schloss in Besitz der SS war und HEINRICH HIMMLER als Quartier gedient hat. Wohl nicht, weil wenn ich dich wie die meisten dieser notorisch unkritisch affirmativen Technoszene ein-schätze dann kannst Du AUSCHWITZ nicht mal buchstabieren! Ihr seid ja so cool, das wars doch was ihr alle hören wolltet?«

Unterschiedliche Stimmen meldeten sich darauf hin zu Wort, wobei die meisten trotz Verständnis für die Skepsis die Feier dennoch befürworteten. So schreibt ein Clemens:

»Finde Du in Deutschland mal einen Ort, der nicht irgendwie mit Nazi-Vergan-genheit in Verbindung gebracht werden kann. Abgesehen davon wurde das Schloss im 18. Jahrhundert errichtet und hat somit schon lange vor den Nazis bessere Zeiten gesehen. Und was ist besser als junge, kreative Leute, die friedlich zusam-men feiern?«

Und eine Ulli schreibt:

»Völlig klar, dass man sich der Geschichte und Vergangenheit bewusst sein muss, im Guten wie im schlechten, wobei ichs auch verstehe, wenn Leute mit dem gan-zen Nazi-Käse in Ruhe gelassen werden wollen. Wie oft hatten wir das dämliche Dritte Reich im Geschichtsunterricht, in dreizehn Jahren Schule bestimmt 5 mal, dafür wissen wir nix, aber auch gar nix über Israel, den Nahen Osten, den Islam, ganz Asien, die Amerikanische Urbevölkerung undsoweiter...«

Alex bietet eine esoterische Lösung für diesen Konflikt: für ihn wird der Ort durch das Fest gewissermaßen »geheilt«. Er erklärt das Schloss zum Subjekt, das durch die Party eine »erlösende« andere Nutzung erfahren durfte. Dabei fordert auch er eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte, jedoch signifikanter Weise jenseits des Raums der Party:

»Nazi-Schloss hin – Nazi-Schloss her. Es gibt zum Glück viele oder zumindest einige Gedenkstätten in Deutschland. Es kann meines Erachtens dann auch nichts schlechtes daran sein, trotz der Vergangenheit an einem solchen Ort zu feiern (auch wenn es da Grenzen gibt). Manchmal ist es aber auch gerade gut, solche Orte umzuwidmen. Ich denke da auch an Ähnliches wie Aktionen wie bei Nazi-Demos Konfetti zu werfen, um die Leute lächerlich zu machen oder auch Londs-dale-Shirts trotz der Tatsache zu tragen, dass diese bei Nazis beliebt sind. Hätte das Schloss Augen, wüsste es jetzt wenigstens, dass es auch Besseres gibt wie die Nazi-Schergen, die dort gehaust haben...«

Die Szene geht einen schmalen Grad bei der Frage, welcher historisch problematische Ort zur location umfunktioniert werden kann und welcher nicht. In diesem Fall hatte man sich für eine Party an diesem Ort entschie-

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den. Auch das ehemalige Stasi-Hauptquartier nahe des Rosa-Luxemburg-Platzes wird als geeignet empfunden (allerdings verweigert der Besitzer, das Bundesvermögensamt, die Zwischennutzung; das Gebäude steht leer). Ein ehemaliges Waisenhaus für Knaben an der Rummelsburger Bucht wird hingegen als Party-location ausgeschlossen. Aleida Assmann hat in ihrer Publikation »Erinnerungsräume« (Assmann 2003) ausführlich beschrieben, wie die Geschichte vergangener Orte in die heutige Zeit hineinreicht und diese prägt und mitgestaltet, allerdings hat sie nur die symbolische und nicht die atmosphärische Wirkung beschrieben. Räume und Orte sind Speichermedien von Geschichte, über die die Ge-sellschaft ihrer Geschichte gewahr wird und über die die Geschichte prä-sent bleibt, nicht nur im Sinne eines semiotischen Verweises auf das Ge-schehene, wie es durch ein Denkmal stattfindet, sondern durch die Be-schaffenheit des Ortes selbst, der von der Geschichte, die an ihm statt-gefunden hat, ein beredtes Zeugnis ablegt. Historische Orte, insbesondere Ruinen, »sprechen« zu den Anwesenden und geben etwas von sich preis, was die physische Präsenz des Hier und Jetzt übersteigt. Darin ähneln sie nach Assmann den magischen Orten genuiner Kulturen, für die die Orte und Landschaft als Behausungen für Götter und Geister dienen und als solche zu den Erdenmenschen »sprechen«. Eine besonders eindrückliche Passage über diesen topographischen Götterglauben liefert eine australi-sche Aborigines-Kultur, bei der die Orte nicht nur sprechen, sondern sogar singen, und die auf diese Weise eine Reise durch die Landschaft in ein Konzert verwandeln, an dessen Tönen sich der Reisende in der Wildnis orientieren kann. Es soll zitiert werden, da es der hippiesken Romantik des Techno-Underground entspricht:

»Each totemic ancestor, while travelling through the country, was thought to have scattered a trail of words and musical notes along the line of his footprints, and […] these dreaming-tracks lay over the land as ways of communication between the most far-flung tribes. A song, he said, was both map and direction-finder. Providing you knew the song, you could always find your way across the country. […] in theory, at least, the whole of australia could be read as a musical score. There was hardly a rock or creek in the country that could not been sung […] every episode was readable in terms of geology. ›by episode‹, I asked, ›you mean sacred site?‹ ›I do.‹« (zit. nach ebd.: 300)

In Europa kehrte diese Vorstellung von sprechenden Orten in der Epoche der Romantik zurück. Es gab zwar keine Götter mehr an ihren ehemaligen

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Wohnsitzen, an Grotten, Quellen, Hainen, Bergesspitzen, wo auch ihre Tempel und Kapellen errichtet worden waren. Die Orte wurden vielmehr »reauratisiert« (ebd.: 322) als Schauplätze, an denen eine verschollene Vor-zeit unverhofft wieder zur Erscheinung kam. Eine Liedzeile, spontan nie-dergeschrieben unter dem Eindruck des Ortes, wog nach damaliger An-sicht weit mehr als ein Roman, im stillen Kämmerlein verfasst: »half a word fixed upon or near the spot, is worth a cart-load of recollection« (ebd.). Zu einem populärkulturellen Symbol fand der »sprechende Ort« in der Gestalt des Schlossgespensts, das die Ruinen bewohnt und auf mor-bide Weise belebt, wie sie durch das damals entstehende Genre des Schau-erromans geisterten. Über Prousts, deren berühmtesten Vertreter: »Man hat mit Recht betont, dass die eigentlichen Helden des Schauerromans die Gebäude sind, die vom Geist der Vorzeit heimgesucht sind« (ebd.).

Immer hat die »Atmosphäre« des Ortes also mit Geschichte zu tun, mit Geschehenem und Erlebtem, mit Traditionen und Erinnerungen, die sich wie Sedimente am Ort ablagern und von den Anwesenden als Töne, Stim-men oder auch Gemurmel wahrgenommen werden. Auch die von Böhme beschriebenen Räume tragen in ihrer Atmosphäre ihre Geschichte in sich. Die Kirche, der man entfremdet ist, deren architektonisch-künstlerische Einzigartigkeit man aber schätzt. Das kleinbürgerliche Wohnzimmer, des-sen Mief man als soziales Individuum entkommen ist, das einen aber noch wohlige, ein wenig melancholische Schauer über den Rücken jagt. Das offene Meer, dessen Duft und Weite den klassischerweise bürgerlichen Italienreisenden ein Gefühl der Erhabenheit vermittelt. All diese Orte sprechen, weil sie mit gesellschaftlicher Bedeutung aufgeladen sind, die jedoch nicht als Sinngehalte oder Inhalte wahrgenommen werden, sondern als Atmosphären, als etwas, was berührt anstatt zu informieren. Hierin unterscheidet sich die »Atmosphäre« des Ortes von dem Gedächtnis des Ortes, wie ihn Aleida Assmann beschreibt. Das Gedächtnis des Ortes ist dazu bestimmt, die Gesellschaft der Jetztzeit an Vergangenes zu erinnern oder auch zu ermahnen. Die locations des Techno-Underground wirken weniger explizit, dennoch sind die Spuren ihrer Geschichte bei dem Party-ereignis immer noch zu spüren.

7. Dérive – Kleine Phänomenologie der Momente

Das Umherschweifen der Szene im Stadtraum und die Umfunktionierung von Brachen zu locations zielt auf die Überwindung der Trennung zwischen den Individuen und die Konstruktion von Momenten. Henri Lefèbvre gibt in seiner »Kritik des Alltagslebens« einige Vorschläge zur Definition des Moments. Der Moment gehe aus dem Alltag hervor, ohne selbst Alltag zu sein. Er pointiert, trifft eine Aussage, während das Alltagsleben meandert. Er führe zu einer Perspektivenverschiebung, die jedoch nicht dazu angetan ist, den Alltag zu überwinden, sondern ihn zu verändern. Bei diesem utopischen Projekt spricht er dem Fest die zentrale Bedeutung zu:

»Das Moment? Es ist ein individuelles Fest, in Freiheit gefeiert, ein tragisches, mithin wahrhaftiges Fest. Und es geht nicht darum, die Feste abzuschaffen oder verkümmern zu lassen in der Prosa der Welt. Es kommt darauf an, das Fest und das Alltagsleben zu vereinen.« (Lefèbvre 1977)

Henri Lefèbvres weitere Ausführungen zum Moment sind in ihrer Ab-straktheit allerdings unbefriedigend, insbesondere was die Bedeutung der Feste anbelangt. Am überzeugendsten ist er in Bezug auf l'amour, wo die Utopie der Momente greifbar wird: Die Liebe wie die Momente zielen darauf ab, den anderen nicht in seiner sozialen Rolle oder in seinem gesell-schaftlichen Status zu sehen und zu spüren, sondern als Mensch, losgelöst von allen Festschreibungen. Lefèbvre zielt hier hart am Kitsch vorbei, eben weil den Beschreibungen die Lebenswelt fehlt. Erfolgsversprechend hinge-gen ist die Zuhilfenahme der Manifeste der Künstlergruppe Internationale Situationisten, die, das wird oft vergessen, Henri Lefèbvre die Ideen für seine Utopie der Momente lieferte. Noch bevor Lefèbvre die Kritik des Alltagslebens schrieb, zirkulierten in Europa die situationistischen Mani-feste.

Nachdem wir einem Verstehen der Moment-Kultur des Techno-Un-derground in seiner Sprachregelung, seiner Genusspraxis und seiner

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Raumästhetik näher gekommen sind, sollten wir uns nun der Phänome-nologie des Moments widmen.

Die Internationalen Situationisten

Die Künstlergruppe Internationale Situationisten war eine, wie der Name zu verstehen gibt, marxistisch informierte Künstlergruppe, die sich Ende der 1950er Jahre in Frankreich und anderen europäischen Ländern formierte und ein internationales Netzwerk an Künstlern und Aktivisten ausbildete, die sich nichts weniger als die Veränderung des Alltagslebens auf die Fahnen schrieb und nach eigenen Angaben an der situationistischen Weltrevolution arbeitete. Dass es auch in Deutschland situationistische Aktivitäten gab, hat eine Ausstellung des Werkbund-Archivs gezeigt. Dem-zufolge kann die Berliner Kommune 1 mit ihren spektakulären Aktionen und Selbstinszenierungen als unmittelbar situationistisch inspiriert angesehen werden. Ihr Guru und Medienliebling Rainer Kunzelmann gründete als deutschen Ableger der Situationisten die Berliner Subversive Aktion, mit ihrem Organ Ave Maria, während sich in München die vor allem aus Malern bestehende Gruppe Spur den Situationisten anschloss. Kunzelmanns medienwirksame Happenings sind situationistisch inspiriert, wie beispielsweise die »Ku-Damm-Spiele«, die, wie Kunzelmann in einem In-terview des Ausstellungskatalogs des Werkbund-Archivs verlauten lässt, »die Stadt als ein ständig neu erfahrbares Erlebnis« vermitteln sollten (In-terview mit Kunzelmann, in: Dreßen 1991: 199).

Obwohl die Situationisten als Aktionskünstler gelten, war ihr wichtigs-tes subversives Instrument weniger die Aktion selbst, als das gedruckte Wort. Von 1958 bis 1969 publizierten sie Pamphlete in ihrem gleichnami-gen Organ L’Internationale Situationniste, in denen sie ein umfassendes Programm zur phantastischen Umgestaltung der Stadt und des Verhaltens der Städter in der Stadt entwarfen. Unter Bezugnahme auf Karl Marx (den man gerne nach seiner Meinung zu den Situationisten befragt hätte) be-ginnt Guy Debord, der Wortführer der Situationisten, seinen »Rapport über die Konstruktionen von Situationen« mit den Worten: »Wir meinen zunächst, dass die Welt verändert werden muss« (Debord 1995 [1957]: 28). Sie entwarfen neue, imaginäre Stadtlandschaften, die in ihrer Modernität den modernsten technischen Erfindungen entsprechen sollten. In ihrem

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utopischen Entwurf griffen sie klassische Topoi moderner Zivilisations- und Stadtkritik auf, vor allem hinsichtlich der Stadt als steinerne Schalt-zentrale des Kapitalismus (als Zentrum von Macht, Industrie und sozialer Kontrolle) sowie der Massenkultur, der sie als eine demokratisch verstan-dene Kultur der Massen durchaus produktive Momente einräumen (vgl. Stuart Hall im Kapitel 12). Durch tätige Aneignung sollte die Gefühlsland-schaft der Stadt, ihre »Psychogeographie« (Constant 1995 [1959]: 80) frei gelegt und ausgestaltet werden.

Abb. 7: Collage von Guy Debord (Quelle: Internationale Situationniste Nr. 1, Juni 1958) Sie plädierten für eine märchenhafte »Verzauberung« (Ivain 1958) der modernen Gesellschaft und Stadt, die durch die Industrialisierung und Rationalisierung des Alltags entzaubert worden war. Die Stadt wurde unter ihrer Feder zu einer aufregenden Naturlandschaft, deren Ecken, Winkel und Höhenzüge mit unterschiedlichen Leidenschaften belegt waren. Die Vereinzelung und Anonymität der Städter, wie sie bereits Georg Simmel beschrieben hatte, musste überwunden und die Arbeit so umorganisiert werden, dass auch die unteren Klassen ausgiebig Raum für Freizeit und

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Spiel hatten (vgl. Kracauer). Die Kontrolle der Kulturindustrie über den Gefühlshaushalt der Bevölkerung, die Kanalisierung ihrer Begierden durch die massenhaft produzierten Filme, Fernsehserien, Hochglanzmagazine und Werbesendungen, musste der Spontaneität anheim gestellt und die Unabhängigkeit der Gefühle zurück erobert werden. Es ging darum, die Stadt in ein permanentes Happening zu verwandeln, ein großes Spektakel, das in seiner stimulierenden Wirkung die Filme in den Kinosälen übertref-fen sollte.

Lefèbvre schreibt von den Situationisten ab, wenn er fordert…

»… eine vollständige Mobilisierung – nicht der Bevölkerung, sondern des Raums. Das Vergängliche muss sich seiner bemächtigen. Jeder Ort muss multifunktionell, polyvalent, transfunktionell mit unablässigen ›turnover‹ der Funktionen werden; Gruppen müssen die Räume beschlagnahmen, um expressive Handlungen und Konstruktionen zu vollbringen, die in bälde zerstört werden können.« (Lefèbvre 2003 [1970]: 140f.)

Schon die Collagen, die in dem Organ der Internationalen Situationisten abgebildet sind, deuten die angestrebte Neuordnung beziehungsweise Neu-Unordnung an. Stadtpläne werden hier auseinandergeschnitten, zerstückelt und neu zusammen gesetzt. Guy Debord hat in einer Collage städtische Fragmente mit Pfeilen versehen, um die kritisierte steinerne Stadt symbo-lisch zu dynamisieren (siehe Abbildung 7). Einen Eindruck von der situati-onistischen Stadtvision gibt die phantastische Stadtbeschreibung von Gilles Ivain, die er in seinem »Formular für einen Neuen Urbanismus« entwirft. Jedes Viertel entspricht hier bestimmten Gefühlszuständen und Lebenssi-tuationen, die das Leben der Individuen insgesamt gestalten sollten, von der Euphorie bis zum Tod, von der Schule bis zur kosmologischen Ein-heit. Um seine Vision darzustellen, bedient sich Ivain aus den für die Situ-ationisten typischen Versatzstücken der Werbesprache, die zwar kritisiert wurde, die man sich jedoch als Folie massenwirksamer Botschaften aneig-nete. Die Stadt wird hier wie die Gebiete eines Themenparks verfügbar gemacht:

»Die Viertel dieser Stadt könnten den verschiedenen katalogisierten Gefühlen entsprechen, die man im gewöhnlichen Leben zufällig antrifft.

Ein seltsames, ein glückliches – ganz besonders dem Wohnen zugedachtes –, ein edles und tragisches (für die braven Kinder), ein historisches (Museum, Schu-len), ein nützliches (Krankenhaus, Lagerräume für Werkzeuge), ein finsteres Viertel usw. … Dann ein ›Sternengarten‹, in dem man die Gattungen der Pflanzenwelt nach den Beziehungen gruppieren könnte, wie sie mit dem Rhythmus der Sterne

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eingehen, eine Art Planetengarten, dem vergleichbar, den der Astronom Thomas auf dem Laaer Berg errichten will. Unbedingt notwendig, damit sich die Bewohner des Kosmischen bewusst werden. Vielleicht auch ein Todesviertel, nicht um dort zu sterben, sondern um in Frieden zu leben – hierbei denke ich an Mexiko und an ein Prinzip der unschuldigen Grausamkeit, das mir jeden Tag teurer wird.

Das finstere Viertel würde zum Beispiel vorteilhaft jene Löcher oder Mündun-gen zur Hölle ersetzen, die früher in den Hauptstädten mancher Völker zu finden waren und die unheilbringenden Lebensmächte versinnbildlichten …« (Ivain 1958: 55)

Die Technik, mit der die »Psychogeographie«, also die gefühlte und gefühl-volle Ordnung der Stadt entdeckt und frei gelegt werden sollte, war das dérive, das Umherschweifen im Stadtraum. Das dérive war ähnlich der heutigen Szenepraxis darauf angelegt, kurze Ereignisse an unterschiedli-chen Stellen der Stadt zu inszenieren, dafür bestimmt, die gewohnten in-nerstädtischen Abläufe für einen kurzen Moment anzuhalten, zu irritieren oder umzuleiten. Wie Lefèbvre es als »unablässiges turnover« des Stadt-raums beschreibt, sollte in dafür geeigneten Umgebungen »Situationen« konstruiert werden, die ihre eigene Wirklichkeit erzeugen und in einem einzigen Moment alle in der Routine des Alltagslebens verborgenen Ge-fühle und Stimmungen zum Ausdruck bringen. Wenn »das Leben der Menschen aus einer Folge zufälliger Situationen« (Debord 1995 [1957]: 41) besteht, so sollte durch die »Konstruktion von Situationen« (ebd.: 28) eine »Erweiterung des nicht-mittelmäßigen Teils des Lebens« erreicht werden und eine »Verringerung der leeren Augenblicke« (ebd.: 40). Debord schreibt über diese Praxis in der Form eines Lexikon-Eintrags30:

»Eine oder mehrere Personen, die sich dem Umherschweifen widmen, verzichten für eine mehr oder weniger lange Zeit auf die ihnen im allgemeinen bekannten Bewegungs- beziehungsweise Handlungsmotive, auf ihre Beziehungen, Arbeits- und Freizeitbeschäftigungen, um sich den Anregungen des Geländes und den ihm entsprechenden Begegnungen zu überlassen« (Debord 1995 [1958]: 64).

Durch die Technik des Umherschweifens, das Durchqueren und Gegen-einanderstellen von Räumen und Vierteln, sollte der Stadtraum zerlegt, verstreut und neu zusammen gesetzt werden, bis seine »psychischen Kli-mazonen« (Debord 1995 [1956]: 18) spürbar und für den Augenblick er-fahrbar werden. Es sollte ein Chaos angezettelt werden, das die Routine

—————— 30 Um ihren Visionen Nachdruck zu verleihen und den Anschein von Pseudo-Faktizität zu

geben, kockettierten die Situationisten mit dem objektivistischen Stil lexikalischer Dar-stellungsformen.

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durchbricht und die geheimen Qualitäten der Stadt für jedermann wahr-nehmbar macht, zum Beispiel den »Stimmungswechsel auf einer Straße in einer Entfernung von nur wenigen Metern; die offensichtliche Aufteilung einer Stadt in einzelne, scharf unterscheidbare psychische Klimazonen; die Richtung des stärksten Gefälles (ohne Bezug auf den Höhenunterschied), dem alle Spaziergänger ohne bestimmtes Ziel folgen müssen; der anzie-hende oder abstoßende Charakter bestimmter Orte« (ebd.: 18), etc. »Alles, was unsere Wahrnehmung der Straßen verändert, ist wichtiger als das, was unsere Wahrnehmung der Malerei verändert« (ebd.).

Es finden sich in den situationistischen Pamphleten wenig Schilderun-gen, wie diese Situationen im real stattfindenden städtischen Alltag reali-siert werden könnten, doch wo sie ausformuliert werden, erinnern sie sehr an die temporären Besetzungen der Berliner Szene. Mit Henri Lefèbvre pflegten die Situationisten einen emphatischen Begriff des Festes – la fete – durch die die Leiden in und an der modernen Gesellschaft – Vereinze-lung, Entfremdung und Gefühlskälte bis hin zu dem an die Hippies ge-mahnenden Verlust der »kosmologischen Einheit« – überwunden werden sollten. Dieses Potenzial des Festes sollte in den Stadtraum hinein getragen werden und dort seine utopische Wirkung entfalten. In der Phantasie hiel-ten sie Feste an unterschiedlichen Orten in der Stadt ab, deren ursprüngli-cher Zweck durch die festliche Aneignung »umfunktioniert« werden sollte, sodass die in Stein gegossene städtische Ordnung irritiert werden würde. Das berühmteste Beispiel ist die karnevaleske Besetzung des Justizpalastes in Brüssel, dessen labyrinthische Räume Raoul Vaneigem mit einem rau-schenden Fest bedachte:

»In dem Irrgarten von Gängen, Treppen und Zimmerfluchten machten wir uns zunächst ein Bild von unseren Gestaltungsmöglichkeiten, richteten uns dann auf dem eroberten Territorium ein und verwandelten diesen Galgenpalast auf einem Spaziergang unserer Fantasie in einen traumhaften Jahrmarkt.« (Vaneigem 1967: 78)

Neben der Umfunktionierung symbolträchtiger Räume erträumten sie sich auch mobile Architekturen, die wie die Mode wandelbar sein sollten: »Wir werden die mechanische Zivilisation und die kalte Architektur, die am Ende ihres Wettrennens zur gelangweilten Freizeit führen, nicht verlän-gern. Wir haben vor, neue bewegliche Ausstattungen zu erfinden« (Ivain 1958: 54). An manchen Stellen der situationistischen Pamphlete fühlt man sich an futuristische Häuser im Stile von Buckminster Fuller erinnert, die, wie einmal vorgeschlagen wurde, in ihren Bewegungen dem Stand der

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Sonne folgen und sich mobil zwischen »See« und »Wald« bewegen. An anderer Stelle deutet sich hingegen eine Leidenschaft für die bereits beste-hende Stadt und ihre Geheimnisse an, die wie der Justizpalast durch tem-poräre Besetzungen in Transiträume verwandelt werden. So interessierten sie sich auch für die bereits vorhandenen Lücken und Leerstände in der Stadt, und Debord erwähnt an einer Stelle explizit »Abbruchhäuser« (De-bord 1995 [1958]: 67), die es anzueignen gilt:

»Die etwas zusammenhanglose Lebensweise und sogar gewisse für fragwürdig gehaltene Scherze, die in unseren Kreisen immer sehr geschätzt wurden (wie zum Beispiel sich nachts in die Stockwerke von Abbruchhäusern stehlen; während eines Verkehrsmittelstreiks ununterbrochen per Anhalter durch Paris fahren, unter dem Vorwand, das Chaos noch schlimmer zu machen, indem man sich irgendwohin bringen lässt, in den für Besucher verbotenen Gängen der Pariser Katakomben umherirren), wären also einem allgemeineren Gefühl zuzuschreiben, das kein anderes als das Gefühl des Umherschweifens wäre.« (ebd.)

Für die Situationisten, die ihr eigenes Programm nur als »Übergangspro-gramm« (Debord 1995 [1957]: 41) verstanden, auf das eine noch ungewisse Zukunft folgen sollte, stellten Abbruchhäuser (und die hier ebenfalls er-wähnten untergründigen Katakomben, jene traditionell subkulturellen Orte) jene »symbolischen Bauwerke« dar, »die die vergangenen, gegenwär-tigen und zukünftigen Begierden, Kräfte und Ereignisse« (ebd.: 55) bün-deln. Hier werden, wie auch in der Berliner Szene, Welten für eine Nacht geschaffen, die vergänglich wie Filmkulissen (locations) sind und wieder verlassen werden können, als hätten sie nie existiert. Ebenso wie die ge-heimnisvollen Orte unter der Erde, die Keller oder »Katakomben«, stellen sie privilegierte Orte der Konstruktionen von Situationen dar, die auf eine noch ungewisse Zukunft verweisen:

»Je nachdem, was Sie suchen, wählen Sie eine Gegend, eine mehr oder weniger dicht bevölkerte Stadt, eine mehr oder weniger belebte Straße. Bauen Sie ein Haus. Richten Sie es ein. Holen Sie das Beste aus seiner Aufmachung und Umgebung heraus. Wählen Sie Jahreszeit und Stunde. Bringen Sie die geeignetsten Personen sowie die passende Musik und alkoholische Getränke mit. Beleuchtung und Kon-versation sollten natürlich dem Anlass angemessen sein, ebenso wie das Wetter oder ihre Erinnerungen. Wenn Sie keinen Fehler in ihrer Rechnung gemacht ha-ben, muss das Ergebnis Sie zufrieden stellen.« (Debord 1995 [1956]: 18)

Es überstieg allerdings das organisatorische Fassungsvermögen der Situati-onisten, sich das dérive mit mehr als zehn Individuen in der Stadt vorzu-stellen. In ihren Beispielen bleiben sie der Vorstellung verhaftet, das dérive

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müsste als eine zeitlich begrenzte Aktionseinheit durchgeführt werden. Sie ziehen nicht in Betracht, dass es dazwischen Sprünge, Unregelmäßigkeiten und Alltäglichkeiten geben könnte, wie sie normale Stadtbewohner in ihrer städtischen Existenz erleben, die nur temporär, wie in der heutigen Berli-ner Szene, zu Festorten zusammenfinden, und in diesen Momenten dann eine Choreographie auf gesamtstädtischer Ebene vollziehen, indem sie den wechselnden locations konzertiert folgen. Weil sie den Begriff der »Szene« nicht kannten (oder nicht auf die Idee kamen, ihn zu benutzen), beschrän-ken sich die Situationisten in ihrer Umsetzung auf einen elitären Kreis an Umherschweifenden, den sie selbst darstellen, der durch sein Tun eine Vorbildfunktion einnimmt, die den restlichen Stadtbewohnern quasi die Augen öffnen soll, sie schockiert, zur Nachahmung anregt beziehungs-weise »zur Handlung nötig(t)« (ebd.: 49). Dass bei den wechselnden locations der heutigen Berliner Szene tausende von Individuen sich mit Hilfe von Mundpropaganda und E-Mail-Verteiler konzertiert durch die Stadt be-wegen, war Ende der 1950er Jahre noch nicht vorstellbar.

Zieht man in Betracht, dass Henri Lefèbvre eine temporäre Besetzung der Pariser Markthallen (»Les Halles«) in den 1960er Jahren als genuinen Moment definiert, so erlauben die Manifeste der Situationisten, eine kleine Phänomenologie des Moments: Der Moment geschieht im Stadtraum auf Territorien, die bislang undefiniert waren (Abbruchhäuser) oder neu defi-niert (umfunktioniert) werden. Der Moment (des Festes) sensibilisiert für die sinnlichen Qualitäten (Magie) der Umwelt und er existiert außerhalb etablierter Kunsträume sowie außerhalb kapitalistischer Erlebnisräume, es sei denn, sie werden selbst umfunktioniert.

Für die marxistisch gesinnten Situationisten beweist das Moment seine Qualität nur darin, in Richtung einer Veränderung des Alltags hin zu einer klassenlosen Gesellschaft. Das Proletariat taucht jedoch bei ihren Festbe-schreibungen nicht auf, ebenso wie es in den Festen des Techno-Under-ground abwesend ist (Kalle ist zwar seines Zeichens Zimmermann, sein Habitus ist jedoch der des Neuen Kleinbürgers). Allerdings hat das soziale unten auf symbolischer Ebene zentrale Bedeutung für den Techno-Un-derground Berlins, worauf im Kapitel über die Wagenburgen noch zurück zu kommen sein wird.

Um die Phänomelogie der Momente noch weiter zu verdichten, sollen im Folgenden weitere historische und aktuelle Beispiele des Umherschwei-fens im Stadtraum beschrieben werden. Bei dieser stichpunktartigen Ge-nese einer kulturellen Praxis ist dabei am Beispiel Kreuzbergs auch auf die

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Hausbesetzerbewegung der 1970er Jahre einzugehen, da sich zu dieser Zeit die kulturelle Praxis der Raumbesetzung entwickelte, die damals noch nicht temporär war, jedoch bereits Züge der heutigen Raumerkundung besaß.

Kreuzberg: Hausbesetzung als Moment

Die tatsächliche, nicht nur in Manifesten formulierte Besetzung und Um-funktionierung von Räumen wurzelt in der Tradition der Hausbesetzun-gen, wie sie seit Ende der 1970er Jahre und heute immer noch in westli-chen Städten praktiziert wird. Die Besetzung eines Gebäudes zur Veran-staltung einer Party ist zwar ein anderer Vorgang als die Besetzung eines ganzheitlichen Lebensraums, als welcher die Hausbesetzungen galten und gelten, dennoch finden sich die damals eingeübten Haltungen und Recht-fertigungen des eigenen Tuns bei den heutigen temporären Raumbeset-zungen wieder. Wenn Räume zum Partyfeiern besetzt werden, dann nimmt man sich im Verständnis der Besetzer den Freiraum, der einem zur Ver-wirklichung eines erfüllten, bedeutungsvollen Lebens zusteht. In der anar-chistischen Logik der Besetzer wird Privateigentum vorübergehend zu kollektivem Eigentum erklärt.

Um die Ideologien besser verstehen zu können, die die Raumbesetzun-gen unterfüttern, soll im Folgenden auf die Hausbesetzerbewegung als damals neue Form des Umgangs mit und der Aneignung von Raum einge-gangen werden. Dies erfolgt am Beispiel Kreuzberg, dessen »Besetzerzei-ten« die Akteure des Techno-Underground teils selbst noch miterlebt ha-ben.

Die ersten Hausbesetzungen fanden Ende der 1970er Jahre statt. In der gesellschaftlichen Debatte wurden Hausbesetzungen vor allem als politi-sche Bewegung gegen den ausbeuterischen »Schweinestaat« interpretiert, wo die illegale Aneignung von Wohnraum ein Kampf gegen Immobilien-spekulation und ganz allgemein gegen kapitalistische Machtstrukturen darstellte. Hier sollen jedoch die utopischen und hedonistischen Momente der Bewegung dargestellt werden, die oft vernachlässigt werden, die sich jedoch bezeichnenderweise im Gegensatz zur politischen Dimension der Besetzerbewegung weiter tradiert haben. 31

—————— 31 Der Aktivist Geronimo räumt in seinem Buch über die Hausbesetzerbewegung, Feuer

und Flamme (Geronimo 1990) ein, die gegenkulturellen und hedonistischen Aspekte der

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Hausbesetzungen waren aus dieser Perspektive eine logische Konse-quenz aus der vorangegangenen Hippie-Bewegung. Wie Stuart Hall über die Hippies schreibt, zielte ihr Streben auf die Verwirklichung eines erfüll-ten Gemeinschaftslebens jenseits von kapitalistischer Ausbeutung, Ent-fremdung und Anonymität. Durch tätiges Handeln wollte man ein erfüll-tes, gemeinschaftliches Leben im Hier und Jetztverwirklichen, das in uto-pischer Weise eine zukünftige Gesellschaftsordnung (nach der Revolution) vorwegnehmen sollte (Hall 1968: 25ff.). Ernst Bloch prägte hierfür den Begriff der »konkreten Utopie« (Bloch 1918), den auch die Hippies und später die Besetzer übernahmen, mit dem er, wie bereits erwähnt, Kritik an einem dogmatischen, marxistischen Revolutionsgedanken übte und auf die Vielfalt des Utopischen hinwies.

Dass es für dieses Experiment auch Freiräume bedarf, war eine Er-kenntnis der späten 1970er Jahre, die in der Hausbesetzerbewegung zu einem Politikum wurde. Die von den Hippies bereits in Ansätzen reali-sierte »konkrete Utopie« sollte mit der Besetzung von Häusern, das heißt mit der Schaffung von Freiräumen, verwirklicht werden. Es sollten kon-krete Orte in der Gesellschaft entstehen, an denen die Realisierung indivi-dueller und kollektiver Ideale möglich sein sollten Häuser wurden besetzt, um jenseits gesellschaftlicher Zwänge mit Formen sozialen Zusammenle-bens zu experimentieren und utopische Ideale eines kollektiven, ganzheitli-chen und lustbetonten Lebens zu verwirklichen. Der Tunix-Kongress von 1978, der als Auftakt der Hausbesetzerbewegung gilt, brachte diese Forde-rung nach unmittelbarer Lusterfüllung auf den Punkt. Er wurde von der Berliner Sponti-Szene organisiert, die sich ihrerseits von einem verstaub-ten, dogmatischen Politikverständnis der APO-Bewegung, aus der sie selbst hervorgegangen war, fortentwickelte. So heißt es in einem auf einem Kongress verteilten Flyer, mit dem man durch die Kritik an der Plastikwelt mit ihren »Reaktoren«, »Stadtautobahnen« und ihrer »plastikverseuchten Wurst« bereits zentrale Themen der 1980er Jahre formulierte:

—————— Bewegung vernachlässigt zu haben: »Ich bin nach der ersten Fassung darauf aufmerksam gemacht worden, dass es einer Frechheit gleichkommt, eine Abhandlung zur Geschichte und Gegenwart der Autonomen in den 70er und 80er Jahren zu schreiben, ohne dabei den großen Einflus der Rock- und Punkmusik sowie des süßen Drogenrausches auf die Szene auch nur einmal erwähnt zu haben. Ich bitte mir dieses Versäumnis als manchmal vielleicht etwas trocken wirkenden, bolero-hörenden Bücherjunkie nachzusehen…« (ebd.: 5).

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»UNS LANGT’s JETZT HIER! – Der Winter ist uns zu trist, der Frühling zu verseucht, und im Sommer ersticken wir hier. Uns stinkt schon lange der Mief aus den Amtsstuben, den Reaktoren und Fabriken, von den Stadtautobahnen. Die Maulkörbe schmecken uns nicht mehr und auch nicht mehr die plastikverseuchte Wurst. Das Bier ist uns zu schal und auch die spießige Moral. Wir woll’n nicht mehr immer dieselbe Arbeit tun, immer die gleichen Gesichter zieh’n. Sie haben uns genug kommandiert, die Gedanken kontrolliert, die Ideen, die Wohnung, die Pässe, die Fresse poliert. Wir lassen uns nicht mehr einmachen und kleinmachen und gleichmachen. – WIR HAUEN ALLE AB! – … zum Strand von Tunix.« (zit. nach Geronimo 1990: 68)

Wie Barbara Lang in ihrem Buch Mythos Kreuzberg schreibt (Lang 1998), fand jener Strand tatsächlich in Berlin, im alternativen Kreuzberg, seine Verwirklichung, womit Kreuzberg in informierten Kreisen der westlichen Welt zu einem Symbol der Widerständigkeit der Hausbesetzerbewegung wurde.32 Am Rande Westberlins gelegen, an drei Seiten umgeben von der Mauer, war es aufgrund dieser Randlage ökonomisch uninteressant und somit eine ideale Nische für alternative Kultur. Inmitten des real existie-renden Sozialismus gelegen und zugleich abgekoppelt von den Normen des verhassten »Modells Deutschland« bot die »Insel« West-Berlin all je-nen, die aussteigen und nach anderen Wegen suchen wollten, ein passendes Experimentierfeld für alternative Projekt- und Lebenszusammenhänge. Die Utopie einer »Zweiten Kultur« (Hoffmann-Axthelm 1978) mit all ihren Widersprüchlichkeiten wurde im sozialen und kulturellen Experimentier-raum Kreuzberg realisiert.

Wie nach der Wende in Ostberlin, profitierte man auch damals von ei-nem hohen innerstädtischen Leerstand. Es sollte eine (in dem Tunix-Flyer erwähnte) Stadtautobahn durch Kreuzberg gebaut werden, weshalb die Grundstückspreise an Wert verloren, kein Investor investieren und die Altbauten sanieren wollte, und viele Gebäude leerstanden und zerfielen. Zudem war dies die Zeit der städtebaulichen Neuorientierung, die die Modernisierung der Innenstädte vorantrieb. Es bestanden Pläne, die Häu-ser abzureißen und moderne Neubauten an ihre Stelle zu setzen. Dem stellten sich die Hausbesetzer entgegen und realisierten stattdessen ihre

—————— 32 Viele aus der damaligen Hausbesetzerszene siedelten nach 1989 nach Ostberlin über,

um die Geschichte fortzuschreiben. Der Kreuzberger Besetzer Johann Christoph Wartenberg schrieb über das Ostberlin der späten 1980er Jahre, wo eine Tante von ihm, die er besuchte, in der Stargarder Straße im Prenzlauer Berg wohnte: »Der graue Verfall im Prenzlauer Berg war noch mal eine Steigerung gegenüber Kreuzberg, hier schien alles noch trostloser« (Wartenberg 2004: 201).

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eigene Vorstellung von einem neuen Kreuzberg, was ihrem Handeln neben der utopischen auch eine realpolitische Dimension gab. Während der Ber-liner Senat durch seine Unschlüssigkeit die wertvolle Atlbausubstanz ver-fallen ließ, versuchten die Besetzer die Häuser wieder instandzusetzen, weshalb sie ihre Bewegung auch »Instandbesetzung« nannten. Sie insze-nierten sich selbstbewusst als die besseren Stadtplaner, wie man es formu-lieren könnte, und die Geschichte gab ihnen insofern recht, als das Gentri-fizierungspotenzial Kreuzbergs sich aus den Altbauten speist, wohingegen die Neubauten als soziale Brennpunkte stigmatisiert werden und teilweise sogar wieder abgerissen werden sollen (wie das Kreuzberg-Zentrum am Kottbusser Tor).

Da sie für sich beanspruchten, eine bessere Gesellschaft herbeizufüh-ren, sahen sich die Besetzer im Recht, sich den dafür nötigen Raum einfach zu nehmen und notfalls gewaltvoll anzueignen. Dieser Akt der Besetzung stellte dabei bereits den ersten Schritt zur Realisierung einer anderen Ord-nung dar. Indem sie bestehende, privatrechtliche Besitzverhältnisse igno-rierten, realisierten sie bereits punktuell die Vorstellung eines kollektiven Gemeinguts, das nicht von einzelnen Privatpersonen verwaltet wird, son-dern von allen Individuen gemeinschaftlich geteilt werden sollte. In der Hausbesetzung wurde kein Regelbruch gesehen, sondern vielmehr verhalf man mit ihr einer (zumindest behaupteten) besseren sozialen Ordnung zu ihrem Recht, die auf anarchistischem Gedankengut basiert. Nach der anar-chistischen Logik der Besetzer holt man sich mit Besetzungen lediglich das zurück, was einem qua Geburt natürlicherweise zusteht – Raum zur freien Entfaltung der Persönlichkeit – und was einem der als Konstrukt postu-lierte Staat und die kapitalistische Gesellschaft gewaltsam genommen hat. So schreibt ein ehemaliger Kreuzberger Hausbesetzer in seinen im Selbst-verlag publizierten Erinnerungen:

»Unsere Parole war: ›Wir wollen Alles …Zurück.‹ Wir wollten all das wiederhaben, was uns die Gesellschaft seit unserer Geburt

Stück für Stück geklaut hat. Wir waren geboren, um FREI zu sein. Inzwischen waren wir geprägt und umgeben von Zwängen, Gesetzen, teils blödsinnigen Re-geln, Ängsten, Dummheit und Gewalt. Eigentlich schlimm, dass Menschen um Freiheit kämpfen müssen.« (Wartenberg 2004: 160)

Die Überzeugung, sich zu nehmen, was einem zusteht und was der Staat lediglich verwehrt, kehrt in der heutigen Rhetorik der temporären Besetzer wieder. »Freiräume schaffen« ist auch heute noch die zentrale Formel, mit der das eigene Tun begründet wird. Es ist die selbstbewusste Artikulation

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einer Subkultur, die sich nicht anders als menschlich begreift, für die aber gesellschaftlich keine Räume vorgesehen sind. Die Nischen der Stadt, die urbanen Brachen und Leerstände sind die Orte, an denen die eigene Kultur am ehesten zu verwirklichen ist, da sie selbst temporär arrangiert sind. Die Subkultur ist gesellschaftlich ebenso randseitig lokalisiert wie die Räume, die sie besetzt. Die Ausrangiertheit der Gebäude wird in deren Verfall sichtbar und ist gleichzeitig das Symbol der Anarchie, welche die Akteure in diese Räume getrieben hat.

Neben der Schaffung von Freiräumen muss noch auf einen anderen Aspekt der Hausbesetzung hingewiesen werden, der heute ebenfalls wie-derkehrt und das »Wilde« der Häuser- beziehungsweise Raumbesetzungen besonders spürbar macht: der Akt der Eroberung selbst. Diesem ist im Diskurs um die Hausbesetzerbewegung wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, weil vor allem die Frage interessierte, was in den eroberten Räu-men nach der Besetzung getan wurde, das heißt welche sozialen und kultu-rellen Experimente stattfanden, denen manche eine Vorbildfunktion zu-sprachen. Liest man die Autobiographie des Kreuzberger Hausbesetzers Johann Christoph Wartenberg, so mag es jedoch scheinen, als ob das Mo-ment der Raumeroberung, die symbolische und konkrete Übertretung der zu Stein gewordenen gesellschaftlichen Ordnung mit ihren wohl definier-ten Besitzgrenzen, den Höhepunkt der Besetzung darstellt. Ohne die Er-rungenschaften klein reden zu wollen, die anschließend, nach der Beset-zung, in den eroberten Freiräumen aus den sozialen Experimenten ent-standen, verwirklicht sich dennoch das Besetzerideal zu keinem Zeitpunkt so vollständig wie im Akt der Besetzung selbst. Nach der Besetzung folgt in Wartenbergs Autobiographie zwar eine kurze Phase des euphorischen Einrichtens in den Räumen, die Geschichte danach ist allerdings eine Ge-schichte des Zerfalls, bei der Stück für Stück die anfängliche Energie verlo-ren geht – diese »Verspießerung« ist den Besetzern auch vorgeworfen wor-den und bestimmt auch die Selbstkritik. Wenn das Gebäude nicht geräumt wurde, so erhielten die Besetzer legale Verträge und profitierten nun von einer Wohnung in optimaler Lage und gutem Preis-Leistungs-Verhältnis.

Der Höhepunkt der Besetzung ist deshalb an jener Stelle gegeben, wo Wartenberg in seiner Autobiografie die Tage vor der Besetzung des Ge-bäudes beschreibt, wo das Gelände ausgekundschaftet und die nötigen Vorbereitungen getätigt werden. Die Euphorie der Eroberer, gepaart mit der atmosphärischen Sensibilität der verlassenen und bald zu belebenden Räume, erinnert an die temporären Raumbesetzungen der heutigen Szene.

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In der selben Weise vollziehen sich Stadterkundungen, die heute der Veranstaltung einer Party vorangehen: das Gelände wird erkundet und die Party gleichermaßen konspirativ wie euphorisch vorbereitet. Wäre Johann Christoph Wartenberg heute unterwegs gewesen, so hätte er den Ort ver-mutlich nur als location benutzt und hätte es bei einer Party belassen. Diese oberflächliche Berührung hätte das dauerhafte Experiment der Hausbesetzung verunmöglicht, aber es hätte stattdessen ermöglicht, den Anfang in seinem Zauber zu belassen. Dieser Zauber wird heute immer wieder von Neuem erzeugt. Er wird nicht nur einmal, zur Hausbesetzung, sondern hundertfach, zur Besetzung der Location, wiederholt und genos-sen. Wie in Wartenbergs Darstellung deutlich wird, endete hingegen die damalige Besetzung von Freiräumen immer im Kampf.

Trotz dieser ideologischen Parallelen zwischen temporärer und dauer-hafter Raumbesetzung klaffen freilich beide Formen in politischer Hinsicht auseinander, da sich das politische Klima in Deutschland vom »No-Fu-ture«-Pessimismus des Kalten Krieges zur hedonistischen Erlebnisgesell-schaft wandelte (vgl. Lang 1998: 229ff.). Der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch der Sowjetstaaten beendete den Kalten Krieg und entspannte das politische Klima, wobei Barbara Lang darauf hinweist, dass schon Ende der 1980er Jahre ein Gesinnungswandel einsetzte. Gewisser-maßen als enttäuschte und desillusionierte Reaktion auf das Scheitern idea-listischer Ziele schob sich Ende der 1980er Jahre allmählich das Bestreben, möglichst viel und mögliches »Schönes« zu erleben in den Vordergrund und Mittelpunkt des Lebens. So breitete sich allenthalben eine gewandelte Disposition gegenüber Hedonismus, Lust und Genuss aus. Sich zu amüsie-ren, Geld für Luxus und Nutzloses auszugeben, war nicht mehr verpönt. Lang schreibt: »Hieß der Leitspruch der siebziger Jahre: ›Seien wir realis-tisch, fordern wir das Unmögliche‹, so müsste seine zeitgemäße Abwand-lung in den achtziger Jahren lauten: ›seien wir realistisch, fordern wir nichts Unmögliches‹« (Lang 1998: 231).

Hakim Bey: Temporäre Autonome Zone

Etwa zeitgleich mit dem Mauerfall und den breiteren historischen Trans-formationsprozessen entwickelte sich Ende der 1980er Jahre weltweit die Technokultur, die sich dadurch auszeichnete, dass Partys an wechselnden

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Orten veranstaltet wurden, in alten Fabrikhallen, Warehouses und in freier Natur. Zwar hatte die Bohème sich schon früher Leerstände angeeignet, um dort zum Beispiel Ateliers einzurichten, und auch dort hatte es Feste gegeben (vgl. Cohen und Strachen 2004: 398). In den 1960er Jahren wurde »Andy Warhols Factory« berühmt – ein, wie man sich unschwer herleiten kann, leer stehendes Fabrikgebäude in New York, in dem rauschende psy-chedelische Feste gefeiert wurden. Tom Wolfe berichtet in seinem legendä-ren, autobiografischen Hippie-Roman The Electric Kool-Aid Acid Test ebenfalls von Partys in für diesen Zweck umfunktionierten Räumen, die in den späten 1960er Jahren in Kalifornien stattfanden, zum Beispiel in einer brach liegenden Ferienanlage am Strand (Wolfe 1968: 239). Doch mit dem Aufkommen der elektronischen Technomusik, die speziell für Räume zum Tanzen komponiert wurde, erhält die Raumexploration, wie ich es nennen möchte, Ende der 1980er Jahre eine kulturelle Semantik.

»To rave« übersetzt der Poptheoretiker Ulf Poschardt unter Zuhilfe-name des Lexikons mit »phantasieren, irrereden, rasen, toben, schwärmen, ausgelassen feiern« (Poschardt 1995: 286). Das Moment der Bewegung, das dieses Rasen und Schwärmen impliziert, bezieht sich dabei zum einen auf die imaginäre Reise, die man durch das wilde Tanzen, die kraftvolle »Tech-nomusik« und durch Drogenkonsum zusätzlich angeregt im Geiste begeht, zum anderen meint es eine reale Reise durch den Raum, bei der man sich auf eine Reise von »Location« zu »Location« begibt und leer stehende Ge-bäude und Brachen für Partyzwecke umfunktioniert. In dem bekanntesten Buch über Techno, das die Schweizer Philipp Anz und Patrik Walder, die sich selbst der Szene zuordnen, herausgegeben haben, schreiben sie: Die Brachen fungieren als »terra incognita: die letzten Räume des Unbestimm-ten und Vagen, die (noch) nicht verwertbar« sind und Raum für Imaginati-onen (Anz/Walder 1995: 206). Wie die Tanzenden mit der Musik in Be-ziehung treten und sich von ihren Melodien und Rhythmen leiten lassen, treten sie auch in Beziehung zu den Atmosphären der Räume, deren Be-schaffenheit sich je unterschiedlich auf die Gefühle und Empfindung aus-wirken kann. Die Raver »schwärmen« durch den Raum und berauschen sich am Wechsel der Räume.

Über diese kulturelle Praxis des nomadisierenden Partyfeierns zirkuliert im Internet ein digitales Manifest des Kultautors Hakim Bey, der die Orte des Partyfeierns mit dem Kampfbegriff »Temporäre Autonome Zone« belegt hat und dessen Manifest den gleichnamigen Titel trägt. Das Buch gilt in der Szene in Berlin und weltweit als »Insider-Tipp« und kann als

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Schlüsseltext zur temporären Raumnutzung betrachtet werden – meines Wissens gibt es kein vergleichbares Pamphlet zu dieser Thematik. Wie auch andere Texte Beys gibt es kein Copyright auf den Text und er ist in verschiedenen Sprachen im Internet einsehbar. Fan-Seiten zu Hakim Bey schmücken sich gerne mit anarchistischen Pop-Insignien, Anarchisten-Sterne, Totenköpfe, Pistolen sowie primitivistischer Ornamentik. Bey selbst inszeniert sich als Einsiedler, lebt zurückgezogen in der Nähe der Stadt New York und verweigert jeglichen öffentlichen Auftritt. Zu Wah-rung der Anonymität, wie er behauptet, benutzt er das Pseudonym »Hakim Bey«, das allerdings weniger bescheiden ist: »Hakim« ist ein arabischer Ausdruck für »Arzt«, »Richter«, oder allgemein für »Gelehrter«; »Bey« be-deutet »Herr«, »Fürst«; sein bürgerlicher Name ist Peter Lamborn Wilson. Seit längerem schon ist sein Manifest auch in Buchform veröffentlicht (das Titelbild zeigt eine Collage aus primitivistischen Symbolen, die an eine indianische Kultstädte erinnern), inzwischen auch in deutscher Sprache (Bey 1994). Das Buch hat es sogar in die Bibliothek der Kulturwissen-schaften der Humboldt-Universität zu Berlin geschafft, und gibt man bei Amazon den Titel des Buches ein, so ist es sehr aufschlussreich zu lesen, was Kunden, die dieses Buch gekauft haben, desweiteren erworben haben. Diese kleine Liste liest sich wie die komprimierte Pflichtlektüre der intel-lektuellen, sich links gebenden Avantgarde, versehen mit einer märchen-haften Note durch Lewis Carrolls »Alice im Wunderland«:

Karl Marx Jacques Derrida Gilles Deleuze Jürgen Mümken33 Lewis Carroll

Im Folgenden sollen die Kerngedanken von Beys Manifest »Temporäre Autonome Zone« wiedergegeben werden, die als ideologischer Überbau der temporären Raumnutzung, wie sie auch in Berlin praktiziert wird, be-trachtet werden kann.

»Wir suchen nach Räumen (geographischen, sozialen, kulturellen, ima-ginären)« schreibt Bey, »die potentiell als autonome Zone erblühen kön-nen«. Diese Räume werden »klandestin besetzt« um »eine ganze Weile in Ruhe unseren freudigen Zwecken nachzugehen« und anschließend weiter

—————— 33 Mümken, der im Gegensatz zu den anderen Autoren nicht bekannt sein mag, verfasste

jüngst ein Buch zu Anarchismus in der Postmoderne (2005).

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zu ziehen (Bey 1994: 115, 113). Bey sieht in dieser Praxis eine Form der konkreten Utopie, welche die Glückserfüllung einer zukünftigen Revolu-tion vorweg nimmt und im Hier und Jetzt lebbar und spürbar macht. Die Akteure dieser Utopie sind Reisende, im konkreten wie metaphorischen Sinn, die wurzellos aber vernetzt umher wandern und sich zu temporären Gemeinschaften zusammen schließen. Ihre revolutionäre Strategie ist nicht der Kampf, sondern das »Verschwinden« (ebd.: 143), indem man vor der Konfrontation geschmeidig zurück weicht und statt Widerstand zu leisten andere Orte sucht, an denen man ebenfalls so lange verweilt, bis man auch hier verschwinden muss: »Zuschlagen und abhauen« ist die Devise (ebd.: 114).

Beys Erörterungen reklamieren die zentralen Fragen revolutionären Denkens für sich: die Frage nach der Form des gesellschaftlichen Mitein-anders, nach dem Raum, wo dieses verwirklicht wird sowie nach dem Er-eignis, das diese herbeiführen kann. Es bleibt ambivalent, ob sich hier eine freizeitliche Vergnügungsform ein revolutionäres Pathos aneignet, oder ob umgekehrt, eine revolutionäre Strategie ihren höchsten Sinn im hedonisti-schen Partyfeiern entdeckt. So oder so tritt im Sinne des neuen Kleinbür-gertums an die Stelle der dauerhaften Durchsetzung einer neuen Gesell-schaftsform die kurzfristige Befriedigung dieser Bedürfnisse, die umso erfolgreicher ist, als sie sich in ihrer Flüchtigkeit genügt. Gemeinschaften müssen nicht dauerhaft haltbar sein, Räume nicht dauerhaft befreit: »Wir konzentrieren unsere Kraft auf temporäre ›Machtwellen‹ und vermeiden jegliche Verwicklung in ›permanente Lösungen‹« (ebd.: 115). Während revolutionäres Denken traditionell auf die Beseitigung sozialer Ungleich-heit, die Befreiung der Arbeiterklasse abzielt, konzentriert sich Bey auf die spontane, individuelle und kollektive Selbstverwirklichung. An die Stelle der sozialen Gleichheit tritt die kollektive Freiheit.

Diese Strategie speist sich, so Bey, aus der Erfahrung des Scheiterns je-der bisherigen Revolution. Eine neue Ordnung habe bisher noch keine Glückserfüllung gebracht, lediglich der spontane und flüchtige Moment des Aufstands selbst sei ein kurzer Moment der Utopie:

»Durch Revolution ist dieser Traum nie verwirklicht worden. Die Vision entsteht im Moment des Aufstandes – aber sobald ›die Revolution‹ triumphiert und der Staat wiederersteht, sind Traum und Ideal bereits verraten. Ich habe weder die Hoffnung auf oder gar die Erwartung von Veränderung aufgegeben, aber ich misstraue dem Wort Revolution« (ebd.: 112).

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Die Installierung von »Temporären Autonomen Zonen« konzentriert sich auf den Moment des Aufstands und entzieht sich seiner Konsequenzen. Sie gibt der Subjektivität Vorrang vor der sozialen Verantwortung, die Welt in ihrer Gesamtheit verändern zu wollen:

»Werden wir, die wir in der Gegenwart leben, denn niemals Autonomie erleben, niemals einen Moment lang auf einem Stückchen Land stehen können, das von Freiheit regiert ist? […] Müssen wir warten, bis die ganze Welt von politischer Kontrolle befreit ist, bevor nur ein einziger von uns behaupten kann zu wissen, was Freiheit bedeutet.« (ebd.: 110)

Das Kernstück dieser gelebten Utopie ist die Suche nach Räumen, in der die Feste, Festivals und »Dinner Partys« verwirklicht werden können. Wäh-rend das traditionelle revolutionäre Denken vor allem die Frage nach der Verwirklichung einer neuen sozialen Ordnung stellte, stellt sich für Bey vor allem die Frage nach dem Aufspüren von Freiräumen (wobei er auf eine »natürliche Anthropologie der TAZ vertraut«, ebd. S. 116). Hier fordert er in expliziter Bezugnahme auf das »deriver« (ebd. S. 118, 150) der

Künstlergruppe Situationistische Internationale eine »Psychotopologie« (ebd.: 114), die alternativ zur bestehenden geografischen Kartierungen und Vermessungen phantastische Formen der Kartierung erfindet, die »Kraft-ströme«, »Energiepunkte« (ebd.: 117) und »Erlebnishöhen« (ebd. S. 150) berücksichtigt:

»Breite eine Landkarte aus, darüber eine Karte des Netzes, besonders des Gegen-Netzes mit der Hervorhebung klandestiner Informationsströme und Logistik – und breite zum Schluss dann, über alles, die Karte der kreativen Imagination, Ästhetik und Werte im Maßstab von 1:1. Das entstehende Gitter wird lebendig, animiert von unerwarteten Energiewirbeln und – strömen, Lichterruptionen, ge-heimen Tunneln, Überraschungen.« (ebd.: 120)

Die esoterische Anmutung dieser Kartierung basiert auf der Erfahrung, dass Räume und Landschaft nicht nur geometrische Körper sind, sondern subjektiv wirken – insbesondere dann, wenn man sie im Rausch des Festes erlebt.

Dieser Psychotopologie, für Bey eine »alternative Wissenschaft« (ebd.: 115), wird durch die alternative Nutzung von vorfindlichen Räumen, durch Feste und soziale Zusammenkünfte Rechnung getragen. Hierin liegt das politische Moment der Psychotopologie, die das Recht auf die psychoto-pologische, das heißt subjektive, empfindsame Nutzung der Räume einfor-dert. Dem Regelwerk des staatlich und ökonomisch kontrollierten Raums werden die utopischen Potenziale des psychotopologischen Raums entge-

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gengestellt. Während die gesellschaftlich legitimierte Nutzung von Räumen nach Gesetz und Besitzrecht strukturiert ist, folgt die Nutzung der Tempo-rären Autonomen Zone den geheimen, verborgenen Regeln des subjekti-ven Raums. Daher ist das Finden tauglicher Orte und die Herausarbeitung ihrer subjektiven Qualität mit den Mitteln des Festes das vorderste Ziel der Psychotopologie: »Psychotopologie ist die Kunst, potenzielle TAZen aufzuspüren« (ebd.: 115). Diese werden gegen die Logik der gesellschaftlich etablierten Raumordnung durchgesetzt beziehungsweise richtet sich die Strategie darauf, »TAZen« trotz staatlicher und ökonomischer Kontrolle Wirklichkeit werden zu lassen. Nutzbar wird dabei die Tatsache, dass die staatliche und private Kontrolle des Raumes Lücken aufweist, dass bereits in der aktuellen Gesellschaft utopische, temporär unkontrollierte Nischen bestehen, die eine TAZ auch ohne Kampf ermöglichen. Mehr als Hoff-nung denn als gesellschaftsanalytischen Befund beschwört er die »Risse und Leerstellen« (ebd.: 113), die der ansonsten »omnipräsente Staat« (ebd.) aufweist.

»Unser Jahrhundert ist das erste ohne terra incognita, ohne unerschlossenes Gebiet. Nationalität ist das höchste Prinzip der Weltbeherrschung – nicht ein Felspartikel in der Südsee kann offen gelassen werden, nicht ein abgelegenes Tal, nicht einmal der Mond und die Planeten. Das ist die Apotheose des ›territorialen Gangstertums‹. Nicht ein Quadratzentimeter der Erde ohne Polizei oder ohne Steuer … so die Theorie.« (ebd.)

In Wahrheit sei die durch Atlanten und Weltkugeln nur mangelhaft reprä-sentierte Welt von Gebieten durchzogen, in denen die Realisierung einer TAZ möglich sei. Hierfür gibt er in der Einleitung konkrete Anweisungen, »Laufe zu den düsteren Räumen über« (ebd.: 7), die als Aufruf zu zivilem Ungehorsam gelesen werden können und sich an der Tradition subversiver Aktionen – »Sit ins«, Hausbesetzungen, Anti-AKW-Demonstrationen, Spaß-Guerilla-Aktionen – orientiert:

»Besetze ein Haus, sperre eine Autobahn, errichte ein Zeltlager neben einer Start-bahn oder einem AKW, erobere eine Stadt, leg einen Strommasten um, feiere deinen Geburtstag in der Oper, rauche einen Joint im Kinosaal, lass das Schulfest in großartiger Weise außer Kontrolle geraten, entführe einen Touristenbus und beschere den Insassen den aufregensten Tag ihres Lebens, baue eine Kirche zu einer öffentlichen Toilette um, stell deine Wagenburg in der Einkaufspassage auf.« (ebd.: 7)

Hausbesetzer sieht er als Avantgarde dieser Bewegung, als »unsere moder-nen Hobos« (ebd.: 145).

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Die oberste Prämisse ist dabei das Prinzip der Temporalität: zu ver-schwinden, bevor der Staat eingreifen kann: »Die TAZ ist wie ein Auf-stand, der nicht zur direkten Konfrontation mit dem Staat führt, wie eine Operation einer Guerilla, die ein Gebiet (Land, Zeit, Imagination) befreit und sich dann auflöst, um sich irgendwo/irgendwann zu re-formieren, bevor der Staat sie zerschlagen kann« (ebd.: 113). An die Stelle des Kam-pfes tritt das elastische Zurückweichen, das flexible Taktieren, bei dem man sich die Trägheit des Systems zu eigen macht und selbst geschmeidig und wendig bleibt. Diese Geschmeidigkeit schließt auch ein, dass man sich nicht als handelndes Subjekt konstituiert, sich keinen Namen gibt, sondern sich auflöst, noch bevor der Staat sich ein Bild davon machen kann, mit welchem Feind er es eigentlich zu tun hat.

»Ihre größte Stärke aber ist ihre Unsichtbarkeit – der Staat kann sie nicht wahr-nehmen, da die Geschichte keine Definition davon kennt. Sobald die TAZ be-nannt (repräsentiert, mediatisiert) ist, muss sie verschwinden, wird sie verschwinden und eine leere Hülse zurück lassen, nur um anderswo wieder zu entstehen, erneut unsichtbar, weil in Begriffen des Spektakels nicht fassbar.« (ebd.: 113)

Diese Praxis setzt den Lebensstil des neuen Kleinbürgertums voraus, die dem Weg gegenüber dem Zustand den Vorrang gibt (vgl. de Certeau 1988: 237) und die Bey verklärend als »nomadisch« bezeichnet. Sie erfordert, dass soziale und lokale Bindungen gelockert werden und an ihre Stelle das halt-lose Driften durch den Raum tritt. Dabei geht es weniger um die Schaffung neuer kultureller Typen und Praxen als vielmehr um die Verstärkung aktu-ell ohnehin schon vorhandener gesellschaftlicher Neigungen nach Stimula-tion, Reisen und Abenteuer. Die mobile Erlebnisgesellschaft ist nach Bey der kulturelle Nährboden, aus der heraus TAZen möglich werden. Dieser moderne Nomadismus betrifft nach Bey »nicht nur x-klassige Künstler und Intellektuelle« (ebd.: 119), sondern sie treffen »auf uns alle« zu, »die wir mit unseren Automobilen, unseren Ferien, unseren TVs, Büchern, Filmen, Telefonen, Jobwechseln, wechselnden »Lifestyles«, Religionen, Diäten, etc. leben« (ebd.). Hierin sieht er, wie schon Bourdieu, tausendfache Entwur-zelungen, deren soziale »Obdachlosigkeit« (ebd.) keinen Anlass zu Kultur-pessimismus bieten, sondern vielmehr den Ausgangspunkt einer neuen Gesellschaftsordnung darstellen. »Obdachlosigkeit«, so Bey, könne »in gewissem Sinne eine Tugend, ein Abenteuer« sein (ebd.).

Bey plädiert für ein offenes Modell sozialer Beziehungen, das sich we-niger am Ideal einer homogenen Gemeinschaft orientiert, sondern auch Beziehungsformen der aktuellen, arbeitsteiligen Gesellschaft mit einbe-

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zieht, diese weniger überwinden als ihrer Heterogenität ein utopisches Potenzial abringen will. Um dieses zu betonen, wählt er den archaischen Begriff der »Horde«, deren Beziehungen ungeordnet und unstrukturiert sind aber dennoch oder gerade deswegen funktionsfähig sind. Außer Freundschaften und Liebesbeziehungen bezieht Bey auch pragmatische Beziehungsformen ein: »Freundinnen/Freunde, Ex-Gattinnen/-gatten, Ex-Liebhaberinnen/-Liebhaber, Leute, denen man in verschiedenen Jobs und auf politischen Versammlungen, in Interessengruppen, Netzwerken, Mailnetworks, etc. begegnet ist« (ebd.: 116). Diese Aufzählung ist spürbar der Alltagserfahrung des neuen Kleinbürgertums entnommen, bei der in modernen Unternehmen und Agenturen (zum Beispiel Dotcoms) sowie politischen Vereinigungen (zum Beispiel Attac) und Internetcommunities pragmatische und freundschaftliche Beziehungen eng beisammen liegen.

Das oberste Strukturierungsmoment des sozialen Miteinanders ist nach Bey das Fest. Bey sieht in erster Linie »die TAZ als Festival« (ebd.: 117). Im Fest, begleitet von Musik, Speisen und Tanz, sieht Bey eine Form, in der sich das soziale Miteinander harmonisch fügt und keinerlei äußerer Regeln bedarf. Den Rhythmus gibt die ästhetische Gestaltung vor, die von den Beteiligten selbst getragen wird und an der alle wie die Instrumente eines Orchesters harmonisch mitwirken. Er verweist dabei auf Stephen Pearl Andrews Bild für die anarchistische Gesellschaft als »Dinner Party« (ebd.: 117) beziehungsweise »Salon« (ebd.: 157), »bei der jegliche Autori-tätsstruktur sich in Konvivialität und Zelebration auflöst« (ebd.: 117). Ste-phen Pearl Andrews war ein Anarchist (und Rechtsanwalt) des 19. Jahr-hunderts in den USA und publizierte mehrere Schriften, darunter auch »The Science of Society« (1852, im Deutschen »Die Wissenschaft von der Gesellschaft«, o.J.), in der er seine These zur »Gesellschaft als Dinner Party« formulierte. Er propagierte die Freie Liebe und gründete in Brent-wood im Staat New York die Kommune »Modern Times«. Unter der Ver-wendung von Andrews These schreibt Bey:

»Die höchste Form menschlicher Gesellschaft in der existierenden Ordnung ist im Salon zu finden. […] Gruppen werden nach Anziehung gebildet. Sie lösen sich stets wieder auf und bilden sich auf die gleiche subtile und alles durchdringende Weise neu. Gegenseitige Achtung durchdringt alle Klassen, und die perfekteste Harmonie, die je in komplexen menschlichen Beziehungen erreicht wurde, ist just unter den Bedingungen zu finden, die Gesetzgeber und Staatsmänner als Bedin-gungen unvermeidlicher Anarchie und Unordnung fürchten.« (Bey 1994: 157)

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In Anlehnung an Andrews sieht Bey in den »Gathering of the Tribes« der späten 1960er Jahren in Los Angeles (vgl. Sixties), in den Waldkonklaven von Öko-Saboteuren, in dem »idyllisch keltischen Maifest Beltane der Neo Haiden« (118) sowie in den »Harlem Rent Partys der zwanziger Jahre, Nachtclubs, Bankette, libertäre Picknicks der alten Zeit« (ebd.) die »Saat einer neuen Gesellschaft« (ebd.).

»Zusammengefasst: Der Realismus verlangt nicht nur, dass wir das Warten auf ›die Revolution‹ aufgeben, sondern auch aufhören, sie zu wollen. ›Aufstand‹, ja – so oft wie möglich und selbst unter dem Risiko der Gewalt. Das Zucken des Simulierten Staates wird ›spektakulär‹ sein, aber in den meisten Fällen wird die beste und radi-kalste Taktik sein, sich spektakulärer Gewalt zu verweigern, sich aus dem Feld der Simulation zurückzuziehen, zu verschwinden.« (ebd.:113)

Deindustrialisierung: Techno als Brachenmusik

Ebenfalls Ende der 1980er Jahre und mit dem Aufkommen der »TAZ« verbunden war die Umfunktionierung postindustrieller Brachen und ande-rer Leerstände zu Clubs, Bars und Lounges. Wie die »TAZ«, handelte es sich um Orte, die ursprünglich anderen Zwecken dienten und die tempo-rär, wenn auch für längere Zeit als die »TAZ«, als Party-locations genutzt wurden. Die »Clubkultur« (Thornton 1996, Plant 1997, Redhead 1998, Vogt 2005), wie sie teils auch genannt wurde, stellte eine neue Form des Nachtlebens dar, das nicht in Kneipen oder Diskotheken stattfand, son-dern in Räumen, die ursprünglich einen anderen Zweck erfüllten und de-nen man dies auch ansah.

Die räumliche Voraussetzung für diese Entwicklung (und zugleich ihr Motor) ist die Deindustrialisierung der Städte. Indem sich die gesellschaft-lichen Produktionsverhältnisse von der Industrie- zur Service- und Dienstleistungsgesellschaft gewandelt haben, verloren eine Vielzahl der Fabriken, die in den Städten im Zuge der Industrialisierung gebaut worden waren, ihren Nutzen. Das geringe Produktionsvolumen der über den Stadtraum verteilten Fabriken und Hinterhoffabriken entsprach nicht mehr den Bedürfnissen der Massenproduktion und des Massenkonsums. Die Produktion wurde auf große, moderne Fabriken außerhalb der Stadtgren-

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zen konzentriert oder in Niedriglohnländer der südlichen Hemisphäre verlagert.34 Ein zweiter Faktor für urbanen Leerstand ist außerdem die sogenannte »Schrumpfung« der Städte (Oswalt 2004), das heißt die Entlee-rung der Innenstädte durch den Bevölkerungsrückgang in westlichen Met-ropolen und den Abzug der Bevölkerung aus den Innenstädten in die Vor-städte (»Suburbia«). In Folge dessen leeren sich die Wohnhäuser und mit ihnen verschwinden Kleingewerbe, Einzelhandel und lokale Dienstleister, die ihre Kunden nunmehr eher in den Vorstädten als in den Innenstädten finden. Die Folge von Deindustrialisierung und Schrumpfung sind urbane Leerstände, die der Subkultur sowohl als Freiräume dienen als auch als romantische Kulisse, die eine neue Ästhetik des Zerfalls hervorgebracht haben. Alte Fabrikhallen, Lagerräume, Läden mit verblassenden Inschrif-ten und verlassene Wohnungen strahlen eine Atmosphäre des Vergängli-chen aus und bieten quasi eine Blaupause für zukünftige Projektionen.

Der Entstehungsmythos von Techno ist nicht zufällig mit der Stadt Detroit verbunden. Detroit eignete sich auf Grund seiner ruinösen Stadt-struktur als Symbol der Technobewegung. Auf Grund der massiven De-industrialisierung und der Abwanderung der StadtbewohnerInnen nach Suburbia war Detroit, das ursprünglich für 4 Millionen Einwohner geplant war, auf eine Millionen »geschrumpft« (Schrumpfende Städte). Detroit, Standort von »General Motors«, wurde so zu einer postindustriellen Bra-chen-Landschaft, die sich weniger als belebter Raum denn als abstrakte Projektionsfläche für den Technosound eignete. Sie erhielt ihren Ruhm nicht durch die lokalen Erfolgsgeschichten kleiner Bands, Clubs oder Mu-siklabels, die sich meist mit bestimmten Straßennamen und Straßenzügen verbanden, sondern durch einen der Musik äußerlichen Vorgang: Die Stadt evozierte eine Erfahrung der Leere, der Morbidität und des Zerfalls, die dem Zeitgeist der Technomusik ein steinernes Pendant gab. Der bekannte Londoner Techno-DJ Kirk DeGiorgio fasst diese Erfahrung der Leere in Worte: »I remember driving in from Chicago and seeing the hi-tech head-quarters for Ford and then I was in the most extreme poverty I’ve ever seen in my life, five minutes later. There’s just no hope at all. It’s just com-plete despair. Young girls on the street. You can really understand the

—————— 34 Die Folgen der Deindustrialisierung sind in Ostberlin bis heute sichtbarer als in

westdeutschen Städten. Auf Grund der maroden DDR-Wirtschaft blieben nämlich viele Fabriken unsaniert (oder wurden von privaten und »volkseigenen« Betrieben zwischen genutzt), die in westdeutschen Städten längst zu Lofts oder modernen Büro-Etagen um-gebaut wurden.

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melancholy feel of a lot of those early Detroit records, the coldness people associate with them« (Toop: 214). Detroit war die materialisierte Form einer »Tristesse royal«, die im tatsächlichen Zerfall der Stadt einen symboli-schen Imaginationsraum fand. Die Ödnis und das räumliche Vakuum, das durch den Bevölkerungsrückgang entstanden war, brachte eine Musik hervor, »to fill the emptiness«, wie es Juan Atkins, einer seiner Gründervä-ter, formulierte. So kann Techno als »Brachenmusik« bezeichnet werden (Diedrichsen 2004: 324). Es ist eine Musik der Leere, die eine Struktur oder Matrix vorgibt – wie die Gerippe der Stadtbrachen – aber selbst keinen Inhalt hat.

Einen interessanten Gedanken hierzu äußert Diedrich Diedrichsen, der Städte in eine Vorderseite und eine »Backside« (ebd.: 327) unterteilt und Technomusik in der Backside verortet. Die Vorderseite ist die repräsenta-tive Seite einer Stadt, die Geschäfte, Flaniermeilen, Touristenviertel und teuren Vergnügungsorte, die Backside sind die heruntergekommenen Stra-ßenzüge, die Industriebezirke und Schienen-Areale. Der untergründige Sound des Techno findet in dieser Backside einen Projektionsraum und einen konkreten Ort, wo er durch die Partys zur Aufführung kommt. Mit Rolf Lindner würde man diese »Backside« als »Unterseite der Stadt« be-zeichnen, als Raum des Exotischen, Anderen, Abweichlerischen. Es sind gesellschaftlich ausrangierte Räume, in denen sich die (vermeintlichen) gesellschaftlichen Randseiter aufhalten, deren soziale Lage sich in der Lage der Räume widerspiegelt. Dabei ist »Backside« auch wortverwandt mit »Backstage« und impliziert somit eine Bühnensituation, bei der man sich in der Untergründigkeit nicht selbst genügt, sondern sich inszenieren möchte, nicht zuletzt gegenüber der Frontside (auch wenn man sich in ihrem Schatten versteckt). Die Atmosphäre einer Stadt, so Diedrichsen, entsteht in dem Aufeinandertreffen von Vorderseite und »Backside«. Er benutzt hier die Metapher des Lichtkegels, der auf die offizielle Welt fällt, auf Vor-gänge »mit großem öffentlichen Interesse, […] großem ökonomischen Volumen, politisch oder symbolisch wichtigen Veranstaltungen« (ebd.: 327), der jedoch auch eine Schattenseite produziert, die Teil dieses Licht-kegels ist:

»Atmosphäre ist eine Funktion der Backside, der ›ripped‹ Backsides – der endlosen Brachen, der verfallenen und nutzlosen Gebiete, die aber mitten im Zentrum oder nicht weit davon zu finden und zu sehen sein sollten, die als erhabene Endlosigkeit neben der Endlichkeit des Geschäftigen und des Geschäfts, als Strand unter dem Pflaster, als uncodierter und unverkäuflicher Raum neben den Parzellen der Stadt einen Kontext geben, den diese nicht selbst setzt.« (ebd.)

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Nicht die »Backside« an sich hat nach Diedrichsein eine urbane Atmo-sphäre, sie erhält diese vielmehr im Übergang von der Vorder- zur Hinter- beziehungsweise von der Ober- zur Unterseite, von der Welt des Lichts in die Welt der Dunkelheit und des Zerfalls. Techno als Brachenmusik setzt in dieser Interpretation den Übergang von oben nach unten in Szene. Sie inszeniert eine Erfahrung, die primär eine Raumerfahrung ist (und erst in zweiter Hinsicht eine musikalische Erfahrung). Sie rahmt die Besetzung der »Backside«, die zum eigentlichen Ereignis wird. Nicht die Musik ist der Anlass, sich an einen Ort zu begeben (wie man das von Konzerten kennt), sondern die Räume und das Zusammenkommen der urbanen Akteure an diesem Ort, dem die Musik nur eine Tönung, eine Struktur und einen Rhythmus gibt, dessen Treiben von der Oberseite der Stadt betrachtet wird. Techno verknüpft sich also sowohl ästhetisch als auch räumlich mit Brachen und Leerständen. Sein monotoner Taktschlag repräsentiert die Leere des Ortes und füllt ihn zugleich. Techno ist die Musik des Zerfalls, die die Anwesenden vor Ort in den Brachen und Leerständen, der »Back-side« der Stadt zelebrieren.

In der Literatur über Techno wird so gut wie nie über die konkreten Orte, die Brachen und Leerstände geschrieben, die temporär besetzt wer-den, wo Techno doch erst an diesen Orten seinen Sinn findet. Dies kann nicht anders als mit der Flüchtigkeit der Ereignisse erklärt werden, bei der die Orte genauso schnell aufscheinen, wie sie wieder verschwinden und die sich deshalb einer empirischen Betrachtung entziehen. Es gibt jedoch ein umfunktioniertes Industriegebäude in der Arbeiterstadt Manchester, das in Bezug auf Techno zum Mythos wurde und dem sogar ein dokumentari-scher Spielfilm, 24 Hour Partypeople (Regie: Michael Winterbottom, GB 2002) gewidmet wurde, wobei die Mythologisierung des Ortes seiner tem-porären Qualität bereits zuwider läuft. Manchester war wie Detroit massiv von der Deindustrialisierung betroffen. 1981 gab es Gebiete im Stadtzen-trum von Manchester, um die sich seit dem Zweiten Weltkrieg niemand mehr gekümmert hatte. Der Bestand an leer stehender Gewerbefläche wurde zu dieser Zeit auf knapp zwei Millionen Quadratmeter geschätzt, wobei ein Großteil aus alten Baumwollspinnereien bestand. Hier entwi-ckelten sich neue, informelle Nutzungen, u.a. Secondhand-Märkte, Auf-nahmestudios und Proberäume. Die »Haçienda«, wie der Club in einer der Baumwollspinnereien hieß, wurde jahrelang betrieben und musste Ende der 1980er Jahre dem Bau von Loftwohnungen weichen, wobei dieses Ende Bestandteil des Mythos ist und die Erzählung des Clubs erst in dem

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Moment vollständig war, wo der Club weichen musste. Der Club wurde bezeichnenderweise von einem Freund des Sex-Pistols-Managers Malcolm McLaren (und Manager der Band New Order) aufgezogen, Rob Gretton, und war, wie auch die Sex Pistols, erfolgreich gerade durch eine gekonnte Mischung aus Subversion und offenem Kommerz. Gretton vereint in seiner Strategie, wie der Haçienda-DJ Dave Haslam scharfsichtig schreibt, »Do-it-yourself-Traditionen von Punk mit dem für Manchester typischen Unabhängigkeitsbestreben und einem Sinn für Machbarkeit, der auf vikto-rianischen Unternehmergeist zurückgeht« (Haslam 2004: 392). Zu dem Namen »Haçienda« mag Gretton McLaren geraten haben. Er spielt auf ein Manifest der Situationisten an, deren Rhetorik sich McLaren zur Ver-marktung der Sex Pistols bediente und die bereits Ende der 1950er Jahre eine Form der temporären Raumnutzung propagierten. Mit ihrer Strategie des Umherschweifens dérive im Stadtraum und der Umfunktionierung urbaner Räume détournement sowie ihres emphatischen Verständnisses zu »la fete« nahmen sie das Prinzip des »Clubs« beziehungsweise der »Location« vorweg. In der Haçienda tanzte man ekstatisch und »setzte neue Maßstäbe in Sachen Hedonismus« (Haslam 2004: 392). Über allem schwebte dabei immer ein Hauch von Endzeitstimmung, die in den bröckelnden Wänden der alten Baumwoll-Spinnerei und im düsteren Technobeat ihren Widerhall fand. Die Tristesse der Industriestadt Manchester, die im Film 24 Hour Partypeople auch ein Mit-Akteur des Films ist, kondensierte sich an diesem rastlosen Ort. Melancholie und Ekstase lagen nahe beieinander und die Festgesellschaft taumelte von einem Bewusstseinszustand in den anderen, nahmen die Atmosphäre der Stadt auf und überführten sie für kurze Momente in eine höhere Leidenschaft. Haslam schreibt: »Im Club dagegen fanden wir einen Raum, um unsere eigene Kommune zu betreiben. Sie war höchst fragil, existierte nur wenige Stunden pro Woche, aber sie veränderte die Psyche der Stadt« (ebd.: 395). Als die Haçienda geschlossen wurde, verabschiedeten sich die Fans mit einem situationistischen »Haçienda-Zitat«, wie die Zeitung The Guardian berichtete, das einem situationistischen Manifest entstammt.35 Das Zitat spielt mit der Konstruktion und

—————— 35 Dort heißt es rätselfhaft: »Und du, die Vergessene, mit deinen durch all die

Erschütterungen der Welt verwüsteten Erinnerungen, ohne Musik und Geographie in den Roten Kellern von Pali-Kao gestrandet, die du nicht mehr zur Haçienda aufbrichst, wo die Wurzeln an das Kind denken und der Wein mit Kalendergeschichten zuende geht. Jetzt ist das Spiel aus. Die Haçienda wirst du nicht sehen – es gibt sie nicht« (For-mular für einen neuen Urbanismus, nachzulesen in: Ohrt 1995: 52).

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Destruktion von Räumen und ihrem flüchtigen Gebrauch: »That’s all over. You’ll never see the Haçienda. It doesn’t exist. The Haçienda must be built« (The Guardian 29.8.2002). Dem vergangenen Raum der Haçienda (dem Club) wird ein zukünftiger Raum, der noch gebaut werden muss, entgegengesetzt.

Sieht man Techno, wie in dieser Nahaufnahme des Clubs Haçienda, als konkrete Partymusik und nicht nur als Repräsentation der Deindustrialisie-rung und einer morbiden Brachenromantik, so korrigiert sich zugleich die Atmosphäre des Vergänglichen, die Techno evoziert. Technomusik blickt nicht nur zurück auf eine vergangene Zeit, deren Räume sie ästhetisiert, sondern auch nach vorne in die Zukunft, deren Qualitäten in den Ruinen der aktuellen Gesellschaft spürbar werden. Hierin wird sie anschließbar an Hakim Beys Ideologie einer »Temporären Autonomen Zone«, bei der man sich weniger am Vergänglichen berauscht als vielmehr die Räume des Ver-gänglichen (die »düsteren Räume«, s.o.) als Zukunftschance nutzt. Techno hat – im Kontrast zu seiner Morbidität – auch eine hedonistische, lebens-bejahende Seite, die ihre Vitalität gerade aus der Erfahrung des Vergängli-chen zieht. Auf diese optimistische Seite hebt Bey ab, wenn er das Ideal der Freiheit beschwört, und diese Seite ist es auch, die in der medialen Repräsentation von Techno dominiert (wobei die Bühnen des Hedonis-mus, die »Backside«, meist vernachlässigt wird). In England wurde in Re-aktion auf die Vorgänge in Manchester 1988 der »Summer of Love« ausge-rufen, in bewusster Bezugnahme auf den ersten »Summer of Love«, der 1967 in San Francisco gefeiert wurde. Die großen Partys und Clubabende, so der Musikjournalist Ulf Poschardt in seinem Buch DJ-Culture (Poschardt 1995), sollten möglichst viel von den euphorischen Werten der Hippie-Zeit wiederaufgreifen, die mit »Flower Power« und »Love« die Welt und die Gesellschaft verändern wollten. Gut 20 Jahre nach Woodstock und Monterey, wo Polizisten Blumen auf ihren Helmen trugen, wünschte man sich durch Techno eine ähnlich friedlich idyllische Stimmung.36 Vergleich-bar utopisch gab sich auch die Berliner »Loveparade«, wo sich eine große Ansammlung Feiernder vor den internationalen Kameras als freudig aus-gelassene Gemeinschaft inszenierte, die durch ihr reibungsloses harmoni-sches Miteinander eine bessere Welt vorzuleben schien. Die Harmonie

—————— 36 Nach der Einschätzung des deutschen Techno-DJs Westbam war dieser »Summer of

Love« eine Erfindung der Medien: »Dieses ganze Love-Peace- und Unity-Ding, das sind alles Erfindungen der englischen Musikpresse, die brauchte irgendeinen Inhalt für ihre Story« (Westbam 1997: 90).

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wurde symbolisch und inszenatorisch durch die Technomusik erzeugt, die der gesamten Veranstaltung ihren Rhythmus gab, die allen Anwesenden ein verbindendes Lächeln auf die Gesichter zauberte und sie im harmonischen Gleichklang bewegen ließ. Anschließend ging man in den Technoclub »Tresor«, der sich an der Brache des ehemaligen Mauerstreifens im ehema-ligen Geldspeicher des Kaufhauses »Wertheim« befand und setzte die Lie-besekstase fort, die die Veranstalter selbst auch ironisch als »Friede, Freude, Eierkuchen« bezeichneten. Die Brachen und Leerstände sind die Bühnen für jene Gemeinschaftsutopien und erst vor dem Hintergrund der Brache, diesem Übergangsraum, entfalten sie ihre realitätsnahe Wirkmäch-tigkeit. Techno-Utopie und »Backside« sind somit miteinander verwoben. Das unbeschriftete Territorium der Brachen gibt den Utopien einen kon-kreten Ort. Wie Diedrichsen über diesen Zusammenhang schreibt, bedeu-ten Technopartys eine »endlose Verfügung über endlose uncodierte Ge-biete: Ein erhabener hoher, hohler und heller Himmel und später der Welt-raum selbst sind die Äquivalente da oben zu den Weiten und Schönheiten hier unten, den Schönheiten der Backside« (Diedrichsen 2004: 326). Techno ist nicht nur Verfall, sondern die Musik erhält gerade auf Grund ihrer Vergänglichkeit eine »Schönheit«, die zukunftsweisend ist. Dement-sprechend erfährt auch die Stadt Detroit durch Techno nicht nur eine ästhetische Repräsentation, sondern letztlich auch eine tatsächliche symbo-lische Aufwertung. Zumindest in der Vorstellung des Detroiter Techno-DJ Derrick May, demzufolge »Künstler, die überall auf der Welt leben können und sich für eine Stadt wie Detroit entscheiden, weit in die Zukunft (se-hen), denn um in Detroit zu leben, kannst du nur an die Zukunft denken. Du kannst nicht an die Vergangenheit denken, oder du wirst im Elend ersticken« (May, zit. nach Diedrichsen 2004: 326). Brachen und Leerstände, wie sie durch die Deindustrialisierung und »Schrumpfung« der Städte ent-standen sind, lassen einen Übergangsraum entstehen, dessen Potenziale durch die Technomusik hervorgeholt werden.

Mit der temporären Raumnutzung ist somit eine städteübergreifende kultu-relle Bewegung entstanden, die das urbanistische Potenzial gesellschaftlich ausrangierter Orte entdeckt hat und es für die eigenen Zwecke nutzt. Die urbanen Nischen werden in der Tradition der Hausbesetzerbewegung als gesellschaftliche Freiräume erkannt, wo jenseits gesellschaftlicher und staatlicher Kontrolle eine eigene hedonistische Kultur gelebt werden kann. Diese Bewegung profitiert von der städtebaulichen Entwicklung der letzten

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Jahrzehnte, der Deindustrialisierung und der Schrumpfung der Städte. Die daraus resultierenden »Resträume« stellen die genuinen Orte dieser Bewe-gung dar. Anders als frühere Hausbesetzungen sind diese Orte temporär, worin sich ihr postmoderner, urbaner Charakter zeigt. Sie sind nicht der Ort für dauerhafte, großen Idealen verpflichtete Gesellschaftsmodelle und sie sind auch keine räumlichen Monolithe im kapitalistischen Stadtraum, sondern sie sind das Material spontaner, taktischer Erwägungen, die sich mit kurzen subversiven Erfolgen begnügt. Sie existieren für eine Über-gangszeit, um anschließend wieder zu zerfallen.

Nach Henri Lefèbvre und den Situationisten konstruiert diese neue urbane Praxis Momente.

8. Wagenburgen – Proletarierromantik der Szene

Die temporäre Besetzung von Orten basiert auf einer Besetzerkultur, die Räume zur Konstruktion von Momenten umfunktioniert.

Wie dargestellt, ist der Besetzer- beziehungsweise Punk-Stil neben dem Hippie-Stil der dominante Stil des Techno-Underground. Dieser Stil knüpft sich an die kulturelle Praxis der Raumbesetzung, wobei die Grenze zwischen temporärer Besetzung von Party-locations und die dauerhafte Besetzung von Lebensräumen fließend ist. Wie bereits deutlich wurde, gehören besetzte und ehemals besetzte Häuser sowie Wagenburgen in der »Zone in Transition« zur Topografie der Szene. Die postmoderne Form der temporären Raumbesetzung und die klassische Besetzerpraxis ist Teil der selben Bewegung, des selben »Kampfes um Freiräume«, wie Johnny von den »Pyonen« es (allerdings ironisch) nennt, der sich lediglich unter-schiedlich ausprägt.

Die Besetzerkultur wiederum verknüpft sich mit der Romantisierung einer proletarischen Kultur, was insbesondere durch die Wagenburgler-Kultur deutlich wird (wie Hall u.a. schreiben, gehört der »stress on ›territo-riality‹« zu den »focal concerns« proletarischer Kultur (Hall/Jefferson 1998 [1975]: 53)). Indem im folgenden Unterkapitel die Proletarierromantik der Wagenburgler dargestellt wird, soll die subkulturelle Tendenz des Techno-Underground weiter deutlich werden, sich am gesellschaftlichen unten zu orientieren. Jenseits der Wagenburgen scheint diese Orientierung im pro-letarischen, punk-artigen Stil der Szene-Akteure durch. In den Wagenbur-gen selbst verdichtet sich dieser Stil zu einer ganzen Lebensweise und zu einem symbolischen Ort.

Die Beschreibung dieses Ortes und seiner Akteure stellt eine Ethnografie in der Ethnografie dar. Ziel dieser Ethnografie ist nicht die umfassende Darstellung der Wagenburg in all ihren Aspekten, vielmehr soll das »public imagery« der Wagenburg herausgearbeitet werden, ihre Selbstinszenierung als proletarische Subkultur, das sie neben der hippiesken Naturromantik

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zur privilegierten Sinnressource für den Techno-Underground macht. Das »public imagery« einer Gruppe bildet sich wie beschrieben aus den Ideen der Gruppe zu einer bestimmten Sache, die aus persönlichen Erfahrungen, aber ebenso aus Interpretationen anderer gespeist sind. Individuelle Erfah-rungen werden dem »public imagery« eingepasst. Es wird zur Folie, nach denen Eindrücke ausgesiebt werden (Hannerz 1969: 94).

Unter dieser Perspektive erscheinen die Wagenburgler nicht als dis-tinkte Subkultur, sondern sie sind lediglich die auf Dauer gestellten location-Besetzer: Sie begnügen sich nicht mit der location als Zerstreuungsort, sondern sie wollen die location dauerhaft besetzen und an diesem Ort ihr gesamtes Leben einrichten – man könnte auch sagen, sie möchten ihr Leben als ewiges Fest leben. In dieser Orientierung stellen die Wagen-burgler eine der beiden Fluchtlinien dar (die andere ist die Natur), nach denen das Szeneleben ausgerichtet ist. Sie unterscheiden sich von der sub-kulturellen Orientierung der anderen Szene-Akteure nicht kategorisch, sondern nur darin, dass sie konsequenter sie eine »andere Kultur« leben. So bewundert Kalle beispielsweise an seinem Kumpel Uwe aus der »Laster & Hänger«-Wagenburg, dass er sich das Logo der Wagenburg auf den Arm tätowiert hat: »Das find ich so cool, dass der sich wirklich zu was bekennt« (Feldtagebuchnotiz vom 1.7.03). Die fluide Praxis der temporären Beset-zung und somit Verflüssigung räumlicher Grenzen ist somit an die sub-kulturelle Eroberung von Gegenräumen gekoppelt.

Ein Konzert der Dead County Cool Boys

Ich möchte die Ethnografie in der Ethnografie mit einer atmosphärischen Beschreibung beginnen, der Beschreibung eines Konzerts in der Wagen-burg »Wopsite«37, bei dem Codys Band »Dead County Cool Boys« auftra-ten (siehe Abbildung 5 im farbigen Bildteil). Ihre Aneignung von Country-Musik wird durch die Romantisierung des Underdogs verstehbar, auch wenn Country-Musik landläufig und insbesondere in subkulturellen Zu-sammenhängen als »Redneck«-Musik gilt, also als Musik der chauvinisti-

—————— 37 Diese Wagenburg befand sich im Friedrichshain auf dem Gelände einer alten Zement-

fabrik. Die Buchstaben »WOP« von »Wopsite« bedeuten »Wohnen ohne Plenum«. Die ironische Kritik an einer traditionellen Institution der Hausbesetzerkultur erinnert an Malcolms Resignation angesichts zermürbender Plenumsdiskussionen.

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schen, patriotischen, politisch inkorrekten amerikanischen Südstaatler. Auch die Band selbst lässt in Gesprächen kein gutes Wort am Cowboy. Cody beschreibt ihn als »totalen Macho« und »anarchistisch, aber nicht im guten Sinn« (Interview mit Cody vom 15.5.03), aber dennoch drücken sich im Country wichtige Sinngehalte aus. Die Band sagt von sich, »We re-punk Country« (so steht es auf einem selbst gefertigten Poster), also wir holen die anarchistische Seite des Country hervor (siehe Abbildung 5 im farbigen Bildteil). Auf Grund der Einfachheit der Melodien eignet sich Country für das »do-it-yourself«, es ist eine Musik, die aus der Community für die Community entsteht: In der romantischen Vorstellung von Country sitzt man gemeinsam am Lagerfeuer und der mit der Gitarre spielt Country-weisen. Malcolm, der die »Cool Boys« schon mehrmals für »Pyonen«-Par-tys engagiert hat, benutzt ausgiebig das Wort »super« und »geil«, um die Band zu beschreiben:

»Die sind super die Jungs, find ich total großartig. Die ham letztens wieder in der ›Bar 23‹ gespielt und es ist jedes mal so lustig: Eine Stunde Konzert aber drei Stun-den Technik beheben… nochmal schnell den Verstärker löten… (lacht lange) Das ist total geil. Das ist so super. (lacht erneut) Das ist mir zehnmal lieber als so’n professionell runter gerockter Auftritt: ›Scheiße (ahmt Cody nach), habt ihr ’nen Lötkolben. Ich muss den Verstärker nochmal neu löten (lacht).‹ Es is total geil, super.« (Interview mit Malcolm vom 22.2.06)

Die Beschreibung vermittelt einen ersten Eindruck vom proletarischen Kult von Männlichkeit, Körperlichkeit und Kampfbereitschaft, den die Wagenburgler insgesamt pflegen:

Zunächst finde ich das Gelände der ›Wopsite‹ nicht; Brummel, ein Freund von Kalle und Gabi, beschrieb es so: ›Die Markgrafenstraße macht eine komische Kurve, unter den S-Bahnbrücken durch, danach geht’s eine Straße rechts rein, auf ein Betriebsgelände.‹ Die S-Bahnbrücke ist ein langer Schlauch. Ich gehe diesen Ziegelsteintunnel entlang. Ich weiß nicht, wie bald nach der Brücke das Gelände kommt, ein dunkler Fußweg führt zwischen Schienen und einer Anlage des Sport-vereins Lichtenberg entlang. Ich passiere einen Autohändler mit eingezäunten alten Audis, dann eine Baracke, deren Vorplatz von alten DDR-Lampen geflutet ist, dann eine dunkle Lücke mit einem schweren Eisentor, in die ich eintauche. Hinten ein Lagerfeuer, von einem alten Sonnenschirm als Regenschutz überdacht und von bewohnten Anhängern und Wagen eng umstellt. Ein Spanferkel brät über dem Feuer; es ist zerfleddert, weil nur einzelne Teile ganz durchgebraten sind. Ich sage: ›Das arme Schwein, so ein unwürdiges Ende.‹ Ein junger Mann mit jugoslawi-schem Akzent, der vorher energisch seinen Kumpel aufforderte, einen ›E-urrro‹ in die Bierkasse zu zahlen, röhrt mir ins Ohr: ›Der hat’s hinter sich‹.

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Die ›Dead County Cool Boys‹ treten in einer Baracke neben dem Lagerfeuer auf. Die Baracke gehört zwar dem Bezirksamt, darf also eigentlich nicht betreten werden, wird aber dennoch von der Szene für Veranstaltungen genutzt. Es herrscht eine familiäre Atmosphäre unter den ca. 50 Anwesenden. Ich treffe dort auch Kalle, der einen Gastauftritt bei den ›Cool Boys‹ hat (er wird Gitarre spielen, die jedoch nicht an einen Verstärker angeschlossen ist, wird also das Gitarre-Spie-len nur mimen). Seine Freundin Moni ist ebenfalls da, sie war mir auf der letzten Party als coole Schönheit mit kahl geschorenem Kopf aufgefallen. Auch die kleine Mischa, die ›irgendwie‹ auch zum ›Muh-Bar‹-Collective gehört und die durch ihr überdimensioniertes Motorrad auffällt, war dort. Ihr Motorrad stand jetzt im Schatten eines Bauwagens. Außerdem war Hektor da vom ›Schweizer Garten‹. Der Rest sind überwiegend Punks aus dem Friedrichshain.

Die Bandmitglieder, vier Männer, sind als Cowboys verkleidet, oder besser als Western-Schurken, wie man sie aus der Vorabendserie ›Rauchende Colts‹ kennt. Sie tragen schmutzige Cowboyhüte, Tattoos an den Armen, Ringe im Ohr, ver-filzte Haare, verstaubte Jacken. Der ›Super 8 Video Jockey‹ namens ›Kent pay my Bill‹ (Bill aus dem ›Muh-Bar‹-Collective) hat sich ein rot gemustertes Tuch vor das Gesicht gebunden, als wolle er eine Postkutsche überfallen. Der Schlagzeuger ›Bart ›the Beat‹ Kleinen‹ (der Tontechniker der ›Pyonen‹) ist ganz in Anarchisten-Schwarz gekleidet, schwarze Cowboystiefel und, wie die anderen auch, einen Colt an der Hüfte. Der Sänger Captain Cody trägt eine selbstgenähte Hose, deren üp-pige zottelige Fellfransen am Unterschenkel wie Pony-Beine aussehen. Mit seiner großen Sonnenbrille und seinem sehr amerikanischen Western-Hemd mit weitem, ornamentalen Kragen ist er die schmuddelige Version eines Elvis Presley, dessen Wurzeln ebenfalls im Country liegen.

Die Cowboys betreten die Bühne oder besser die Ecke der Baracke, in der auf dem Boden die Musik-Instrumente aufgestellt und verkabelt wurden. Captain Cody schickt eine Begrüßungsrede vorweg in radebrechendem, breitem Südstaatenak-zent. Er und seine Jungs seien aus ›way down in Reval/Texas‹ hierher gekommen. Reval bezieht sich auf die Revaler Straße, wo sich die Wagenburg befindet, aus der die Band stammt. Captain Cody huldigt mit dieser Vorrede der Country-Tradition, bei welcher der Sänger zwischen den Songs Geschichten aus seinem eigenen, bewegten und harten Leben erzählt. Allerdings gelingt Captain Cody die flüssige Erzählung nicht so recht, er setzt größer an als er es auszufüllen vermag, bricht ab und sagt nur kurz ›All right folks!‹ Er spielt einige Akkorde auf der Gitarre, ruft noch einmal, lauter: ›All right folks!‹ Daraufhin setzt das Schlagzeug ein, die Punks johlen, und Captain Cody singt: ›My buckets got a hole in it, I can’t buy no beer.‹ Die Lieder, die folgen, handeln von einsamen Herumtreibern, die ihr Leben auf der Straße und in schmutzigen Bars verbringen, von Alkohol, Drogen und Liebe, von Gesetzesbrüchen, vom harten Los der Arbeit und vom ›Unterwegs sein‹: ›This drinking will kill me‹, ›Non-addictive Marihuana‹, ›Six days on the Road‹, ›Wanted men‹, ›Breaking the Law‹, ›Rollin, Rollin, Rollin‹.

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Die Musik ist rau, Codys Stimme sehr männlich, die Beats unsauber, die Re-frains einfach und eingängig. Die Baracke mit ihren alten Säulen und ihrem schrä-gen Dach, dessen brüchigen Betonplatten von eisernen Querverstrebungen not-dürftig hoch gehalten wird, verwandelt sich in eine Western-Scheune. Die Punks fangen zu hüpfen an und ›pogen‹ (rempeln sich gegenseitig an). Der Punk Oleg rennt unablässig gegen die Band an, er trägt eine abgeschnittene Militärhose, Springerstiefel, seine Arme und Unterschenkel sind tätowiert, im Ohr trägt er einen 2-Euro-großen Button mit der Aufschrift ›Fuck Off‹, Rastalocken auf dem seitlich ausrasierten Kopf, darüber eine Mütze mit der kryptischen Aufschrift ›Antiseen‹ (auf dem Open-Air-Festival ›Nation of Gondwana‹ der ›Pyonen‹ verkaufte er in diesem Sommer gebratene Hähnchenschenkel). Er geht breitbeinig nach vorne, reißt beide Arme zum Victory-Zeichen hoch und brüllt der Band ihren Text entge-gen, den er auswendig kennt. Dieser Punk, ein Freund der Band und ebenfalls Wagenburgler, kommt später auf die Bühne und gibt ein Solo. Er singt ›These Boots are made for walking‹, wobei er mehr röhrt als singt, sehr tief und rotzig, sehr hässlich. Die Punks feuern ihn an.

Während des Konzerts projiziert der ›Super 8 VJ‹ ›Kent ›Pay my‹ Bill‹ Film-Ausschnitte an die Wand, die das Ambiente der Western-Prärie auf dem ostdeut-schen Land suchen, sowie Archivmaterial aus dem ersten Weltkrieg und politische Demonstrationen (u.a. zum Erhalt der Hamburger Wagenburg ›Bambule‹). Dazwi-schen sind selbst gedrehte Slapstick-Filme zu sehen: Captain Cody und Bart ›the Beat‹ Kleinen‹ tragen ihre Faustkämpfe und Duelle im Schlosspark von Güstrow aus. Bart ›the Beat‹ Kleinen‹ knallt Captain Cody eine über, der fliegt hin; daraufhin jagt Captain Cody ›Bart ›the Beat‹ Kleinen‹ mit dem Traktor über die Wiese, beide laufen im Zeitraffer von links nach rechts durchs Bild, dann von rechts nach links. Dann sieht man Captain Cody in Nahaufnahme, wie er die Faust in die Kamera schwingt und anschließend auf einem kleinen weißen Pony reitet. Nach ihren Raufereien versöhnen sich die beiden und gehen beide Arm in Arm von dannen. Die kurzen Filme sind Video-Clip-artig zusammen montiert. Manche Bilder sind verzerrt, weil der Putz der Wand, auf die projiziert wird, abbröckelt. Der alte Su-per-8-Projektor rattert.

Das letzte Lied leitet Captain Cody mit einer Story aus seinem eigenen Leben ›Down South‹ ein. Es heißt ›Rawhide‹... ›and is dedicated to all the truckers out there‹. Das Lied, das eigentlich davon handelt, wie die Cowboys ihre Rinderherde über die Steppe treiben – ›rollen‹ – fängt durch seinen rollenden Rhythmus und das stete Wiederholen von ›Rollin’, Rollin’, Rollin‹ das Gefühl des Unterwegs-Seins ein, als handele es sich weniger um die Steppe, als um eine Straße, die endlos weiter geht. ›Kent ›Pay my‹ Bill‹ spielt einen Film ein, wie ›Captain Cody‹ und ›Bart ›the Beat‹ Kleinen‹ ihren Lkw für eine lange Fahrt vorbereiten. Hierfür wird sehr auf-wendig mit einem Trichter Benzin aus einem Kanister gegossen; dann sieht man den Blick aus dem Führerhäuschen auf die Straße, das Asphaltband kommt einem entgegen, mit dem Rückspiegel im Vordergrund.

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Während das Konzert dem Ende zuging, hatte sich ein weiblicher DJ mit Rastalocken und schmuddeliger Hippiekleidung bereits in der gegenüberliegenden Ecke postiert. Vielleicht wollte sie, dass das Konzert endlich zu Ende geht, viel-leicht war sie zu bekifft um Feinheiten wahrzunehmen, jedenfalls spielte sie bereits Techno-Sound ein, während die Band noch spielte. Sie wurde aufgefordert, die Musik wieder herunter zu drehen, aber sie sprach kein deutsch. Auf diese Weise ging das Konzert etwas chaotisch zu Ende, die ›Cool Boys‹ gingen irgendwann einfach von der Bühne. Oleg klopfte ›Captain Cody‹ auf die Schulter und gab ihm ein Bier. (Feldtagebuchnotiz vom 4.5.03)

Wagenburgen als Spielform der Hausbesetzung

Wagenburgen sind als eine Spielform der Hausbesetzung zu verstehen und seit sie Anfang der 1980er Jahren in Deutschland entstanden sind, waren sie eng mit der Hausbesetzerszene verwoben. Sie wurden sichtbar, als im Rahmen der »internationalen Häusertage« in Hamburg 1990 auf einen unscheinbaren Aufruf hin auch ein erstes bundesweites Wagentreffen stattfand; dabei wurde überraschend festgestellt, dass unabhängig vonein-ander in vielen Städten quer durch Westdeutschland ca. 20 Plätze besetzt wurden (Charly Außerhalb 2002: 4.) Sie waren teilweise unmittelbar auf den Höfen und Hinterhöfen besetzter Häuser entstanden und sie sind ein Indiz für eine veränderte Wahrnehmung des Raumes, der in den 1990er Jahren mit der Idee der »Temporären Autonomen Zone« entstand. Die mobilen Wagenburgler-Wagen gaben der vorher praktizierten dauerhaften Besetzung ein Moment der Mobilität. Doch zunächst sollen hier kurz die Gemeinsamkeiten von Hausbesetzungen und Wagenburgen dargestellt werden.

Hier wie dort geht es im Kern um die Schaffung von Freiräumen und die Verwirklichung alternativer Lebensstile jenseits gesellschaftlicher Zwänge, wobei sich bei Konflikten mit der Staatsmacht Wagenburgler und Hausbesetzer solidarisieren. Eine Hausarbeit, die ein Soziologie studieren-der Berliner Wagenburgler im Internet veröffentlichte, überträgt den aus der Hausbesetzung stammenden Begriff der »konkreten Utopie« (Außer-halb 2002: 3) auf die Wagenburgen. Der Titel lautet »Wagenplätze – Re-produktion von Widerstand und Herrschaft«, ist also in antikapitalistischer Rhetorik verfasst und beschreibt die »Raumautonomie« (ebd.) als das Kernstück der Besetzungen (mit dem Begriff der »konkreten Utopie« übte

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Ernst Bloch Kritik an einem dogmatischen, marxistischen Revolutionsge-danken und wies auf die Vielfalt des Utopischen hin (Bloch 1918)). Wie schon bei der Hausbesetzerbewegung wird der eigene, kollektiv organi-sierte Raum als Alternative zu der als kapitalistisch verstandenen und staat-lich kontrollierten Stadt begriffen. Der alte antikapitalistische Hausbeset-zer-Jargon ist unüberhörbar:

»Die relative Autonomie in der Gestaltung des Raums macht die eigentliche Le-bensqualität an einem Wagenplatz aus: Außerhalb bürokratischer Kontrolle und institutionalisierter Planung entscheidet darüber allein das Platzkollektiv; dies in deutlichem Gegensatz zur funktionalen Stadt mit ihren öffentlichen und privaten Dienstleistungen, die nur über Geld zugänglich sind und deren ›Bürgersteige‹ un-antastbar bleiben.« (Außerhalb 2002: 5)

In öffentlichen Diskussionen mit Politikern und Journalisten nimmt man dabei gerne auf den Bruderstreit von Kain und Abel Bezug, der das Prinzip des Grundbesitzes als Konstrukt entlarvt und den Kampf um Freiraum historisch legitimiert. Der Wagenburgler Cody erklärt mir in einem Inter-view – hier mit weniger offiziellen Worten – diese Geschichte:

»Wenn wir mit Politikern diskutieren, ist das schon auch ein Argument. Dass es eine Kultur ist, die sehr alt ist, das Nomadische. Und das ist der älteste Wider-spruch in der Menschheitsgeschichte überhaupt: Kain und Abel… Erst mal ham alle Menschen als Nomaden gelebt. Und dann hat irgendwann jemand gesagt: ›Dieses Stück Land gehört mir.‹ Wo man sich auch fragen kann: ›Wie konnte er das sagen?‹ Und wieso ham alle andern außen rum nicht gesagt: ›Du hast ja ’ne totale Meise.‹ Und das natürlich auch kulturelle Anspielungen.« 38

In Berlin (West) entwickelten sich die ersten Wagenburgen ebenfalls schon Anfang der 1980er Jahre im Schatten der Mauer auf damals durch die Tei-lung der Stadt noch brach liegendem Gelände. Die, nach Angaben von Uwe erste und »prominenteste« war die als »Rollheimer« bundesweit in der Besetzerszene bekannt gewordene Ansiedlung auf dem Potsdamer Platz. Dort hatte man sich »ein gemütliches Laubenpieperflair« zugelegt und war »fast schon als Berliner Markenzeichen zu einem touristischen Anzie-

—————— 38 Interview mit Cody vom 15.5.03. Eine offizielle Quelle, die bezeichnenderweise Zyg-

mund Baumann in seinem Buch »Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmo-dernen Lebensformen« zitiert, lautet so: »Von Kain nun steht geschrieben, dass er einen Staat gründet, Abel aber als Fremdling tat dies nicht. Denn droben ist der Staat der Hei-ligen, wenn er auch hienieden Bürger erzeugt, in denen er dahinpilgert, bis die Zeit sei-nes Reiches herbeikommt« Augustinus: Vom Gottesstaat, Buch 15, I Zürich 1955. Bd. 2: 218 (zit. nach Bauman 1997: 136).

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hungspunkt avanciert« – Uwe schrieb 2004 seine Diplomarbeit in Psycho-logie über Wagenburgen, der diese Zitate entnommen sind. Vom Grund-stücksbesitzer geduldet, wohnten dort bis 1995 etwa 40 Menschen. Ein Elektro-Ingenieur, der in meinem Haus wohnt, kannte die Wagenburg von damals. Die von Uwe beschriebene Sozialstruktur der Wagenburg lässt eine proletarische Orientierung erkennen, wenn es auch Akademiker unter den Wagenburglern gab. Wie auch Charly Außerhalb, in diesem Zusam-menhang sich Ironie erlaubend, schreibt: »Die Palette reichte vom arbeits-losen Lehrer über Schauspieler, Handwerker, Cafébesitzer bis zu Arbeitslo-sen und Autobastlern« (ebd.).

Zur Zeit der Feldforschung gibt es in Berlin elf Wagenburgen, die sich in den Stadtteilen Friedrichshain und Kreuzberg sowie einigen äußeren Stadtbezirken befinden und die untereinander vernetzt sind. Einige der Wagenburgen haben legale Mietverträge mit dem jeweiligen Grundstücks-eigentümer, der ein privater oder öffentlicher Träger sein kann. Die »Wopsite« beispielsweise hat ihr Gelände legal angemietet, es gehört einer in Westdeutschland ansässigen Erbengemeinschaft. Ein Wagenburgler tritt hier als Hauptmieter auf (und gleichzeitig als eine Art Hausmeister, der für Ordnung auf dem Platz sorgt und vor den Vermietern für diese verant-wortlich ist) und die anderen Wagenburgler zahlen die Miete an ihn. An-dere Wagenburgen haben ihr Gelände illegal besetzt und werden geduldet, wobei der Zeitraum der Duldung stark variiert, meist davon abhängig, ob die Anwohner sich belästigt fühlen (zum Beispiel durch die Musik) oder sympathisieren und ob der besetzte Ort als Immobilie für Investoren inte-ressant wird. Die Wagenburg, von der hier die Rede sein soll, die »Laster & Hänger«-Wagenburg, wurde mehrmals von ihren Orten vertrieben. Sie siedelte sich zunächst am Volkspark Friedrichshain auf einem öffentlichen Gelände an, wo sie so lange bleiben durfte, bis die Stadt das Gelände an einen Investor verkaufte, der dort ein Seniorenwohnheim baute. Es folgte eine Odyssee durch die Stadt. Nach einigen Zwischenstationen kam sie zu dem jetzigen Gelände an der Revaler Straße, das ebenfalls der öffentlichen Hand gehört und wo sie nun bereits seit 6 Jahren geduldet wird. Inzwi-schen konnten sie die Sympathien der umliegenden Anwohner erlangen– auch dies ein Indiz dafür, dass alternative Lebensentwürfe eine zunehmend breite gesellschaftliche Akzeptanz erhalte. Vermutlich werden sie so lange bleiben dürfen, bis ein Investitionsinteresse entsteht.39

—————— 39 In dem Dokumentarfilm Wagendorf Lohmühle (2004) des Soziologiestudenten Roman

Pernack (der allerdings kein Wagenburgler ist), wird die Nachbarschaft der Wagenburg

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Romantisierung einer proletarischen Kultur

Die Wagenburg ist auf den ersten Blick von einer alternativen Aussteiger-kultur geprägt, deren bunt bemalte Wohn-Busse an die Hippie-Ära erin-nern. Ihnen hat wie erwähnt Tom Wolfe mit seinem autobiographischen Roman The Electric Kool-Aid Acid Test ein Denkmal gesetzt– der ausgebaute Schulbus, der der eigentliche Held des Romans ist, trägt den Namen »Furthur« und transportiert eine Gruppe Hippies um den Literaten und Lebenskünstler Ken Kesey quer durch Amerika. Die alternative Kultur, die hier gelebt wird, trägt jedoch zugleich ausgeprägt proletarische Züge, be-ziehungsweise Züge des Punk, der Subkultur der späten 1970er Jahre, die sich proletarische Werte wie Männlichkeit, Aggressivität und Körperlich-keit als subkulturellen Stil aneignete. Sie stammen, wie auch Dick Hebdige über Punk beschreibt, aus einem kleinbürgerlichen Hintergrund (Hebdige), orientieren sich aber nicht am typisch kleinbürgerlichen Aufstiegsstreben (Bourdieu), sondern nach unten, zu einer proletarischen Kultur. 40 Über die Rückbesinnung auf proletarische Werte schreibt Hebdige, sie entgegneten dem Mythos der klassenlosen Gesellschaft »by an undiluted ›classfulness‹, a romantic conception of the traditional way of (working-class) life« (Hebdige 1998 [1979]: 86). Ironischerweise bezogen sie das Material ihrer Haltungen aus Fernsehserien, die im proletarischen Milieu spielten, wie »Coronation Street« (ebd.: 87). Bill erzählte mir, sie seien alle »Proleta-rierkinder« (Feldforschungstagebuch vom 11.5.04), was offensichtlich nicht der Wahrheit entspricht, aber das positive Identifikationsmoment deutlich macht, das eine proletarische Kultur zu haben scheint.

Die Affinität zur proletarischen, das heißt an Stärke, Männlichkeit und Körperlichkeit orientierten Kultur begründet sich schon allein aus der Wahl der Wohnform. Für Wagenburgler (und Hausbesetzer) ist die Beset-zung eines Ortes, insbesondere die Bearbeitung des Ortes zum funktions-fähigen Lebensraum, nicht nur ein Mittel des Ausstiegs, sondern auch ein Ziel. Es bedarf einer Affinität zur körperlichen Bearbeitung der Umwelt, um Besetzer zu werden. Man findet in dem alten Auto, das ausgebaut ——————

Lohmühle in Kreuzberg zu ihrer Meinung nach der Wagenburg befragt. Fast alle Nach-barn sympathisieren mit der subkulturellen Enklave.

40 Von einigen Wagenburglern konnte ich den Beruf der Eltern erfahren: darunter gab es einen Postbeamten, einen Versicherungsangestellten, eine Schuhverkäuferin, einen Schwimmbadpumpen-Installateur (gelernter Schlosser), einen Zigarettenvertreter. Ein älterer Stammgast der Wagenburg vermutete zudem, viele Wagenburgler seien Lehrer-kinder.

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werden muss, ein Objekt, an dem man seine Kraft, seine Männlichkeit und sein technisches Geschick beweisen kann. Es muss repariert werden und so präpariert. Elektrizität muss organisiert werden – durch ein Stromaggre-gat –,Wasser muss fließen – unter dem Wagen wird ein Wassercontainer angebracht und nach oben in den Wagen gepumpt – und der Herd muss mit einer Gasflasche versorgt werden. Kabel müssen im Bus (beziehungs-weise im Haus) verlegt werden, damit alle Ecken beleuchtet sind und eventuell eine Musikanlage und ein Fernseher betrieben werden können, etc. Die Bearbeitung und Instandsetzung des eigenen Wohnraums ist ein kontinuierlicher Begleiter des eigenen Lebens. Umso mehr, als es sich hier gleichzeitig um eine Maschine handelt, das Auto, das für die Wagenburgler mit einer großen Faszination und Leidenschaft belegt ist. Die Faszination für Autos und Maschinen ist ein entscheidendes Motiv bei der Entschei-dung, im Wagen zu wohnen. Wagenburgler nennen sich selbst »Schrau-ber«, und was ein echter Wagenburgler ist, der bastelt wie ein Kfz-Mecha-niker hingebungsvoll an seinem Lkw. Die Wagen auf dem Platz sind auch eine Leistungsschau des eigenen Geschicks und das Reparieren der Wagen ein permanentes Thema auf dem Platz, der zudem als Umschlagplatz für Ersatzteile dient. Entsprechend ist die wichtigste Webseite der Wagen-burgler vor allem eine Tauschbörse für alte Wagen und Ersatzteile sowie handwerkliche Tipps zum Instandhalten und Ausbauen des Wagens (www.wagendorf.de).

Der allgemeine Umgangston auf dem Platz ist entsprechend der prole-tarischen Autofaszination herzlich, derb und rau. Cody sagte einmal, ihm gefielen diese Männlichkeitsrituale, die er auch in den Videoclips seines Konzerts inszenierte: »Trinken... und wenn dir jemand blöd kommt, dann haust’ ihm eine rein...oder er haut dir eine rein. Nachher trinkste wieder einen zusammen… Ich mag sowas« (Interview mit Cody vom 15.5.03). Manche von ihnen sehen aus als seien sie einem Film über die »Hell’s An-gels« entstiegen: Sie haben muskulöse Körper, die sie durch schmuddelige Muskelshirts und knielange Hooligan-Hosen auch gerne zeigen. Einige sind von den Waden bis zum Kopf stark tätowiert, wobei die Tätowierung an empfindlichen Stellen: Kniebeuge, Innenarme, Hals und Kopfhaut eine besondere Schmerzunempfindlichkeit erkennen lassen. Lederjacken, zerris-sene Armeehosen und schwere Stiefel sind oft gesehen.

Eine Ethnologiestudentin, welche die Wagenburg »Laster & Hänger« für einen ethnografischen Sammelband über »Die andere Seite der Stadt«

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bereits ethnografiert hat, nahm die Wagenburgler dementsprechend als eine Gemeinschaft von Handwerkern war:

»In der Wagenburg am Park ist es aber nicht das Wohnen in der Idylle, sondern das ›Schrauben‹ an den Lkws, wie die Bewohner das Reparieren und Werkeln an ihren Wagen nennen, das das Zusammenleben kennzeichnet. Vor allem im Som-mer wirkt der Platz manchmal wie eine Reparaturwerkstatt. Diejenigen, die gerade nicht ›Lohn-arbeiten‹ (auch dies ein proletarischer Jargon, A.S.), sind damit be-schäftigt, Lastwagen neu auszubauen, sie anzustreichen oder zu reparieren. Viele Bewohner sind ausgesprochene Experten für ihre Lkws, sie haben ein erstaunliches Fachwissen und zum Teil auch das notwendige Werkzeug, das untereinander ausgetauscht wird. Aus der Perspektive der Wagenburgler am Park ist ein bewohn-barer Lkw im Gegensatz zu einem Bau- oder Zirkuswagen ein Statussymbol. Er trägt den Namen seines Herstellers, wie ›Magirus‹ oder ›Ifa‹ und es gibt einen Wettkampf unter den Bewohnern darum, wer sich mit seinem Wagen am besten auskennt. Untereinander werden diejenigen ›Schrauber‹ genannt, die wirklich im-mer mit dem ›Schrauben‹ beschäftigt sind und darüber fachsimpeln. Diese Ebene von Spezialistentum und handwerklichem Können gehört durchaus zum Selbstbild der Bewohner: Als ich mich mit meiner Forschung dem Plenum vorstellte, wurde ich beispielsweise gefragt, ob ich mich für Kfz-Mechanik interessiere, weil ich etwas anderes zum Erforschen hier wohl nicht finden würde.« (Thimme 1999: 301)

Die proletarische, autobegeisterte Kultur der Wagenburgler fügt sich (bei den meisten) in einen umfassenden Lebensstil, was insbesondere bedeutet, dass es auch die Art und Weise des Gelderwerbs bestimmt. Die Berufe beziehungsweise Gelegenheitsjobs der Wagenburgler sind, wie auch bei Hausbesetzern, überwiegend handwerkliche Tätigkeiten. Viele arbeiten auf dem Bau, helfen bei Wohnungs-Reparaturen und -Sanierungen und ande-ren Verrichtungen, die körperliche Anstrengung und handwerklicher Er-fahrung bedürfen. Mindestens 50 % von ihnen haben eine Lehre als Schlosser, Elektriker, Tischler u.ä. absolviert, die anderen haben sich ihr Wissen als Hobby-Handwerker und private Autoschrauber angeeignet. Viele empfangen auch Sozialhilfe und verdienen sich mit handwerklichen Gelegenheitsjobs ein Zubrot, wobei der Sozialhilfestatus nicht selten ver-schwiegen wird und man stattdessen als »stolzer Proletarier« die Maloche betont und genussvoll beklagt.

Anders jedoch als bei der traditionellen proletarischen Erwerbstätigkeit ist bei den meisten das handwerkliche Interesse an ein künstlerisches Inte-resse geknüpft. Nur ca. die Hälfte der gelernten Handwerker (also schät-zungsweise ¼ der Wagenburgler insgesamt) arbeitet in klassischen Betrie-ben: einer arbeitet in einer Tischlerei, die sich auf Dachbalken spezialisiert,

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einer arbeitet bei einer Firma für Heizungsinstallation, einer arbeitet als Waschmaschinen-Installateur. Der andere, überwiegende Teil der Wagen-burgler hat Abitur oder Fachabitur und die Ergreifung eines handwerkli-chen Berufes ist ein Produkt freier Wahl. Unter ihnen gibt es einen Kunst-tischler und einen Schlosser, der für einen Künstler die Entwürfe zusam-men schweißt. Einer arbeitet als Beleuchtungstechniker für eine Event-Agentur, Uwe als Hausmeister auf Mini-Job-Basis für einen Buchladen.

Der Beruf, der die Ambivalenz zwischen handwerklicher und kreativer Arbeit am treffendsten verkörpert ist der Messebau, für den viele der Wa-genburgler und auch viele andere Akteure des Techno-Underground tem-porär arbeiten. Einerseits leistet man hier körperliche Arbeit und kann mit technischem Know-how glänzen, andererseits betritt man hier die Sphäre des Designs, der Kreativität und Gestaltung. In diesem neu entstanden gesellschaftlich-ökonomischen Feld trifft eine neuerliche Nachfrage an handwerklichem Können mit einem neuerlichen kulturellen Typus zwi-schen Handwerker und Künstler zusammen. Während der Bedarf an tradi-tionellen Handwerkern zurückgeht und auch die Wagenburgler hier kaum noch eine Anstellung finden, kann der Messebau das Interesse am Hand-werk aufnehmen und gleichzeitig das kreative Interesse befriedigen. Die Mischung aus traditionellem Handwerk und modernen Kreativberufen spiegelt Uwes Auflistung der von ihm für seine Diplomarbeit befragten Wagenburgler adäquat wider: Drucker, Ingenieur, Student, Tischler (Bootsbauer), Designer, Aushilfe Bühnenbau, Freischaffender Künstler, Selbständiger Baumpfleger. Das Temporäre des Messebaus entspricht zudem dem temporären »Spirit« der Szene.

Mit der Orientierung am Handwerk möchte man der kleinbürgerlichen Aufstiegslogik entkommen. Man will sich nicht den gesellschaftlichen Spielregeln anpassen müssen, um sein Leben zu leben, sondern man möchte Kontrolle und Gestaltungsmacht über das eigene Leben behalten. »Angst« und »Sicherheitsstreben« tauchen als Formeln bei den Wagen-burglern immer wieder auf. Sie werden den Angepassten zugeschrieben, die durch ihre Lebensführung die Kontrolle über ihr Leben verloren ha-ben. Indem sie sich den gesellschaftlichen Strukturen angepasst haben, sind sie in Abhängigkeit von ihnen geraten und müssen fortan das Spiel mit-spielen, um die Existenz gesichert zu halten. Bourdieu würde über diese Angepassten (das heißt Kleinbürger) sagen, ihnen ist ein Platz in der Ge-sellschaft zugewiesen worden, an dessen Aufrechterhaltung sich die per-sönliche Lebensgestaltung und Lebenszeit fortan orientieren muss (Bour-

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dieu 1997: 553). Das betrifft insbesondere die kleinbürgerlichen Biografien, bei denen sich die Akteure permanent anpassen müssen, um in die bürger-liche Mittelschicht aufzusteigen, dieses Ziel jedoch nie erreichen und da-durch zeitlebens unter dem Anpassungsdruck der Gesellschaft stehen. Die Wagenburgler hingegen möchten dieses kleinbürgerliche Schicksal nicht wiederholen und stattdessen ihr Leben frei und selbstbestimmt gestalten und erreichen dies durch eine Orientierung am gesellschaftlichen unten.

Die handwerkliche Bearbeitung des eigenen Lebensraums und das Basteln an Autos und Motoren ist jedoch nicht nur eine Möglichkeit, sich seiner männlichen Kraft und Stärke zu vergewissern, sie erinnert auch an das kleinbürgerliche Bedürfnis, sich in der eigenen kleinen Welt gemütlich einzurichten. So ist es kein Zufall dass, seit es besetzte Häuser gibt, man sich innerhalb und außerhalb der Szene über das typische Besetzer-Idyll mokiert, das in so offensichtlichem Kontrast zum revolutionären Gestus steht. So liest man in dem Bildband über Berlins Brachen, »Spaces of Un-certainty«, über das Phänomen der Wagenburg: »Closely related are the many Kleingartenvereine« (Cupers und Miessen 2002: 89). Die Wochen-zeitung Die Zeit sieht in den Wagenburgen gar ein Indiz für die Transfor-mation der »Gegenkulturen« zum »Spießer« (Die Zeit, Nr. 33, 11.8.2005). Auch Charly Außerhalb konstatiert eine »Neigung zur Schrebergarten-idylle« und kritisiert, dass sich »das ganze […] allerdings auch in Kleinwer-kelei verlieren (kann) oder im Luxusausbau nur des jeweils eigenen Wa-gens« (Außerhalb 2002: 5). Bedenkt man den kleinbürgerlichen Hinter-grund der Besetzer, erscheint dieser Aspekt der Besetzerkultur jedoch weniger als Widerspruch denn als logischer Bestandteil. Die Diplomarbeit von Uwe über das Wohnen im Wagen ist diesbezüglich sehr aufschluss-reich. Uwe wohnt in der »Wopsite«-Wagenburg, dort, wo das »Cool Boys«-Konzert stattfand. Er stammt aus einem proletarischen Haushalt (der Va-ter war gelernter Schlosser und installierte Wasserfilter für Schwimmbäder) und arbeitet selbst als Hausmeister in einem Buchladen. Obwohl er eine Affinität zur anarchistischen Pose der »Cool Boys« hat, steht er der typi-schen Besetzer-Rhetorik skeptisch gegenüber. Anders als die gängigen Publikationen über Besetzerkultur ist seine Diplomarbeit über das Wagen-wohnen frei von kämpferischem Pathos. Hier erscheint das Wohnen im Wagen als ein sehr privates Bedürfnis, Kontrolle und Sicherheit über das eigene Lebensumfeld zu erlangen. Die Arbeit trägt den Titel »Wohnbe-dürfnisse der Bewohner von Wagen« und behandelt das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz der Privatsphäre als zentrale Belange der Wagen-

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burgler. Das Individuum erscheint hier als ein äußerst verletzliches Wesen, das sich tendenziell vor den Zumutungen von Außen – den Besuchern, aber auch den eigenen Mitbewohnern – schützen muss. Wohnen, so wird in der Einleitung herausgestellt, bedeutet von seiner »etymologischen Her-kunft« abgeleitet »sich wohl fühlen, behaglich sein, zufrieden sein«. Die Gestaltung des eigenen Wagens ist für Uwe die Antwort auf ein universales Bedürfnis, das Uwe im Managerstil »Privatheitsoptimierung« nennt. Weni-ger der revolutionäre Akt der Raumbesetzung steht hier im Vordergrund als vielmehr das Sicherheitsgefühl, das durch die physische Aneignung der Umwelt erreicht wird:

»Eine Wohnung nach meinem Geschmack einzurichten […] ermöglich(t) es mir meine physikalische Umwelt in Besitz zu nehmen oder in meinen sozialen Wohn-bezügen Selbstwirkung wahrzunehmen. Reale und symbolische Aneignung bedeu-tet, Umwelt tatsächlich zu verändern oder ihr eine individuelle Bedeutung zu ver-leihen, sich dadurch mit ihr zu identifizieren und Vertrautheit zu erlangen.«

Aus dieser Strategie der Einkapselung spricht noch der Kleinbürger, der sich seine Wohnung, sein Reihenhaus oder seinen Schrebergarten einrichtet und sich im Hobbykeller seinen eigenen Esstisch baut. Mit der sorgfältigen Ausgestaltung erhält er Sicherheit und Kontrolle über den beschränkten Raum, den ihm die Gesellschaft gestattet (Ursula Götze, zit. nach Koelbl 1995: 8) beziehungsweise den er der Gesellschaft abgetrotzt hat. Darin ist die Raum-Obsession der Wagenburgler nicht nur aus der autonomen Kultur verstehbar, sondern auch aus der kleinbürgerlichen Herkunftskultur, der eben dieses Thema ein wichtiges Anliegen ist. Aus dem kämpferischen Besetzerpathos spricht noch der aufbegehrende Kleinbürger, der das Mietezahlen eigentlich eine Zumutung findet. So schrieb »Kent ›Pay my‹ Bill« von den »Dead County Cool Boys« in einem Abstract zu einem alternativen Symposion in Berlin41, zu dem Wagen-burgler und andere »Nomaden« eingeladen worden waren:

»Wieso bezahlen SteinhäuslerINNen Miete? Und wie lange wollen sie das eigent-lich noch tun? Wie funktioniert eigentlich der stets von oben gemachte Mechanis-mus über verschiedene künstlich ersponnene SICHERHEITSÄNGSTE Mensch in Abhängigkeit zu halten? Und was hat Lohnabhängigkeit mit der Wohnsituation

—————— 41 Das Symposion nannte sich »Gründungskongress des Instituts für Nomadologie« und

wurde im September 2004 aus der Szene für die Szene veranstaltet. Das Symposion lie-ferte die theoretische Vorarbeit zu dem Plan, als nomadisierende Karawane durch Spa-nien und Mexiko zu reisen, der einige Wochen nach dem Symposion auch verwirklicht wurde.

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und den ständig wachsenden Mieten zu tun? Sind Menschen tatsächlich schwerer zu kontrollieren, wenn sie in Bewegung sind? Hat Krieg eigentlich immer mit Besitz zu tun? Was will uns das Alte Testament schon mit dem Bruderstreit von Kain und Abel sagen? Und was sagen gewaltbereite Autonome dazu?«42

Die Schrauberkultur der Wagenburger erinnert an die proletarische Sub-kultur der Rocker, wie sie der Subkultur-Ethnologe Paul E. Willis be-schrieben hat. Wie sich die Kultur der Wagenburgler um den Wagen for-miert, an dem geschraubt und gebaut wird, formiert sich die Kultur der Rocker um das Motorrad. Bei beiden hat die Auseinandersetzung mit Ma-schinen und Motoren, die Faszination für ihre Kraft, ihr Funktionieren, ihre Einfachheit und Konkretheit eine tiefere Bedeutung für den Lebens-stil. Diese Kultur, für Paul Willis »eine Grundform der Arbeiterkultur«43, zeichnet sich vor allem durch das Vertrauen in die eigene Kraft und Männ-lichkeit und damit durch das Vertrauen in die Kontrolle und Kontrollier-barkeit der eigenen Umwelt aus. Diese Kontrolle wird sowohl konkret (an der Maschine) als auch symbolisch (in der Interaktion mit der Umwelt) ausgeübt, und beide Momente bestätigen einander. So, wie die Auseinan-dersetzung mit dem Motorrad einfach und konkret ist und sich über Kraft, Körperlichkeit und Bewegung vermittelt, so ist auch ihr Leben insgesamt und die Beziehungen zueinander von Einfachheit, Direktheit und Körper-lichkeit geprägt. Einerseits gibt es das spontane, sinnliche Erlebnis der Maschine und der Bewegung mit der Maschine:

»Das Motorrad reagiert zwangsläufig und greifbar auf einen subjektiven Willen, es beschleunigt auf eine Bewegung des Handgelenks hin bis zu dem Punkt, an dem der Fahrer abhebt. Die Kontrollentscheidungen haben sofortige physische Aus-wirkung, die vorbeisausende Luft. Das rein mechanische Funktionieren des Motor-rads – die konstruierte Härte von Metall gegen Metall, die geregelte Explosion der Gase, die vorhersagbare Kraftentfaltung aus dem Schwung maschinell hergestellter Einzelteile – unterstreicht eine positive und beständige Sicht der physischen Welt.« (Willis 1981 [1978]: 35)

Auch in ihrer Erscheinung betonen sie ihre Männlichkeit und Körperlich-keit, sie haben sie unter Kontrolle und wissen um ihr Respekt einflößendes Erscheinungsbild:

—————— 42 Abstract »Herumtreiber & Wagenpunx« aus dem Programm des »Gründungskongresses

des Instituts für Nomadologie« (19.-21-9.2004). 43 »…sie beinhaltet – oft in höchst expliziter Form – zentrale dauernde Themen und

Werte der Arbeiterklasse« (Willis 1978: 29).

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»Ihre äußere Erscheinung war aggressiv männlich. Die Motorradkluft – Leder, Nieten und Jeansstoff – gab ein hartes Aussehen und bekam auch in Zusammen-hang mit dem Motorrad etwas von der einschüchternden Qualität der Maschine. Das Haar trug man lang, in Anlehnung an den frühen Elvis Presley in einer fetti-gen und nach hinten gekämmten Frisur. Die schweren Stiefel gemahnten an die Fabrik und waren auch fürchterliche Waffen bei einer Prügelei, in der alles erlaubt war. Tätowierungen auf den Händen, den Armen und der Brust waren außeror-dentlich verbreitet, goldene Ohrringe in den durchstochenen Ohrläppchen nicht selten.« (ebd.: 39)

Und auch der Umgang mit der Umwelt ist von dieser konkreten Unmittel-barkeit gezeichnet. Der Umgang mit den »Kumpels« ist derb aber herzlich und vollzieht sich nicht selten in mehr oder weniger spielerischen Schläge-reien. »Ihr sozialer Austausch spielte sich größtenteils in Form von Schein-kämpfen ab, mit Hin- und Herschubsen, vorgetäuschten Boxhieben, schar-fen karateähnlichen Schlägen auf den Nacken« (ebd.: 37). Ihre Meinung über Dinge ist unkompliziert und direkt, es besteht keine Notwendigkeit für lange Diskussionen, denn die Konkretheit der Dinge erklärt sich von selbst.

Zur Rockerkultur gehören auch Territorialkämpfe, die typisch sind für proletarische Subkulturen. Der Rückzug auf ein bestimmtes Territorium, die Verteidigung jener Grenzen sowie die Aufteilung von Wir und Sie sind, wie bereits erwähnt, die typischen Merkmale dieser Kultur. Sie sind als Straßenkämpfe von Gangs bekannt, die ihre Territorien abstecken und voreinander verteidigen. Die Raumkämpfe der Besetzer sind vor diesem Hintergrund ebenfalls als Ausdruck einer proletarischen Kultur zu deuten.

Die Hinwendung zur dieser Kultur verspricht den Wagenburglern, wie einst den Rockern, wie Paul Willis es nennt, eine »ontologische Sicherheit«. Man kann sich auf den eigenen Körper, die eigene Kraft und Männlichkeit verlassen, um das Leben zu meistern.

Der Cowboy als Underdog

Die Country-Musik der »Cool Boys« erhält vor diesem Hintergrund eine tiefere Bedeutung. Country, so wie es von Europa aus vor allem wahrge-nommen wird, ist die Musik der anarchistischen Pionierzeit, von denen die Westernfilme ebenso wie die Marlboro-Werbung ein symbolschwangeres Bild vermitteln und auf das die Super-8-Filme der »Cool Boys« ironisch

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Bezug nehmen, indem sie Büffel-Herden und On-the-road-Motive zeigen. Wie Barry Shank über texanische Rock-Kultur schreibt, artikuliert Country sehr naiv eine präzivilisatorische Utopie, wo der Mensch in harmonischem Einklang mit der Natur lebt beziehungsweise am Rande der Zivilisation die Naturgewalten bezwingt (Shank 1994: 23). Er erzählt von Einzelkämpfern, die heroisch ihren Mann stehen oder von autonomen Siedlerzügen, die egalitäre Gemeinschaften Gleichgesinnter bildet. Georg Seeßlen, konkret-Autor und erster Poptheoretiker, hat als Kapitalismuskritiker sehr patheti-sche, fast zu unironische Worte für den Cowboy übrig: »Es gibt kaum einen Traum, kaum eine Hoffnung, kaum eine Angst, kaum eine Ideologie, kaum ein Trauma, kaum einen Zorn, der sich nicht in die Satteltasche eines Western-Helden packen ließe« (Seeßlen 1995: 22). In dieser Ideologisie-rung von Freiheit, Abenteuer, Autonomie und Gemeinschaftlichkeit finden sich die typischen Besetzer-Ideale wieder, jedoch nicht als sinnstiftendes Narrativ mit tieferer Bedeutung, sondern als Gag, als zufällige Parallele, als ironische Stilisierungsmöglichkeit. Die Brachen und Leerstände, die durch Hausbesetzungen und Wagenplatzbesetzungen angeeignet werden, lassen sich spielerisch mit dem unentdeckten Land der amerikanischen Pioniers-zeit verknüpfen. Auch hier geht es, was allgemein amüsiert, um Raumer-oberung, um ein selbstbestimmtes Leben und darum, die eigenen Bedürf-nisse und Interessen gegen den feindlichen Staat von außen zu verteidigen. Die Tatsache, dass der Soziologe Neil Smith die Hausbesetzer als »Stadt-Pioniere«, »Stadtsiedler« und »Cowboys« bezeichnet, passt nur zu gut in dieses Bild.44 Aufgrund dieser amüsanten Parallele ist Country eine traditio-nelle Besetzermusik, zumindest berichtet der ehemalige Kreuzberger Hausbesetzer Johann Christoph Wartenberg davon und auch die »Pyonen« hatten in ihrem besetzten Haus einmal in der Woche einen Country-Abend.

Doch gleichzeitig offenbart sich im Country eine tiefer liegende Be-findlichkeit der Besetzer. Sie kann die Faszination für die proletarische Kultur und die Ausprägung, die diese in der Besetzerkultur nimmt, noch genauer erklären. Denn die Faszination für den Cowboy, diesem professio-nellen Einzelgänger, ist eine typisch kleinbürgerliche Faszination. Sie erin-nert an Country-Clubs in der deutschen (Ost- wie Westdeutschen) Provinz,

—————— 44 Smith verwendet diese Bezeichnung in Bezug auf Gentrifizierungsprozesse, die durch

eine vorangehende Phase des »Wilden Westens« eingeleitet wird, in der die Subkultur sich heruntergekommene städtische Gebiete aneignet, der dann eine Phase der Verno-belung folgt (Smith 1993).

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an Karl-May-Festspiele und Straßenfestivals in Kleinstädten. Wenn man sich zu dieser Gelegenheit als Cowboy verkleidet, so zeigt sich der Traum von Freiheit und Abenteuer in einer spezifisch kleinbürgerlicher Ausprä-gung.

Anders als das traditionelle Kleinbürgertum belassen die Besetzer es je-doch nicht bei dem Hollywood-verdächtigen Cowboy-Traum, bescheiden sich nicht mit den gesellschaftlich legitimierten Quadratmetern Wohnflä-che. Darin wird er zum Rocker, zum Punk, zum Proletarier, der sich selbstbewusst und mit Körperkraft nimmt, was ihm seiner Ansicht nach qua Geburt zusteht. Auch der proletarische Habitus, den er sich zulegt, kann diesbezüglich als Panzerung verstanden werden, durch die der ehe-malige Kleinbürger sich von der Umwelt abschottet: Mit der Proletarisie-rung erreichen die ursprünglich kleinbürgerlichen Wagenburgler die »on-tologische Sicherheit« einer proletarischen Subkultur, die sich auf ihre Kraft und ihren Körper verlassen kann. Die Figur des »Lonesome Cow-boy« drückt diese Ambivalenz von kleinbürgerlicher Einkapselung einer-seits und aggressiver proletarischer Abschottung andererseits am adäqua-testen aus. Die Proletarisierung der Besetzer ist keine kollektive Strategie, durch die sich eine einheitliche proletarische Klasse herausbilden würde, wie es das traditionelle Revolutionsverständnis vorsieht. Vielmehr liegt hier eine hoch individualisierte Aneignung von Unterschichtskultur vor, die sich am amerikanischen Modell des eigenbrödlerischen Underdogs orien-tiert und die sich aus populärkulturellen, genuin amerikanischen Figuren und Narrativen speist. Wie Georg Seeßlen schreibt, ist der Cowboy der Ur-Typus des amerikanischen Underdogs, Trinkers, Herumtreibers und Malo-chers, der sich u.a. im »Großstadtcowboy« Philipp Marlowe, im Film Noire und seinen Fortführungen inkarniert hat und bis heute in Figuren wie Micky Rourke (als Charles Bukowski) weiter tradiert wird. Insbesondere das Country-Genre hat dafür gesorgt, dass dieser Typus am Leben gehalten wird. Berühmte Country-Sänger wie Johnny Cash und Hank Williams haben selbst eine Underdog-Biographie vorzuweisen. Sie wuchsen in ärm-lichen Verhältnissen auf und schlugen sich als Tagelöhner durch, hatten Alkoholprobleme und Ärger mit den Behörden und ihre Lieder speisen sich aus diesen Erfahrungen von Ausgrenzung, Ausbeutung und Entfrem-dung. Selbst in ihrem Country-Erfolg bleiben sie Underdogs, da Country hartnäckig die Musik der Unterschicht beziehungsweise des Kleinbürger-tums bleibt und von der bürgerlichen Mittelschicht bisher nicht anerkannt wurde. Diese Sänger und ihre Biographien sind unter Wagenburglern be-

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kannt und verehrt. Oleg beispielsweise, der auf dem »Cool Boys« Konzert »These Boots are made for Walking« geröhrt hat, hat ein Poster von Johnny Cash in seinem Wagen hängen, das den Sänger in Rockerpose mit einem »Fuck«-Finger zeigt (darunter steht: »Johnny Cash is thanking the Nashville-Establishment for their support«). Man glaubt, halb ironisch, halb ernst, das eigene harte Leben in dem Leben der Cowboys wieder zu finden. Man ist der Herumtreiber, der Outcast und Underdog, der durch seine Kraft und seinen Mut das Leben meistert, der in seinem Auto durch die Welt fährt, über den anderen thronend und durch das Motorenge-räusch betäubt. Nicht zuletzt inkarniert sich diese Figur auch in dem Tru-cker, der über den Highway herrscht und der nicht nur ein amerikanischer Mythos, sondern auch ein tatsächlicher Beruf, einen Gelderwerb darstellt. Auch hieran knüpfen die Wagenburgler selbststilisierend an, sind sie doch auch Lkw-Fahrer. Wortwörtlich meinte Kalle, es sei kein Wunder, dass die Wagenburgler Country hören, sie seien ja schließlich selbst »Trucker« (Feldtagebuchnotiz vom 22.6.02). Indem sich die Wagenburgler den Cow-boy als Referenz wählen, handeln sie also noch in den Denkmustern des Kleinbürgertums, das heißt im Traum von Freiheit, Abenteuer und selbst-bestimmtem Leben, überschreiten dieses Muster jedoch genau darin, dass sie versuchen, es eine Romantisierung des Proletariers und Underdogs Wirklichkeit werden zu lassen.

Auf diese vermittelte Weise stehen Cowboy und Besetzer doch in ei-nem tieferen Sinnzusammenhang. Die Raum-Utopie, die der Cowboy der Pionierzeit verkörpert, wirkt noch in den ortlosen, entwurzelten Herum-treibern und Tagelöhnern der amerikanischen Populärkultur fort. Es ist eine Figur, die der kleinbürgerlichen Kultur entspricht und verstanden wird: Sie stellt vor die Wahl, sich entweder mit dem Raum zu begnügen, der einem zugewiesen wird, oder den weiten Raum, den man nicht selbst besitzt, durch das Unterwegssein anzueignen.

Die Figur des Cowboys und seiner populärkulturellen Inkarnationen hat aber auch noch in einer anderen Weise für die Wagenburgler Sinn: Er eignet sich vortrefflich für Inszenierungen. Nicht zufällig ist der Cowboy die Figur bei kindlichen Verkleidungsspielen und auch die Country-Sänger wirken immer etwas komisch, da sie trotz ihrer traditionellen Tracht immer ein wenig verkleidet aussehen. Als in der Szene Country Mode wurde, trug man mit Vorliebe Cowboyhüte, Cowboystiefel und die typischen Hemden, weil sie sich besonders gut für exzentrische Posen eignen. Die Nähe des Cowboystils zum Kostüm hat einen aufschlussreichen historischen Ur-

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sprung, den es sich lohnen würde, weiter zu verfolgen: Wie Toshes über die amerikanischen Cowboys schreibt, war die historisch reale Figur des Cowboys und ihre stilisierte, medial aufbereitete Variante (in Form von Cowboyliteratur, Cowboy-Songs und Western-Shows) eng verwoben.45 Der typische Cowboystil – Hut, Stiefel, Cowboyhemd – war zu keinem Zeitpunkt eine reine Arbeitstracht, sondern immer auch schon eine medi-ale Inszenierung. So berichtet Nick Tosches davon, wie echte Cowboys bereits in den 1880er Jahren sich gemäß des medialisierten Bildes stilisier-ten und fotografieren ließen.

Was die Besetzerkultur für Country empfänglich macht ist die Tatsa-che, dass sie nicht nur eine Kultur ist, die sich proletarische Werte und Verhaltensweisen aneignet, um aus der Herkunftskultur auszubrechen, sie ist auch eine Kultur, die eben diesen Ausbruch vor anderen in Szene setzt. Die Besetzerkultur ist eine Kultur der exzentrischen Verkleidung und In-szenierung. Die Wagenburgler sind sich des Bildes, das sie erzeugen, wohl bewusst und die Inszenierung des eigenen Lebens vor sich und anderen ist teil des Alltagslebens der Wagenburgler. Als solche gestalten sie den Stil des Techno-Underground mit. Auf diese Inszenierung ist abschließend einzugehen – zuvor möchte ich jedoch auf Wagenburglerinnen eingehen.

Einige Anmerkungen zu Frauen in der Wagenburg

Die in den Wagenburgen lebenden Frauen (nach Charly Außerhalb ma-chen sie 1/3 der Bewohner aus; Außerhalb 2002) haben einen weit prag-matischeren Umgang mit Motoren und Technik als viele der Männer. Auch für sie ist die Wagenburg-Existenz untrennbar mit dem Basteln und Schrauben verbunden, aber sie machen aus dieser Tatsache meiner Beo-bachtung nach keine Pose. Die Reparaturen am Wagen und sein Ausbau wird still und ruhig ohne großes Aufsehen vorgenommen. Auch sie fach-simpeln gerne über Autos und Motoren, aber sie tun dies eher in einem nüchternen Ton.

—————— 45 Cowboys, die auf Pferden die Kühe hüteten, gab es seit den 1820er Jahren. Die erste

Cowboygeschichte wurde bereits 1864 veröffentlicht, »The Hermit of the Colorado Hills« von William Bushnell. In der Folgezeit entstand das Genre der Cowboy-Novels, mit zuweilen singenden Cowboys, die zu einer sehr populären literarischen Gattung wurden.

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Auch viele der Wagenburg-Bewohnerinnen verbinden ihr Dasein wie die Männer mit einer männlichen Berufswahl. Sie haben zum Beispiel eine Schreinerlehre absolviert und arbeiten beim Messebau. In ihren Habitus schreibt sich diese Existenzweise ein, aber auch hier weniger in Form eines subkulturellen Stils, sondern eher versteckt durch einen drahtigen, zähen Körperbau, der unter bequemer, praktischer Kleidung verschwindet und einer Haltung, die sich von Männern »nichts vormachen lassen« möchte.

Für viele der Wagenburglerinnen stellt die Eroberung einer Männer-domäne eine Herausforderung dar, die sie meistern wollten. Meiner Ein-schätzung nach stellte diese Herausforderung ein wichtiges Motiv bei der Lebens- und Berufswahl dar. Dabei geht es den Frauen weniger um die Faszination für den proletarischen Stil und die Kultur, die sich mit ihm verknüpft, als mehr um ein technisches Verstehen dieser Männerdomäne. Sie nähern sich diesem Feld mit dem Intellekt, sie wollen verstehen, wie ein Motor aufgebaut ist oder wie man mit technischen Geräten hantiert. Eine Wagenburglerin beispielsweise begann während ihrer Anfangszeit in der Wagenburg mit einem Physikstudium, was dieses Motiv der Eroberung einer Männerdomäne noch unterstreicht und dabei die intellektuelle Kom-ponente deutlich macht.

Weil die Frauen die Faszination für Motoren intellektuell teilen, fällt ihre Kritik an den Posen der Männer weniger scharf aus. Viele sind über die Theatralik der Posen amüsiert und hegen teils durchaus Sympathie, zumal diese Männer ja ihr unmittelbares Lebensumfeld ausmachen. Teils besteht eine postfeministische Haltung innerhalb der linken Besetzerkreise, wobei an der chauvinistischen Gesamtgesellschaft nach wie vor in linker feministischer Tradition Kritik geübt (zum Beispiel am Physikprofessor einer der Wagenburglerinnen, der nur männliche Hilfskräfte einstellt). Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht auch innerhalb der Szene polemische Diskussionen zum Thema gibt.

Auch seitens der Männer erhalten Ikonografien von selbstbewusster Weiblichkeit Einzug in die symbolische Gestaltung ihrer Umwelt. Einige Flyer der »Dead County Cool Boys« zeigen anstatt Cowboys und Outlaws weibliche Revolverheldinnen, eine Filmreihe zum Film Noire, die Cody organisierte, hatte als Logo die Silhouette von Rita Hayworth, deren Ziga-rette in einen Revolver umgestaltet wurde. In Uwes Wagen hängt neben dem »Dead County Cool Boys« Plakat das Ikonogramm eines Mädchens, das Cowboyhut, Cowboystiefel und zwei Revolver in der Hand hält.

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Obwohl der Frauenanteil in der Wagenburg hoch ist, so dominieren meiner Einschätzung nach doch die Männer das »public imagery« der Wa-genburg – mit »public imagery« ist wie bereits dargestellt ein öffentlich zur Schau gestellter kollektiver Stil gemeint. Das, was von der Wagenburg an der Oberfläche sichtbar ist, ist von den »Dead County Cool Boys«, von den tätowierten männlichen Schraubern und von Muskelspielen gegenüber der Polizei geprägt. Die Herausbildung weiblicher Gender-Rollen, die ebenso prägnant sind wie ihr männlicher Konterpart, geschieht nur all-mählich. Mir scheint es so, als hätte der Typus des Western-Girls, der Dame aus dem Saloon, die sich in der Männerwelt selbstbewusst behaup-tet, die eine erotische Ausstrahlung hat und gleichzeitig mit Pistolen umge-hen kann am ehesten eine Chance, sich zum kulturellen Stereotyp zu ver-festigen. Allerdings ist auch sie eine Männerphantasie.

Inszenierungen

Die Wagenburgler wissen, dass ihr Leben exotisch und anders ist und deshalb einen Magnet für Kameras und voyeuristische Blicke von außen darstellt. Das Bewusstsein um das eigene Bild hat in der »Laster & Hänger« dazu geführt, dass es einen »Kamera-Beauftragten« unter den Wagen-burglern gibt, der Ereignisse in und um die Wagenburg dokumentiert und zu kleinen Filmchen zusammen schneidet. Es ist Bill vom »Muh-Bar«-Collective, der auch bei den »Cool Boys« den Super-8-Projektor bedient (siehe Abbildung 8 im Text). Bill bewacht das von seiner Wagenburg pro-duzierte Bild nahezu eifersüchtig und empfindet sich quasi als Inhaber und Verwalter dieser Bilder. Als ein Ethnologiestudent einmal anfragte, ob er in der »Laster & Hänger« filmen dürfe, machte Bill ihm klar, wer hier der Herr im Haus ist. »Wenn einer die ›Laster & Hänger‹ filmt, dann bin ich es«, kommentierte er vor mir später (Feldtagebuchnotiz vom 19.9.04). Der Student durfte letztendlich doch filmen, jedoch unter der Auflage, dass Bill den Conferencier des Films spielt, den Studenten mit der Kamera also durch das Gelände führt und auf diese Weise die Kontrolle behält. Bill in-szenierte sich als Zirkusdirektor, mit weißen Handschuhen, Zigarre und schwarzer Melone und zeigte mit großer Geste der Kamera sein Reich.

Diese Lust an der Inszenierung reicht bis in das Erwerbsleben der Wa-genburgler hinein. Als der Buchladen, in dem Uwe Hausmeister ist, in neue

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Räumlichkeiten umzog, beschaffte Uwe Renovierungsjobs für viele Wa-genburgler. Für Cody kam der Job sehr gelegen, denn er hatte gerade Schulden. Gelegen kam aber auch, dass eine ganze Wand eingerissen wer-den musste, ein Vorgang, den man effektvoll in Szene setzen konnte. Cody nahm einen Vorschlaghammer in die Hand und Bill seine Videokamera. Mit dieser fing Bill die kraftvollen Schläge Codys auf die Wand ein, die schließlich unter der Manneskraft zusammen brach und in Staub zerfiel. Eine Woche später war dieser Vorgang auf der Leinwand der »Cool Boys« zu sehen. In diesen Momenten ist nicht mehr unterscheidbar, ob die sozi-ale Orientierung nach unten auf Grund ihres Sinnstiftungs- oder auf Grund ihres Inszenierungspotenzials gewählt wird.

Als Indiz für das Wissen um die eigene Spektakularität ist auch der In-halt eines von Cody und Bill produzierten Films. Sie drehten einen Wer-betrailer über eine Filmreihe, die sie in der »Köpi« organisierten, dem letz-ten besetzten Haus in Berlin. Der Trailer ist selbstbezüglich und zeigt die sympathischen Punks- und Besetzertypen, die sich alle abends in der »Köpi« zum Filmabend treffen. Es wird gezeigt, wie die Kinobesucher das »Köpi«-Gelände betreten und in den Keller hinabsteigen, wo sich das Kino befindet. Unter den Kinobesuchern gibt es auch ein Pärchen mit bürgerli-cher Kleidung und bürgerlichem Habitus (sie könnten in einer Berliner Werbeagentur arbeiten), das sich ebenfalls im Keller einfindet. Sie scheinen etwas unsicher zu sein und haben sichtlich Schwierigkeiten, sich an der Bar zwei Getränke zu bestellen – eine in Besetzerkreisen bekannte und oft belächelte Situation: Außenstehende beherrschen die geschickte Gradwan-derung zwischen alternativer Lässigkeit und der notwendigen Befolgung der Bezahlregeln nicht. Das bürgerliche Pärchen wird durch diese subtile Bloßstellung als Außenseiter markiert, aber dennoch werden sie in das Wahrnehmungsfeld der Besetzer einbezogen, indem sie zum Personal des Filmtrailers gemacht werden.

Auch seitens der Medien und der Werbung besteht ein Interesse am gut vermarktbaren Lebensgefühl der Wagenburgler. Sie bedienen sich inzwi-schen der Besetzer-Folklore, um ihr Produkt mit Freiheit und Abenteuer zu assoziieren. Ein Werbespot für Bausparverträge spielt beispielsweise in einer Wagenburg: die kleine Tochter eines Wagenburglers ist neidisch auf die vier Wände und die Dachterasse ihrer Mitschülerinnen, der Vater erwi-dert monoton: »Das sind doch Spießer.« Die Tochter hält dagegen und zählt die Vorteile einer ordentlichen Wohnung auf und schlussfolgert am Ende: »Wenn ich groß bin, will ich auch Spießer werden.« Der Werbespot

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bildete wiederum die Einstiegsanekdote in einem Zeit-Artikel über die Jugend von heute (Die Zeit, Nr. 33, 11.8.2005). Eine Folge der Fernsehserie »Die Kommissarin« mit Hannelore Elsner spielt ebenfalls in einer Wa-genburg und trägt den Titel »Der Tote aus der Wagenburg« (ARD, gesen-det am 28.2.05). Die Folge erzählt von dem Generationenkonflikt einer Bankierstochter mit ihrem Vater und die Wagenburg bildet den utopischen Fluchtpunkt, in den sich die Tochter flüchtet. Eine Werbe-Postkarte der Post zeigt einen Wagenburgler vor seinem Wagen mit der Aufschrift »Voll im Umzugsstress«46 – ein Stapel dieser Postkarten liegen in der »Laster & Hänger« aus, womit man sich das mediale Interesse am eigenen Leben triumphierend vorführt. Auch die »Laster & Hänger« selbst war Gegen-stand einer medialen Inszenierung. Der Fernsehkanal Arte, zuständig für den bürgerlichen Kunst- und Bildungsanteil des Fernsehprogramms, filmte Impressionen aus der »Laster & Hänger« und schnitt sie für einen Arte-Werbetrailer zusammen. Nicht alle Wagenburgler wollten sich ablichten lassen, aber etliche setzten sich doch gerne für die Kamera in Szene – »die Christiane, die eitle Tante, die steckt doch ihre Rübe immer gern in die Kamera«, urteilte Uwe etwas gehässig über eine der filmwilligen.

Die eigene Spektakularität kann auch instrumentalisierend eingesetzt werden. So nutzten die Wagenburgler das mediale Interesse, um sich ihren jetzigen Stellplatz anzueignen, nachdem sie wie oben erwähnt durch die Stadt geirrt waren (und Uwe ein Problem mit der Ausrichtung seiner sen-siblen Satellitenschüssel hatte).

Sie gaben eine Pressekonferenz im alternativen Kulturzentrum RAW und holten anschließend die Pressevertreter (auch Ströbele war anwesend) zu dem Sportplatz, auf dem sie die Besetzung »live« miterleben konnten. Die Spektakularität der Besetzung wurde gezielt eingesetzt, um die Presse und Politiker für die eigene Sache zu gewinnen. Cody erzählt: »Und dann zeitgleich mit dem Rauffahren, ham die Leute, die die Pressekonferenz moderiert haben, gesagt: ›So, jetzt ist die vorbei und jetzt gehen wir mal hier ’n paar Straßen weiter … ist och… spannend und so … und schauen uns die Besetzung an.‹« (Interview mit Cody vom 15.5.03)

—————— 46 Die Postkarte handelt von den Vorzügen des Nachsendeauftrags. Die Verknüpfung von

Umzugsstress und Wagenburgdasein, die sich die Werbestrategen der Post ausgedacht haben, leuchtet jedoch nicht ein. Es war ihnen vermutlich daran gelegen, sich ein cooles Image zu geben.

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Abb. 8: Die Kamera im Anschlag (Quelle: Schwanhäußer)

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Ein anderes Beispiel aus der Szene für eine inszenierte Besetzerkultur ist eine Besetzergemeinschaft in Berlin Mitte. Sie betrieben eine alte und inzwischen beseitigte Straßenbahn-Halle am Hackeschen Markt, in der auch Kalle Platten auflegte. Zudem waren sie die Zentrale für die erwähnte Tischtennis-Guerilla. Das Interesse der Passanten und Touristen antizipie-rend, brachten sie ein Schild an ihrem Hauseingang an. Das besetzte Haus wird als touristisches Ereignis angepriesen. Den Vorstellungen von Exotik und Wildheit wird damit entsprochen, dass das Haus als Zoo und die Be-setzer als wilde Tiere dargestellt werden. Dabei werden zudem Klischees über die Hausbesetzer karikiert, u.a. als naivem Berufsjugendlichen, und auch die Anliegen der Besetzer, der Häuserkampf und die Arbeitslosigkeit, werden Teil der Inszenierung. Das Schild könnte auch vor der »Laster & Hänger« hängen:

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Nach Angabe eines Bewohners hätten einige Touristen tatsächlich ihr Interesse bekundet.

Dies erinnert auch daran, dass auch die Hausbesetzungen der 70er und 80er Jahre mit einer Inszenierung begannen: Wenn ein Haus besetzt wurde, hängte man traditionell ein Bettlaken aus dem Fenster, auf dem mit Spraydosen »Besetzt« geschrieben stand, womit nicht nur ein territorialer Anspruch formuliert, sondern auch ein theatraler Akt begangen wurde, der die Spektakularität des Ereignisses für alle Passanten sichtbar nach außen trug. Man war sich bewusst, dass man verrückter, freier, schöner als die »Spießer« auf der Straße war und spitzte diese Überzeugung durch effekt-volle Posen noch zu. Die Inszenierung und das Bewusstsein um das eigene Anderssein und die Spektakularität gehört also zum Besetzeralltag dazu. Die Grenze, die von den Besetzern zwischen sich selbst und der Restge-sellschaft gezogen wird, wird umspielt und ironisch gebrochen, sie markiert nicht nur ein außergesellschaftliches Territorium, sondern auch eine Bühne, auf der man sein Anderssein und die empfundene Exklusivität zur Schau stellt.

Vor diesem Hintergrund ist die Romantisierung des Proletariers auch Beleg einer erfolgreichen Selbstinszenierung. In der Affinität zum proleta-rischen Habitus, wie er in Bezug auf die Schrauberkultur beschrieben wurde, liegt nicht nur ein Moment der Sinnstiftung, sondern auch eine Affinität zur Inszenierung und spektakulären Show. Dies bedeutet jedoch andererseits nicht, dass sich die von den Besetzern gezogene Grenze gänz-lich (als Inszenierung) auflösen würde. So wollte ich gegen Ende der Feld-forschung in der »Laster & Hänger« einige Fotos machen und wurde, weil ich eine Kamera in der Hand hatte, Hals über Kopfe von Wagenburglern rausgeworfen, die mich nicht kannten. Die Kamera bedient eben nicht nur die Eitelkeit der Wagenburgler, sondern wird nach wie vor als Kontrollme-dium empfunden. Das mediale Interesse und das Bewusstsein um die ei-gene Spektakularität gehören einerseits dazu, andererseits werden aber Grenzen zwischen Wir und Sie immer noch klar gezogen und verteidigt, wobei die Grenze auch den Machtbereich über das eigene Bild markiert, also abermals in der Sphäre der Inszenierung angesiedelt ist.

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Die Romantisierung des Unten als Bestandteil des Umherschweifens

Aus der Perspektive der Wagenburgler ist der Berliner Techno-Under-ground Teil der »linken Strukturen« (so Uwe, Feldtagebuchnotiz vom 8.3.05) in Deutschland, die aus Autonomen, Hausbesetzern und Antifa-Aktivisten besteht, wobei die Szene eine neue, in den 1990er Jahren ent-standene hedonistische Ausprägung dieser Bewegung darstellt, für die das Partyfeiern, wie es auch Kirk artikuliert hat, eine Form des Protests dar-stellt. Der Techno-Underground ist Teil der »Familie« (ebd.), die man beim Kampf um Freiräume unterstützt, wodurch ein fließender Übergang zwi-schen der temporären Raumbesetzung der locations und der dauerhaften Raumbesetzung der Wagenburgen besteht.

Aus der Perspektive des Techno-Underground haben Wagenburgler innerhalb der Szene einen hohen Status, der sich an der location darin ausdrückt, dass sie mit anderen wichtigen Akteuren der Szene befreundet sind und interagieren und dass sie privilegierte Zonen innerhalb der location besetzen. Wagenburgler-»Posses« oder gemischte Gruppen, unter denen sich Wagenburgler befinden, stellen Gravitationszentren des Party-geschehens dar.

Diese räumliche Ordnung an der location korrespondiert mit einer so-zialen Ordnung innerhalb des Techno-Underground. Die Berliner Wagen-burgen nehmen wie die besetzten Häuser eine Schlüsselposition innerhalb der Kultur der temporären Raumbesetzungen ein, sowohl in räumlicher, kultureller als auch in organisatorischer Hinsicht.

In kultureller Hinsicht stellen die Wagenburgler eine wichtige Bedeu-tungsressource für den Techno-Underground dar. Die latenten subkultu-rellen Ideale, die sich mit der temporären Raumbesetzung verknüpfen, finden in der proletarisierten Wagenburgkultur eine Manifestation und einen konkreten Ort. Hier sieht und spürt man, dass die Verwirklichung einer anderen Kultur möglich ist. Was sich in den temporären Besetzungen andeutet, findet hier zu einer für alle dauerhaft sichtbaren, symbolisch ausgearbeiteten Form.

Die Präsenz von Wagenburglern stellt eine Authentizitätsressource dar, die dem Anarchismus der Partys eine kulturelle Basis gibt. Sie ist der Motor des Besetzergeistes, der auch die Partys erst möglich macht. Die Präsenz der Wagenburgler mit ihrem proletarischen beziehungsweise Punk-artigen Stil zeigt an, dass es hier wirklich um etwas geht, dass die Partys nicht nur

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Zerstreuung sind, sondern dass man hier tatsächlich daran arbeitet, Gesell-schaft zu verändern, etwas »dagegen zu setzen« (Interview mit Cody vom 15.5.03), indem man eine andere Kultur lebt.

Außerdem sind die Wagenburgler in kultureller Hinsicht auch deshalb bedeutsam, weil sie durch ihre mobile Lkw-Kultur der transitorischen Kultur des Umherschweifens im Stadtraum eine symbolische Form geben. Auch wenn sie sich an bestimmten Orten in der Stadt dauerhaft niederlas-sen und diese Territorien auch verteidigen, zeugen die ausgebauten Bauwa-gen und Lkws doch von einem mobilen Leben »on the road«, bei dem man immer in Bewegung bleibt. Das Leben »under construction«, das die Ak-teure der Szene führen, findet in dem Leben auf Rädern zu einem kultu-rellen Ausdruck.

In räumlicher Hinsicht liegt die Bedeutung der Wagenburgen darin, stabile subkulturelle Orte im Stadtraum dauerhaft zu okkupieren. Der Techno-Underground benötigt ein Netzwerk an stabilen Orten und stabi-len sozialen Beziehungen, um die ephemere Raumexplorationspraxis durchführen zu können. Während die temporären Orte entstehen und vergehen, bieten die Wagenburgen verlässliche Rückzugsorte, Orte, die nicht immer wieder von neuem erkämpft werden müssen, sondern die bereits vorhanden sind und an denen eine subkulturelle Logik bereits durchgesetzt wurde.

In organisatorischer Hinsicht sind die Wagenburgler stolz, das techni-sche und handwerkliche Fundament vieler temporärer Besetzungen zu bilden und für die »Bereitstellung von Infrastruktur« (Außerhalb 2002) verantwortlich zu sein (Transportwagen, Stromaggregate, handwerkliches Know-how, personelle Hilfe, etc.). Für die Wagenburgler hat dabei vor allem die politische Komponente der temporären Raumbesetzung Bedeu-tung, in denen sie eine Form des Kampfes um Freiräume sehen. Vor allem der demonstrative Akt der Raumeroberung stellt für sie eine Form des politischen Protests dar, vergleichbar mit anderen politischen Protest- und Demonstrationsformen. Man zeigt sich mit der temporären Besetzerszene solidarisch, weil es auch bei ihnen um den »Kampf um Freiräume« geht.

Wagenburgen stellen für den Techno-Underground eine privilegierte Sinn-ressource dar und ihre kleinen Kolonien in den Nischen des Stadtraums sind Schlüsselorte innerhalb der Szene-Topografie. Indem die Wagenbur-gen eine Romantisierung der proletarischen Kultur betreiben, geben sie als

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privilegierte Sinnressource dem Szenegeschehen eine Richtung und Orien-tierung, nämlich hin zu einem – inszenierten – gesellschaftlichen unten.

Damit färben sie auch den sozialen Raum der Szene. Wie die Akteure der Szene allgemein sind auch die Wagenburgler im Speziellen dem Neuen Kleinbürgertum zuzurechnen. Sie formieren mit ihrer Romantisierung proletarischer Werte ein imaginäres gesellschaftliches unten und geben der Orientierung der Szene nach unten einen spezifischen Stil. Mit dieser Nähe der Szene zur Subkultur zeigt sich, dass das Driften der Akteure im sozia-len Raum der Gesellschaft nicht losgelöst von subkulturellen Wertigkeiten ist, sondern dass die untergründige, eine proletarische Kultur romantisie-rende Subkultur immer wieder als Fokus des Szenegeschehens in den Blick rückt. Dadurch wird die gesellschaftliche Ordnung innerhalb der Szene tendenziell auf den Kopf gestellt: Subkulturelle Wertigkeiten erfahren ge-genüber den Werten einer »straighten« bürgerlichen Welt eine Aufwertung, die in den Wagenburgen zu einem konkreten Ort findet – jedoch, auch das hat die Kultur der Wagenburg gezeigt, als postmoderne Inszenierung wie-der gebrochen und somit zum teil der Erlebnisgesellschaft wird.

Weil der Techno-Underground Räume erobert, ist der proletarische Stil der wichtigste Aspekt bei der Konstruktion des Moments.

9. In Wäldern und an Seen – Hippieromantik der Szene

Die Akteure des Techno-Underground feiern nicht nur in den Brachen und Leerständen in der Stadt, sondern auch in schönen Landstrichen der Natur. Diese Ereignisse stehen in der Tradition der Hippie-Kultur. Auch wenn Stadt und Natur in der Tradition von Subkulturen dichotomische Projektionsräume darstellen und es auf den ersten Blick paradox erscheint, dass eine urbane Szene auch in die Natur schwärmt (auf diesen Wider-spruch wird weiter unten noch genauer einzugehen sein), so ist nach allem bisher Gesagten das hippieske Hinausschwärmen in die Natur nur konse-quent: Diese hippiesken Tendenzen lassen sich bereits in der Ästhetisie-rung der Umwelt erkennen, in der Transformation urbaner Brachen zu ästhetischen locations, in der Aufwertung der sinnlichen Aspekte des Lebens (Speisen, Getränke, Drogen, etc.), in der Sehnsucht nach »Communitas« und einer gesellschaftlichen Existenz jenseits der kapitalistischen Verwertungslogik. Sind diese Tendenzen schon in den kulturellen Praxen innerhalb des städtischen Raums angelegt (und im hippiesken Stil der Szene-Akteure eingeschrieben), so finden diese in der Natur eine Projekti-onsfläche und einen konkreten Ort.

Dass die Sphären von Stadt und Natur innerhalb des Techno-Under-grounds zusammen gedacht werden müssen, wird zudem durch die Tatsa-che nahe gelegt, dass alle Party-Collectives, die temporär Orte im Stadtraum besetzen, auch Partys in freier Natur veranstalten, also sowohl den Natur-Raum als auch den Stadt-Raum als location nutzen. Bei den »Pyonen« beispielsweise wird die jährliche Silvesterparty, die im Berliner Stadtraum stattfindet und ein »must« der Szene ist, durch das jährlich parallel zur Loveparade stattfindende Open-Air-Festival »Nation of Gondwana« komplementiert, das an wechselnden Orten in der Natur stattfindet und ebenfalls ein »must« für Szene-Akteure darstellt. Auch das Logo der »Pyo-nen« – zwei tanzende Hirschmänner – verweist auf ihren anthropomor-phen Naturbezug (siehe Abbildung 2 im Text). Die tanzenden Hirschmän-

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ner wurden von einer Mitbewohnerin der Pyonen in der Lychener Straße im Keller als Grafitti an die Wand gesprüht (die Mitbewohnerin hat viele Länder in Afrika bereist und die Hirschmänner sind ein Verweis auf magi-sche Wesen, die bei Stammesritualen auftauchen). Johnny nennt das Gra-fitti »Höhlenmalerei« und deutet damit den Stadtraum in einen primitivisti-schen Raum um.

Wie im voraus gegangenen Kapitel die subkulturelle Orientierung in das gesellschaftliche unten vertiefend dargestellt wurde, in dem die Prole-tarierromantik des Techno-Underground und speziell der Wagenburgler beschrieben wurde, soll im Folgenden auf die subkulturelle Orientierung in die Natur eingegangen werden. Beide Orientierungen haben gemeinsam, dass sie mit der Rhetorik der Verwirklichung einer konkreten Utopie im Hier und Jetzt aufgeladen sind. Während die Besetzerkultur in der Selbst-erzählung der Akteure darauf abzielt, durch symbolische Territorialkämpfe eine »konkrete Utopie« im Stadtraum durchzusetzen, hat das Hinaus-schwärmen in die Natur eskapistische Tendenzen und sucht nach einem utopischen Ort nicht in, sondern jenseits der Gesellschaft.

Goa-Partys

Die Open-Air-Partys können an die Tradition der Hippiekultur anknüpfen mit ihrer Naturromantik und ihren Vorstellungen einer freieren, besseren Gesellschaft jenseits der Zivilisation. Anders als die städtischen Partys sind die Open-Air-Partys räumlich entrückt und finden vor einer romantischen Naturkulisse statt, die sich als Projektionsfolie von hippiesken Gemein-schaftsutopien eignet. Entweder, die Schönheit der Natur steht für sich selbst und wird lediglich dadurch in Szene gesetzt, dass sie durch das Auf-stellen von Musikboxen musikalisch gerahmt wird (wie auf der im Metho-denkapitel beschriebenen Party in Kühlungsborn) oder aber die Landschaft wird (bei mehrtätigen Partys) für eine Übergangszeit mit märchenhaften Motiven und künstlerischen Skulpturen und Installationen bestückt, die den Naturraum in eine fantastische künstliche Welt transformieren. Nach einigen Tagen ist alles wieder vorbei und in ihrer Flüchtigkeit erinnern sie an die von Michel Foucault in einem Aufsatz über Heterotopien beschrie-benen Festwiesen, »diese wunderbaren leeren Plätze am Rande der Stadt, die sich ein- oder zweimal jährlich mit Baracken, Schaustellungen, hetero-

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gensten Objekten, Kämpfern, Schlangenfrauen, Wahrsagerinnen usw. bevölkern« (ebd.).

Diese Open-Air-Partys werden als »Goa-Partys« bezeichnet. Der Name bezieht sich auf das alternative Urlaubsparadies Goa an der Südwestküste Indiens, jener Ort der Hippiekultur, in dem schon die Blumenkinder in buddhistischen Meditations- und Selbstfindungskursen den Ausstieg aus der Zivilisation probten. Heute ist Goa eine Hochburg des alternativen Rucksacktourismus und bekannt für sein inzwischen kommerziell organi-siertes Partyangebot, bei dem man sich wie einst die Hippies zu psychedeli-scher Musik und mit Hilfe von LSD in kollektive Trance-Zustände tanzt.47 Die globalen Ströme des Rucksacktourismus und mit ihnen einhergehend die Globalisierung der Musik- und Unterhaltungsindustrie hat zu einer weltweiten Verbreitung der Goa-Partys geführt. Überall, wo man heutzu-tage Rucksacktourismus antrifft, werden auch Goa-Partys gefeiert. Aber auch in Zentral-Europa, in England, Frankreich und Deutschland finden seit Ende der 1980er Jahre Goa-Partys statt. Das Szenemagazin Groove schreibt: »Es ist ein Schallvirus, der sich in den frühen Neunziger Jahren unter den heimatlosen, kosmopolitischen Bohemiens, die sich jeden Winter während der Partysaison in Goa einfanden, verbreitet hat« (Groove, Nr. 64, Juni-Juli 2000: 68).

Das signifikanteste Ereignis ist das »Rainbow-Gathering«, das jährlich an einem anderen Ort auf dem Globus abgehalten wird (2004 fand es im deutschen Thüringen statt, worüber sogar die bürgerliche Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung berichtete48, bezeichnenderweise in ihrer Serie »Sommer an seltsamen Orten«) und dessen Spezifik es ist, ohne zivili-satorische Infrastruktur wie Strom und fließend Wasser auszukommen. Mehrere Tausend Menschen finden sich für die Dauer von bis zu einem Monat an einem Ort gemeinsam ein, wobei der Höhepunkt des »Gathe-rings« die Sonnwendfeier darstellt, die mit Tanzen, Lagerfeuer und akusti-scher Musik gefeiert wird. Das »Rainbow Gathering« entstand Anfang der 1970er Jahre in den USA als Fortführung der Hippiebewegung und im Selbstverständnis der Teilnehmer fusionieren hier indianische Traditionen —————— 47 Der ehemalige Haschrebell Bommi Baumann beschrieb schon das Goa der Hippie-Ära

als Wunderland unermüdlicher Drogenbenutzer, die »ziemlich wirr im Kopf« gewesen seien, »ununterbrochen Hasch geraucht« und LSD-Trips »geschmissen« hätten. Bommi Baumann, zit. nach taz die tageszeitung vom 6.10.2000.

48 Bernd Hettlage: Woodstock in Thüringen. Sommer an seltsamen Orten, Teil I: Das Hippie-Zeltlager in der Rhön. Mehr als tausend Leute proben ein anderes Leben. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 31.7.2005, Nr. 30.

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mit indischen Riten. Auch wenn dieser Naturromantik oft mit Ironie be-gegnet wird, so gibt es dennoch keinen Akteur des Techno-Underground, der das »Rainbow Gathering« nicht schon einmal erlebt hat. Auch mir wurde angetragen, dieses Fest unbedingt einmal besuchen zu müssen.

Als Festorte in freier Natur und Knotenpunkt des globalen Rucksack-tourismus eignen sich Goa-Partys als Symbol des globalen »Gatherings«. Aber auch für den lokalen Berliner Techno-Underground, der seit Mitte der 1990er Jahre das Berliner Umland entdeckt (die »Pyonen« veranstalte-ten ihr erstes Open-Air-Festival 1994 in Altlandsberg), haben die Feste in freier Natur diesen gemeinschaftlichen Charakter. Kalle zufolge seien es sogar Alt-Hippies aus Goa gewesen, die in Deutschland die ersten Goa-Partys organisiert hätten. »Verpeilten Engländern«, die in Goa »hängen-geblieben waren«, sei es irgendwann »langweilig« geworden und sie hätten sich auf den Weg nach Deutschland gemacht: Ende der 1980er Jahre, so Kalle, »hamse sich gesagt, weil se nicht ewig in Goa bleiben konnten oder so, warum soll’n wir das nicht hier auch machen« und hätten dann in Deutschland Partys organisiert (Interview mit Kalle vom 27.6.02). Diese saloppe Schilderung scheint, wie mir andere Akteure bestätigt haben, in ihrem Kern durchaus der Wahrheit zu entsprechen. Tatsächlich gab es einige englische DJs, die von Goa nach Deutschland migrierten und dort den Stil der Goa-Party populär machten. Unabhängig von der Richtigkeit Kalles’ Erzählung zeigt es vor allem, dass auch in der Szene ein unmittelba-rer und sogar personeller Bezug zur Hippiekultur hergestellt wird. Wie die Rucksacktouristen sich an den verschiedensten Orten der Welt zusammen finden, finden sich auch die Akteure des Berliner Techno-Underground in der Natur wieder zusammen. Man verlässt kollektiv die Stadt, lässt, zumin-dest symbolisch, die Grenze der Zivilisation hinter sich, und findet sich gemeinsam auf dem Land wieder. Einige Akteure der Szene haben sich extra für diese Art von Partys Busse zugelegt, die sie wohnlich ausbauen und mit buntem Graffiti bemalen, mit denen sie also als temporäre Wa-genburgler auftreten. Mit diesen fahren sie zu den Goa-Partys an wech-selnden Orten in der Natur, so dass zum Anblick der Partys immer auch diese temporären Wagenburgen mit ihren kreuz und quer parkenden Bus-sen gehören. Wie die alternative Tageszeitung taz in einem Artikel über Goa-Partys schreibt, deren ironischer Ton gegenüber der Hippie-Romantik auch der Haltung des Techno-Underground selbst entspricht, erinnern diese Partys an »Pfadfinderlager mit Sonnenschein, Frisbeespielen und Nassspritzen« (taz vom 6.10.2000). Ihre Besucher »sehen bunt aus, kiffen

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ständig und sind bemüht um Familienwerte«. Sie seien »äußerst freundlich« und immer seien auch »Althippies und ein paar Ekstatiker um die fünfzig« dabei, sowie »junge Typen mit komischen Teppichhosen«. Außerdem gebe es »Batikhemden zuhauf, und manche Mädchen kleiden sich und tanzen auch so ein wenig prinzessinnenhaft.« Der Autor des Artikels trifft mit diesen Worten die hippieske Atmosphäre der Partys, wobei die leichte Ironie gegenüber den Hippie-Insignen, wie sich später zeigen wird, auch von den Szene-Akteuren selbst geteilt wird.

Die Fusion: Weihnachten in der Szene

Das für den Berliner Techno-Underground wichtigste Festival dieser Art mit bis zu 30 000 Gästen ist die Fusion, die jährlich zu Anfang des Som-mers auf einem still gelegten russischen Militärflughafen stattfindet. Das Gelände erinnert mit seinen zwölf Gras-überwachsenen Hangars, in deren Innerem Raum für unterschiedliche musikalische und künstlerische Aktio-nen besteht, an das Auenland im Herr der Ringe (siehe Abbildung 9). Ihr Symbol ist eine Rakete, die den höchsten Flugzeug-Hangar des Geländes ziert und von dort aus in den Himmel ragt. – Ende der 1990er Jahre fand die Szene dieses Gelände und besetzte es temporär mit ein paar hundert Akteuren der Szene. Seitdem findet jährlich das Fusion-Festival statt und hat sich zu einer beachtlichen Größe entwickelt. Inzwischen wurde das Gelände vom »U-Site«-Collective, die die Initiatoren der Besetzung waren, gekauft.

Die Fusion gilt für die Akteure der Berliner Szene als das zentrale sym-bolische Ereignis jedes Sommers. Während die Szene sich ansonsten in der Stadt über den Stadtraum und die einzelnen Partys an unterschiedlichen locations verteilen, kommen sie hier alle zur selben Zeit am selben Ort zusammen. Eine Akteurin verglich die Fusion einmal mit »Weihnachten« (Feldtagebuchnotiz vom 1.7.02). Wie das christliche Fest am Ende des Jahres hat die Fusion für die Szene-Akteure als jährlicher Fixtermin einen verbindlichen, um nicht zu sagen traditionellen Wert und wie beim »Fest der Liebe« kommt hier die »Familie« (ebd.) der Szene-Akteure zusammen. Bekannte, die man womöglich das ganze Jahr über nicht gesehen hat, trifft man mit Sicherheit auf der Fusion wieder. Für viele ist die Fusion deshalb auch ein »Update«, womit sich andere Akteure der Szene das Jahr über

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beschäftigt haben, ob sie Kinder bekommen, den Beruf gewechselt, einen Beruf erhalten, das Studium beendet haben oder arbeitslos geworden sind.

Abb. 9: Hangars der Fusion (Quelle: Schwanhäußer)

Das »U-Site«-Collective, das die Fusion organisiert, stammt aus den selben Hamburger Besetzerkreisen wie die »Pyonen«. Beide Gruppen bildeten früher ein geschlossenes Collective und sie organisierten viele Partybeset-zungen gemeinsam, bevor sie sich in »U-Site« (Hamburg) und »Pyonen« (Berlin) aufspalteten. Das »U-Site«-Collective ist in seiner linken politischen Haltung expliziter als die »Pyonen«. Sie bilden die politische Speerspitze der Szene und man sympathisiert mit ihrer teils plakativen Rhetorik. Mehr als in der Stadt ist draußen in freier Natur der Ort, diesem Pathos freien Lauf zu lassen (weshalb er andererseits auch Ideologie-anfälliger ist). Die Schönheit der Natur setzt auch in der Szene antikapitalistische Phantasien frei.

Das Anliegen der »Fusion« ist das Experiment einer anderen, gemein-schaftlichen Kultur, wobei der Techno-Underground die größte Zahl der Teilnehmer ausmacht. Er überschneidet sich mit der ebenfalls großen Gruppe linksalternativer Gruppierungen mit explizit politischen Zielen.

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Besonders in der Frühphase der Fusion Ende der 1990er Jahre war dieses Anliegen in typische linke Rhetorik gekleidet. Nach der Jahrtausendwende wird die Rhetorik postmoderner und ironischer (ab hier übernahm Bond vom »Goldmund«-Collective die Gestaltung, wurde zwei Jahre später jedoch von einem Grafiker ersetzt, der den klassischen linken Idealen wieder mehr verpflichtet war). Auf dem Flyer 1997 wird auf der Rückseite der Publizist Wolfgang Sterneck zitiert, der ein Buch über »Cyber-Tribe« herausgegeben hat, wobei das linke Pathos der Worte zeigt, dass die Veranstalter der Fusion stärker als die Szene insgesamt am linken Vokabular fest halten:

»Die Konsequenz erkennen. Die Notwendigkeit, eine Kultur zu entwickeln, die von uns selbst bestimmt

wird, die auf Solidarität, Gleichberechtigung und Autonomie basiert… Die Notwendigkeit, neue gemeinschaftliche Formen des Zusammenlebens zu

finden, die Entfremdung zwischen uns zu überwinden, das patriarchale Denken, den Leistungszwang, das Gewinnstreben, die verinnerlichten autoritären Struktu-ren, die zwischenmenschliche Kälte.

Die Notwendigkeit, andere Wege zu gehen, den inneren Willen zu erkennen, zu Phantasie und Kreativität zurückzufinden, Freiräume zu schaffen…

Ein Anspruch an jede und jeden von uns… Die Notwendigkeit erkennen. Die Konsequenz.«

Der Flyer von 2005 (wie gesagt von Bond gestaltet) spricht in vergleichbar utopischer, jedoch weit verspielterer, postmoderner Weise von der Fusion als »Ferienkommunismus« (und: »Ferien kommen ist muss«) und be-schreibt die Fusion:

»Eine Fusion ist, wenn einmal im Jahr die Gemeinschaft der KulturkosmonautIn-nen und FerienkommunistInnen auf einem ehemaligen russischen Militärflugplatz in Mecklenburg zusammenkommt und dort, fernab des Alltags, für vier Tage eine Parallelgesellschaft der ganz speziellen Art entsteht.«

Wie auch in der Stadt wird das Ideal der Gemeinschaftlichkeit auf zwei miteinander verflochtene Arten verwirklicht: Zum einen durch die spon-tane Communitas-Erfahrung anlässlich der Party selbst, die durch die Na-tur-Erfahrung noch intensiviert wird. Hierzu heißt es auf einem Flyer von 1997: »In der Natur sein, Weite und Horizonte spüren, verschiedensten Rhythmen und Ritualen begegnen, Tag und Nacht zeitentgrenzt (sic), kön-nen wir mit unserer Phantasie neue und mögliche Zustände erleben.« Zum anderen durch die gemeinschaftliche künstlerische Gestaltung, an dem sich diverse Musiker, Künstler und Collectives beteiligen. Wie auch in der Stadt basieren die Aktivitäten auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit, das heißt dass

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jeder etwas einbringt und seinen Anteil zum Gelingen der Party beiträgt, wobei man bestrebt ist, möglichst verschiedene Akteure zusammen zu bringen. Man möchte ein szene- und subkulturübergreifendes Ereignis schaffen, das sich nicht auf eine Musikrichtung oder einen Stil fest legt, (Punk, Techno, HipHop, o.ä.), sondern gerade dadurch »Neues und Unbe-kanntes« (Flyer 1997) schafft, dass es diese unterschiedlichen Stile in einer Gesamtschau zusammen führt.

Ein Großteil der Berliner Party-Collectives und diverse weitere Musiker, DJs, Performance-Künstler, etc. sind bei dem Festival vertreten. Die »Pyonen« nehmen trotz der damaligen Streitigkeiten wichtige Lichtdesign-aufgaben wahr, das »Goldmund«-Collective organisiert einen eigenen »Dancefloor« und auch Victoria, Gabi, Kalle, Cody und Uwe sind in unter-schiedlicher Form an der Fusion beteiligt: Victoria hat einen Sommer lang mit anderen Akteuren zur ästhetischen Gestaltung des Geländes beigetra-gen, indem sie den Wasserturm des Geländes, an dem Wasser geschöpft werden kann, mit einem Mosaik aus bunten Glasscherben verzierte. Gabi organisierte zusammen mit den »Schwaben« ihren »Spätzlefreeschtyle« (den es auch bereits in ihrer Bar »Therapie« gab). Cody trat mit seiner Band »Dead County Cool Boys« mehrmals auf einer der Bühnen der Fusion auf. Kalle richtet alljährlich die »After Hour« der Fusion aus, die nach Ansicht der Szene-Akteure bereits zu einer Institution geworden sind. Uwe ver-kauft mit anderen Wagenburglern zusammen auf der Fusion den soge-nannten »Wagenburger«, einen vegetarischen Hamburger, dessen Authen-tizität dadurch gesteigert wird, dass er von einem ausgebauten Zirkuswagen aus verkauft wird. Als »Muh-Bar«-Collective traten sie hier nicht auf, weil »harte« Alkoholika und deshalb auch eine Cocktail-Bar auf der Fusion Tabu sind.

Die Vielfalt der Fusion spiegelt sich auch in den zwölf Hangars wieder, die auf unterschiedliche Art gestaltet und bespielt werden. Das Arrange-ment erinnert an die vielfältigen »Nummern« eines Varietés, die hier nicht diachron aufeinander folgen, sondern sich synchron über das Gelände verteilen. Es gibt einen Kino-Hangar, einen Theater-Hangar, einen Essens-Hangar (»Salon de Baille«) und einen »Interaktions«-Hangar, der wie ein »Abenteuerspielplatz für Erwachsene« bestückt ist und in dem jedes Jahr andere Künstlerkollektive Schwingsessel, Labyrinthe, Balancier-Pfade, Lianen, Schaukeln und ähnliches bauen. Im Sommer 2005 hatte außerdem ein Künstler aus Leipzig unter dem Motto »Fraktale« einen digitalen Was-servorhang vor den Eingang gebaut, an dem Worte aus Wasser herunter-

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fielen: »+++ Sie verlassen den Aussenbereich der Zivilisation+++«.49 Zudem gibt es diverse Konzert-Hangars, in denen unterschiedliche und sehr verschiedenartige Bands – Punk, Pop, Reaggae, Hip Hop, etc. – auf-treten und Club-Hangars, in denen getanzt wird. Darüber hinaus gibt es einen Hangar für besonders ausgefallen Experimente. Im Sommer 2003 baute ein Berliner Künstler-»Netzwerk«, das sich »memenet« nennt, den Hangar in einen »Freak Frachter« um, ein abgestürztes Raumschiff mit labyrinthischen Gängen, in dessen Schaltzentrale eine besonders verrückte Party stattfand. Eine anderer Hangar wurde zur »Datscha« umgebaut (und im Laufe des Festivals durch eine Fahne für »besetzt« erklärt). Im Inneren fanden entsprechende Konzerte mit russischer Musik statt. Auf und zwi-schen den Hangars verteilen sich zudem viele Kleinigkeiten, »eye catcher«, über das Gelände: Skulpturen, technische Spielereien, fantasievoll gestaltete Sitzgruppen, etc. Ein riesiges, rostiges Stahl-Ei mit 5 Metern Durchmesser hing 2005 auf einem Hebekran über dem Gelände und an ihm wurde eine absurde Performance aufgeführt, bei dem die Darsteller Kükenkostüme trugen, auf dem »Planeten Erde« landeten und »aus dem Ei schlüpften«. Außerdem treten Performance-Künstler und -Gruppen nicht nur in den Hangars auf, sondern sie mischen sich auch unter die Gäste. Diverse Tin-guellyartige Fahrzeuge fahren über das Gelände, aus allerlei Schrott, Dräh-ten und Lichtern zusammengeschraubt und Rauch und Geräusche (Wie-hern, Gackern, Hupen) von sich gebend, darunter ein ferngesteuertes schnaubendes Pferd mit leuchtenden Augen. Darüber hinaus gibt es auch dauerhafte Installationen auf dem Gelände, die in den Sommermonaten entstehen, in denen Künstler aus Berlin und Hamburg auf dem Fusion-Gelände ihre Wochenenden verbringen.

Einige der beteiligten Collectives verfolgen explizite alternativkulturelle, soziale oder politische Anliegen, die das »U-Site«-Collective auf Grund der eigenen Besetzervergangenheit besonders unterstützt. So hat ein immer noch aktives Hafenstraßenkollektiv das »Getränkemonopol« auf der Fu-sion. Nur sie dürfen diesem lukrativen Geschäft nachgehen und der Ge-winn wird für soziale Projekte verwendet. Während der Techno-Under-ground sein subkulturelles Engagement daraufhin ausrichtet, für sich selbst eine eigene lebbare Kultur zu schaffen, richtet sich das Engagement dieser

—————— 49 Ein Jahr später flossen hier Worte mit explizit politischem Bezug, was das ästhetische

Wasserspiel in irritierender Weise durchbrach: »Weltmeisterschaft, Gesundheitsreform, Holocaust, Müntefering, 10 000 Tote bei Erdbeben in Java, Hartz IV, Auschwitz, Pabst Benedict.«

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anderen Collectives auf das Engagement für Andere, das heißt für sozial benachteiligte und kulturell ausgegrenzte Gruppen.

Doch insgesamt dominiert der Kult der Zerstreuung. Im online-Ju-gendmagazin der Süddeutschen Zeitung, jetzt.de, beschrieb ein junger Leser die Atmosphäre auf der Fusion. Die Veranstalter fanden diesen im-pressionistisch gestalteten Erfahrungsbericht sehr treffend:

»An der Seebühne spielen Le Hammond Inferno. Der trockene Boden stiebt helle Staubwolken. Nackte Füße stapfen den Bassrhythmus. Ob ich auch die Slimfilter von Zick Zack nehme, will der Typ neben mir wissen. Ich hab Mühe, ihn zu ver-stehen. Die Ohropax absorbieren die Geräuschwellen. Als ich von der Bar zurück-komme, sind die anderen weg und ich stehe allein inmitten der tanzenden Leute. Mir tun die Füße weh. Mir ist nach visueller Abwechslung. Im Hangarkino läuft Jean-Luc Godards ›Alphaville‹. Mühe hab ich, mich bei meinem Space-Cake-Kopf-kino auf den Untertitel zu konzentrieren. Die Filmkiste rattert und der süß duf-tende Rauch der Tüten steigt in den Lichtkegel empor. Zu anstrengend. Aber das Kino ist voll. Draußen toben die Staubwolken und das ehemalige Flugplatzgelände hat sich in ein wildes Lichtermeer verwandelt. Die Lichtlampen brechen sich an den schwirrenden Staub-Wasser-Luftteilchen. Nachts kreiert sich die Fusion neu. Ein spaciger Jahrmarkt aus tausenden von Glühwürmchen, die aufgeregt umher schwirren. Summen. Surren. Gurren. Gurgelnd eine eigene Atmosphäre bilden. Ein Lichterschwarm, der immer wieder neue Formen und Farben findet. Sucht. Umher blickt. Gesehen wird und weiter zieht. Die Menschen ziehen von einer Attraktion zu nächsten.« (www.jetzt.sueddeutsche.de, Tagebuch-Eintrag von ›ze-roone‹, 9.7.2003)

Trotz der Hippie-Romantik des Fusion-Projekts haben jedoch die Fusion wie auch die Partyprojekte in der Stadt mit dem Problem zu kämpfen, dass der Idealismus zur Ideologie werden kann. Die Organisation eines Festi-vals, das bis zu 30 000 Besucher zählt, ist nicht jenseits »ökonomischer Verwertungszusammenhänge« zu realisieren. Es gibt viele kritische Stim-men in der Szene, die einen Widerspruch zwischen dem selbst geschaffe-nen Image der Fusion als antikapitalistisches, unhierarchische und gemein-schaftsorientiertes Ereignis, wie sie auf den Flyern und der Webseite und auch in den Selbsterzählungen dargestellt wird, sehen, und der Veranstal-terrealität. Ein Festival in dieser Größenordnung, bei dem pro Veranstal-tung über eine Million Euro erwirtschaftet wird, ist aufgrund kollektiver Entscheidungsstrukturen nicht durchführbar und funktioniert auch nicht jenseits des ökonomischen Regelwerks. Das »U-Site«-Collective hat sich zwar aus alternativen Besetzerstrukturen heraus entwickelt und das gegenseitige Vertrauen und der Teamgeist basiert auf dieser geteilten Vergangenheit,

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doch laufen die Fäden der Organisation in einer Hand zusammen – zumindest ist es allgemeiner Konsens in der Szene, dass dem so ist. Diese Person, Papa, regiert wie ein Fürst über sein Fusion-Territorium und scheint auch die Entscheidungsmacht über die zentralen organisatorischen und gestalterischen Fragen der Fusion zu haben zu haben. Bei aller Ach-tung, die der Fusion als alternativem kulturellen Ereignis entgegengebracht wird, wird Papa oft auch als »Guru« kritisiert, nicht zuletzt von den »Pyo-nen«, die ehemalige Kampfgenossen von Papa sind. Hierbei paart sich berechtigte Kritik an der Doppelmoral mit kleinbürgerlicher Engstirnigkeit, die sich besonders in finanziellen Fragen ergeht und die auch den traditio-nellen antikapitalistischen Besetzerdiskurs bestimmen. Papa wird vorge-worfen, sein unternehmerisches Handeln nicht offen zu legen, sondern unter dem Deckmantel des alternativen »Spirits« strategische Vorteile zu ziehen. Künstler würden unentgeltlich oder unterbezahlt angestellt und die Schere zwischen unbekannten Künstlern, die nicht bezahlt werden, und berühmten Künstlern, die offenbar ein hohes Honorar erhalten, klaffe weit auseinander. Zudem würde nicht offen gelegt, wie sich die Besitzverhält-nisse des Fusion-Geländes darstellen – das Gelände wurde 2003 vom Bund erworben – ob tatsächlich der eingetragene Verein »U-Site« der Besitzer sei oder Papa selbst. Dass das Gelände überhaupt finanziell erworben wurde, stellt für viele eine Form kapitalistischer Akkumulation dar. Kritisiert wurde auch, dass Papa den »Spirit« der Fusion missbrauche, um Freiwillige zu mobilisieren, damit diese unbezahlt arbeiten. Tatsächlich arbeiten viele Beteiligte aus dem Collective beziehungsweise dem Mitarbeiterstab für einen sehr geringen Lohn, einige hundert Euro im Monat, um den nicht-kommerziellen Kollektivgedanken aufrecht zu erhalten. Sie finanzieren sich zusätzlich durch Gelgenheitsjobs in Hamburg und Berlin, ohne die diese Arbeit nicht durchführbar wäre. Für Reperaturdienste, professionelle handwerkliche Dienste, etc. werden Fachkräfte eingestellt, die meines Wis-sens regulär bezahlt werden. So hat das Fusion-Gelände auch eine Haus-meisterin, die aus dem nahe gelegenen Ort stammt und für die eine staat-lich geförderte ABM-Stelle geschaffen wurde. Nicht zuletzt wird ihm an-gekreidet, einen Mercedes (Kombi) zu fahren, der offensichtlich aus dem Gewinn der Fusion bezahlt wurde. Die »Pyonen« sind die ersten und nicht die einzigen, die ihren ehemaligen Kampfgenossen in typisch radikaler Hausbesetzer-Manier Heuchelei und Ausbeutung vorwerfen. Malcolm, der sich ja selbst als Unternehmer bezeichnet, sagt polemisch:

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»Wo bleiben denn die Millionen, die hier eingenommen werden? Wo bleibt denn das Geld? Wer hat denn eigentlich das Gelände gekauft? Der Verein ›U-Site‹ oder Papa und Markus (Papas Kompagnon) als Allein-Eigentümer? Wer is’n Eigentü-mer? Weißt du’s? (ich schüttle den Kopf) Ich weiß auch nicht wer’s ist. Ich will’s auch lieber gar nicht wissen. Aber das sind halt so Fragen, die dann die Leute anfangen zu stellen. Das ist so dieser ganz schmale Grad bei so’nem Projekt. Die Veranstaltung an sich ist unglaublich. Super. Die ist genial. Aber die Finanzierung und wie das verteilt wird, das hat schon was Oligarchisches. Das hat vielleicht sogar schon fast was Faschistisches. Weil es bringen sich total viele Menschen ein in den ›Ferienkommunismus‹, aber die letzte Entscheidung, die liegt bei ’ner klei-nen Gruppe. Ich glaub bei zwei Leuten.« (Interview mit Malcolm vom 22.2.06)

Hieraus sprechen schlechte Erfahrungen mit »kollektiven Strukturen«, bei der in der offiziellen Lesart alle Beteiligten gleichermaßen engagiert sind und alle gleichermaßen vom Gewinn profitieren, wo aber de facto einer oder einige wenige die Gruppenprozesse dominieren und somit auch über die Gewinnverwaltung entscheiden.

Ein Fotograf der Szene und Freund von Gabi sagte einmal polemisch, die Fusion sei »ein Business«. Aber in Bezug auf »die Sache« auch: »Klar, jeder will ein Teil davon sein« (Feldtagebuchnotiz vom 20.4.05).

Die Diskrepanz zwischen der Gemeinschaftlichkeit als ästhetischem Wert, den das Fusion-Festival erzeugt und den tatsächlichen Organisati-onsstrukturen, die nicht immer kollektiv gestaltet sind, macht einmal mehr deutlich, dass die Inszenierung der »Fusion« als Hippie-Festival und die dahinter liegende Organisationsform nicht deckungsgleich sind. Während in der Organisationsform hierarchische Momente enthalten sind und diese auch nicht gänzlich jenseits der ökonomischen Logik ablaufen kann, ist das Festival selbst im Empfinden aller Beteiligten ein Communitas-Ereignis, bei dem ein besseres Leben im Hier und Jetzt propagiert und temporär verwirklicht wird.

Der Erfolg der Fusion liegt meiner Ansicht nach zum einen daran, dass stabile Besitzverhältnisse herrschen, also das Fusion-Gelände gerade kein ephemerer, temporärer Ort ist. Dadurch erhält das Gelände den Status einer Art Sommerresidenz der Szene, die auch jenseits der Festivalzeit aufgesucht wird. Das Festival findet Ende Juni statt und schon ab April strömen Akteure aus Berlin, Hamburg und anderen deutschen Städten sowie weltweit verstreute Globetrotter auf das Gelände, um hier nicht nur zu arbeiten, sondern auch den Sommer jenseits der Stadt zu genießen. Schon im Vorfeld entsteht durch diesen Zustrom an Akteuren und durch das gemeinschaftliche Arbeiten am Gelände eine festliche Atmosphäre, die

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für viele das idealistische Engagement attraktiv erscheinen lässt. Tagsüber besteht ein reges Treiben auf dem Platz und abends sitzt man in gemein-schaftlicher Runde am Lagerfeuer, freut sich über das Tagwerk, sitzt, trinkt und redet und lässt es sich wohl ergehen. Zum anderen ist er in der sub-kulturellen Glaubwürdigkeit von Papa begründet, aufgrund seiner Hausbe-setzervergangenheit, durch die er einerseits bewiesen hat, dass er auf der richtigen Seite steht und sich andererseits eine Position in alternativen Kreisen gesichert hat. Man ist sich einig, dass Papa die Fusion »lebt«: »Da lebt er 200 % drin«, sagte beispielsweise ein Toningenieur, der sowohl für die »Pyonen« als auch für Papa arbeitet (und der bei den »Dead County Cool Boys« als »Hank High« auftrat). In der ansonsten personell sich stän-dig wandelnden Szene, in der Collectives sich gründen und wieder zerfallen, hat Papa sich eine dauerhaft respektierte Rolle geschaffen. Dass die Szene diese Rolle akzeptiert, liegt meiner Ansicht nach an seinem Habitus, den man als bodenständig am besten beschreiben kann. Er ist gerade kein typischer Manager, sondern das genaue Gegenteil (auch hierin lässt sich eine subkulturelle Logik erkennen, die die Codierungen der dominanten Gesellschaft auf den Kopf stellt). Papa sieht unauffällig aus, ist schlampig gekleidet, stämmig und hat rötliches ungewaschenes, schulterlanges Haar, worüber er gerne eine Armeekappe trägt. Mit seinen gut 40 Jahren sieht er aus wie ein gealterter Hippie, den man eigentlich nicht ernst nehmen kann. Außerdem scheint es, als sei er »sich treu« geblieben, sowohl was seine Herkunft betrifft, nichts deutet in seiner Erscheinung auf eine Aufsteiger-mentalität hin, als auch was sein jahrelanges subkulturelles Engagement angeht. Er durchschaut mit Bauernschläue das System, weiß es geschickt zu nutzen, ohne sich ihm unterzuordnen. Schon als Jugendlicher verdiente er sich ein Taschengeld indem er für eine amerikanische Militärkaserne nahe seines Wohnorts kleine Handwerksdienste erledigt. Im Jugendheim war seine erste Tat, »den Betreuer hinauszuwerfen«, wie er mit einigem Stolz erzählte. Er spielte in einer Punkband, die nach eigenen Aussagen sehr schlecht gewesen sein muss, also eine authentische Punkband war. Später flog er von der Schule und zog in einen Wagen in der Wagenburg »Walli« in Bremen, von wo aus er die ersten Partys, auch in Hamburger Hausbesetzerkreisen organisierte.

Seine gewinnende Art konnte ich selbst erleben, als er mich im Herbst für einen Tag auf das Fusion-Gelände mitnahm. Als ich mich zu ihm ins Auto setzte, begann er sofort, sehr offen und herzlich zu reden, er sagte er freue sich, dass ich ihn begleite (um diese Zeit ist er meist alleine auf dem

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Gelände) und klopfte mir dabei kumpelhaft auf den Schenkel. Wir verleb-ten einen gemütlichen Abend, ein einzelner junger Vater mit Sohn, der noch auf dem Gelände war und einen Feuerwehrwagen ausbaute, brachte Fisch mit, den wir zu viert aßen. Danach zappten wir in der Wohnküche der Fusion durch das Fernsehprogramm und sahen, als wir nichts besseres fanden, »Die Komissarin« mit Hannelore Elsner an. Er bot mir wie selbst-verständlich an, dass ich bei ihm im Wagen schlafen könne (ob damit eine Absicht verbunden war oder nur eine paternalistische Geste, war mir nicht erschließbar), ich zog es aber vor, in einem der Zimmer zu schlafen. Beim Interview, das ich am nächsten Morgen mit ihm führte, war er sehr aufge-regt, stand noch einmal auf, um auf die Toilette zu gehen und sprach sehr leise und schüchtern ins Mikrophon.

Der Habitus von Papa und die Bedeutsamkeit des Fusion-Geländes als dauerhaftem Ort für die Szene ist der Grund, warum das Festival seine subkulturelle Glaubwürdigkeit beibehält. Es trägt dazu bei, dass weiterhin eine Unzahl von Idealisten, Künstlern und »Verrückten« (wie Papa sie liebevoll nennt) sich hier einbringen, die nicht in erster Linie kommerzielle Interessen leitet, sondern die an die »Sache« glauben und für kurze Zeit, für die Dauer des Fusion-Festivals, ein besseres Leben im Hier und Jetzt schaffen wollen.

Am Beispiel der Fusion sollte deutlich geworden sein, wie sich das Verlassen der Stadt und das Aufsuchen der Natur mit dem hippiesken Ideal einer besseren Welt verknüpft. Bei den kleineren Partys, die spontan für ein Wochenende auf Waldlichtungen oder am Meer abgehalten werden, schwingt dieses Ideal verdeckt mit, beim Fusion-Festival findet dies durch die Ästhetik des kollektiven »do-it-yourself« zu einem Symbol.

Die Ironisierung der Hippie-Romantik

Das Beispiel der »Fusion« zeigt, dass die hippieske Natur- und Gemein-schaftsromantik schnell unter Ideologieverdacht gerät. Obwohl man durch das Hinausschwärmen in die Natur zweifellos eine hippieske Praxis voll-zieht, so gelten Hippies im Szene-Diskurs doch meist als unverbesserliche Idealisten, als naive Spinner, als schmuddelige »Natur-Freaks« (Bond), als Leute mit »Eso-Schaden« (Kalle), etc. Es gehört geradezu zum »guten Ton«, sich über Hippies lustig zu machen: »Alle machen sich über die Hip-

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pies lustig… ich auch«, sagte mir sogar Papa selbst (Interview mit Papa vom 8.9.03). Ebenso sind Spötteleien über die Natur immer gut für einen schnellen Witz. So sagte ein Akteur nach dem Baden in einem Waldsee, er müsse jetzt die Fische von seiner Haut waschen. Ein anderer ekelte sich vor den Algen im Wasser und sagte, er würde diese Gewächse nur mit Sushi schätzen. Zwitschern der Vögel wird unter Umständen als »Bio-Lärm« bezeichnet. Man fühlt sich als Städter und bezeichnet sich auch als solcher und die Natur ist keine dauerhafte Zuflucht, sondern ein Ort au-ßerhalb der Stadt, der seine Bedeutung im Kontrast zu den städtischen locations erhält.

Die Kritik an der Hippie-Ideologie ist nicht als Kritik an deren Sehn-süchten misszuverstehen, es ist keine Kritik an der Suche nach alternativen Erfahrungsformen in der Natur und einer daran anknüpfenden alternati-ven Kultur, sondern kritisiert wird die Verhärtung der Naturromantik zu einem alternativen Dogma mit entsprechenden Symbolen und Wertigkei-ten. Die Haltung der Zerstreuung, die nach keiner tieferen Bedeutung sucht, erscheint unter dieser Perspektive die ehrlichere, weil unideologische Haltung zu sein.

Um den schmalen Grad zwischen hippiesker Natur- und Gemein-schaftsromantik und »oberflächlicher« Zerstreuung noch weiter auszuloten, soll im Folgenden auf das Festival »Camp Tipsy« eingegangen werden. »Camp Tipsy« war weniger ideologisch aufgeladen als die Fusion und war darin dem schwebenden, nie gänzlich manifest werdenden Hippie-Ideal der Szene besonders adäquat.

Camp Tipsy: Zwischen Stadt und Natur

Unter dem Motto »Badespass, Gruppensex und Zwiebeln schälen!!! Zwei Wochen Camp Tipsy jenseits der kommerziellen Verwertbarkeit: Niemand geht mit Geld nach Hause. (9.6.03)« kamen ca. 300 Künstler und do-it-yourself-Künstler der Berliner Szene zusammen, um gemeinschaftlich und ohne Gage das Festival zu gestalten. Die Initiatoren waren Kirk (»Gold-mund«), das »Muh-Bar«-Collective (vor allem Cody und Kalle) und die Office-Managerin von »Gate 5«. Der Name »Camp Tipsy« war meines Wissens eine Erfindung von Kirk, der »tipsy« mit »angeschickert wie zwei alte Damen« übersetzt (Feldtagebuchnotiz vom 25.6.02). Für den Berliner

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Techno-Underground war »Camp Tipsy« das Ereignis des Jahres. Malcolm von den »Pyonen« sagt: »Camp Tipsy in Biesenthal, ganz klar zwei, drei Jahre hintereinander die beste Veranstaltung des Jahres. Mit Abstand.« Weil es im ersten Jahr so erfolgreich war, wurde es in den folgenden wie-derholt, die Zahl der Besucher stieg von 800 auf 3000. Auch eine Soziolo-gin, die für einen Aufsatz über kreative Milieus Interviews mit etablierteren Berliner Clubs führte erzählte, alle Gesprächspartner hätten »Camp Tipsy« als ideales Beispiel einer alternativen Kultur genannt.

Es fand in einem alten DDR Kinderferiencamp vor den Toren Berlins statt. Das Gelände eignete sich, weil es einerseits und im Gegensatz zu den städtischen locations groß genug war, alle Beteiligten unterzubringen, an-dererseits aber nahe genug an Berlin (eine halbe Stunde Autofahrt), dass man es noch als exterritorialen Stadt-location begreifen konnte. Viele namhafte Berliner Künstler und DJs, die auch jenseits der Subkultur in etablierten Berliner Clubs bekannt waren (WMF oder Tresor), traten hier unentgeltlich auf, weil sie sich, wie man erahnen konnte, ihren subkultu-rellen Wurzeln noch verbunden fühlten. Auch die genannten Collectives – »Muh-Bar«, »Bar 25«, Gabi, »Pentaklon« von den »Pyonen«, »Spacebar«, »Waffengalerie« – waren beteiligt. Die »Bar 25« organisierte eine Whisky-Bar, die »Muh-Bar« baute im Westernstil eine Bühne für Rockbands (Wes-tern war, inspiriert von den »Cool Boys«, das unausgesprochene Motto von »Camp Tipsy«), Gabi machte mit den Schwaben ihr »Spätzlefreeschtyle«, zu dem Kalle auflegte, die »Spacebar« organisierte eine »Healing Area« mit Massagen, Badewannen, Drinks und leiser Musik, »Goldmund« organi-sierte eine Lounge am Waldrand und »Pentaklon« setzte den Wald mit Lichtern für die »Goldmund«-Lounge in Szene.

Das »gleichberechtigte Miteinander« umfasste aber nicht nur die bereits anerkannten und etablieren Collectives. Wie Cody mir sagte, sollte keiner ausgeschlossen sein und jeder sich beteiligen dürfen. Das Ideal der Initiato-ren Kirk und Cody war es, eine Massierung an Beteiligungen zu erreichen, die nicht mehr überschaubar war und sie im wahrsten Sinne des Wortes überwältigen sollte. So waren auch zahllose kleine, unbekannte Künstler, DJs und Collectives beteiligt, die »Camp Tipsy« seinen Varieté-Charakter verlieh – ein beteiligter Informatiker (ebenfalls von »Gate 5«50) sagte, »der Tüttelkram, davon lebt das Ganze« (Feldtagebuchnotiz vom 8.7.03). Auch Akteure der Szene, die sich bisher noch nie künstlerisch betätigt hatten,

—————— 50 »Gate 5« ist inzwischen von Nokia aufgekauft, wovon der Spiegel berichtete. Hier hat

sich subkulturelles in finanzielles Kapital transformiert.

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sollten sich beteiligen. So stand im Protokoll des ersten gemeinsamen Tref-fens zu den Personen: »...will sich einfach mal angucken, was wir so auf die Beine stellen...«, und: »... will einen tollen Sommer haben...« (Protokoll 8.3.03). Das Ziel, das freilich nicht erreicht werden konnte, war, dass sich die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten auflösen und jede und jeder, der auf dem Festival feierte, auch in irgendeiner Form gestalte-risch involviert war. Kirk sagte: »Wir müssen wieder zu Inhalten kommen. Weg vom Konsum« (Interview mit Kirk vom 26.6.03). Um möglichst viele potenzielle Beteiligte zu erreichen, fertigte Cody spezielle »Künstler-Einla-dungen« an, die zum Mitmachen aufriefen. Darauf stand unter dem Punk-Motto »DIY… alles ist möglich«:

»Camp Tipsy Ist eine unkommerzielle Veranstaltung. Niemand macht einen persönlich ver-

wertbaren materiellen Gewinn und es werden keine Gagen an Künstler oder Mit-wirkende in den Festivalstrukturen ausgezahlt.

Es wird mehrere Floors und Bühnen geben, von analog bis elektronisch wird gefeatured, was abseits des Mainstream liegt. […]

Bildet Gruppen… denkt euch etwas aus… tut was Ihr wollt… Selber-Machen statt Konsum! […]

Wenn du mit Performance Gruppe, Band, als Live, Theater-, Zirkus- oder Show Act teilnehmen möchtest, dann kontaktiere uns bitte…«

So war unter anderem ein junges Collective vertreten, das sich »Morgen-landung« nannte, in einem unrenovierten Wohnhaus als Kommune wohnte und aus Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen bestand (sowohl Modedesign als auch Physik). Sie hatten schon Kinoabende im Ladenraum ihres Wohnhauses organisiert, aber ansonsten kaum Eventerfahrung. Kirk hatte sie angesprochen, weil sie auf dem Open-Air-Festival »Fusion« mit einem selbstgebauten rollenden Sofa, dem sogenannten »Mofasofa« aufge-fallen waren. Bei »Camp Tipsy« wollten sie ihr Können unter Beweis stel-len: »Wir machen ein Festival für uns, so, wie wir uns das immer erträumt haben« (8.7.03), sagte einer von ihnen.51 Sie bauten im Wald ein Baumhaus, hängten ein Sofa als Sofaschaukel in die Bäume und verlegten ein über das Gelände verteiltes Telefonnetz mit 5 Telefonen, durch die man von ver-

—————— 51 Auf der Camp-Tipsy-Vollversammlung wurde ihm wegen dieser pathetischen Worte

applaudiert und es wurde vorgeschlagen, ihn zum »Camp-Tipsy-Bürgermeister« zu wählen (Feldforschungsnotiz vom 8.7.03).

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schiedenen Orten aus miteinander kommunizieren konnte.52 Ein junger Lehramtsstudent, der inzwischen in Sussex Lehrer geworden ist, organi-sierte mit seiner Guppe »aka47« (der Name bezeichnet ein russisches Ma-schinengewehr) eine Lesebühne, auf dem er »post pop poetry slim & slam & spoken word« zum Besten gab: »just give me a microphone. please just a microphone!!!)«. Die Webseite der Gruppe hatte den klangvollen Namen: www.schwuleaffenkacke.de.53 Die Bühne war aus alten Brettern, Betten und Autoreifen behelfsmäßig zusammengezimmert, rückseitig wurde sie von zwei verknoteten Batik-Tüchern begrenzt und mit einem Autonum-mernschild verziert, eine flatterhafte Plastikplane schützte die kleine Mu-sikanlage vor Nässe, und eine IKEA-Stehlampe spendete Licht. Außerdem gab es so verwunderliche Einzeldarbietungen wie die eines namenlosen Esoterikers, der an den Zaun einer Kuhweide die herausgerissenen und übermalten Seiten von Hypnosebüchern hängte, die Titel trugen wie »Die Macht unserer Vorstellung« und »Wann ist Hypnose sinnvoll«. Zwischen selbst gemalten Spiralen waren Texte zu lesen über Hypnoseshows und wie Menschen in Trance verfallen oder auch so abstruse Textfragmente wie: »Computer-Analysen ergaben die Unfallrate auf einem Stadtplan. Die Er-gebnisse wurden Busfahrern ausgehändigt. Die Unfallrate stieg aber.« – Solcherlei Spleen wird in der Szene besonders gern gesehen (Cody: »Das find ich so super, so cool, dass der sich hinstellt und das macht.« Feldtage-buchnotiz vom 15.5.03). »Freaks« werden diese Leute liebevoll in der Szene genannt und wie auch Papa über die Fusion sagt, lebt ein Festival von den »Freaks«.

Jenseits dieser vielfältigen Aktivitäten zeigte sich eine Grundtendenz von »Camp Tipsy«: In der Natur wurde eine urbane Atmosphäre erzeugt, die die traditionell ornamentalen, an indische Motive angelehnte Natur-romantik der Hippies durchbrach. Damit wendete man sich – trotz des Pathos des do-it-yourself – gegen die Hippieromantik einer harmonischen Gemeinschaftlichkeit jenseits der Grenzen der Natur und machte deutlich, dass man hier nicht »die reine Natur« genoss, sondern eine, die künstlich in Szene gesetzt wurde – schon auf der Webseite von »Camp Tipsy« war ein —————— 52 Auf einem Flyer waren »die wichtigsten telefonnummern im überblick« angegeben, »nur

im tipsy-netz zu erreichen«, die teils selbsterklärend, teils rätselhaft waren: don simmons: (0)1234, heini: 23, radio: 5, goldglöckchen: 404, osten: 14 (nur aus dem westen), das ora-kel: (0)11, sumpf-info: (0)130-666, wiebke: 39122138.

53 Als Konrad vom »Spacebar«-Collective diesen kruden Namen hörte weigerte er sich, mit dem jungen Lehramtsstudent gemeinsam die Kinderbetreuung zu organisieren, wie es ursprünglich vorgesehen war.

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Stück Natur (eine Fotografie des Geländes) in einem barocken Bilderrah-men zu sehen, durch den die Natur quasi »auf die Bühne« gesetzt wurde, was das Moment der Inszenierung besonders hervor hebt (siehe Abbildung 10). Zwei Motive dominierten hier die Annäherung an die Natur: Zum einen wurde die Natur als städtisches Wohnzimmer inszeniert, mit plüschi-gen Sofas, Sofatischen, Stehlampen und Lüstern (aus dem Bestand des Goldmund-Interieurs). Die Natur wurde durch Technologien und Möblie-rungen in Szene gesetzt. Zum anderen fand eine spielerische Aneignung des Motivs »Cowboy«, das durch seinen Bezug zur machistischen amerika-nischen Redneckkultur ein diametraler Gegenpol zur Hippiekultur darstellt und gerade deshalb propagiert wurde.

Abb. 10: Natur im Rahmen (Quelle: Camp Tipsy)

Die innovative Ästhetik von »Camp Tipsy« führte dazu, dass hier auch Gäste aus Berlin kamen, die ansonsten nicht auf Goa-Partys gehen und zur künstlichen Wohnzimmerdekoration gut passten. Ihr Stil wiederholte die urbane Ästhetik, die das Naturidyll bricht, und machte die Gäste zu einem Bestandteil der urbanen Inszenierung von Natur. Ihre gepflegtere, weniger hippieske Kleidung fand in den gepflegten Sofas eine adäquate Sitzgele-genheit und in einer Whisky-Bar einen urbanen, nicht nur an Cowboys, sondern auch an Hemingway erinnernden Ort. Einige Frauen trugen Stö-ckelschuhe, die sich in die Wiese gruben und Erdlöcher hinterließen, die Caipirinha-Cocktails waren hierfür das passende Getränk. Etliche Besu-

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cher, die den Westernstil spontan als schick empfanden, trugen Cowboy-hüte und einige Frauen hatten sich mit Stiefeln und Petticoats als Cowgirls verkleidet, ein Akteur der Szene hatte einen ganzen Stapel billig erstande-ner Cowboyhüte mitgebracht, die er an die Anwesenden verteilte. Auch in den Gesprächen wurde das Cowboymotiv aufgegriffen. Man kokettierte mit dem Pionier-Image der Cowboys, schließlich fühlte man sich selbst am Rande der Zivilisation und der Naturschwärmerei einiger Anwesender wurde mit cowboyhafter Coolness begegnet. Ein entsprechendes Gespräch von Kirk, Bond, Kalle und Alex konnte ich bei der ersten Begehung des Geländes mitverfolgen:

Als wir mit dem Auto ankommen, sehe ich drei Cowboyhüte von hinten, die die Holz-Konstruktion begutachten, aus der die ›Jack Straw‹-Bar entstehen soll. Die Hüte gehören zu Bond, Kirk und Kalle. Später bezieht sich die Studentengruppe der Kommune ›Morgenlandung‹, in der die Flyerproduktion stattgefunden hatte, auf ihre ›cheffige‹ Attitüde als: ›na die Cowboys‹.

Alex (die auch bei dem Weihnachtsessen anwesend war), die die Sofas an ihrer Whisky-Bar zurecht rückt, erzählt amüsiert entzückt, wie ihr Sohn vorhin mit dem Cowboyhut von Kalle und einer Sonnenbrille aus dem Auto ausstieg, den Kopf dabei leicht wippend.

Am Nachmittag wird das Gelände begangen. Wir gehen zur Pferdekoppel, wo später der Parkplatz sein wird. Kirk hat seinen Geländeplan dabei und erklärt uns die einzelnen Gebiete. Auf der Koppel erblickt Alex Pferde und streichelt sie. Alex ist begeistert von ihrem Geruch. Sie sagt sie wolle sich daran reiben, um auch so zu riechen. Bond erzählt von Wildpferden, die er bei einem Urlaub in der Camargue einfangen musste, was aber anstrengend gewesen sei. Die hätten ihn regelmäßig überrannt. Kalle übertrumpft dieses Naturerlebnis mit dem Hinweis, dass er auf einem Bauernhof groß geworden sei. Manuel (von der ›Bar 25‹) schießt dabei Fotos aus der Hüfte, pro Minute ein Bild, sogenannte Lomo-Fotos, und bannt die Na-turidylle auf Zellophan.

Um auf die Koppel zu gelangen, muss man sich bücken und durch den Draht steigen. Kirk erzählt, wie der rüstige Bauer mit seinen 80 Jahren dies noch pro-blemlos meistert: ›Der ist ein richtiger Cowboy.‹

Bei einer Baumgruppe stehend meint Kirk, da müsse ein Schild hin, dass kein Feuer gemacht werden dürfe. Bond entgegnet, das gehöre doch zum Grundwissen. Kirk: ›Hey, die Leute kommen aus der Stadt.‹ Später erzählt Toni (der auf dem Werkstatt-Gelände von ›SeRo‹ wohnt), wie sie Flatterbänder zur Absperrung ange-bracht hätten: ›Wir haben uns gefühlt wie Ranger, die ihre Claims abstecken.‹ Es habe ein Käuzchen gerufen und er sei sich sicher, dass irgendwo aus der Ferne ein Zug gehupt hätte. (Feldtagebuchnotiz vom 30.7.02)

Die multimedialen Installationen auf dem »Camp Tipsy«-Gelände, die Möbel und technischen Geräte rahmten die Natur in einer den Hippie-Stil

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konterkarierenden Weise. Ebenso wie auch der Sprachstil von »Camp Tipsy« und seine visuellen und klanglichen Motive gehörten sie einem urbanen Umfeld an und durchbrachen damit die traditionelle Hippie-Äs-thetik. Ob der »Spoken Word Floor« nach einem Mikrofon rief, ob häusli-che Badewannen und Telefonanlagen zwischen Bäume aufgestellt wurden, ob skurrile elektronische Musik wie »nu disco style unschizophrenic mix of dancable and undancable tunes« gespielt wurde, ob Sofas in die Bäume gehängt oder ein Western-Ambiente aufgebaut wurde, immer standen die Requisiten, Töne und Ereignisse gegenläufig zu dem, was man allgemein mit einer Naturerfahrung assoziierte. Am besten wird dies durch die Lüster und Rokoko-Möbel deutlich, zwischen denen sich die Natur wie eine Ta-pete ausnimmt. Der Außenraum der Natur wird zum Interieur und das Wohnzimmer stülpt sich nach außen, die Natur wird als städtisches Envi-ronment inszeniert und die Stadt (das Wohnzimmer) als Natur.

Das ästhetische Verfließen von Stadt- und Naturraum beschreibt auch Johnny. Er äußert sich hier zu den »Pyonen«-Partys und nicht zu »Camp Tipsy«, aber dennoch wird hier eine allgemeine Haltung der Szene, die auch »Camp Tipsy« betrifft, auf den Punkt gebracht:

»Letztendlich ist auch ein Stück Wiese nur ein Raum. Ein Raum, mit dem man halt anders umgehen muss als mit einem Raum, der ne Mauer ist. Du stellst halt das Licht anders auf. Wenn du ne Wiese hast, wo ein Baum drauf steht, ist es was anderes wie wenn du ne Wiese hast, wo kein Baum drauf steht. Es ist natürlich naheliegend, auf der Wiese, wo ein Baum draufsteht mit dem Baum zu arbeiten. […] Und genau so hat jeder Raum in der Stadt oder jede Party-location in Anfüh-rungsstrichen auch eine neue Ästhetik. Du kommst in ’nen Raum und irgendwas fällt dir auf. Und das versuchst du herauszuarbeiten.« (Interview mit Johnny vom 20.9.03)

Durch »Camp Tipsy« wurden neue Symboliken in die Natur getragen, die der traditionellen Hippie-Symbolik entgegen stehen. In der Kontrastierung der Natur mit urbanen Symboliken (Wohnzimmer, Telefonanlage) wird die Natur zu einem Zerstreuungsraum, zu einer location (siehe Abbildung 7 im farbigen Bildteil). Der Cowboystil konterkarierte wie die technologischen Accessoires die Naturschwärmerei – man spielte Pioniere, die das Land erobern. Die Natur ist nicht mehr Ort utopischer Projektionen, sondern Spielmaterial für zerstreuungsfreudige Städter, die für ein Wochenende die Stadt verlassen.

Aus dem bisher Gesagten lässt sich folgern, dass alternativkulturelle, hippieske Ideale auch in der heutigen Szene wirken. Allerdings sind diese

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Ideale sehr instabil und was als hippieskes Ideal gehandelt wird, kann in einen Ideologievorwurf umkippen, sodass sich die subkulturellen Wertig-keiten in der Zerstreuung permanent auflösen.

Ideologien bedeutet eine Festlegung von Rollen, die die Konstruktion des Moments als Ermöglichung des Unerwarteten widerspricht.

Cowboys: Oben oder Unten?

Ein zentraler Aspekt des »Camp Tipsy«-Stils ist dabei noch nicht bespro-chen worden: Die Cowboy-Referenz von »Camp Tipsy« wurde als Gegen-strategie zur Hippie-Ästhetik interpretiert, es wurde aber bereits gezeigt, dass der Cowboystil auch eine Romantisierung des Underdog darstellt, wie ihn die Wagenburgler praktizieren. Aus dieser auseinander klaffenden Be-deutung ergibt sich eine für die Szene signifikante Kreisbewegung zwi-schen einem imaginierten oben und unten:

Der Cowboystil war einerseits eine Distinktionsstrategie, womit man sich von »den Hippies« als soziale Gruppe abgrenzen und deren naiven Romantizismus abwerten wollte. Diejenigen, welche die Cowboy-Ästhetik besonders pflegten waren zugleich die Initiatoren des Festivals, die inner-halb der Szene ein hohes soziales und symbolisches Kapital akkumuliert hatten und auf Grund ihres Status es sich leisten konnten, neue Trends und Moden zu definieren, auch wenn diese, wie im Fall des Country, in der Szene tendenziell als politisch inkorrekt empfunden werden. Das Collective »Morgenlandung«, das aus jüngeren Studierenden bestand, die sich den traditionellen Hippie-Idealen sehr verpflichtet fühlen (»ich will nicht cool sein müssen«, sagte mir einer von ihnen einmal), fühlten sich von dem Cowboystil provoziert. Eine Akteurin erzählte mir, ihr Collective hätte sich überlegt, sich als Indianer zu verkleiden und Pfeile aus Cocktail-Stroh-hälmen auf die Cowboys abzufeuern. Die Aneignung des Cowboystils wurde also einerseits von Akteuren der Szene mit hohem kulturellem Ka-pital vorgenommen. Sie positionierten sich damit im imaginären Oben der Szene-Hierarchie.

Andererseits ist der Cowboystil auch der Stil der Wagenburgler und verweist somit mit der Cowboyreferenz auch auf das imaginäre unten der Szene. Die bei »Camp Tipsy« anwesenden Wagenburglern verstanden die Cowboyreferenz besser als diejenigen, die sich nur für ein Wochenende

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einen Cowboyhut zulegten und hatten in diesem Bereich die Definitions-macht inne. Während die »hippen« Akteure der Szene mit Cocktailgläsern und Cowboyhüten über das Gelände flanierten, betranken sich die Wagen-burgler, die ansonsten Bier gewohnt waren, maßlos mit dem Sekt, der im Backstage-Bereich für teilnehmende Künstler frei zur Verfügung stand. Während der Cowboystil eine Distinktionsstrategie darstellte, die die Hip-pie-Ästhetik durch ihre Naivität auf eine symbolisch minderwertige Posi-tion verweist, wurde zugleich der im sozialen Raum der Gesellschaft un-terhalb der Hippie-Kultur angesiedelte Wagenburgler-Stil aufgewertet. Die Wagenburgler waren die authentischen »Underdogs« des Western und somit bei »Camp Tipsy« diejenigen, die dem Country-Stil seine Glaubwür-digkeit gaben.

Der Cowboystil verwies somit sowohl auf das Oben in der Szene (die »hippen« Städter, die sich von der naiven Hippie-Romantik abgrenzten) als auch auf das unten (die Wagenburgler, für die Country-Musik der symbo-lische Ausdruck ihres Lebens on the road darstellte). Dabei kann sich Oben und unten vertauschen, da die Wagenburgler die glaubwürdigeren Cowboys sind und diejenigen, die sich den Cowboyhut nur als Mode aneignen, sich tendenziell lächerlich machen.

Letztlich ist nicht zu beantworten, ob die Wagenburgler oder die hip-pen Modeleute in der Szene das höhere kulturelle Kapital inne haben. Gerade diese Kreisbewegungen, bei denen oben und unten vertauscht werden, um sodann erneut vertauscht zu werden, ist signifikant für die Szene, die einer subkulturellen Logik folgt, die sich in der Zerstreuung aber wieder selbst relativiert. Hier zeigt sich par exellence, wie Momente durch Konfusion festgefügter sozialer Rollen entstehen.

Abschließend ist auf die Dichotomie von Stadt und Natur einzugehen, die der Techno-Underground durchbricht, wobei in diesem Durchbrechen die Phänomenologie des Moments sich weiter verdeutlicht.

Die Dichotomie von Stadt und Natur

Seit ihrer Entstehung ist die Stadt in der Abgrenzung von der Natur und dem Land beschrieben worden. Das, was typisch städtisch ist war eben das, was nicht ländlich oder natürlich ist. Diese »prevalence of dichotomy«, wie Ulf Hannerz es nennt, (Hannerz, City: 63) bestimmte das Denken der

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frühen Soziologie, u.a. von Friedrich Engels, Ferdinand Tönnies und Max Weber. Engels kritisierte, dass alle Anzeichen des Landes, aus dem die Stadt doch erst entstanden sei, in der Stadt getilgt seien und dass das »Stra-ßengewühl […] etwas Widerliches (hat), etwas, wogegen sich die menschli-che Natur empört« (Engels 1848: 36/37). Ferdinand Tönnies konstatiert – einen Gedanken Georg Simmels vorwegnehmend – dass die Stadt im Ge-gensatz zum Dorf keine natürliche, affektive, sondern eine von der Ratio, »vom gemeinsamen Geist zusammen gehaltene« Gemeinschaft darstellt (Tönnies 1887, § 10). Und Max Weber bezieht seine Unterscheidung von »organischer« und »mechanischer Solidarität« auf die unterschiedlichen Lokalisierungen der Gemeinschaft in der Stadt beziehungsweise auf dem Land (Weber 1922) – der Begriff »mechanisch« rückt dabei die Verfasstheit der städtischen, »unterkühlten« Gemeinschaft in die Nähe der Technik (vgl. Lethen 1989).

Für die frühe amerikanische Stadtanthropologie beschreibt Hannerz eine ähnliche Zweiteilung, wie sie sich in dem »Wirth-Redfield-Paradigm« (Hannerz 1980: 64) niederschlug, wobei Luis Wirth dem Städtischen eine anthropologische Dimension zusprach (»Urbanism as a way of life«) und Robert Redfield gegen die Idee des Städtischen anschrieb (»anti-city«) und sich den »folk societys« zuwandte (vgl. Hannerz 1980: 58ff).

In den 1970er Jahren wurde die Dichotomie im Zuge der 68er- und Alternativbewebung durch den marxistischen Soziologen Henri Lefèbvre prominent aktualisiert. In Die Revolution der Städte beschreibt er das »Stadtgewebe (…als) die Gesamtheit der Erscheinungen, welche die Do-minanz der Stadt über das Land manifestierte« (Lefèbvre 2003 [1970]: 9). Raymond Williams, ein bedeutender Vertreter der britischen Cultural Stu-dies, verfasste 1973 sein Buch The Country and the City, das die Dichotomie im Titel trägt. Williams impliziert damit allerdings keine moralische Wertung und hält die Charakterisierung der Gegensätze verhältnismäßig neutral: »On the country has gathered the idea of a natural way of life: of peace, innocence and simple virtue. On the city has gathered the idea of an achieved centre: of learning, communication, light« (Williams 1973: 1).

Die Dichotomie von Stadt und Natur (sowie Technik und Natur) eig-nete sich auch als ideologische Projektionsfläche der künstlerischen Avant-garde das gesamte 20. Jahrhundert hindurch, wobei künstlerische und wissenschaftliche Strömungen nie ganz zu trennen sind und auch die oben genannten Schriften ein Produkt ihrer Zeit darstellten. Der Literaturwis-senschaftler Helmuth Lethen beschreibt in dem Aufsatz Lob der Kälte, wie

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sich künstlerische und philosophische Bewegungen mal auf die eine, mal auf die andere Seite der Dichotomie verortet hätten. So betrieben die Be-wegungen der 1920er Jahre: Neue Sachlichkeit, Bauhaus und Futurismus einen modernistischen Städtekult, der sich von der auf Natürlichkeit und Ganzheitlichkeit bedachten vorherigen Jugendbewegung abgrenzte (Lethen 1989).

Der Bohème attestiert Helmut Kreuzer eine grundsätzliche Großstadt-skepsis, ein »senti-mentalisch spannungsvolles Verhältnis […] zur Groß-stadt«, in dem er ein »rousseau-istisches Erbe« erkennt (Kreuzer 2000 [1968]: 221). Die jüngste und wohl prominenteste Bohème-Kultur stellte die Hippie-Bewegung dar, die in einem Natursymbol, der Blume (»Flower Power«) zu ihrem stärksten Symbol fand. Sie sehnten sich, so Paul E. Willis in seiner Ethnografie über die Hippies, nach einer »Rückkehr zur Natur« und nach einer »dichteren, mehr von der Erfahrung ausgehenden, harmo-nischeren und organischeren Form der Existenz in der Gemeinschaft« (Willis 1981 [1978]: 127). In der Natur sahen sie ein utopisches Arkadien als Gegenentwurf zur militaristischen und kapitalistischen Gesellschaft. »Arcadianism marks a return to the self-sufficient simplicity of the separate community«, wie Stuart Hall in einem wenig beachteten Aufsatz über die Hippies schreibt: »A view that life in its simpler forms and settings can be pared back to the bare essentials, and thus is counter-posed to the frenzy, the stimulated wants and consumer anxieties of a modern technological civilization; the desire to recreate within industrial and urban America the peace and gentle cohesiveness of the tribal community« (Hall 1968: 9). Dieses Ideal musste nicht zwangsläufig auf dem Land verwirklicht werden – Stuart Hall berichtet von den Aktivitäten der »Diggers« in San Francisco, alternative Netzwerke aufzubauen und ein »urban arcadia« zu schaffen (ebd.) – doch ist, wie auch Hall schreibt, die Natur der symbolische Ort der Hippie-Kultur. Aussteigen, »to drop out«, war immer auch eine räumliche Bewegung weg von Stadt und Zivilisation, hin zur Natur (und zu außereu-ropäischen Kulturen).

Am deutlichsten wird die Dichotomie in der schematischen Gegenüberstellung von »straighter Gesellschaft« und Subkultur, wie sie um 1970 in vielen Publikationen über Subkultur, Underground oder Hippie-Bewegung zu finden ist. Auch die Undergroundhefte der Bewegung selbst publizierten diese Listen. Sie bringen auf eine griffige Formel, was die Subkultur vom Rest der Gesellschaft unterscheidet und es versteht sich, dass die Seite der Subkultur alle positiven Identifikationsmomente ver-

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sammelt und die »straighte Gesellschaft« genau so skizziert wird, dass sie als Gegenpol deutlich und der Standpunkt der Subkultur umso plausibler wird.

»Straight« »Hippie« white Indian Urban-industrial pastoral or arcadian Sophisticated Simple Adult Childhood Masculine feminine postponement of gratification immediacy, existential now Individual Communal Force Flower Orderly Spontaneous Routine Anarchic Clean Scruffy Technokratie Zurück zur Natur Leistungsprinzip Lustprinzip

Tabelle 2: Straight und Hippie (Quelle: Schwanhäußer)

Stuart Hall verwendet diese Listen-Methode, in Deutschland findet sie sich bei den beiden bekanntesten Publikationen jener Zeit, Rolf Schwendters »Theorie der Subkultur« (Schwendter 1973) und Walter Hollsteins »Unter-grund« (die in der zweiten Auflage auf Grund des Deutschen Herbstes in »Die Gegengesellschaft« umbenannt wurde; Hollstein 1969). Es ist davon auszugehen, dass diese Listen auch durch die Medien zirkulierten, Hollstein hat beispielsweise eindeutig von Hall abgeschrieben. Hier wird Natur auf der Seite der Hippies angeführt (Zurück zu Natur, Blumen) und Stadt auf der Seite der straighten Kultur (urban-industrial). Tabelle 2 zeigt eine kleine Auswahl, zusammen gestellt aus den drei Listen54:

—————— 54 Es wäre interessant nachzuverfolgen, worin die Listen voneinander abweichen.

Beispielsweise schreibt Hall »body« der straighten Gesellschaft zu und »mind« den Hip-pies, was an sich schon rätselhaft ist, war doch die Hippiekultur eine sehr sinnliche, kör-perbezogene Kultur. Hollstein übernimmt diese Kategorien nicht.

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Diese Dichotomie wurde auch in der jüngsten subkulturellen Bewe-gung, dem Punk, weiter tradiert. Er folgte Ende der 1970er Jahre auf die Hippie-Kultur, und teilt seine gesellschafts- und kulturkritische Stoßrich-tung mit den Hippies, zieht jedoch andere Schlüsse daraus. Punk entstand in einer Zeit, wo die Frage des Natur- und Umweltschutzes und des glo-balen Friedens dringlicher wurden. Es war die Zeit der Friedensbewegung, die gegen das Wettrüsten der beiden Supermächte USA und UdSSR de-monstrierte, der Anti-AKW-Bewegung, die für den Ausstieg aus der Atomenergie kämpfte und der Ökobewegung, die das Bewusstsein vom »ökologischen Gleichgewicht« gesellschaftlich verankerte. Die Gründung der Öko-Partei Die Grünen fällt in diese Zeit. Die Stadt war hier nicht der Ort eines euphorischen Fortschrittsglaubens, sondern erschien als das Monster, das die Zivilisation gebiert, als Schaltzentrale des Kapitalismus, als Ort der Ausbeutung von Natur und Mensch und als Ort, von dem aus Kriege und Atomkraftwerke geplant werden. Die Stadt hatte für Punk keine futuristische Größe, vielmehr zerbrach man an ihrem Glas und Stahl, beziehungsweise erlebte sie als dunkel, dreckig und in gewisser Weise er-bärmlich. Sie war es Wert, unter zu gehen, wie die Band Einstürzende Neubauten es in ihrem Namen signalisierten. Doch anstatt sich vor diesem Moloch in die Natur zu flüchten, wie das die Hippies taten (auf die noch einzugehen ist), setzte sich Punk den zivilisatorischen Übeln radikal aus. Rousseaus Motto »Zurück zur Natur« wurde um 180 Grad in ein »Zurück zum Beton« 55 gewendet, wie Harry Rag, Gitarrist und Sänger der Punk-Band S.Y.P.H, es in seinem berühmten Song besang.

»Ekel, Ekel, Natur, Natur, ich will Beton pur, blauer Himmel, blauer See, hoch lebe die Betonfee, keine Vögel, Fische, Pflanzen, ich will im Beton tanzen.« (Zurück zum Beton, 1977)

Punk wollte nicht in einem romantischen Verblendungszusammenhang leben, der sich an vermeintlich heilere Orte flüchtete, sondern Punk wollte der unverstellten und gewalttätigen Realität ins Gesicht blicken. Der Schriftsteller Peter Glaser, der als einer der Sprachrohre der Punk-Bewe-

—————— 55 Vgl. Zurück zum Beton. Die Anfänge von Punk und New Wave in Deutschland 1977, 82.

Ausstelungskatalog, Düsseldorf 2002.

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gung gilt, äußert sich hierzu in dem »Doku-Roman« über den deutschen Punk Verschwende Deine Jugend:

»Wir liefen herum und sagten: ›Hey, was gibt es Romantischeres als eine Fußgän-gerzonenunterführung nachts?‹ Und das stimmte auch eine Zeit lang. Ich wollte mir nichts vormachen. Ich hatte das Bedürfnis nach Klarheit. Ich wollte die Wirk-lichkeit erzählen. Ich wollte sie aber auch schön finden. […] Man spürte natürlich diese ganze Fremdartigkeit, dass sich der Mensch so total gegen die Natur stemmt. Aber ich wollte klarstellen: So ist es eben – mit dieser künstlerischen Überhöhung, dass das alles ganz toll ist. Damit konntest du die Leute richtig erschrecken. Aber das war befreiend. Wir sagten: Beton ist schön. Großstadt ist schön. Wirklichkeit ist schön. Etwas zu sehen ist schön.« (Teipel 2001: 262)

Die Hippies waren älter geworden und im Erfahrungshorizont der Punks erschienen diese nun in den Schulen als ihre Lehrer. Deren überlieferte Ideale von Natürlichkeit, langem Haar und Gewaltverzicht nahmen die Punks als verkrustete Ideologien wahr und provozierten mit einer dezidiert künstlichen und pro-städtischen Haltung, mit kurzen Haaren und maskuli-ner Aggressivität. Damit durchbrachen sie die moralischen Wertungen der Hippies, reproduzierten jedoch die Dichotomie unter umgekehrtem Vor-zeichen. Wenn für die Hippies die »straighte Gesellschaft« den imaginären Gegenpol darstellte, so grenzt sich Punk von den Hippies ab (was dazu führen konnte, dass die Punks sich auf der Seite der »straighten Gesell-schaft« wieder fanden und dies dann als Subversion durch Affirmation verkauften). Allerdings ließen sich die Wertigkeiten nicht reibungslos um-drehen und die Identifikation mit Stadt, Technik und Maschinen ging mit nihilistischen Zerstörungsphantasien und Autoaggression einher. Die Hin-wendung zur Stadt war keine romantische Hinwendung, sondern der Ver-such, den gesellschaftlichen Gegebenheiten mit unverstelltem Blick ins Gesicht zu sehen, anstatt wie die Hippies vor ihnen zu flüchten. Auch für Punk war die Stadt Moloch, zivilisatorisches Übel, aber Punk versuchte, diese Hässlichkeit in eine »ehrliche« Lebenspraxis zu übertragen. Punk war eine Überlebensstrategie in einer Welt, für die Utopie mit Ideologie gleich-kam. Kirk vom »Goldmund«-Collective:

»Als ich aus dem Halbstarken-Alter raus war, war die insgesamte Stimmung in den 80er Jahren, gegen irgendwas zu sein. Und es war auch kein Hedonismus am Start, sondern es war schon: Sich Scheiße zu fühlen. Leute haben gesagt, ›Na, du Pisser‹, um sich zu begrüßen und voreinander Wohlwollen auszudrücken. Und ich hab’ mich da umgeguckt und dachte: ›Ja, in was für ’ner Welt leben wir eigentlich.‹ Und für mich sah das alles ziemlich Scheiße aus.« (Interview mit Kirk vom 3.7.02)

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In Deutschland übrigens, so vermutet Irmelin Demisch, trat die Dichoto-mie von Stadt und Natur innerhalb subkultureller Bewegungen besonders prägnant hervor (Demisch 1990: 50). Hierfür spricht auch die genuin deut-sche Debatte um das »Waldsterben«. Demisch führt dies auf die starke Tradition der deutschen Romantik zurück (u.a. der Wald-Sehnsucht Hugo von Hofmannsthals). Helmut Hartwig verweist auf die »präfaschistischen« Tendenzen, die dieses »Denken in Antinomien« mit sich führt (Hartwig 1979: 13).

So sind Stadt und Natur aus historischer Sicht zwei entgegengesetzte »Topoi« (Topoi, das heißt Orte, im konkreten wie im übertragenen Sinn), um die sich ein je unterschiedlicher Bedeutungskosmos rankt. Das gesell-schaftliche Denken und Handeln orientiert sich an diesen Topoi, insbe-sondere das der Subkulturen, für die dieser große Gegensatz eine, wenn nicht die Projektionsfolie ihrer Weltdeutungen darstellen (siehe Abbbildung 6 im farbigen Bildteil).

Moment

Indem wir den Akteurinnen und Akteuren der Szene in die Natur gefolgt sind, wurde die Bedeutung von Hippie-Idealen für den Techno-Under-ground deutlich. Die antikapitalistische und antizivilisatorische Romantik der Szene-Akteure, wie sie sich im Ideal der Communitas und der Ästheti-sierung der Umwelt bereits ausdrückt, findet in der Natur ein Symbol und einen konkreten Ort. Die alternativen Normen und Werte, die in der Stadt gelebt werden, treiben die Akteure der Szene immer wieder aus der Stadt heraus in die Natur, die als besserer, sinnlich befriedigender erfahren wird. Wie durch die Beschreibung der Wagenburgkultur die Romantisierung der proletarischen Kultur innerhalb der Szene vertiefend dargestellt wurde, so wurde mit der Darstellung der Goa-Partys die hippieske Naturromantik in der Szene deutlich. Diese ist als subkulturelle Logik der Szene zu interpre-tieren, durch die man sich tendenziell an der Idee eines antizivilisatorischen gesellschaftlichen Jenseits, für das die Natur eine Projektionsfolie darstellt, orientiert.

Doch zeigt sich auch, dass diese hippieske Romantik brüchig ist und eine Skepsis gegenüber der Gemeinschafts-Ideologie der Hippies besteht. Das Beispiel der Fusion hat gezeigt, dass auch ein Projekt, das aus den

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sogenannten »linken«, antikapitalistischen Strukturen in Hamburg und Berlin hervor gegangen ist, Bestandteil der ökonomischen »Produktionslo-gik« ist. Wer die Fusion als utopisches Projekt der Subkultur feiert, gilt in der Szene schnell als naiv. »Camp Tipsy« konterkariert deshalb gezielt die romantische Symbolik der Hippiekultur und setzt an ihre Stelle eine urbane Ikonografie: Wohnzimmereinrichtungen, technologische Spielereien und Western-Stil. Sie entzieht sich damit einer ideologischen Überfrachtung der Natur und inszeniert diese stattdessen als Zerstreuungsraum. Die Hippie-romantik ist nur noch als ein leiser Nachhall präsent.

In der Relativierung der Hippieromantik entsteht der Moment: Zer-streuung löst fest gefügte Klischees, ja Ideologien auf, wie sie die Dicho-tomie von Stadt und Natur (auch) darstellt. Im Vergleich zur Subkultur des Punk und der Hippies, für die diese Dichotomie die Basis ihres Weltbildes darstellten, lebt der Techno-Underground vor allem für den Moment und ist deshalb bereit, Ideologien fahren zu lassen. Der Techno-Underground schickt sich an, das »Blindfeld« (Lefèbvre 1991 [1979]: 37ff) zwischen Stadt und Natur, wie Henri Lefèbvre es nennt, urbar zu machen und dieser Weg führt nicht weg von der Zerstreuung, auch wenn sie subkulturelle Ver-bindlichkeiten auflöst und das Ziel aus dem Auge verliert, sondern durch sie hindurch. Eine Versöhnung von Stadt und Natur, die freilich noch außer Reichweite ist, kann sich nur im Moment vollziehen.

10. Unfocused gatherings – Partys als Lebensform

Das Projekt der Szene verknüpft sich mit einem Lebensstil under construc-tion, der ebenso auf Wechsel ausgerichtet ist wie das Szenegeschehen insgesamt, wobei subkulturelle Werte diesen Lebensstil motivieren und als Sinnressource dienen.

Im Folgenden soll deshalb gezeigt werden, wie Ort und Ereignis der Party mit dem Lebensstil der Szene-Akteure verwoben sind und ihm einen Sinn verleihen. Hierfür sollen zunächst ein Party-Ereignis beschrieben und die atmosphärischen Charakteristika herausgearbeitet werden. Die Party fand im bereits erwähnten »Schweizer Garten« statt, einer ehemaligen Brauerei im Prenzlauer Berg, die zur Jahrhundertwende einen angeglieder-ten Prater mit gleichem Namen hatte. Sie wurde unter anderem von Hek-tor veranstaltet, der auch beim Konzert der »Dead County Cool Boys« anwesend war und auf dem Gelände des »Schweizer Gartens« in einem Wagen als Einsiedler wohnt. Wenn der Leser oder die Leserin eine gewisse Absurdität gegenüber den Vorgängen empfindet, so ist dies, wie zu zeigen sein wird, als Teil der Szenelogik zu sehen. Anschließend ist auf die Le-bensstile der Szene-Akteure einzugehen und zu fragen, wie die Partys in Bezug auf diese Lebensstile als »Schwelle« fungieren und welche Konse-quenzen dies für die Erlebnisgesellschaft hat, innerhalb dessen sich die Szene verortet.

Damit soll eine zweite, alternative Deutung der Szene angeboten wer-den, die nicht auf den Moment, sondern auf eine überzeitliche Struktur – den Lebensstil – blickt. Beide Aspekte sind jedoch miteinander verwoben.

Von der Greifswalder Straße aus gibt es keinen Hinweis darauf, dass in einem der Hinterhöfe eine Party gefeiert wird. Mit dem Fahrrad fahre ich an den nächtlichen Wohnhäusern entlang und erreiche die Nummer 23a, eine schmale Lücke zwischen zwei Häusern die mich über einen Pflasterweg in den Hinterhof führt. Der Hof ist nach hinten offen und mit Bäumen und Sträuchern überwuchert. Gegen den Ster-nenhimmel zeichnet sich die Ruine der alten Brauerei ab. Das Dach ist halb einge-fallen. Ein Teil des Gebäudes wurde zu DDR-Zeiten als Autowerkstatt genutzt,

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wovon ein altes Trabant-Schild zeugt, an dem ich vorbei komme, ebenso wie an 2 »Wagenburgler«-Lkw, in einem davon brennt Licht.

Über eine fellbehangene Türe erreiche ich den Vorraum, wo sich eine Kasse befindet. Um den Eintritt zu kassieren, schiebt die junge Frau hinter der Kasse mit lustiger Geste eine Mütze bei Seite, die den Hand geschriebenen Preis – 3 Euro – frei legt. Ich zahle und erhalte als »Quittung« einen Stempel auf die Hand.

Der Raum der Party hat den typischen Backstein-Charme einer alten Fabrik-halle, ist jedoch relativ klein. Wie ich bei einer anderen Gelegenheit erfahren hatte, waren hier früher die Heizkessel untergebracht. Die Künstlergruppe, die die Braue-rei für ihre Arbeit günstig anmietete, musste die riesigen Stahlkessel mit einem Flex-Gerät auseinander nehmen und mit ihrem Laster auf den Schrottplatz im nahegelegenen Friedrichshain schaffen. Einige sehr breite Rohre laufen noch an der Wand entlang und enden im Nichts. Hoch oben von der Decke baumelt eine rostige Stahlkette mit Eisenhaken hinab, die entlang einer Schiene früher Kohle-container durch den Raum manövrierte.

Die meisten Leute sehen eher schmuddelig gekleidet aus, wenn auch eindeutig ein Stilwillen erkennbar ist. Es ist nicht auszuschließen, dass einige Kleidungsstü-cke teuer in einer Berliner Boutique erstanden wurden und gerade deshalb teuer waren, weil sie so billig aussehen. Dennoch scheint der Anteil an bequemer Second Hand Kleidung zu überwiegen. Sie erlaubt Bewegungsfreiheit, Tanzen und He-rumtollen und sich auf staubige Mauern und alte Sofas setzen. Oft sind es kuriose Einzelstücke, alt und individuell, wobei es auch »Klassiker« gibt, darunter zwei alte Adidas-Trainingsanzüge mit der zerfledderten Aufschrift von lokalen Sportverei-nen. Außerdem bunte Röcke über Hosen, gemusterte Hemden, viel Jeans und Sweat Shirts mit Logos wie eine bauchige Rakete (das Logo der Fusion) oder ein Golfspieler, der mit seinem Kopf spielt (das Shirt wurde von Bond entworfen und bei »Camp Tipsy« verteilt). Einige tragen bunte Skimützen, die zuweilen beim Tanzen spielerisch den Träger wechseln. In der bunten Vielfalt stechen einige besonders auffällig Gekleidete noch besonders hervor. Jack zum Beispiel, der schon über 40 ist (die meisten Besucher sind zwischen 25 und 35), sieht aus wie ein Krieger aus der Vergangenheit oder fernen Zukunft, trägt selbstgeschneiderte schwarze Kleider, die an japanische Martial Art Kleidung erinnern. Heute trägt er eine Art Wickelrock zu nacktem Oberkörper, sodass seine vielen Tattoos sichtbar werden. Sein Kopf ist kahlrasiert, bis auf einen Zopf der von der Schädeldecke schräg nach hinten absteht. Seine Wirbelsäule entlang ist ein Pilz tätowiert, dessen Wurzeln sich über dem Steißbein verästeln.

Die Stimmung ist freudig gelöst, viele kennen sich, man freut sich, dass man sich sieht. Es ist sehr voll, die Leute stehen dicht gedrängt in kleineren und größe-ren Gruppen beisammen, reden oder tanzen. Zwischen den Gruppen die tanzen, herumstehen oder auf Plateaus an der Wand sitzen besteht eine hohe Dynamik. »Ich halt’s nie lang aus an einem Platz, ich muss immer in Bewegung sein«, sagt Jaqueline, steht auf, nachdem ich mich gerade zu ihr und ihrer Gruppe gesetzt habe. Auch Stella (beide im »Muh-Bar«-Collective aktiv) streckt die Knie aus,

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»damit sie nicht einrosten«, sagt sie, steht auf und geht weg. Bald sitze ich allein an der Stelle des Plateaus, wo sich gerade noch eine Gruppe befand, eine in der quirli-gen Szene typische Erfahrung.

Eine zeitlang sitze ich allein auf meinem Platz. Dann kommt Thorsten an mir vorbei. Wir umarmen uns zur Begrüßung. Ich frage ihn nach Victoria, seiner Freundin. »Die ist auf ’nem Kongress.« Und nach kurzer Pause mit einem Schmunzeln: »Irgendwer von uns muss sich ja weiterbilden.« Anschließend fragt er mich nach Kalle, der heute jedoch nicht anwesend ist. Dann schweigen wir. »Willst du ’nen halben Kaugummi.« Der sei aus Japan, anstatt Zähne putzen. Wieder Schweigen. Jack, der mit dem tätowierten Pilz, kommt dazu und führt Thorsten einen kleinen Handlaser vor, der eine rote Victory-Hand auf Oberflächen proji-ziert. Wie ein Magier wendet er den Laser auf den Rücken eines Herumstehenden, sein Körper zittert, als würde seine Hand das Licht hervorbringen. Thorsten sieht ihm nur halb zu und sagt: »Die Musik ist ja nicht so richtig.« Und nach einer Weile: »Ich werd mich langsam vom Acker machen.« Er bleibt aber sitzen. Wieder ver-geht Zeit. Dann steht er, auf um zu tanzen.

Später hat sich eine größere Gruppe an Freunden und losen Bekannten (über-wiegend Akteure des »Muh-Bar«-Collectives) in einem Winkel der Party eingefun-den. Ein Joint macht die Runde. Thorsten begrüßt, umarmt und küsst viele. Ich grüße auch diejenigen, die unmittelbar neben mir sitzen, noch etwas zögerlich. Europa (die bei Camp Tipsy auf einem Stier ritt, der auf einer Weide stand) kommt fröhlich an uns vorbei gestolpert mit einer Flasche Sekt und Glitzer unter den Augen. Jaqueline sagt: Europa ist immer überall.

Es vergehen Stunden. Ich plaudere mit einzelnen Leuten über Themen wie Magenprobleme wegen Drogen, den Job als Versuchskaninchen bei einer Medi-kamentenfirma, einer Party vergangenes Wochenende, einem Käsefondue-Essen und den Umzug eines Plattenladens von Prenzlauer Berg nach Friedrichshain. In den Morgenstunden gehe ich eine Stahltreppe hoch zu einem Eisensteg, auf dem Sofas und Sessel kreuz und quer stehen. Es ist inzwischen 10 Uhr morgens. Aus einem Fenster strömt gleißendes Sonnenlicht. Die Strahlenbündel wirken wie Scheinwerferlicht und werden von Staub und Rauch pittoresk gebrochen. Die Leute die vorher unten saßen, Thorsten, Jack und die anderen liegen nebeneinan-der auf den Sofas, teilweise wie Kätzchen in einem Korb ineinander geschlungen, sich umarmend, Köpfe auf Schultern, gegenseitiges Massieren, eine Saftflasche kreist. Ein kleiner Mann Ende Dreißig, der auf Partys immer einen kleinen Stoff-drachen mitnimmt, hat den Drachen neben sich gestellt. Man ist wohlig erschöpft vom Feiern. Für die, die Drogen genommen haben, hat sich die Wirkung inzwi-schen erschöpft. Nur Europa ist immer noch ausgelassen, turnt über die Sofas und krabbelt in dem Militärnetz, das vom Zwischensteg aus über die darunter liegende Tanzfläche gespannt ist. Alle sind in einem Schwebezustand, mit leichtem Anflug von Langeweile, einige sehen müde vor sich hin, doch trotzdem geht niemand nach Hause. (Feldtagebuchnotiz vom 16.12.01)

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Samtbody vom Goldmund-Collective sagte einmal, dass der schönste Augenblick derjenige sei, wenn man die Party hinter sich gebracht hätte (auch wenn dies auch die Zeit der Melancholie ist). Es ist jene Zeit in den Morgenstunden, in der man zusammen rückt, müde vor sich hin blickt oder sich massieren lässt und wortlos den Augenblick genießt. Dieser an sich völlig entleerte Augenblick, die sogenannte »After Hour«, die Stunde danach, nach dem Eigentlichen, wird für Stunden in die Länge gezogen. Die Leere in diesen Stunden, die aber keine gähnende Leere ist sondern ein gewisses Timbre hat, stellt das stille Gravitationszentrum des Techno-Un-dergrounds dar. In ihr kondensiert sich, was sich über Stunden akkumu-liert. Die Partynacht meandert vor sich hin, mit anregenden, lustigen, selt-samen, euphorischen und langweiligen Momenten. Man driftet durch die Nacht, zwischen Tanzfläche und Sofas, zwischen einzelnen Gruppen und Personen, mal tanzend und mal sitzend, mal im Gespräch und mal schwei-gend. Über allem schwebt eine gewisse Ratlosigkeit, die jedoch überhöht und in festlichen Glanz gekleidet wird, durch die Atmosphäre des Raums, Licht, Dekoration und Sound, durch die Kleidungs-, Tanz- und Verhal-tensstile der Leute und einer allgemeinen beschwipsten Aufgezupftheit, wie Europa, die über die Sofas taumelt und Jack, der magische Beschwörungs-gesten vollführt. Alles gipfelt am Ende in der großen Müdigkeit und Er-schöpfung, der großen aber wohligen Leere, die selbst noch einmal eine symbolische Überhöhung der Strukturlosigkeit der Partys ist, diese in ei-nem einzigen anhaltenden Zustand der Schwerelosigkeit auf den Punkt und damit zu ihrer Vollendung bringt.

Die Rauschmittel tragen ihr Übriges dazu bei. Sie verwirren die Sinne, wie mir Akteure erzählten, und verwandeln die Umwelt in ein Farbenspiel, bei dem sich die Konturen auflösen und die Welt aus dem Fokus gerät. Wie beschrieben ist »verpeilt sein« oder »verwirrt sein« eine Bezeichnung, mit der Akteure der Szene ihre eigene Verfasstheit und die der anderen beschreiben, nicht ohne Selbstironie, und die als durchaus angenehmer Zustand empfunden wird, bei dem die Eigentlichkeiten des Lebens aus dem Blick geraten und vergessen werden können.

Auch die Brachen symbolisieren das Unfertige, Transitorische. Eine alte Zeit ist hier vergangen und eine neue Zeit hat noch nicht eingesetzt und die Zwischenzeit, die die Orte markieren, materialisiert sich in den bröckelnden Mauern und den Rückständen alter Gerätschaften. Man rich-tet sich in diesem Provisorium ein und die eigene Orientierungslosigkeit findet in den den maroden Gemäuern einen symbolischen Ort.

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Schon der Weg hin zu diesen Brachen hat den Charakter eines Über-gangs (eines Übergangs jedoch, der kein Ziel hat): Die Partys finden in versteckten Kellerlöchern und Hinterhöfen statt, auf Brachen, die man nur durch eine Lücke im Bretterzaun erreicht, in verfallenen Gebäuden, wo nur eine kleine Hintertür offen steht, hinter grauen Mauern, die nur durch einen »wummernden« Sound aus dem Boden als location erkennbar sind oder an versteckten Orten in Parks, wo man sich auf der Suche mit einer Taschenlampe behelfen muss. Hühnerleitern müssen erklommen, Löffel im Mauervorsprung gefunden (die als Schlüssel dienen), S-Bahn-Bögen abgelaufen werden…56

Der Kommunikationswissenschaftler Geoff Stahl spricht in einem Auf-satz über Szenen unter Bezugnahme auf Erving Goffman als »focused gatherings« (Stahl 2001: 106). Erving Goffman meint damit eine Zusam-menkunft, die durch ein »kulturell privilegiertes« Thema strukturiert wird, wobei die Personen »durch den Verlauf einer gemeinsamen Aktivität völlig in Anspruch genommen werden und über diesen Verlauf miteinander in Beziehung stehen« (Goffman 1961: 9). »Focused gatherings« haben nach Goffmann einen Brennpunkt, auf den sich die Aufmerksamkeit ausrichtet und der das Ereignis strukturiert. Beim Fußball ist es das Fußballspiel, bei einem Konzert ist es die Band.

Die Zusammenkünfte der Technoszene hingegen sind gerade von der Abwesenheit eines Brennpunkts geprägt. Sie haben eine Form und eine Struktur, sie sind also gestaltete »gatherings«. Aber die Aufmerksamkeit der Akteure läuft nicht in einem Punkt zusammen. Die seltsame, oft beunruhi-

—————— 56 In der klassischen Ethnologie werden diese Orte Schwellen-Orte genannt. Es sind Orte,

die sich durch eine Besonderheit im Landschaftsbild auszeichnen, einen Bachlauf, einen vereinzelten Baum, einen Felsvorsprung, eine Lichtung, und die Kontaktzonen zu den Göttern darstellen. Denjenigen, die dazu befähigt sind (zum Beispiel Schamanen) dienen sie als Pforte in eine Parallelwelt. In der westlichen Märchenliteratur kehrt dieses Motiv bei Alice in Wonderland wieder, wo die kindliche Heldin durch einen Hasenbau schlüpft und in eine verkehrte Welt gelangt, wo Tiere sprechen und Raupen Pfeife rauchen. In weniger fantastischen ethnologischen Analysen markieren diese Orte »liminale Orte« (lat. »limen« = Grenze, Schwelle), wie der Anthropologe und Theaterregisseur Victor Turner schreibt, die Individuen aus der aktuell bestehenden Gemeinschaft und den Platz, den sie in ihr einnehmen, führen und in eine Zwischenphase eintreten lassen, in der die alte Ordnung außer Kraft gesetzt wird. Für eine kurze Zeit der Unsicherheit – während der Aufenthaltsdauer an diesem Ort – genießt man die Freiheit der Unordnung und Ungebundenheit, bevor man, Turners Modell folgend, geläutert und durch die Er-fahrung der Regellosigkeit bereichert, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen wird (Turner 1989a).

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gende Schwerelosigkeit von Partys, und jeder kennt das Gefühl dass man sich auf Partys verloren vorkommt, resultiert genau aus dieser Abwesenheit eines Brennpunkts. Die Technoszene ist also kein »focused gathering«, sondern ein »un-focused gathering«. Paradoxerweise erhalten aber Partys gerade durch diese Abwesenheit eines Fokus ihren Sinn. Die Zusammen-künfte sind nicht einfach irgendwie sinnlos, undefiniert, amorph, offen, sondern sie sind sinnlos, undefiniert, amorph, offen in einer gestalteten und damit symbolisch bedeutsamen Weise. Die Geformtheit der Party gibt der Bedeutungslosigkeit eine Bedeutung. Partys sind bedeutungsvoll be-deutungslos und geben somit dem transitorischen Leben der Akteure, das nirgends ankommt, eine symbolische Form.

Fünf Kurzportraits

Die Akteure der Szene führen, so lange sie am Szeneleben teilhaben, ein Leben im permanenten Übergang, mit wechselnden Beschäftigungen, ohne gesicherte soziale Basis. Mit Bourdieu wurden sie als neues Kleinbügertum bezeichnet. Ihr Alter zwischen 25 und 35 zeigt, dass ihre Szeneexistenz nicht nur eine Übergangsphase zum Erwachsenenalter darstellt, sondern der Übergang auf Dauer gestellt ist. Soziologisch fallen sie unter das Schlagwort der »Entstandardisierung von Lebensstilen«, die Ulrich Beck als Symptom der schwindenden Arbeitsgesellschaft interpretiert. Für diesen Patchwork-Lebensstil bietet der Beruf keine »Innenstabilität« (Beck 1986: 221) mehr. Obwohl viele einen höheren Bildungsabschluss haben, finden sie keine befriedigende Anstellung und schlagen sich lieber mit Gelegen-heitsjobs durch. Andererseits verhindert auch das zeitintensive Szeneleben, zusammen mit einer alternativen Wertorientierung, dass man sich auf ein reguläres Angestelltenverhältnis einlässt.57

—————— 57 Bezeichnenderweise sieht Pierre Bourdieu in dem Überschuss an gebildeten und kreati-

ven Kräften auch den Ursprung der Bohème. Seine Beschreibung des Paris im 19. Jahr-hundert ist verblüffend ähnlich mit der heutigen Situation in Berlin: »Eine rapide wach-sende Population an mittellosen jungen Leuten aus den unteren und mittleren Klassen strömte in die Hauptstadt, um sich hier als Schriftsteller oder Künstler zu versuchen – Karrieren, die bisher mehr oder minder dem Adel oder der Pariser Bourgeoisie vorbe-halten waren. Weder die Unternehmen noch die städtischen und staatlichen Behörden konnten alle Schulabgänger mit Reifezeugnis aufnehmen, deren zahl in der ersten Hälfte

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In ihrer sozialen Herkunft stammen sie überwiegend aus dem Klein-bürgertum. Wie ich durch direkte Nachfrage erfuhr, gibt es unter den El-tern einen Versicherungsangestellten, einen Postbeamten, eine Schuhver-käuferin, eine Kellnerin, einen Mechaniker, einen Elektriker, einen Textil-einzelhändler, einen Personalreferenten, einen Feinmechaniker, einen Gastronom, einen Bibliothekar, einen Schriftsetzer, eine Sekretärin, aber auch Ärzte und Ärztinnen, Landwirte, Pfarrer, Lehrer und Lehrerinnen. Es wird selten über das Elternhaus geredet, doch ab und zu konnte ich eine Ahnung vom kleinbürgerlichen Mief vieler Elternhäuser erhalten. Puk beispielsweise, Gabis Freund, stammt aus einem »streng altpietistischen Elternhaus«, das CDU wählte, die Eltern waren Briefträger und Hausfrau. Er wohnte in einem Reihenhaus in einem schwäbischen Dorf, die Eltern hatten »nie viel Geld«. Stella kommt aus Düsseldorf, zog dort mit 18 in ein besetztes Haus und flüchtete damit aus ihrem Elternhaus, das »sehr streng« war, wie sie erzählte. Wanja erwähnte Probleme mit ihren Eltern in Ro-stock, als sie vom anstehenden familiären Weihnachtsfest erzählte, an dem sie nicht teilhaben wollte und deshalb in Berlin blieb. Über Tim erzählte Toni, dass er sehr damit zu kämpfen habe, vom Vater nicht anerkannt zu werden, wo er doch wolle, dass sein Sohn »es zu etwas bringt«. Barbara erzählte, dass es im Adventskalender für sie als Kind nur Bilder und keine Schokolade gab, weil die Mutter Deutschlehrerin war und der Tochter nur pädagogisch wertvolle Geschenke schenken wollte.

Im Folgenden sollen nun fünf Kurzportraits von Akteuren der Szene vorgestellt werden, um zu zeigen, wie ihr Leben vom Wechsel geprägt ist. Wie sich zeigen wird, sind sie in ihrer Herkunft und den Motiven des Wechsels heterogen, doch alle eint, dass das Partyfeiern und das Engage-ment in der Szene im Mittelpunkt des Lebens steht und ihr wechselhaftes Leben hier einen Sinn erfährt. Cody, Victoria und Kalle gehören dem »Muh-Bar«-Collective und damit einer zentralen Gruppe innerhalb des Szene-Netzwerks an. Uwe ist Wagenburgler, Gabi Hausbesetzerin und Initiatorin der Bar »Therapie«. Die Beziehungen zu den fünf zueinander war eine Mischung aus freundschaftlicher und Projekt-Beziehung.

Cody ist 34, ist in Berlin Zehlendorf ohne Vater groß geworden, seine Mutter ist Ärztin. Ende der 80er Jahre hat er in einer WG in Kreuzberg gewohnt und sich in einer Rockband versucht. In den 90er Jahren begann er auf Technopartys zu gehen. Tanzen interessierte ihn weniger, schon sein

—————— des 19. Jahrhunderts überall in Europa stark zunimmt und unter dem Zweiten Kaiser-reich einen neuerlichen Aufschwung erlebt« (Bourdieu 1992: 2001).

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großer etwas dicklicher Körper strahlt eher Gemütlichkeit aus. Ihn spra-chen eher die entspannteren Aspekte an, »so alle kuscheln zusammen, sitzen auf’m Sofa und Acid nehmen und ’n bisschen Mucke hören« (Inter-view mit Cody vom 15.5.03). Cody studierte Architektur und nahm einen Job als Zeichner in einer Baufirma an, die gerade erst aufgebaut wurde. Er half mit, eine EDV-Struktur für das Büro zu entwickeln, doch als der Job zur Routine wurde, sagte Cody sich: »Scheiße, ich werd dick und fett im Büro« (ebd.). So kündigte er und ging für ein Jahr nach Mexiko. Dort schlug er sich durch, handelte mit Drogen, baute eine Hütte für eine Pri-vatperson gegen Kost und Logis und eine Maya-Grabkammer für einen Mexikaner, der ein privates Museum aufzog. Nach Mexiko zog er in eine Wagenburg, um ein unabhängiges Leben leben zu können. Er nahm die Arbeit in der Baufirma wieder auf, jedoch nur so viel, dass ihm noch aus-reichend Zeit für die Szene blieb und er mehrmonatige Reisen unterneh-men konnte. Er gründete die Country-Band »Dead County Cool Boys« (die entgegen des Klischees der »Redneck-Musik« an die anarchistische, Rock’n’Roll-lastige Tradition des Country anknüpft; vgl. Tosches 1985). Zudem beteiligt er sich als Hauptorganisator bei einem jährlichen nicht-kommerziellen Open Air Festival (»Camp Tipsy«). Inzwischen hat er den Job im Architektur-Büro wieder gekündigt und schlägt sich mit Jobs auf dem Bau (bei der Renovierung von Gebäuden) und als Koch durch (u.a. für Greenpeace). Sein Studium hat er bis heute nicht beendet. Über seine Existenz in der Szene sagt er:

»Ich meine, eyh mal im Ernst…also ’ne Revolution, die ich interessant fände, die werd’ ich nicht mehr erleben. Das (die Revolution) ist kein richtiges Ziel. Und auch die Stärkung der herrschenden Verhältnisse ist nicht mein Ziel. Find ich auch blöd. Von daher… Es ist schon gut da auch dagegen zu arbeiten, gegen das, was pas-siert. Aber jetzt so mit so’ner Verbissenheit kann ich da nicht rangehen. Ich bin irgendwie auch Hedonist. Also ich hab Bock auf Spaß und Lust und Freude am Leben. Es ist schon (zögert), schon ’n hedonistischer Ansatz.« (Interview mit Cody vom 15.5.03)

Victoria, 34, kommt aus einer Kleinstadt in Baden-Württemberg, ihr Vater ist Versicherungsvertreter, die Mutter Hausfrau. Victoria wollte aus dem kleinbürgerlichen Mief ausbrechen, wie sie erzählte, und hatte das ehrgei-zige Ziel, Ärztin zu werden, das sie auch erreichte. Sie studierte in Berlin, examinierte und spezialisierte sich auf Psychiatrie. Nebenher unternahm sie lange Reisen in die ehemals sogenannte »Drittweltländer«, nach Indien, Afrika und Asien. Nach ihrem Studium nahm sie eine ¾ -Stelle in einer

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Berliner psychiatrischen Klinik an. Die ¾-Stelle hatte sie gegen den Wider-stand des Arbeitgebers durchgesetzt, um Zeit für ihr Szeneleben zu haben. Sie arbeitete gern in der Klinik und schätzte ihre Kollegen sehr, auch wenn sie der Schulmedizin skeptisch gegenüber steht und ihre Meinung mitunter zurück hielt. Nach einem Jahr Arbeit geriet sie mit ihren Kollegen zuneh-mend über ihre Arbeitszeit in Konflikt. Sie nahm sich öfter frei, um an Partys teilzunehmen oder zum Beispiel zu einer buddhistischen Taufzere-monie in der Schweiz zu fahren. Die hohe Abwesenheit wurde von der Klinik auf Dauer nicht geduldet, im Gegenteil sollte Victoria nun 5 statt 4 Tage in der Woche arbeiten, weil sich nach Ansicht der Kollegen das ¾ -Stellen-Modell nicht bewährte. Victoria kündigte, weil sie ihre ohnehin geringe freie Zeit nicht noch weiter einschränken lassen wollte und sie sich von der Alltagsmonotonie in der Klinik nicht aufzehren lassen wollte. Sie lebt zur Zeit von Arbeitslosengeld. Sie möchte über Ethnomedizin promo-vieren und dabei die Wissenschaft mit den Reisen zu außereuropäischen Kulturen verbinden (um schamanistische Heilmethoden zu lernen). Sie fühlt sich in ihrem Schritt dadurch bestätigt, dass in einem Krankenhaus in Zürich alternative Therapieformen (darunter auch psychedelische, also durch die Droge LSD initiierte Therapie) praktiziert und offiziell anerkannt werden. Über die Szene sagt sie:

»Was ich wichtig finde an der Szene ist, mit Menschen zusammen zu sein, die sich ausdrücken. Die sich Raum für sich nehmen. Das finde ich einen Aspekt, der in unserer Gesellschaft allgemein fehlt. Damit meine ich nicht unbedingt den künstle-rischen Ausdruck. Künstlerisch ist ja auch mit einem Anspruch verbunden… Es geht eher um dieses Lust-Prinzip, sich trauen, den Gefühlen zu folgen und zu gucken, was damit ist. Sich zu trauen, schrill zu sein oder laut zu sein… Das be-deutet Freiraum, das bedeutet Freiheit, und das bedeutet auch Schönheit… Also Schönheit nicht im Sinne von Marie-Claire und wie ist man am besten geschminkt, sondern Schönheit. Ich hab ne innere Schönheit, ich bin in dieser Szene auch immer wieder beeindruckt, wie schön diese Menschen sind und das kommt jetzt nicht daher, gut, ich mein, man muss schon auch sagen, sie sind schon auch eitel, sie gucken schon auch, was Leute anhaben und wie sie sich kleiden und – sie sind eitel, sie sind auch oberflächlich, auch unsere Szene ist oberflächlich: Welche Klamotten hab ich und wer ist in, und so weiter, das spielt da auch alles mit rein. Aber ich, ich mein diese Schönheit des inneren Auftritts, die Schönheit der Freiheit.« (Interview mit Victoria vom 10.9.03)

Uwe ist in Münster groß geworden und entstammt einem proletarischen Herkunftsmilieu. Sein Vater hatte eine Schlosserlehre absolviert, seine Mutter war Hausfrau und jobbte gelegentlich als Verkäuferin. Im Gegen-

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satz zu seinen Eltern absolvierte Uwe das Abitur, setzte aber diesen höhe-ren Bildungsweg nicht fort, sondern ging in die Lehre als Schreiner. Wie der Vater als Schlosser, arbeitete Uwe fast zehn Jahre als Schreiner, wobei seine Tischlerei kein traditioneller Handwerksbetrieb war, sondern von einem studierten Architekten geführt wurde, der sich mit der Tischlerei einen Traum erfüllte und vorzugsweise phantastische Holzbetten mit Blu-men und Ornamenten anfertigte – er sei ein Hippie gewesen, sagt Uwe. Mit 28 Jahren gab Uwe den Job jedoch wieder auf. Er erklärt das damit, dass ihm das Betriebsklima nicht gefallen hätte. Denn trotz des alternativ gesinnten Chefs habe keine »kollektive« Arbeitsatmosphäre (Feldtagebuch-notiz vom 11.7.04) bestanden und viele Verrichtungen seien wie Fließ-bandarbeit gewesen. Den zuvor abgebrochenen höheren Bildungsweg nahm er erneut auf und bewarb sich bei der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze um einen Studienplatz für Psychologie. Zugleich begann er, sich einen Zirkuswagen auszubauen, um darin zu wohnen. Das soziale Risiko, das er durch die Entscheidung für ein Studium einging, wurde mit dem Bau einer autonomen Wohneinheit aufgefangen. Der Wagen bot ihm nicht nur symbolische Sicherheit, man konnte sich nicht nur einnisten und geborgen fühlen, er reduzierte auch die Ausgaben für die Miete und hatte somit auch praktische Relevanz. Die ZVS schickte Uwe nach Berlin, ohne dass Uwe das Abenteuer Berlin besonders gelockt hätte, wie er sagt. Wäh-rend des Studiums nahm Uwe Gelegenheitsjobs im handwerklichen Be-reich an und wurde nach ein paar Jahren Hausmeister auf Mini-Job-Basis in einem Buchladen. Gleichzeitig lernte er über Mitbewohner in der Wa-genburg den Berliner Techno-Underground kennen. Seine Freunde und er hatten die Idee, auf Open-Air-Festivals vegetarische Hamburger als »Wa-genburger« (sprich: »Wagenbörger«) zu verkaufen. Währenddessen absol-vierte er sein Studium, entschied sich aber zunächst gegen einen Beruf als Psychologen, sondern wollte nun wieder handwerklich tätig sein mit der Begründung, die konkrete physische Arbeit am Holz würde ihm mehr Befriedigung geben als die intellektuelle Arbeit des Psychologen. Sogar das Angebot des Geschäftsführers des Buchladens, ihn in die Geschäftsleiung zu holen, lehnte er ab. Er begann, Zirkuswagen zu renovieren, um sie gewinnbringend zu verkaufen, entschied sich dann aber doch, sich um eine Stelle als Psychologe zu bewerben, hat jedoch noch keine Stelle gefunden und baut weiter am Zirkuswagen. Zur Zeit arbeitet er als Nachtwächter in einem psychiatrischen Pflegeheim.

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Kalle ist vergangenen Sommer 40 geworden. Kalles Vater war bei der französischen Fremdenlegion, mit der er erst in Algerien und dann in Kühlungsborn an der Ostsee stationiert war. »Das waren die übelsten Leute aus der ganzen Welt, die alle was ausgefressen hatten, alle irgendwie Dreck am Stecken hatten«, erzählt Kalle, nicht ohne einen gewissen Stolz (Feldtagebuchnotiz vom 17.6.03). In Kühlungsborn hatte der Vater eine Affäre mit einer Kellnerin, Kalles Mutter. Er verließ sie jedoch wieder und wurde Fliesenleger im Saarland. Sein Sohn Kalle wuchs in dem Ferienort Kühlungsborn auf. Er bezeichnet sich selbstironisch als »Beach Boy« und verbrachte seine Jugend im örtlichen Jugendclub. 1986 ging er nach Berlin, vom Land in die Stadt, wie viele nach ihrem Schulabschluss, Kalle sagt, wie alle, »die cool waren« (ebd.), und wurde Zimmermann. Er ging viel auf Punk-Konzerte, die in Ostberlin zum Teil in Kirchen stattfanden und war vor allem mit Druckern befreundet, von denen es zu dieser Zeit, wie Kalle erzählt, viele im Prenzlauer Berg gab. Nach der Wende arbeitete Kalle in einem Videoladen, wo er Leute kennenlernte, die auf Technopartys gingen. Zuvor hatte er seinen Beruf als Zimmermann aufgegeben, »weil ich faul war«, wie Kalle erklärt (ebd.). Die Leute, die er im Videoladen kennen-lernte, fand er interessant, wie er sagt, und ging deshalb mit ihnen auf Technopartys, obwohl er mit der Musik zunächst nichts anfangen konnte. In einer Bar am Kollwitzplatz begann er Platten aufzulegen. Er wechselte den Job von der Videothek in einen Plattenladen. Kalle lebt seitdem wort-wörtlich von der Hand im Mund, wechselte in den letzten Jahren mehr-mals die Wohnung, immer WG-Zimmer, zahlt keine Krankenversicherung, jobbt einen Nachmittag in der Woche in einem Plattenladen, für Jobs als DJ bekommt er kaum Geld, und den Rest verdient er sich als Haschisch-Händler. Drogen hätten ihm gezeigt, so Kalle, dass es im Leben nicht auf materielle Dinge ankomme, sondern Freundschaften, Gefühle und Eksta-sen ihre eigene Wertigkeit hätten. Er sagt, er sei »zum Feiern geboren« (ebd.).

Gabi wuchs in Bonn auf und war die Tochter eines Schornsteinfeger-meisters und einer Schuhverkäuferin. Sie absolvierte das Abitur, entschied sich aber gegen das Studium und begann eine Schneiderlehre. Nebenher jobbte sie in Kneipen. Nach Berlin ging sie nicht, weil dort alle hinzogen, wie sie sagt, sondern »wegen der Liebe«. Sie folgte dem Sohn eines lokalen SPD-Politikers, der in der zukünftigen Hauptstadt studieren wollte. Dort angekommen, zog sie bald in ein besetztes Haus (der Kontakt hatte sich durch ihre Arbeit in einer Berliner Kneipe hergestellt), das zu dieser Zeit

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gerade in ein Wohnprojekt umgewandelt wurde, an dem sich Gabi betei-ligte. Zugleich begann sie ein Studium für Modedesign an der Kunsthoch-schule Weißensee, um ihr gestalterisches Interesse weiter zu entwickeln (ihre Schneiderlehre hatte sie noch in Bonn abgeschlossen). Im Erdge-schoss des besetzten Hauses stand ein großer Raum leer, den Gabi mit anderen zu einer Party-location umfunktionierte. »Illegal« war ein geflügeltes Wort für sie und der Raum bot ihr die Möglichkeit, genau in dieser Weise selbst »illegal« aktiv zu werden. Der Club war ein Jahr lang sehr erfolgreich, danach verflog jedoch das Engagement und die Beteiligten gingen jeweils anderen Interessen nach. Danach betrieb Gabi noch für einen Monat die temporäre Bar »Therapie«. Während dieser Zeit verdiente sie sich ihr Geld in einem Kopierladen und in einem esoterischen Laden, der Salzkristalle verkauft. Sie beendete ihr Studium und verfolgte eine Zeit lang den Plan, eine eigene Modekollektion zu entwerfen. Das Atelier, das sie hierfür angemietet hatte, nutzte sie einmal wöchentlich auch als Bar, um die Miete zu finanzieren. Sie war jedoch mit ihrer eigenen Arbeit nicht zufrieden und gab das Atelier nach wenigen Monaten wieder auf. Die Belastung für sie war zu hoch, eine Mode-Kollektion zu entwerfen, deren finanzieller Erfolg nicht gewiss ist, und zugleich ihren Unterhalt zu verdienen. Während der Feldforschung stieg sie aus und seilte sich nach Portugal ab. Sie kaufte sich mit ihren Freund ein billiges Häuschen am Santa-Clara-Stausee, wo sich eine deutsche Community angesiedelt hat. Sie hoffen, durch Gartenanbau und dem Verkauf des Geernteten auf einem dortigen Wochenmarkt Geld zu verdienen. Ihre Krankenkasse in Deutschland bezahlt sie jedoch weiter und der portugiesische Hund, den sie sich zugelegt hat, wird auch an das Stadtleben gewöhnt, falls sie doch wieder zurückkehren. Zum Abschied veranstaltete sie in ihrem Laden ein zweiwöchiges Happening namens »Supalife«, aus dem wiederum ein neuer Laden entstand, den ihre Freundin Claudi betreibt und sich zum geheimen Zentrum der Berliner Street Art entwickelte.

An den Biografien fällt die Nähe zu typisch subkulturellen Werten auf. Auf Grund der unterschiedlichen sozialen Herkunft (Codys Mutter ist Ärztin, Uwes Vater ist Schlosser) sind die Lebensentscheidungen und Brüche mit unterschiedlichen sozialen Risiken verbunden, doch die Tendenz zum »Aussteigen« und die Nähe zu alternativen Werten ist bei allen gleicherma-ßen gegeben. Cody nahm sich eine Auszeit in Mexiko, baute eine Maya-Grabkammer und jobbte später bei Greenpeace und auf dem Bau. Victoria

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interessierte sich im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als psychiatrische Ärztin für Schizophrenie und psychedelische Bewusstseinserweiterung und sympathisiert mit außereuropäischer Kultur, so, wenn sie an einer buddhis-tischen Taufzeremonie teilnahm und lange Reisen unternahm. Uwe arbei-tete als Schreiner, also in demjenigen Feld innerhalb der handwerklichen Berufe, die von Vertretern der alternativ gesinnten Mittelschicht ergriffen werden.58 Kalle gab seinen Beruf als Zimmermann auf, weil er »faul« war, wie er provozierend sagt, womit er sich auf alternativkulturelle Werte des genießenden Lebenskünstlers berufen kann. Gabi stieg aus (jobbte zuvor nicht nur in einem Kopierladen, sondern auch in einem esoterisch orien-tierten Salzkristallladen) und zog nach Portugal, womit sie den klassischen Weg der Aussteigerin beschreitet, allerdings nur vorläufig, denn die Rück-kehr ist durch die Krankenkasse gesichert.

Neben der Tendenz, aussteigen zu wollen, fällt bei Cody, Victoria und Gabi auch das Interesse an außereuropäischen (oder, im Falle Portugal, zumindest an südländischen) Kulturen auf und die Leidenschaft für Globe-trotter-Reisen. Außereuropäische (und vormoderne) Kulturen galten schon den Hippies als Vorbilder gegenüber der westlichen Welt, die nach Ansicht der Hippies zwar technologisch fortgeschritten, emotional und geistig jedoch unterentwickelt war. An Ländern wie Indien oder Mexiko faszi-nierte die andere, »ganzheitlich« gelebte Kultur, die alle Lebensbereiche sinnvoll integrierte und, so die Vorstellung, in natürlichem und kosmologi-schem Gleichgewicht gelebt wurde. Die Normen und Werte der westlichen Welt – Karriere, Wohlstand, Ansehen – hatten in dieser einfachen, be-scheidenen, dafür mit Sinngehalten reichen Welt keinen Platz. Stuart Hall schreibt in seinem Aufsatz über die Hippiekultur, die außereuropäische Kultur sei ein Emblem der Einfachheit und Schlichtheit im Gegensatz zur technologisch hochgerüsteten Überflussgesellschaft des Westens. Die Identifizierung mit den von der westlichen Welt ausgebeuteten »native people« stellte eine symbolische Solidarisierung zwischen den Hippies als kulturellen Randseitern und den Drittweltländern als quasi globalen Rand-seitern dar. Ähnlich schreibt Paul E. Willis in seiner Ethnografie der Hip-

—————— 58 Der Schreinerberuf ist der »feinste« unter den handwerklichen Berufen und ist der

Kunst (dem Kunsthandwerk) am nächsten, wie mir Uwe erklärt. Beim Schreinerberuf geht es um kleinteiliges, exaktes Arbeiten an Möbeln und anderen Holz-Objekten, die nicht selten mit kunsthandwerklichen Verzierungen versehen sind. Andere Berufe wie Schlosser und Zimmermann sind eher »fürs Grobe« zuständig (Feldtagebuchnotiz vom 20.2.06).

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pies, dass in verschiedensten Formen immer wieder die Furcht zum Aus-druck kam, »dass die moderne Gesellschaft in zunehmendem Maße die einzigartige Hingabe, die authentische Erfahrung« (Willis 1981 [1978]: 119) in Frage stellte oder unmöglich machte. Ein »technologischer Rationalis-mus« (ebd.) konnte vielleicht das Leben verlängern, doch das geschah auf Kosten der Lebensqualität. Man sei der Überzeugung, dass es »mit Europa jetzt aus sei« und man nach Asien auswandern müsse, »wenn man was Echtes will« (Willis 1981 [1978]: 122). Man gab dem »rational-technischen System« die Schuld für die »völlige Verarmung« des menschlichen Empfin-dungsvermögens. »Authentizität, Direktheit, Ehrlichkeit« (ebd.) fand man jetzt nur noch in den nach westlicher Meinung unterentwickelten, nach Meinung der Hippies aber spirituell überlegenen Ländern. Selbst für weni-ger dogmatische Hippies, die das Ideal einer anderen, ganzheitlichen Kul-tur weniger konsequent verfolgten, stellten die Länder jenseits der westli-chen Welt eine Alternative und eine »Auszeit« zu Europa beziehungsweise den USA dar.

Auch die Ablehnung regulärer Arbeitsverhältnisse, wie es auch die Sze-neakteure tendenziell auszeichnet, war Teil der Hippiekultur. Man war der Überzeugung, die »straighte« Welt (Hall 1968: 22) würde nach den falschen Regeln funktionieren. Man wollte sich nicht qua Broterwerb in Abhängig-keit von dieser Gesellschaft begeben und sich die individuelle Lebensfüh-rung durch »fremdbestimmtes« Arbeiten diktieren lassen. Sondern man wollte nach den eigenen (besseren) Überzeugungen und Visionen leben dürfen und »sein eigenes Ding« (Hall 1968: 17) machen. Dies bedeutete, sich auf eine symbolische oder tatsächliche Reise zu begeben und der inne-ren Stimme zu folgen, Wege zu gehen, die der persönlichen Erfahrung folgen und daher quer zur gesellschaftlichen Norm verlaufen. Die Hippies glaubten, die »Pseudowelt« der bestehenden Gesellschaft zu erkennen und entlarven zu können und sie wollten sich von diesem »falschen Bewusst-sein« befreien, indem sie die gesellschaftlichen Normen auf den Kopf stellten. Besonders das Feld der Erwerbsarbeit stellte einen ideologischen Kampfplatz dar. Man negierte die aktuelle Gesellschaft, indem man sich ihrem Arbeitsethos entzog: statt Karrierismus »tune in, turn on, drop out«; statt »Vernünftig sein« (Rationalität) »ein bisschen verrückt spielen« (Emo-tionalität) und statt entfremdeter Arbeit das Recht auf Faulheit. Dieter Jaenicke fasst die Motive der Hippies in salopper und gerade deshalb sehr zutreffender Weise zusammen: »der Ekel an der öden Uniformität der Leistungsgesellschaft, die sich in ihrer sinnlosen Jagd nach Dollars und

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Status selbst jedes Leben austrieb, das Erbrechen an dem westlichen Ge-rüst von Aufstieg, Erfolg, Neurosen, Konkurrenz und Neid – diese ganze Hollywood-Attrappe menschlichen Lebens war ihnen zur ›Hölle‹ gewor-den« (Jaenicke 1980: 58).

Diese alternativen Wertvorstellungen schwingen unterschwellig im Le-bensstil der hier vorgestellten Akteure mit, doch lässt sich die jeweilige Entscheidung, mit der aktuellen Lebenssituation zu brechen und eine an-dere einzugehen, nicht auf diese Wertvorstellungen reduzieren. Die Be-gründungen für die jeweiligen Entscheidungen sind weit weniger ideolo-gisch aufgeladen. Cody entzog sich gar mit einem lapidaren Schulterzucken meiner Frage, warum er seinen Job in der Baufirma aufgab, nach Mexiko ging und in einen Wagen zog. Er sagte, er könne sich »ehrlich gesagt« nicht mehr genau erinnern (Feldtagebuchnotiz vom 15.5.03). Es gab zwar pri-vate Gründe für diese Entscheidung (die Angst, Routinen zu verfallen, »dick und fett« zu werden), aber diese Entscheidung ist kaum, wie noch zu Hippiezeiten, ideologisch unterfüttert. Auch Victoria erklärt ihre Entschei-dung, ihre Klinik-Anstellung aufzugeben, nicht oder nicht in erster Linie mit einer Kritik an der Schulmedizin. Zwar interessiert sie sich in der Tra-dition der Hippies für alternative Heilmethoden und Ethnomedizin und auch ihr Wunsch, sich vom Klinikalltag nicht »aufzehren« zu lassen, kann in dieser Tradition gesehen werden, doch räumte sie auch ein, in vielen Dingen der Schulmedizin zustimmen zu können und es ging ihr nicht um eine Beendigung des klassischen Gelderwerbs, sondern nur um die Suche nach einer anderen Form. Ihre Entscheidung, mit ihrem Klinikjob zu bre-chen, war in erster Linie ein »sich-Freistrampeln«, das heißt eine Strategie, sich »Freiraum« zu schaffen und Raum für neue Möglichkeiten zu eröffnen und nicht eine kritische Ablehnung des Gegebenen. Es ist in erster Linie die Abkehr von Routinen, der Wunsch, etwas »anderes« zu machen, aber dieses »andere« knüpft sich nicht zwangsläufig an eine alternative Kultur. Cody sagte schlicht, ihm sei es in seinem Bürojob »zu langweilig« gewor-den. Auch wenn an dieser Begründung Stilisierungen zweifellos mit-schwingen, so ist die Abwesenheit der typischen Aussteigerrhetorik doch bezeichnend. Mit dem Beruf beziehungsweise der aktuellen Lebenssitua-tion wird nicht aus Gründen einer grundlegenden Ablehnung der aktuellen Gesellschaft gebrochen, als vielmehr einer individuellen Unzufriedenheit, die sich mehr an Routinen als an vorgegebenen Ordnungen stößt, womit dieser Lebensstil jenen der Erlebnisgesellschaft homolog ist.

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Von Pathos ist daher der Moment bestimmt, in dem man etwas hinter sich lässt. In dieser kurzen Zwischenzeit liegt die eigentliche Erfüllung alternativer Wertvorstellungen, weil man sich in diesem Moment die per-sönliche Freiheit und Unabhängigkeit beweisen kann und nach vorne, ins Abenteuer, auf etwas Neues blicken kann. Victoria erzählt, wenn jemand sie nach ihrer Kündigung gefragt hätte, was sie jetzt machen würde, hätte sie geantwortet »ich suche die Freiheit«. In der Vorfreude dieses Ereignis-ses, des letzten Tages ihrer Arbeit, habe sie das Passwort an ihrem Rechner geändert. Drei Wochen lang begann sie ihren Arbeitsalltag am Computer mit der Formel »Freiheit 04« (es war der Sommer 2004).

Hierin äußert sich eine neue Form alternativen Lebens, die nicht auf der Dichotomie Subkultur/Mainstreamgesellschaft aufbaut (oder zumin-dest nicht auf der starken Abgrenzung zwischen diesen »Zwei Kulturen«), sondern das eine alternative Kultur darin verwirklicht, dass ihre Akteure Gestalter und Gestalterinnen des eigenen Lebens sein wollen und bleiben wollen. Man will sich nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen die persönliche Lebenssituation diktieren lassen, sondern man will selbst ent-scheiden, wann man welche Position ergreift. Dabei lässt man sich durch-aus auch einmal auf die »herrschenden Verhältnisse« ein, aber nur unter der Prämisse, sich jederzeit auch wieder verabschieden zu können. Im eigenen Lebensentwurf wird der bürgerliche Mainstream nicht von vornherein ausgeschlossen, vielmehr ist er Bestandteil des eigenen Lebens und ein Mittel, die persönlichen Gestaltungsideen zu verwirklichen. Fühlt man sich von dieser Welt zu sehr dominiert und in Routinen gedrängt, weicht man auf andere Möglichkeiten aus. Diese Lebenshaltung erinnert an jugendliche Schulabsolventen, die »ihren« Platz in der Gesellschaft suchen und eine Phase des Probierens und Improvisierens durchlaufen. Bei allen Akteuren hat man in unterschiedlichen Graden das Gefühl, dass sie noch am Anfang ihres Lebens stehen und eine berufliche Festlegung noch hinauszögern. Besonders auf Gabi trifft dies zu, die nach ihrer Lehre und nach ihrem Modedesign-Studium keine berufliche Stellung suchte, sondern sich als Modedesignerin versuchte und in Reaktion auf ihr Scheitern erst einmal nach Portugal ausstieg. Doch kann man in einem Alter von Mitte 30 nicht mehr von einem jugendlichen »Ausprobieren« sprechen. Es ist lediglich das Muster jugendlichen Ausprobierens, das sich jedoch vom biologischen Alter ablöst. Die Improvisation ist nicht mehr das Mittel, zu einem bestimmten Weg zu finden, sondern sie ist der Weg selbst und wird damit zu einem Gestaltungsprinzip des gesamten Lebensstils.

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Bedingung für diesen Lebensstil ist es, die Herkunftskultur zu verlas-sen. Alle Akteure (außer Cody) stammen aus kleinbürgerlichen, Uwe aus proletarischen Verhältnissen und ihr anfänglich eingeschlagener Ausbil-dungsweg zeigt deutlich eine Tendenz zur Mittelschicht. Die Hinwendung zur Mittelschicht geschieht aber nicht auf Grund eines Aufstiegs-Interes-ses, sondern sie hat zum Ziel, persönliche Interessen verfolgen zu können und Gestaltungsmacht über das eigene Leben zu erlangen. Die höhere Bildung und die stärkere intellektuelle (Ärztin, Psychologe) beziehungs-weise gestalterische (Modedesignerin) Tätigkeit führen zu keiner vollstän-digen Übernahme eines bürgerlichen Habitus, sondern nur insoweit, als er den persönlichen Interessen und Zielen nutzt. Man ist bereit, die mit dem bürgerlichen Habitus verknüpfte Kultur ein Stück weit anzunehmen, in-dem man ein Psychologie- oder ein Medizinstudium ergreift und, im Falle Victorias, auch ausübt, man ist aber auch bereit, diese Kultur wieder auf-zugeben, wenn man sich von ihr zu sehr vereinnahmt und dominiert fühlt. Darin wird sie zum neuen Kleinbürgertum. Die bürgerliche Kultur ist auf Grund ihres Freiheitsversprechens attraktiv, das mit dem sozialen Aufstieg einhergeht, sie ist es aber nicht wegen ihrer höheren sozialen Position an sich.

Dass die Verfolgung persönlicher Interessen sich relativ unabhängig von Statusinteressen vollzieht, wird besonders bei Uwe und Cody deutlich, wenn auch auf komplementäre Weise. Beide teilen sowohl ein Interesse an intellektueller Arbeit (negativ ausgedrückt: an Büro-Arbeit), Uwe durch sein Psychologiestudium, Cody durch sein Architekturstudium, das er auch schon beruflich verfolgte (in der Baufirma), als auch ein Interesse an handwerklicher Arbeit, als Schreiner beziehungsweise auf dem Bau. Sie wollen sich jedoch auf keines der beiden Felder festlegen und lassen ihre spontanen Interessen gegenüber Statusinteressen dominieren. Allerdings vollzieht Cody auf Grund seiner Mittelschichtherkunft den jeweiligen Wechsel einfacher. Seine Hinwendung zur Körperarbeit ist auch von Ro-mantisierungen des »einfachen Lebens« und des »sich Durchschlagens« begleitet, die umso mehr genossen werden kann, als ein Rückzug in die bürgerliche Bürowelt potenziell möglich ist. Auch wenn viel Mut dazu gehört, eine passable Anstellung aufzugeben, wird es für Cody einfacher sein, hier auch wieder zurück zu finden. Bei Uwe hingegen kommt eine gewisse soziale Orientierungslosigkeit zum Tragen, die Unsicherheit, wo man denn eigentlich »steht«. Will man sich der akademischen Welt ver-schreiben, die ja nicht »natürlicherweise« die eigene Welt ist oder orientiert

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man sich lieber nach unten in die strukturelle Nähe der eigenen Her-kunftskultur (der Vater war wie gesagt Schlosser). Der Statusgewinn durch ein Psychologendasein ist hier nicht förderlich, sondern gerade hinderlich, weil sich durch ihn die positiven Interessen am Fach mit Statuskämpfen verknüpfen.

Kalles Lebensweg ist hier ein Sonderfall. Er verfolgt im Gegensatz zu Uwe und Gabi keine höher gesteckten gestalterischen oder intellektuellen Ziele, sondern begnügt sich mit der Freiheit, die ihm seine soziale Position im neuen Kleinbürgertums erlaubt und versucht diese durch Improvisation aufrecht zu erhalten. Auf ihn trifft am ehesten die Figur des sozialen und kulturellen Randseiters zu, der sich auf die gesellschaftlichen Spielregeln nur so weit einlässt, wie es ökonomische Zwänge erfordern, sich lieber durchschlägt, als längerfristige Ziele zu verfolgen. Anders jedoch als der klassische Underdog weiß er den Lebensstil des Mittelschicht-ähnlichen Lebens zu schätzen: die langen Diskussionen über Neuerscheinungen auf dem Plattenmarkt, die Feier der »angenehmen Seiten« des Lebens (gutes Essen und Trinken, die Auseinandersetzung mit der Mode (auch wenn er zu modische Kleidung, deren Zweck er nicht mehr erkennen kann, zum Beispiel das Tragen von Arbeiterstiefeln ohne damit zu arbeiten, ironisch kritisiert)), etc. Er ist ein hingebungsvoller Drifter durch die Nacht, ein Meister in der Kultivierung der Langeweile, was man von einem ehemali-gen Zimmermann nicht unbedingt erwarten würde.

Der Wechsel an sich, der Moment, verbunden mit einem Bedürfnis nach Souveränität und Gestaltungsmacht über das eigene Leben sind also die Strukturierungsprinzipien dieser Lebenswege. Diese verbinden sich mit subkulturellen Idealen eines erfüllten, ganzheitlichen Lebens, die jedoch nicht zu einem dauerhaften Ausstieg aus der Gesellschaft führen, sondern vielmehr dadurch, dass man zwischen der (eher) straighten Gesellschaft und der (eher) alternativen Kultur des Techno-Underground pendelt. Die potenzielle Struktur- und Orientierungslosigkeit wird dadurch aufgefangen, dass das Driften durch die Partys eine sinnvolle, kollektiv geteilte Form erhält und durch subkulturelle Ideale ideologisch unterfüttert sind.

Neben diesem Pendeln zwischen Subkultur und Mainstreamkultur hat sich, wie Bourdieu beschrieben hat, ein ökonomisches Feld entwickelt, in dem Szene-Existenz und Mainstream-Existenz keinen Widerspruch mehr darstellen. Akteure der Szene haben hier nicht Teil, weil sie Aussteiger-Nei-gungen haben, sondern sie benutzen die Szene vielmehr als Einstieg in die Gesellschaft. Die Attraktivität dieses Feldes besteht darin, dass der ständige

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Wechsel (der ständige Kick) in gesellschaftlich legitimierter Form statt-finden kann. Auch hier wird ein Leben mit permanentem Wechsel geführt, doch ist dies Teil der Logik des Feldes, in dem man ein Projekt nach dem anderen verfolgt.

Kulturalisierung der Ökonomie

Die sogenannte »Kulturalisierung der Ökonomie« (Lindner/Musner 2005) führt zu einem fundamentalen Wandel der Gesellschaftsstruktur, bei dem symbolische Güter zunehmend an Bedeutung gewinnen. Wie Lindner und Musner schreiben: »Die am meisten profitablen Rohstoffe des Spätkapita-lismus kommen nicht aus der Natur, sondern aus der Kultur« (ebd.: 26). An die Stelle der stofflichen Produktion der Stahl-, Kohle-, und Elektro-Ära (deren Basen in Billiglohnländer verlagert werden, so dass die nun leeren Fabriken zu locations umfunktioniert werden können), tritt die postmoderne »Ökonomie der Zeichen« (Lash/Urry 1994), die der Produk-tion und Verbreitung von Images, Symbolen und Stilen einen immer höhe-ren Stellenwert in der Wertschöpfung zuordnet. Hier ist Kultur nicht mehr nur Garnierung, sie bildet vielmehr »das Fundament, auf dem das eigentli-che Gebäude errichtet wird« (Lindner/Musner 2005: 27). Die »Ausstat-tungskultur« (ebd.), wie Hartmut Häußermann sie nennt, die das Dekor liefert, die eine Stadt und Gesellschaft attraktiv macht, gewinnt an Bedeu-tung, und mit ihr die Akteure der Szene, die dieser Ausstattungskultur ein authentisches Gepräge geben.

Es besteht ein zunehmendes gesellschaftliches Interesse an Produkten aus der Subkultur, an Mode, Musik, Magazinen, Filmen, etc., das durch immer neue kreative Ideen bedient werden muss. Um dieses Bedürfnis zu stillen sind die Unternehmen auf einen permanenten Zustrom kreativer und innovativer Potenziale angewiesen. Für diesen Wirtschaftsbereich, den man als »Lifestyle-Ökonomie« bezeichnen kann, ist »Subkultur« inzwischen zum Synonym für Kreativität und Innovation geworden. Kulturelle Pro-dukte wie Musik- oder Kleidungsstile werden der Sphäre der Subkultur abgeschaut und massenhaft produziert, und subkulturelle Akteure werden selbst als »Kreative« angestellt, werden als Musiker, Texter und Designer in den Produktionsfirmen und Agenturen angestellt und somit in den Pro-duktionsprozess einbezogen (vgl. Lindner 1986).

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Man muss nur das Etikett eines Jeans-Labels studieren, um festzustel-len, dass einstmals hippieske Ideale zum Teil der Verkaufsstrategie gewor-den sind. Die Firma Mason’s, die Militär-Kleidung als gehobene Street-Wear verkauft, preist beispielsweise auf einem erdfarbenen Stoff-Lappen eine Jeans mit den esoterischen Worten an:

»the earth is not a lifeless planet, but a living being lands, rocks, oceans, the atmo-sphere and every living thing make up a unique, coherent living system having its own rules and alterations. things are born, live, die […] even a pair of pants, if it is strong can have a second life. it can be transformed. personalized, decorated. every transformation is a story. when you look below the surface you will find the traces of the past. layers of stories are the signs of times and messages of possible new lives.«

Die kosmologische und animistische Denkweise, derer man sich hier be-dient (die Erde als »coherent living« und die Dinge als beseelte Objekte) steht in der Tradition hippiesker Naturmystik.

Mit der Kulturalisierung der Ökonomie entsteht das von Bourdieu be-schriebene neue Kleinbürgertum. Es basiert kulturell und ökonomisch auf der Produktion und Konsumtion ephemerer populärkultureller Waren wie Musik, Filme, Kleidung, Möbel und anderer Lifestyle-Produkte (um das Ephemere zu betonen nennt Bourdieu sie, wie gesagt, »Talmi-Industrie«) und ist gleichzeitig noch, darauf verweist Bourdieu, von dem revolutionä-ren Pathos der Gegenkultur von 1968 verbunden, der die alternative Posi-tion zur etablierten bürgerlichen Mittelschicht rechtfertigt und die Begeis-terung für populärkulturelle Produkte legitimiert. Ihr »ambivalentes Ver-hältnis« zur traditionellen gesellschaftlichen Schichtung lässt sie »mit jed-wedem symbolischen Protest sympathisieren und bewegt sie dazu, sich alle Gattungen, die – wie der Jazz, der Film, Comics, Science-Fiction – zumin-dest vorübergehend nur am (unteren) Rand der legitimen Kultur existieren, anzueignen und in der Übernahme amerikanischer Moden und Vorbilder – Jazz, Jeans, Rock, Underground – auf die sie am liebsten ein Monopol hätten, an der legitimen Kultur Revanche zu nehmen« (Bourdieu 1997: 566).

Der Prototyp des neuen Kleinbürgers ist der Gründer eines Start Ups, wie sie die kleinen Agenturen und Unternehmen der Szene darstellen und wie sie mit dem Dotcom-Boom der 1990er Jahre entstanden und zu ihrem Namen fanden. Ihr neues ökonomisches Modell basiert auf dem Prinzip der Kreativität und Improvisation, einem selbstbestimmten Autonomie-streben und einer hohen Risikobereitschaft und typischerweise sind sie mit

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der lokalen Subkultur verflochten. Diese »creative class« (Florida 2002) ist der idealtypische Akteur der »creative city« (Landry 2000) beziehungsweise der »creative industries« (Caves 2000). Im Modell der »Ich AG«, das mit den Arbeitsmarkt- beziehungsweise Hartz-Reformen in Deutschland ein-geführt wurde, wurde dieser neue Unternehmertypus auch gesellschaftspo-litisch etabliert. Dieses neue Feld zeichnet ein hohes Abstiegsrisiko aus, verspricht aber zugleich eine spontane Glückserfüllung: Es bietet, wie Bourdieu schreibt, »Positionen, die keine Garantie geben, aber auch keine verlangen, die keine Eintrittsgebühr erheben, aber den höchsten Ertrag auf nicht beglaubigtes kulturelles Kapital erwarten lassen, die nicht – wie die wohletablierten Berufe – eine sichere Zukunft gewährleisten, aber dafür auch keine, und sei’s die ambitionierteste, Hoffnung auf berufliche Zu-kunft ausschließen« (Bourdieu 1997: 561). Auf Berlin, das noch weniger als andere Metropolen eine industrielle Produktion vorweisen kann, trifft dies umso mehr zu.

Aus der Kulturalisierung der Ökonomie ergeben sich drei für die Szene relevante Beschäftigungstypen, die die ökonomische Basis der Szene dar-stellen. Entgegen dem Modell von Richard Florida ist für die Akteure der Szene jedoch von der behaupteten ökonomischen Potenz jenes Sektors nichts zu spüren. Die ökonomische Position jener Kreativen ist zumeist prekär. Die drei Typen sind:

1. Überwiegend erfolglose Start Ups, deren Aktivitäten aus einem Szene-Engagement heraus entstehen und deren Aktivitäten zunächst für die Szene, das heißt die eigene Klientel gedacht sind. Dieses Engagement hat experimentellen Charakter, der ökonomische Erfolg ist (zunächst) zweitrangig. Diese Start Ups sind selten von Dauer, da Kontinuität nur durch ökonomischen Erfolg hergestellt werden kann, den die wenigs-ten vorweisen können. Die »Pyonen« und »Sensatonics« sind eine der wenigen erfolgreichen Startups.

2. Angestellte der Lifestyle-Ökonomie, die im Bereich der Populärkultur und urbanen Dienstleistungsindustrie arbeiten, dort aber nicht als krea-tive Akteure tätig sind, sondern profane Dienstleistungen und Hand-langer-Dienste verrichten. Auch für sie ist die Szene-Existenz mit der beruflichen Tätigkeit homolog und doch ist von der »Schönheit der Freiheit« (wie Victoria sie nannte) nicht mehr viel übrig geblieben. Sie arbeiten zum einen im Bereich der populärkulturellen Produktion (Mu-sik, Film, Fernsehen, Werbung) als Techniker, Office Manager, Pro-duktions-Assistenten, etc., zum anderen in der städtischen Unterhal-

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tungsindustrie als Kellner, Platzanweiser, Kartenabreißer, etc. Die so-genannte »Stadt als Event« (Bittner 2001), bei der immer mehr öffentli-che Räume zu Spektakeln und Themenparks umgebaut werden, stellt hierfür ein wachsendes Beschäftigungsfeld dar. Hierzu zählen auch die neuen Formen der Wellness-Angebote, wo ebenfalls gilt: Was vormals ein genuines Anliegen der Hippiekultur war, dringt nun als »Lifestyle« in breitere Bereiche der Gesellschaft vor: ein Streben nach Harmonie, seelischem Gleichgewicht, Einheit von Körper, Geist und Seele, Ge-sundheit und körperliches Wohlbefinden. Unternehmen reagieren auf das Wellness-Bedürfnis mit Angeboten wie Shiatsu, Aryuveda, Feng Shui und entsprechenden Wellness-Oasen im Stadtraum: Saunas, Bä-der, außereuropäische Massage-Angebote, etc. Auffallend viele Akteure der Szene sind in diesem Bereich vorübergehend oder dauerhaft be-schäftigt.

3. Ein neuer Typus des kreativen Proletariers, der gewissermaßen die Un-terseite der Kulturalisierung der Ökonomie darstellt. Wir haben diesen Typus als Wagenburgler kennen gelernt. Das kreative Proletariat arbei-tet handwerklich und verrichtet körperliche Arbeit, womit es sich der klassischen Arbeiterkultur als Identitäsressource bedienen kann, ist aber ebenfalls innerhalb der kulturalisierten Ökonomie beschäftigt, also nicht in dem traditionellen proletarischen Produktionsbereich. Ein typi-sches Arbeitsfeld ist der Messebau, wo ephemere Welten für wenige Tage aufgebaut werden. Diese Arbeit wird von den Akteuren als »Ma-loche« empfunden, eine Form der Stilisierung als Proletarier, und sie verspricht zugleich durch ihre Nähe zum kreativen Feld symbolisches Kapital.

Mit der Kulturalisierung der Ökonomie entwickelt sich somit ein Feld, in dem Szene-Existenz und Mainstream-Existenz keinen Widerspruch mehr darstellen. Akteure der Szene haben hier nicht Teil, weil sie Aussteiger-Neigungen haben, sondern sie benutzen die Szene vielmehr als Einstieg in die Gesellschaft. Die Attraktivität dieses Feldes besteht darin, dass der ständige Wechsel in gesellschaftlich legitimierter Form stattfinden kann. Auch hier wird ein Leben mit permanentem Wechsel geführt, doch ist dies Teil der Logik des Feldes, in dem man ein Projekt nach dem anderen ver-folgt.

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Das Studium als institutionalisierte Übergangsphase

Wenn auch nur schätzungsweise 80 % der Szene-Akteure Abitur haben und die Haupt-Akteure der Szene das Studierenden-Alter bereits verlassen haben, so erfüllt die Universität doch eine wichtige Funktion – eine Schwellenfunktion – im Leben der Akteure. Wie Victor Turner schreibt, sind Universitäten »liminoide Bereiche«, durch die das Prinzip der Offen-heit, Veränderung und somit Innovation gesellschaftlich institutionalisiert wird. In dieser Hinsicht sind Universitäten und die Szene homolog (und das Feld der kulturalisierten Ökonomie). Für Szene-Akteure, die sich in dieser Übergangsphase befinden, ist es nicht nur tolerabel, sondern gera-dezu gefordert, sich auszuprobieren, Neues zu entdecken, Erfahrungen zu machen, also genau so zu leben, wie es innerhalb der Szene sinnvoll er-scheint (Bourdieu: »sich die Hörner abstoßen«, Bourdieu 1997: 745). Durch ihren Status als Studierende gewährt ihnen die Gesellschaft eine Szene-Existenz. An künstlerischen Projekten teilzunehmen, die Nächte durchzufeiern und mit anderen um die Häuser zu ziehen, wird als jugendli-che Sturm-und-Drang-Phase bewertet, die wichtig für die persönliche Entwicklung ist. Die selbständige Strukturierung des Studiums und die relativ freie Einteilung der Arbeitszeit (Seminare, Hausarbeiten, Referate) erlaubt es, die Zeit in der Szene und die Zeit an der Universität aufeinander abzugleichen. So sagt Johnny von den »Pyonen«: »Ich hab halt auch stu-diert, und Studieren − ich mein, das weißt Du selber − ist ja nun auch nicht so, dass man morgens um sieben aufstehen muss, um da hinzugehen. Son-dern da ist ja alles immer noch ein bisschen lockerer« (Interview mit Johnny vom 15.3.2001, geführt von Sabine Vogt). Die gesellschaftliche Legitimierung dieser Übergangsphase bedeutet auch eine ökonomische Absicherung der Szene-Existenz. Es ist die Lebensphase, in der sich ent-weder die Eltern noch für die finanzielle Unterstützung verantwortlich fühlen und ihren Kindern den Lebensunterhalt zahlen. Oder aber es ist tolerabel und normal, sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen, wofür es einen auf studentische Arbeitskraft eingestellten Niedriglohnsektor gibt. Studierende einzustellen und somit von steuerlichen Vergünstigungen zu profitieren oder die Studierenden »schwarz« arbeiten zu lassen. Cafés, Kneipen, Call-Center, Kinos, Umzugsfirmen, Veranstaltungs- und Messe-agenturen, etc. stellen Studierende zu Niedriglöhnen ein.

Darüber hinaus weist der Kommunikationswissenschaftler Geoff Stahl darauf hin, dass die Universitäten auch jene Orte sind, über die Studie-

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rende Zugang zu lokalen Szenen finden. Über das Engagement im Uni-Radio oder anderen studentischen Projekten werden Kontakte in das Sze-nenetzwerk geknüpft und Informationen über Szeneereignisse ausge-tauscht. Universitäten sind Orte innerhalb der Szenetopographie, wo man einander begegnet und sich über Szenebelange austauscht (Stahl 2001).

Für Studierende stellt sich ihr Studentendasein und ihr Szenedasein auf Grund der Homologie von Universität und Szene als ganzheitlicher Le-bensstil dar. Dabei ist oft nicht zu unterscheiden, ob die Universitätsexis-tenz durch das Szenedasein sinnvoll aufgefüllt und ergänzt wird, oder ob nicht umgekehrt das Studentendasein dazu benutzt wird, das Szenedasein zu rechtfertigen. In letzterem Fall wird das Studium als Legitimation für das Szenedasein weiter geführt, ohne hier noch tiefere Ambitionen zu hegen. Der Studenten-Status wird nur aus dem Grund beibehalten, um den gesellschaftlich legitimierten Übergangsstatus, wie er dem Szenedasein zuträglich ist, beizubehalten. Allerdings ist das Studium eine gesellschaftli-che Übergangsphase und kann deshalb als Sinnressource nur eine be-stimmte Zeit lang gebraucht werden.

Partys als symbolische Form eines Lebens under construction

Ein Leben im Techno-Underground zu führen bedeutet also ein Leben under construction zu führen. So lange die Akteure Teil der Szene sind, das heißt regelmäßig an Partys teilnehmen und Teil des Szenenetzwerks sind, ist ihr Leben von einer erhöhten Bereitschaft zum Wechsel der jeweiligen Lebenssituation geprägt. Einem unsicheren Leben im Übergang wird dem Leben in einem stabilen Angestelltendasein der Vorrang gegeben, soziale und ökonomische Unsicherheit wird in individuelle Freiheit umgedeutet.

Dieses Leben under construction findet in den »un-focused gatherings« der Partys (und im improvisierten Charme der location-Räume) zu einer symbolischen Form. Die Partys haben kein Ziel, keinen Mittelpunkt und auch wenn sie eine Struktur haben, so sind die temporären Allianzen, die sich über den Abend hinweg bilden und wieder auflösen, doch in einem hohen Maß von Spontaneität und Zufälligkeit geprägt. Die Akteure driften durch die Nacht und frönen mal der Langeweile, mal geben sie sich der Ekstase hin, mal sind sie in Gespräche verwickelt, mal blicken sie schwei-gend vor sich hin. Diese kultivierte Ziellosigkeit bestimmt ebenso den

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Charakter des Partyereignisses, wie die Akteure ihr Leben insgesamt als offen und ewig unfertig, als under construction, gestalten. Die Partys stellen den Mittelpunkt des Lebens der Szene-Akteure dar, aber dieser Mittel-punkt hat selbst keinen Mittelpunkt, so dass ein ewig diffuser Schwebezu-stand entsteht, der an einem Eigentlichen immer vorbei zielt.

Diese Lebensführung der Szene-Akteure gestaltet sich anders als ein subkulturelles Leben im klassischen Sinn. Der Ausstieg wird nicht auf Dauer vollzogen, sondern die Akteure praktizieren einen Ausstieg auf Zeit, der aus der Gesellschaft hinaus aber auch wieder in die Gesellschaft hinein führt. Man sagt sich von der dominanten Gesellschaftsordnung (wie sie Bourdieu beschrieb und wie sie nach wie vor als wirkmächtig empfunden wird) nicht gänzlich los, fügt sich aber auch nicht gänzlich in ein subkulturelles Leben jenseits der Gesellschaft ein. Stattdessen wird versucht, Szene-Existenz und gesellschaftliche Existenz zu versöhnen, was jedoch nie zur Verwirklichung kommt – unter dieser Perspektive ist das Leben under construction auch als permanentes Scheitern dieses Versöhnungsversuchs zu sehen. Im Zweifel wird dem Szeneleben der Vorrang gegeben und der aktuelle Beruf wird aufgegeben, wobei hierdurch wiederum subkulturelle Wertigkeiten, das hippieske Ideal des »drop out«, zur Erklärung der persönlichen Entscheidung heran gezogen werden und auf diese Weise Relevanz erhalten.

Dieses Leben wird begünstigt durch die Kulturalisierung der Ökono-mie, durch die Kultur und Lifestyle zunehmend einen gesellschaftlichen Wert besitzen und auch einen ökonomischen Faktor darstellen. Ein Sub-kultur-nahes Leben, das hedonistisch und kreativ ist und nach Abenteuern sucht, wird allmählich zum dominanten gesellschaftlichen Typus. Diese Aufwertung vormals subkultureller Lebensstile führt einerseits zu einer breiteren gesellschaftlichen Akzeptanz von Szenen wie dem Techno-Un-derground, andererseits öffnet sich hier auch ein ökonomisches Feld, in dem sich die Szene-Akteure beruflich betätigen und somit ihr Leben sozial absichern können. Während innerhalb der traditionellen bürgerlichen Ge-sellschaftsordnung ein subkulturelles Leben problematisch ist (wie Victo-rias Konflikt mit dem Kliniksystem gezeigt hat), ist in der Lifestyle-Öko-nomie ein subkulturelles Leben erstrebenswert. Hier kann ein Ausstieg aus der Gesellschaft unter Umständen einen Einstieg bedeuten, zum Beispiel indem man ein Start Up gründet, wobei sich allerdings zeigt, dass die Uto-pie der Freiheit (der »Schönheit der Freiheit«, wie Victoria es nannte), auch hier nicht gefunden wird, das Streben nach Versöhnung von Szeneleben

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und gesellschaftlicher Reproduktion ein unverwirklichtes Projekt bleiben muss.

In Bezug auf die Fluidität von Szenen als urbane Formation ist festzu-halten, dass diese nur dann verwirklicht werden kann, wenn der Moment den Mittelpunkt des Lebens ihrer Akteure darstellt, auch wenn Ausflüge in die Mainstreamkultur unternommen werden und der Versuch nie aufgege-ben wird, beide Sphären zu versöhnen.

11. Zusammenfassung

Der Techno-Underground praktiziert eine Kultur der Verflüssigung, die ihn von traditionellen Subkulturen darin unterscheidet, dass keine klare Grenze zwischen wir und sie, Subkultur und Mainstream gezogen wird. Wenn Subkulturen allgemein gesellschaftliche Untereinheiten sind, die sich durch ein empirisch ausmachbares Ausmaß von der herrschenden Kultur unterscheiden und in urbanen Dörfern leben (das heißt, sich in relativ fest gefügten Territorien bewegen und innerhalb einer relativ unveränderlichen Gruppe), so zeichnet den Techno-Underground aus, dass er seine Grenzen immer wieder überschreitet, auch und gerade in Bezug auf sein Territo-rium, dessen inselartig über die Stadt verteilten Orte wechseln.

In dieser Auflösung der Grenzen ist der Techno-Underground im Ge-gensatz zu früheren Subkulturen urban. Er tauscht – ganz im Sinne des neuen Kleinbürgertums – die statische Ordnung von dominanter Gesell-schaftsordnung einerseits und Gegenordnung andererseits gegen das Prin-zip des ewigen Wandels. Anstatt eine Gegen-Ordnung zu installieren, ver-werfen seine Akteure grundsätzlich die Idee einer dauerhaften Ordnung und propagieren stattdessen das Prinzip des permanenten Wandels oder besser gesagt: ihre Ordnung ist der Wandel. Dies ist möglich, da sich die bürgerliche Gesellschaftsordnung, gegen die Subkulturen einst aufbegehr-ten, selbst auch gewandelt hat und sich heute, im Gegensatz zu der Gesell-schaft von ’68, ein hedonistischer Lebensstil auf breiter Basis durchgesetzt hat: Die Populärkultur und mit ihr der »Kult der Zerstreuung«, wie Kra-cauer es einst nannte, ist zur dominanten Kultur geworden, die Gesell-schaft ist, wenn man so will, insgesamt subkultureller geworden, so dass sich die Grenzen zwischen oben und unten relativieren.

Um dieser Fluidität gerecht zu werden, wurde der Techno-Under-ground arbeitshypothetisch als »Szene« und nicht als »Subkultur« definiert. Dieser Begriff, der sich auf das Modell urbaner Szenen stützt, wie es Blum, Straw und Stahl entwickelten, deessenzialisiert das Konzept der Subkultur.

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An die Stelle der Einheit von Kultur und Raum tritt der polylokale und fluide location-Raum, der durch soziale Netzwerke zusammen gehalten wird, deren gemeinsames Normen- und Wertesystem brüchig ist, und bei dem die kapitalistische Gesellschaft nicht der Gegner, sondern ein Teil der sozialen Strukturen ist. Zwar schwingen in der Betonung der räumlichen Lokalisierbarkeit von Szenen, ihrem Netzwerkcharakter und ihrer Expres-sivität noch die Begrifflichkeiten des Subkulturkonzepts mit (Territorium, Community, Stil), aber zu Gunsten einer angemesseneren Beschreibungs-weise urbaner Zusammenhänge betont das Modell der Szene die Locker-heit und Unverbindlichkeit dieser Zusammenhänge. »Szene« ist ein theore-tisch offener Begriff, der, wie die kulturellen Praxen, die er beschreibt, unbestimmt und in Bewegung bleibt und somit der Strategie des »Nicht-verortet-werden-wollens« der Akteure entspricht.

Allerdings merkt Will Straw selbst kritisch an, dass die Verwendung des Begriffs der »Szene« die Gefahr birgt, das kulturkritische Moment zu ver-lieren. Will Straw weist darauf hin, dass Szenen im Gegensatz zu Subkultu-ren keinen politischen Gegner haben. »Theorizations of ›scene‹ rarely name anything to which scenes might be oppposed« (Straw 2001: 252). Der Beg-riff tendiert dazu, das urbane Alltagsleben zu ästhetisieren, Konflikte zu verschleiern beziehungsweise gar nicht erst ins Blickfeld zu nehmen und die soziale Bedingtheit kultureller Praxis auszublenden. Soziale Zusam-menhänge und ihre Orte und Stile erscheinen mitunter fluider als sie es durch ihre materielle und soziale Disposition tatsächlich sind. Die Flexibi-lität des Szenebegriffs kann zu einer begrifflichen Unschärfe führen, die dem Anliegen der Szene-Akteure gar nicht mehr entspricht.

Das Beispiel des Techno-Underground hat gezeigt, dass zur Konstruk-tion des Moments als Charakteristikum urbaner Szenen eine subkulturelle Orientierung notwendig ist. Das Kreative der Szene, nämlich der neue, spielerische Umgang mit dem Stadtraum, ist nur möglich, weil seine Ak-teure sich subkulturell artikulieren und organisieren. Erst hierin werden die atmosphärischen Qualitäten von Orten und Vierteln gegenüber ihren Funktionen aufgewertet und Raum für unkonventionelle Formen des Zu-sammenkommens geschaffen, wird die »Trennung« zwischen den Indivi-duen aufgehoben und ein kollektiver »Spirit« erzeugt. Das, was bei der Szenetheorie bloße Behauptung ist, nämlich dass das postmoderne, urbane Indivuduum mobiler wird und zwischen fluiden Räumen driftet, ist beim Techno-Underground ein explizites Projekt, das von subkulturellen Idealen genährt wird.

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Wenn das Konzept der Szene dazu bestimmt ist, das Konzept der Sub-kultur zu deessenzialisieren um ihrer urbanen Verfasstheit Rechnung zu tragen, so sind umgekehrt die subkulturellen Wertigkeiten jene, die die Fluidität gerade herstellen. Die subkulturellen Werte fördern die Fluidität: Die Verflüssigung kultureller und sozialer Einheiten ist kein der Szene äußerliches Phänomen, die dem kulturellen Zusammenhang »passiert«, sondern sie ist Produkt eines reflexiven kulturellen Prozesses, der die Flui-dität explizit zum Ziel hat. In dieser Hinsicht sind subkulturelle Ideale nicht gegenläufig zur Fluidität, sondern gerade ihr Motor, denn die Sub-kultur als Kultur der Grenzüberschreitung führt erst dazu, die aktuellen gesellschaftlichen und territorialen Grenzen zu hinterfragen und zu über-schreiten. Sowohl die in der Szene wirksamen hippiesken Werte als auch die proletarisierte Besetzerkultur nähren die Kultur der Grenzüberschrei-tung und geben ihr einen Sinn. Die Fortführung der Hippietradition (Love, Now, Flower Power, LSD, Drop Out, Togetherness, Peace) hält die Suche nach einer anderen, besseren Gesellschaft mit intensivierten Gefühls- und Wahrnehmungsformen aufrecht (gerade in Bezug auf die transitorischen Lebensstile haben diese Werte Bedeutung), durch die der gesellschaftliche Status quo auch und gerade in der von der Populärkultur durchzogenen Gesellschaft permanent in Frage gestellt wird. Die Kultivierung der anar-chistischen Besetzerkultur unterhält die Vorstellung der Verwirklichung dieser Visionen im Hier und Jetzt, die in dem Slogan der Transgression kulminiert, »Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden«, auch wenn oder gerade weil dieser Slogan postmodern ironisch in der Szene gebrochen ist. Die Fluidität im Sinne einer permanenten Grenzüberschreitung, die den Moment konstruiert, findet in der Subkultur ihre kulturelle Basis.

Die sozialen Netzwerke der Szene, die auf diesen Idealen basieren, sind über Jahre hinweg entstanden. Die Party-Collectives »Pyonen«, »Muh-Bar«, »Goldmund« und »U-Site«, die die maßgeblichen Initiatoren und Gestalter des heutigen Berliner Techno-Underground sind und auch das bislang letzte große Projekt des Underground, »Camp Tipsy«, initiiert haben, ver-bindet eine geteilte Geschichte der Hausbesetzungen und temporären Raumnutzungen. Im Besetzeralltag und dem dort praktizierten »Sex, Drugs and Rock’n’Roll« sowie in der politischen Auseinandersetzung mit dem Fundament der bürgerlichen Gesellschaftsordnung haben sich Beziehun-gen und Freundschaften verfestigt, geteilte Leidenschaften herauskristalli-siert und utopische Visionen gebildet, die die heutige Szene sozial und kulturell tragen. Kommunen statt Kernfamilien, kollektives Eigentum statt

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Grundbesitz, basisdemokratische statt hierarchische Entscheidungsstruktu-ren, nicht zuletzt die »Verteidigung von Freiräumen« gegen staatliche Zugriffe sind die Wertebasis dieser Szene.

Auf diese Weise hat sich ein relativ stabiles Netz an Orten herausgebil-det. An ihnen konsolidiert sich das Szenenetzwerk, verfestigt seine sozialen Strukturen und bündelt die umherschwirrenden individuellen Träume und Wünsche einer Ästhetisierung und Versinnlichung des Alltagslebens zu kollektiv geteilten Projektideen. Diese Räume sind vom Geist der Hausbe-setzung geprägt und erhalten zusätzliche Stabilität durch die legalen Mög-lichkeiten der Zwischennutzung, die heute zu einem geflügelten Wort in Berlin geworden ist, durch die subkulturelle Experimente in einem legalen räumlichen Rahmen stattfinden können. In dem ehemaligen Rohstoff-kombinat »SeRo«, der ehemaligen Brauerei des »Schweizer Gartens«, dem Wohnprojekt in der Tucholskystraße oder dem inzwischen geräumten Gelände des »Eimers«, wo das »Muh-Bar«-Collective entstand, wird ein subkulturelles Leben geführt, das durch die Symbiose von Wohnen, Ar-beiten und Feiern geprägt ist und vom permanenten Zustrom der Szene durch diese Räume lebt. Diese Orte sind soziale Treffpunkte, an denen man sich trifft und neu kennenlernt, an denen Pläne geschmiedet und Projekte durchgeführt werden. Auch wenn die Szene urbane Räume immer neu erkundet und sie zu flüchtigen locations transformiert, benötigt sie diese stabilen Orte zur Verfestigung ihres Netzwerks und ihrer Kultur.

Die Szene ist somit bis zu einem gewissen Grad eine Subkultur im tra-ditionellen Sinn. Sie bildet ein stabiles soziales Netzwerk, dauerhaft geteilte Orte und verbindliche Normen und Werte aus. Diese Kultur hat eine Räumlichkeit und Materialität, die dem Szenegeschehen eine objektive Form geben. Diese Form zeigt sich im Kleidungs- und Musikstil der Szene, in der Art zu reden und sich zu geben, in den Kommunikationsmedien von Flyer und Internet, in den Formen des Miteinanders und in den Orten mit ihrer improvisierten Ästhetik, die zur Verwirklichung dieser Kultur ange-eignet und verteidigt werden. All diese kulturellen Ausdrucksformen ver-bindet die Teilnahme an der Szene, die in der anarchistischen Kultur der Hausbesetzerbewegung und in der Hippiekultur eine Tradition und ein, wenn auch brüchiges, ideologisches Fundament hat.

Das Driften im sozialen Raum der Gesellschaft folgt somit einer sub-kulturellen Logik, die vor allem darin erkennbar ist, dass Gruppen mit hohem symbolischem Kapital, die sich durch ihren Stil in einem imagi-nierten gesellschaftlichen unten beziehungsweise in einem außen (der Natur)

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verorten, die also trotz der grundsätzlichen Tendenz des neuen Kleinbürgertums, sich nicht verorten lassen zu wollen, dennoch bis zu einem gewissen Grade einen spezifischen Stil mit spezifischen Idealen und Wertvorstellungen ausbilden. Dieses teils aus sozialen und ökonomischen Zwängen, teils freiwillig stattfindende Sich-Festlegen gibt ihnen innerhalb der Szene Ansehen und Definitionsmacht und färbt die Kultur und Struktur der Szene insgesamt.

Diese beiden Gruppen sind zum einen ehemalige Hausbesetzer und »Wagenburgler«, für die die Bezeichnung »Punk« am treffendsten ist und die in ihrem Stil eine Romantisierung des Proletariers und Underdogs betreiben. Zum anderen sind es Akteure, die an die Hippietradition an-knüpfen, sich intensiv mit typischen »Hippie-Themen« auseinander setzen, sich entsprechend kleiden und ihr Interesse auch durch Projekte oder der Gründung von Start Ups verfolgen (zum Beispiel »Sensatonics«). Beide Gruppen schaffen sich die für sie signifikanten Orte: die Wagenburgler besetzen Wagenplätze, die Hippies feiern Feste nicht nur in der Stadt, sondern auch in der Natur (und öffnen Läden), wobei diese Orte zugleich Schlüsselorte der Szene-Topografie sind.

Die subkulturelle Logik der Szene zeigt, dass dieses Driften nicht ir-gendwie geschieht, sondern im sozialen Raum der Gesellschaft einer kultu-rellen Logik folgt: Nämlich erfolgt dieses Driften entlang bestimmter Bah-nen oder, um mit Bourdieu zu sprechen, »Fluchtlinien«, an denen sich die Akteure der Szene orientieren und die dem eigenen Tun einen Sinn geben. Die Akteure bewegen sich zwischen den signifikanten Orten des imaginä-ren Gesellschaftsraums, zwischen oben und unten, innen und außen, zwischen Stadt und Natur, zwischen besetzten Orten und ökonomisch legitimierten Orten. Sie sind an keinem dieser Orte im sozialen Raum der Gesellschaft und im geografischen Raum der Stadt dauerhaft lokalisierbar, aber dennoch treten diese Orte durch den Stil, die Verhaltensweisen und die Ideale der Szene sowie durch die geografisch konkret in und jenseits der Stadt existierenden Orte plastisch hervor. Diese symbolischen und realen Orte sind für die Akteure der Szene unabdingbare Passagen, die dem Driften durch den sozialen Raum und durch den Stadtraum eine Richtung und einen Sinn geben. Während also die Fluchtlinie des klassischen Kleinbürgertums nach oben führt (Bourdieu), führt die Fluchtlinie des neuen Kleinbürgertums nach unten und nach außen und wieder zurück. Die kulturelle Logik der Szene ist somit die Kreisbewegung in Beziehung zu den Orten einer »verkehrten Welt«, auch wenn die Szene selbst weder

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eine »verkehrte Welt« noch eine »nicht verkehrte Welt« (also eine »straighte« Welt) ist. Ohne die Existenz dieser Orte (ihr Zustandekommen und ihr Vergehen) und die subkulturelle Orientierung ihrer Akteure könn-ten keine Momente entstehen.

Das Gravitationszentrum ist die Party als »un-focused gathering«, die selbst keinen Mittelpunkt und keinen Fokus hat. Die subkulturellen Ak-teure der Szene finden sich hier, an der location, immer wieder zusammen, um die »Trennung« zu überwinden und werden zerstreut.

12. Szenen und Theorien urbaner Kultur

Seit Georg Simmels berühmtem Essay Die Großstädte und das Geistesleben (1903) ist die Stadt als Auflöser alles Festen, der traditionellen Bindungen und Schichtzusammenhänge, begriffen worden. Die Populärkultur – als eine niedere Kulturform, deren Produkte massenkulturell gefertigt waren und die jeder verstehen konnte – wurde dabei immer schon als kulturelle Ausdrucksform interpretiert, die den neuen Verhältnissen in der Stadt entspricht. Schon für Simmel stellte die Populärkultur und die mit ihr verbundene Praxis der Zerstreuung eine kulturelle Form dar, die das ver-einzelte und entfremdete Individuum mit der Stadt versöhnt, indem es sich von den Vergnügungen, die nur die Stadt bietet, »wie in einem Strom« tragen lässt, »indem es kaum noch eigener Schwimmbewegungen bedarf« (Simmel 1903: 241) – allerdings, wie die Cultural Studies später zeigten, in hochgradig ambivalenter Weise.

Im Folgenden soll den Verflechtungen zwischen der Stadt, der Populärkultur und ihren kulturellen Trägern nachgegangen werden, indem ihren Theoretisierungen seit Simmels Großstadt-Essay über die Chicago School und den Cultural Studies bis hin zur aktuellen Theorie urbaner Szenen, die wieder an Simmel anknüpft, nachgegangen werden. Diese stellen den historischen und theoretischen Kontext dar, innerhalb dessen der Techno-Underground zu verorten ist.

Es fügt sich, dass die Essays von Georg Simmel und Siegfried Kracauer in Auseinandersetzung mit Berlin entstanden: Die Stadt erweist sich dadurch als kapitalistische Stadt par excellence.

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Die Großstädte und das Geistesleben: Urbane Fluidität und die Geldwirtschaft

Der Befund der Freisetzung des Individuums aus traditionellen Bindungen steht am Anfang der Stadtforschung des 20. Jahrhunderts, die mit Georg Simmels berühmtem und noch heute gültigem Essay Die Großstädte und das Geistesleben von 1903 einen Grundlagentext erhielt und in den 1920er Jahren in der Chicago School of Sociology zu ihrer Blüte fand – ihr spiritus rector war Robert Ezra Park, der im Wintersemester 1899 bei Simmel in Berlin studierte. Die Aktualität von Simmels Essay für die spätkapitalisti-sche Stadt hat Rolf Lindner unlängst gezeigt (Lindner 2004a). Das Pathos der Freiheit, das den Individualisierungstendenzen der Stadtbewohner anhaftet, ist gerade auch mit Blick auf subkulturelle Bewegungen nach wie vor relevant, tendieren doch alternative Bewegungen dazu, dem befreiten Individuum wieder neue soziale Zwänge aufzubürden und somit Urbani-sierungstendenzen rückgängig machen zu wollen, wie das Beispiel der Kommune-Experimente der 1960er Jahre zeigt. Simmel und die Chicago School freilich kamen zu diesem Befund angesichts der massenhaften Migration der Landbevölkerung in die europäischen und nordamerikani-schen Städte im 19. Jahrhundert, die neue Berufe ergriffen und eine neue urbane Kultur ausbildeten.

Georg Simmel war der erste Soziologe, der im Stadtleben und im städti-schen Miteinander die Herausbildung einer neuen urbanen Kultur er-kannte, die ihre eigenen Verhaltensregeln und Gesetzmäßigkeiten hatte und die von den Individuen durch einen gewandelten Gefühlshaushalt emotional und kognitiv getragen und gelebt wurde. Die Großstadt, so Simmel, gewinnt durch die Ermöglichung der »individuellen Unabhängig-keit und (der) Ausbildung persönlicher Sonderart […] einen ganz neuen Wert in der Weltgeschichte des Geistes« (Simmel 1903: 241). Die Geld-wirtschaft nimmt dabei eine Schlüsselfunktion ein, sie stellt die materielle Basis der individuellen Freiheit dar. Die Zirkulation des Geldes und die soziale und kulturelle Logik, die sie evoziert und durch die sie sich repro-duziert, ist die raum- und zeitübergreifende Kraft, die alles zusammen hält und die Eigenarten der Städter und ihre Beziehungen zueinander maßgeb-lich prägt. Aus ihr leitet Simmel die zahlreichen Besonderheiten städtischen Lebens ab, wenn der Geldverkehr auch nicht deckungsgleich mit den ur-banen Besonderheiten ist.

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Die Geldwirtschaft und mit ihr der »intellektualistische Charakter des großstädtischen Seelenlebens« (ebd.: 228) ist nach Simmel das zentrale Organisationsprinzip des städtischen Alltags. Geldwirtschaft und Verstan-desmäßigkeit bedingen einander und beide bilden die Grundlage für einen reibungslosen Ablauf des städtischen Alltags sowie die maximale Freiheit jedes Einzelnen. Über den Zusammenhang zwischen Geldwirtschaft und Verstandesmäßigkeit schreibt Simmel: »Geldwirtschaft aber und Verstan-desherrschaft stehen im tiefsten Zusammenhange. Ihnen ist gemeinsam die reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen, in der sich eine formale Gerechtigkeit« zeigt (ebd.: 229). Durch die Geldwirt-schaft tritt der Einzelne in Wechselwirkung mit der Außenwelt und durch die Sachlichkeit dieser Wechselwirkungen hält er sie zugleich auf Distanz und sichert damit seine Unabhängigkeit. Er reagiert mit dem Verstand auf die vielfältigen Erscheinungen der Großstadt und hält die Außenwelt durch die Kultivierung eines sachlich nüchternen Umgangs mit ihr von sich fern. Als materielle Grundlage eines rationalen und vernünftigen Handelns hat die Geldwirtschaft demokratischen Charakter, denn sie gewährt die Gleichstellung aller ökonomisch handelnden Individuen, die am Waren-verkehr teilnehmen. Sie ermöglicht die Freiheit von Traditionen, Freiheit von sozialen Verpflichtungen und die selbstbestimmte Entfaltung der Individualität und mit ihr die Kultivierung von Spleens und Eigenarten, die in die Vielfalt des städtischen Alltags Einzug halten. Im freien Wechselspiel der Individualitäten, wie sie der Geldverkehr und die Großstadt ermög-licht, können diese sich erst wirklich herausbilden. Simmel schreibt:

»Dass wir den Gesetzen der eigenen Natur folgen – und dies ist doch Freiheit – wird uns und anderen erst dann ganz anschaulich und überzeugend, wenn die Äußerungen dieser Natur sich auch von denen anderer unterscheiden; erst unsere Unverwechselbarkeit mit anderen erweist, dass unsere Existenzart uns nicht von anderen aufgezwungen ist.« (ebd.: 238)

Die Unabhängigkeit von sozialen Bindungen ermöglicht es, die eigene Individualität neu zu denken und in neuer Weise zu den anderen in Bezie-hung zu setzen, sich von ihnen abzugrenzen oder auch sich ihnen – frei-willig – zu nähern.

In den Chancen der Geldwirtschaft und mit ihr der urbanen Kultur lie-gen aber zugleich ihre Probleme, wie Simmel weiter ausführt. Die durch die Geldwirtschaft diktierte und organisierte »reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen« (ebd.: 229) ist nicht nur Ermögli-cher der Entfaltung individueller Freiheit, sie ist auch Quelle zahlreicher

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städtischer Missstände, die das freie Wechselspiel der Individualitäten un-terbindet und die Organisation des städtischen Alltags problematisch er-scheinen lässt. Wie die Individuen durch die Geldwirtschaft ihre Freiheit erlangen, gleichen sie, so Simmel, ihr Handeln auch im Alltag der ökono-mischen Logik an, was in den zahlreichen öffentlichen Interaktionen jen-seits des geschützten Bereichs der Privatsphäre sichtbar wird. Im öffentli-chen Leben der Stadt sieht Georg Simmel das Prinzip des Geldstroms durch den gleichermaßen fließenden Strom an Menschen und Verkehr verwirklicht und ihr liegt die Ursache der mentalen Verfasstheit des Städ-ters zu Grunde, seiner »Steigerung des Nervenlebens« (ebd.: 228), die zur Abschirmung von der Außenwelt führt. Der Einzelne ist von den auf ihn einstürzenden vielfältigen Reizen der Großstadt überfordert, sodass er seine Sinne verschließt und die Außenwelt, wie Simmel schreibt, nur noch in einem gleichförmigen Grau wahr nimmt. Er begegnet seinem Gegen-über nicht als ganze Persönlichkeit, sondern in seiner einstudierten öffent-lichen Rolle, durch die nur ein Teil der Persönlichkeit sichtbar wird. Wie das Geld »nur nach dem (fragt), was ihnen allen gemeinsam ist, nach dem Tauschwert, der alle Qualität und Eigenart auf die Frage nach dem bloßen Wieviel nivelliert«, so reagiert der Einzelne auch auf die Umwelt trotz ihrer zahlreichen Verschiedenheiten und Besonderheiten in der immer gleichen Weise. Die Dinge »schwimmen alle mit gleichem spezifischem Gewicht in dem fortwährend bewegten Geldstrom, liegen alle in derselben Ebene und unterscheiden sich nur durch die Größe der Stücke, die sie von dieser decken« (ebd.: 233). Die daraus resultierende »Seelenstimmung«, so Sim-mel, »ist der getreue subjektive Reflex der völlig durchdrungenen Geldwirt-schaft« (ebd.: 232). Die durch die Geldwirtschaft erlernte Sachlichkeit und Nüchternheit des Umgangs wird auf die Haltung zu den in der Stadt vorbei strömenden Menschen übertragen, wobei das positive Moment der Sach-lichkeit, das Tolerieren der individuellen Andersartigkeit, in Blasiertheit, die Abwehr des Anderen, umschlägt. Die »formale Gerechtigkeit«, die diese Sachlichkeit birgt, paart sich somit »oft mit rücksichtsloser Härte« (ebd.: 229).

Seitens der Chicago School greift Louis Wirth Simmels Gedanken auf, wenn er schreibt, dass die »emancipation from group control« Folge und Bedingung der Organisation des Stadtlebens ist. Die Stadt als »way of life«, wie auch der Titel seines programmatischen Aufsatzes lautet (Urbanism as a way of life, Wirth 1938), basiert auf der Freiheit der Individuen und der Flüchtigkeit der sozialen Kontakte, die sich daraus ergeben. In dem sach-

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lich nüchternen, unpersönlichen Umgang miteinander sieht er die in der Großstadt vorherrschende Beziehungsform, die in den »business-contacts« zu ihrer typischen Form findet, wobei »business-contact« sowohl den Um-gang der Geschäftsleute als auch die alltäglichen Bezahlungsmodi beim Einkaufen einschließt. Louis Wirth nimmt unmittelbar Bezug auf Georg Simmel, wenn er die vier typischen Beziehungsmerkmale der Stadtbewoh-ner identifiziert, die allesamt flüchtige Begegnungen beschreiben: impersonal, superficial, transitory, segmental. Diese Verhaltensformen resultieren aus den drei typischen Merkmalen der Stadt – size, densitiy, heterogenity – die Wirth in Anlehnung an die von Simmel beschriebenen urbanen Zumutungen beschreibt, wobei die Distanzen, die das Individuum zu dieser gedrängten Umwelt schafft, die soziale Reaktion auf diese Faktoren darstellt. Auch für die Chicago School bedeutet Urbanität in dieser Hinsicht die Lefèbvresche Trennung: die Individualisierung produziert Entfremdung zwischen den Akteuren, einen »social void«, wie Wirth unter Bezugnahme auf Durkheim schreibt (Wirth 1938: 13).

Simmel begreift diese Sachlichkeit der sozialen Beziehungen nicht kul-turpessimistisch als Zerfall der Gesellschaft, sondern er sieht diese »Disso-ziierungen« als natürlichen und vernünftigen Bestandteil städtischen All-tags. In dieser Vorläufigkeit und Flüchtigkeit der Beziehungen, so Simmel, liegt »in Wirklichkeit nur eine ihrer elementaren Sozialisierungsformen« (ebd.).

Diese positiv verstandene Flüchtigkeit führt zu einem neu sich ausbil-denden gesellschaftlichen Bereich, der aus der sozialen wie ökonomischen Logik des »Stroms« (des Geldes, der Menschen) Genuss zieht. Es ist der städtische Mußebereich, in dem die Flüchtigkeit des urbanen Alltags kulti-viert und in ein Fest der Sinne verwandelt wird. Wer darin geübt ist, so Simmel, dem Strom der Menschen genussvoll zu begegnen, dem erschließt sich die Stadt als »Verkünder und Erlöser seiner unbefriedigtsten Sehn-sucht« (ebd.: 241): Auch wenn die Großstadt sich »mehr und mehr aus unpersönlichen Inhalten und Darbietungen zusammen (setzt), die die ei-gentlich persönlichen Färbungen und Unvergleichlichkeiten verdrängen wollen«, so wird doch, »das Leben unendlich leicht gemacht, indem Anre-gungen, Interessen, Ausfüllungen von Zeit und Bewusstsein sich ihr (der Persönlichkeit) von allen Seiten anbieten und sie wie in einem Strome tragen, in dem es kaum noch eigener Schwimmbewegungen bedarf« (ebd.). Diese »Distanzen und Abwendungen« (ebd.: 234), gepaart mit gelegentli-chen, flüchtigen oder auch dauerhafteren Sympathien, organisieren das

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städtische Leben: »Ihre Maße und ihre Mischungen, der Rhythmus ihres Auftauchens und Verschwindens, die Formen, in denen ihr genügt wird – dies bildet mit den im engeren Sinne vereinheitlichenden Motiven ein un-trennbares Ganzes der großstädtischen Lebensgestaltung« (ebd.). Der gesellige Salon, in dem sich die Individuen im freien Spiel der Kräfte auf-einander zu bewegen und das Maß aus Nähe und Distanz spielerisch er-proben, wie Simmel ihn im Rahmen der Grundfragen der Soziologie (Simmel 1917) erörtert, wird zum positiven Modell der Stadtgesellschaft.

Auch Robert Park betont in dem Manifest der Chicago School mit dem programmatischen Titel The City (1915; zweite Fassung: 1925) die positiven Momente der Individualisierung, die Herausbildung »all der Charaktere und Eigenarten, die in kleineren Gemeinschaften normalerweise verborgen bleiben oder unterdrückt sind« (Park 1915: 612) und die Hand in Hand mit den »impersonal relations defined by money« (Park 1925: 18) einhergehen. Er schließt daraus, dass die Stadt den Status eines gesellschaftlichen »La-bors oder einer Klinik« (Park 1915: 612) hat, in der gesellschaftliche Pro-zesse besonders prägnant hervor treten. Der Zusatz der »Klinik« gibt dabei dem positiven Moment des Experiments eine kritische Note: die Städter sind nicht nur befreit, sondern auch angeschlagen. Sie müssen geheilt wer-den, wobei die Stadt selbst offenbar das unentdeckte Potenzial einer Heil-stätte hat (im Techno-Underground taucht das Motiv der Heilung wieder auf).

Was Simmel als Kultur des Transitorischen lediglich andachte, dem widmete sich die Chicago School ausführlich und empirisch. Sie unter-suchte spezifisch urbane Typen, insbesondere Berufstypen (»vocational types«, Park 1925: 14), die auf die Flüchtigkeit der Beziehungen speziali-siert sind – Taxifahrer, Barkeeper, Telefonistinnen, etc.59, sowie städtische Einrichtungen, die es so nur in der Stadt geben konnte und die darauf eingestellt waren, Personen für eine begrenzte Zeit zusammen zu bringen. Neben dem Hotel (Hayner 1928) waren dies besonders die Vergnügungs-einrichtungen, die die Nachtschwärmer für eine Nacht zu temporären Gemeinschaften zusammen bringt. David Cresseys Taxi-Dance-Hall von 1929 zeigt besonders deutlich die Mischung aus Sachlichkeit und Intimität,

—————— 59 Weitere Beispiele, die Park nennt, und die allesamt Kracauers Angestellten-Schicht

(siehe folgendes Unterkapitel) zuzuordnen sind: »The shopgirl, the policeman, the ped-dler, the nightwatchman, the clairvoyant, the vaudeville performer, the quack doctor, the bartender, the ward boss, the strike-breaker, the labor agitator, the school teacher, the reporter, the stockbroker, the pawnbroker« (Park 1925: 14).

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die diese transitorischen Beziehungen ausmachen.60 Das »impression ma-nagement« wird angesichts dieser Flüchtigkeit umso bedeutsamer. Wie auch Simmel bereits die Extravaganzen städtischen Lebens erkannte, schreibt auch Robert E. Park: »Under these circumstances the individual’s status is determined to a considerable degree by conventional signs – by fashion and ›front‹ – and the art of life is largely reduced to skating on thin surfaces and a scrupulous study of style and manner« (Park 1925: 40). Für die städtischen Berufsgruppen und die städtischen Einrichtungen wird dieses »impression management« zur Profession.

Mit seinen Beschreibungen der auf der Geldwirtschaft basierenden großstädtischen Verkehrs- und Gefühlsformen lieferte Simmel eine erste anthropology of the city (vgl. Hannerz 1980: 3), um mit Ulf Hannerz zu sprechen, die die Stadt nicht als Summe einzelner Teile und Teilaspekte begreift, sondern die Stadt und die Logik des Städtischen als Ganzes be-schreiben möchte. Ihre anthropologische Dimension erhält sie durch die materielle Qualität des Geldes, das alle an seiner Zirkulation beteiligten Individuen miteinander verbindet und so eine physisch konkrete »commu-nity of money« (Harvey 1989) produziert. Das Geld in der Tasche jedes einzelnen verknüpft ihn mit der großen »community of money« draußen in der Stadt. Ihren Sinn erhält diese neue Form der Vergesellschaftung in den städtischen Vergnügungsformen, wo man lernt, die Geldzirkulation nicht allein sachlich zu begreifen, sondern aus dem Konsum der Vielfalt Genuss zu ziehen.

Siegfried Kracauers Die Reise und der Tanz: Zerstreuung als urbane Praxis

In den Theoretisierungen der Stadt, wie sie Simmel und die Chicago School vornehmen, wird deutlich, dass die Analyse lokaler kultureller Ein-heiten und der Befund eines universalen, urbanen »flows« (an Geld, Men-schen, Gütern) sich diametral gegenüber stehen. Ein starkes Kulturkonzept

—————— 60 Taxi-Dance Halls waren Tanzlokale, in denen sich Männer für ein »ticket-a-dance«

weibliche Begleitung erkaufen konnten. Der Name Taxi-Dance Hall verweist zynisch auf die Konstellation, dass »like the taxi-driver with his cab, she [the dancer] is for public hire and is paid in proportion to the time spent and the services rendered« (Cressey 1969 [1929]: 3).

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erweist seine Stärke immer als ein Gegenmodell zum »flow of money«, indem es die Eigenlogik urbaner Lebenswelten beschreibt. Der Bereich der Vergnügung und Zerstreuung ist jedoch der gesellschaftliche Bereich, wo kulturelle Praxis und »flow« aufs engste verzahnt sind. Auf diesen Bereich soll im Folgenden an Hand eines Essays von Siegfried Kracauer eingegan-gen werden. Er macht zum einen deutlich, dass eine urbane Kulturanalyse um die Analyse der urbanen Zerstreuungspraxen nicht herum kommt, da in ihm, wie bereits Simmel darstellte, der »flow of money« in eine kulturelle Praxis transformiert wird. Zum zweiten zeigt er einen Weg, die heute gän-gige Rede von der Auflösung des Raumes nicht bloß als Zerfall zu sehen, sondern in eine positive kulturelle Praxis umzudeuten. In der Praxis der Zerstreuung erhält die Auflösung des Raumes ein Subjekt – den amüsier-freudigen Städter – und einen Ort: die städtischen Vergnügungsviertel. Wie es später auch Bourdieu beschreibt, ist der soziale Träger dieser Kultur ein amüsierfreudiges Kleinbürgertum, das sich weder im gesellschaftlichen unten noch im oben verorten lässt. Das neue Kleinbürgertum – die Web-designer, Grafiker und Programmierer – gab es zu Kracauers Zeit noch nicht, aber auch für die von Kracauer beschriebene Schicht gilt, dass das Vergnügen und Amüsement zum Leitprinzip der Lebensführung wird. Sie sind der Arbeiterklasse entwachsen, ihr Streben fokussiert sich aber nicht, wie beim »klassischen« Kleinbürgertum, auf den sozialen Aufstieg und den beruflichen Erfolg, sondern eben auf das Vergnügen, auf das Flotieren durch den nächtlichen Vergnügungsraum, in dem die Freizeit über die Arbeit dominiert. In der Einleitung zu »Die Angestellten« schreibt Kra-cauer über seine »Expedition« (Kracauer 1971 [1929a]: 15) in die Welt dieser kleinbürgerlichen Schicht: »Denn indem sie (die Expedition) die Angestellten aufsucht, führt sie zugleich ins Innere der modernen Groß-stadt« (ebd.).

In seinem 1925 in der Frankfurter Zeitung erschienenen Essay befasst Kracauer sich ausführlich mit der Auflösung des Raumes und nimmt hier Topoi vorweg, die in den 1990er Jahren unter dem Schlagwort »Globalisie-rung« in den gesellschaftlichen Diskurs zurückkehrten. In einer sehr zeit-gemäß anmutenden Sprache beschreibt er, wie »die Welt dank Auto, Film und Aeroplan zusammenschrumpft« (Kracauer 1977 [1925]: 40). Seine Ge-sellschaftsdiagnose nimmt er anhand der Analyse eines konkreten städti-schen Ortes vor, der das neue Verhältnis zum Raum sowohl widerspiegelt als auch produziert: Die mit der Großstadt erwachsenden Vergnügungs-viertel (die Hannerz als konkrete Orte der »fluid society« interpretiert,

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Hannerz 1980: 275) und die Praxis der Zerstreuung. »Zerstreuung« meint, den Dingen keine tiefere Bedeutung zu geben, sondern sie im Fluss zu lassen, sich an ihrer Oberfläche zu stimulieren, sich treiben zu lassen.

Kracauer streifte durch die Tanzlokale des nächtlichen Berlins (die auch in dem Buch »Tanzdielen und Vergnügungspaläste« von Knud Wolffram (Wolffram 1992) beschrieben werden und hier als ergänzende Quelle he-rangezogen werden), wo die Angestellten sich nach der Arbeit der Zer-streuung hingaben, und erfuhr im Wirbel des Nachtlebens zwischen tan-zenden Körpern und glitzernden Sälen das »Abenteuer der Bewegung« (Kracauer 1977 [1925]: 43), wie er es nannte, am eigenen Leib. Dass die Welt zusammenschrumpft, erlebte er durch die befremdliche Musik, die zu jener Zeit aus Amerika importiert wurde: der Jazz. Für Kracauer spiegelt dieser neue Tanz- und Musikstil weniger eine kulturelle Differenz gegen-über afroamerikanischer Kultur als den Sound der Großstadt, gleicherma-ßen fremd und irritierend wie die Großstadt selbst. Einem geläufigen Ar-gumentationsmuster jener Zeit folgend identifiziert er in den für ihn »me-chanisch« anmutenden Melodien und Tanzbewegungen den Takt der me-chanisierten Welt:

»Tempo, das nichts will als sich allein: dies die geheime Intention der Jazz-Weisen, wie negerplastisch ihre Herkunft auch sei. Sie drängen danach, die Melodie zum Verlöschen zu bringen und immer länger die Karenzen auszuspinnen, die den Untergang des Sinnes bezeichnet, weil in ihnen die in der Melodie bereits angelegte Mechanisierung sich enthüllt und vollendet.« (ebd.: 42)

Die Angestellten Berlins waren diesen Melodien und Rhythmen verfallen, wie Kracauer beschreibt. Aus ihrem monotonen Arbeitsalltag heraus flüchteten sie in die »Pläsierkasernen« (Kracauer 1971 [1929a]: 95), in de-nen der Arbeitstakt, dem sie sich zu unterwerfen hatten, sich in einen Schlagerrhythmus verwandelte. Zu »ausgepowert«61, um noch etwas vernünftiges mit sich anzufangen, gaben sie sich dem Rhythmus der Melo-dien hin, bis sie erschöpft in sich zusammen sanken. Über ein »Proletarier-kind«, eine junge Frau, die tagsüber in der Registratur einer Fabrik arbeitet, schreibt Kracauer:

»Bezeichnend für sie ist, dass sie, im Tanzsaal oder im Vorstadtcafé, kein Musik-stück anhören kann, ohne sofort den Schlager mitzuzirpen. Aber nicht sie ist es, die jeden Schlager kennt, sondern die Schlager kennen sie, holen sei ein und er-

—————— 61 Kracauer 1971 [1929a]: 96; dieses Wort ist kein Anglizismus, sondern deutscher Sprach-

gebrauchs.

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schlagen sie sanft. In einem Zustand völliger Betäubung bleibt sie zurück« (Kra-cauer 1971 [1929a]: 68).

Wie Charlie Chaplin in dem filmischen Klassiker Modern Times ins Getriebe der Maschinen, so kommt die junge Frau hier ins Getriebe der Schlagerrhythmen. Franz Hessel, der zur selben Zeit (in gesellschaftlich höheren Schichten) durch Berlin streifte, beschreibt in ähnlicher Weise die körperlichen Anforderungen, die das Nachtleben an das amüsiersüchtige Publikum stellt. Im Gegensatz zu der gebeutelten Fabrikangestellten ver-steht Hessels (bessere) Gesellschaft es jedoch, sich gegen die körperliche Herausforderung durch Sport und überlegenen Konsum zu wappnen – nicht zuletzt wohl auf Grund ihrer finanziellen und intellektuellen Besser-stellung:

»Die monströsen Riesendoppelkonzerte, welche die Hauptstadt für Gaumen, Auge, Ohr und Tanzfuß veranstaltet, können der neuen Jugend nichts mehr anha-ben. Was das Essen, Trinken und Rauchen angeht, da haben sie mancherlei neue Methoden, charmante Enthaltsamkeit, hygienische Kasteiungen, sportliche Grund-sätze. Sicher wie durch das Gedränge der Straße steuern sie durch das der Vergnü-gungen, finden die paar Tanzpfade im Dickicht der Menschenanhäufungen, wis-sen, in welchem Hotel oder Lokal man allenfalls noch nachmittags tanzen kann und haben ihre Cocktailpartys, wo man in geschlossener Gesellschaft tanzt. Es ist bewundernswert, wie sie den Berliner Karneval bewältigen.« (Hessel 1984 [1929]: 39)

Die typischen Erfahrungsmomente der Großstadt – die Bewegung durch die Menschenmassen und der Wechsel von Orten – wird hier mit den Vergnügungen direkt in Bezug gesetzt. Straßengedränge wird zu Tanz-gedränge, wobei das eine das andere potenziert.

Auch eine Werbebroschüre des Vergnügungslokals Gourmenia aus je-ner Zeit, das Kracauer bekannt gewesen sein musste, setzt den hektischen Großstadtrhythmus, das Erschlagensein, in unmittelbare Beziehung zu den eigenen Räumen. Freilich will das Gourmenia kein Ort der Anstrengung sein, vielmehr wird umgekehrt der neu eröffnete Dachgarten als Refugium vor der großstädtischen Hektik gepriesen. Eine Abbildung in der Bro-schüre zeigt das Gourmenia als Solitär im Stadtverkehr, wobei der Dach-garten – oben – in Kontrast gesetzt wird zu der von Autos und Menschen wimmelnden Straße – unten. Vom Dachgarten aus kann man dieses Trei-ben aus sicherer Distanz heraus betrachten, ist der »steinernen Wüste« enthoben und kann sie aus der Distanz als Genuss erleben:

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»Wir leben die Zeit der Massen, der großen Dimensionen, der riesenhaften Ab-messungen, die Zeit des Hastens und Sichabrackerns. Unsere Städte sind zu stei-nernen Wüsten geworden, die sich nicht mehr nur auf der ebenen Fläche ausbrei-ten, sondern auch in die Luft hineinwachsen, zu steil aufsteigenden Gebirgen von Wolkenkratzern erstarren, die tief unten sich dahinziehenden Straßen zu engen Schluchten gestalten, die Sonne verdrängen und uns von der Luft absperren. Aber der Drang des Menschen nach Licht, Luft und Sonne ist gewaltig. Und so flüchtet er sich auf die Gipfel der Wolkenkratzerberge, auf die Dächer der Stadt, wo er sich Erholung schaffen kann, wo es noch Licht, Luft und Sonne gibt.« (zit. nach Wolffram 1992: 43)

Man kann sich vorstellen, wie die wimmelnde Menge unten auf den Stra-ßen – oben auf dem Dachgarten angekommen – das Panorama genießt.62

Das Spiel mit Räumen und Perspektiven wird in den Innenräumen der »Pläsierkasernen« (Kracauer 1971 [1929a]: 95) fortgesetzt. Durch Kulissen, Wandbemalungen, Licht- und Wasserspiele werden die Besucher in andere Welten entführt, wobei die zusammen geschrumpfte Welt durch die Insze-nierung exotischer Länder und Landschaften Einzug hält. Das »Haus Va-terland« beispielsweise, dessen Prospekt Kracauer studiert hat, vereint mehrere Säle mit unterschiedlichen Motti unter einem Dach, darunter eine »Bayrische Landschaft: Zugspitze mit Eibsee, Alpenglühen, Einzug und Tanz der bayrischen Bua’m. Schuhplattlerpaare…; oder (die) Wildwest-Bar: Prärielandschaften an den großen Seen, Arizona, Ranch, Tänze, Cow-boylieder und –tänze, Neger-Cowboy (!), Jazzband, Federnde Tanzfläche« (ebd.: 97). Das Tanzlokal »Resi« rühmte sich gar, seine Gäste durch wan-delnde Dekorationen gleich den heute bekannten Event-Lokalen »immer mit Neuigkeiten (zu) überraschen« (zit. nach Wolffram 1992: 120): Ein »Japanisches Kirschblütenfest« wurde da gefeiert, ein andermal ein Later-nenfest und, immer wieder besonders beliebt, »Frühling am Rhein«. Wie der »Berliner Herold« 1929 schrieb:

»Heuer hat Resi dem Rhein gehuldigt. An der ganzen Längsfront des Saales zieht sich eine Rheinlandschaft hin. Da scheint die Sonne, da zieht die Dämmerung herauf, die Nacht kommt, die Fenster der Burgen und Häuschen am Ufer erstrah-len, und dazu tanzt das Berlin zwischen 18 und 60.« (zit. nach Wolffram: 122)

—————— 62 Mancher mag sich bei dieser Beschreibung an de Certeaus Beschreibungen des Panora-

mas erinnert fühlen, das sich ihm von der Aussichtsplattform des World Trade Centers bot: »It’s hard to be down when you up« liest er auf einem Plakat in der 110. Etage (de Certeau 1988: 180).

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Als Kracauer im »Resi« weilte, war gerade besagter »Frühling am Rhein«, und er registrierte die spektakuläre Lichtgebung, die die Illusion vervollständigten:

»Die in der Warenhaus-Propagandaschrift angerufenen Lichtfluten wirken überall im Ensemble mit. Sie werden im Resi papageienbunt durch den Raum geschickt und überspielen das dortige Heidelberger Schloss mit einer Farbenpracht, deren die untergehende Sonne nicht fähig wäre. So sehr gehören sie zu den Bestim-mungsmerkmalen dieser Lokale, dass der Gedanke sich aufdrängt, die Lokale seien während des Tages überhaupt nicht vorhanden. Abend für Abend erstehen sie neu.« (Kracauer 1971 [1929a]: 98)

Eine besondere Attraktion waren technische Ausstattungen, die durch den gesellschaftlichen Fortschritt möglich geworden waren und diesen Fort-schritt in ein für alle zugängliches und sinnlich erfahrbares Vergnügen transformierte. Das »Resi« präsentierte Berlins erstes Tischtelefon-System (seit Februar 1927) sowie eine »Saalrohrpost«, bei der die kontaktfreudigen Herren und Damen über eine Zentrale im Keller kleine Geschenke und Leckereien versenden konnten. (»Schöner Herr, möchten sie nicht mal mit mir tanzen«, ebd.: 124). Außerdem, so behauptet zumindest der »Berliner Herold«, wurde im »Resi« die Diskokugel erfunden, »die heute in aller Welt nachgemacht« wird (zit. nach Wolffram 1992: 123) und die damals noch »Resi-Konfetti-Lichtkugel« (ebd.) hieß. Sie war elaborierter als die heutige Diskogugel, barg sie doch in ihrem inneren, zwischen der oberen und unteren Kugelhälfte, einen kleinen Springbrunnen. Wie es in einer Werbe-anzeige heißt, die das glitzernde Disco-Design der 80er Jahre vorweg nimmt, haben »die Wasser- und Lichtwunder nicht nur die Aufgabe, das Auge zu erfreuen und die Stimmung zu erhöhen, sie sorgen auch für fri-sche Luft und helfen somit den Ventilatoren, die Luft sauber zu halten« (ebd.: 122).

Wenn die Lokale imaginäre Reisen unternahmen, so war auch Räume des Reisens eine Kulisse wert. So gab es in dem sehr populären Lokal »Moka Efti«63 in der Friedrichstraße einen nachgebauten Schlafwagen, für den Kracauer aber nur Spott übrig hat:

»Man sitzt hier oben nicht, man reist. ›Nicht hinauslehnen‹ steht an den Zugfens-tern geschrieben, durch die man auf lauter sonnige Ansichtspostkartenlandschaften

—————— 63 Der kuriose Name geht auf den Kaufmann Giovanni Eftimiades zurück, der sowohl das

Lokal als auch eine gleichnamige Kaffemarke führte. »Efti«, wie er sich der Einfacheit halber nannte, war nicht Grieche, wie der Name vermuten lässt, sondern ein in Kon-stantinopel geborener italienischer Staatsbürger.

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blickt. In Wirklichkeit sind sie Wandfüllungen, und der naturgetreu nachgebildete Korridor eines internationalen Schlafwagenzuges nichts weiter als ein langer schmaler Gang, der zwei mohammedanische Säle miteinander verbindet.« (Kra-cauer 1971 [1929a]: 98)

Schon der Aufstieg in die Amüsiergefilde war dem »Moka Efti« ein Ereig-nis wert. Hierfür wurde die übliche Treppe durch eine Rolltreppe ersetzt, die selbst die Berliner U-Bahn noch nicht kannte.64 Diese Rolltreppe, so Kracauer, »befördert immer neue Scharen von der Straße weg unmittelbar nach dem Orient, den Säulen und Haremsgitter (als Dekoration des Moka Efti) markieren« (Kracauer 1971 [1929a]: 99). Die Attraktivität dieser tech-nischen Erfindung war groß genug, dass die aus heutiger Perspektive eher schnöde anmutende Rolltreppe zu einem Motiv der Werbeanzeige des »Moka Efti« wurde. Wie beim Dachgarten-Lokal steht auch hier eine wimmelnde Menge auf der Straße, um zur Rolltreppe zu gelangen, wobei diese Menge nicht nur die Popularität der Rolltreppe, sondern auch die Urbanität des »Moka Efti« illustriert. Stolz wird auf den Menschenfluss Richtung »Moka Efti« durch ein Preisausschreiben hingewiesen: 1000 DM winken demjenigen, der die Frage beantwortet: »Wieviel Personen benut-zen die Rolltreppe« (zit. nach Wolffram 1992.: 78).

Die exotischen Szenerien der Tanzpaläste reflektieren den neuen Tou-rismus jener Zeit (»tarifmäßiger Urlaub«, wie Kracauer ihn nennt, Kracauer 1977 [1925]: 97), der erste Merkmale eines Massentourismus trägt. Wie Marc Augé gut ein halbes Jahrhundert später, kritisiert Kracauer bereits hier die »Vergleichgültigung der Reiseziele« (ebd.: 43), die die Zunahme verfügbarer Orte mit sich bringt. Wie die Kulissen der Lokale wechseln, werden auch die realen Orte austauschbar, so Kracauer, verlieren ihre je eigene Bedeutung und erhalten ihren Sinn nur noch darin, den jeweils anderen Ort zu kontrastieren. Hier wie dort ist nur noch die Oberfläche des Ortes interessant (»ein Hotel gleicht dem andern«, ebd.: 41), sein An-derssein um seiner selbst Willen, das sich selbst genügt. Im Gegensatz zum Italienreisenden Goethe, der Kracauer zufolge noch »mit der Seele« reiste, nähert sich in den 1920er Jahren die Gegend als Kulisse und die Gegend als Landschaft einander an:

»Die Italienreise Goethes galt dem Land, das er mit der Seele suchte, die Seele heute – oder was Seele so heißt – sucht den Wechsel des Raums, den die Reise ihr

—————— 64 Rolltreppen gab es in Berlin zuerst in Kaufhäusern. Die erste Rolltreppe wurde einige

Jahre vor der Rolltreppe im Moka Efti 1925 im Kaufhaus Hermann Tietz eröffnet.

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bietet. Das Ziel der modernen Reise ist nicht ihr Ziel, sondern ein neuer Ort schlechthin, erfragt wird weniger das bestimmte Sein einer Landschaft als die Fremdheit ihres Gesichts. Daher die Vorliebe für das Exotische, das man aufzu-finden drängt, weil es ganz anders ist, nicht weil es als Traum schon sich eingebil-det hätte.« (ebd.: 40)

Als Reisende kann man sich hier ebenso gut den frühen Typus des Ne-ckermann-Tourismus vorstellen wie den innerstädtischen Tourismus, der im »Haus Vaterland« zwischen den »Wänden, die die Welt bedeuten«, eine virtuelle »Gesellschaftsreise« unternimmt (Kracauer 1971 [1929a]: 97).

Beide präsentieren sich als Welt, nicht »wie sie ist, sondern wie sie in den Schlagern erscheint. Eine Welt, die bis in den letzten Winkel hinein wie mit einem Vakuumreiniger vom Staub des Alltags gesäubert ist« (ebd.). Allerdings, so macht Kracauer deutlich, ist das Reisen »mit der Seele« auch eine Frage der Schicht und des Kapitals. Den Fabrik-Arbeiterinnen und Fabrik-Arbeitern blieb nichts anderes übrig, als, »vom Glanz angelockt« (ebd.: 92), auf den vorgezeichneten Pfaden zu wandeln – der Techno-Un-derground hingegen überschreitet die Grenze der kapitalistisch inszenier-ten Räume.

Bei den städtischen Vergnügungen, so folgert Kracauer, werden Reise (Ortswechsel) und Tanz zum Selbstzweck. Die Reise reduziert sich »zum puren Raumerlebnis«, der »Tanz zu einer Skandierung der Zeit« (Kracauer 1977 [1925]: 41): »Reise und Tanz haben den bedenklichen Hang, sich zu formalisieren, sie sind nicht mehr Geschehnisse, die auch in Raum und Zeit sich entfalten, sondern stempeln die Verwandlung von Raum und Zeit zum Geschehnis« (ebd.: 43). Das »Abenteuer der Bewegung als solcher begeistert, das Hinübergleiten aus den normalen Räumen und Zeiten in die noch nicht durchmessenen erregt die Leidenschaft, die Vagabondage durch die Dimensionen gilt als Ideal« (ebd.). Der einzelne Ort droht dabei, sich aufzulösen und seine Bedeutung nur noch als Kontrastfolie zu einem ande-ren zu haben. In dieser »Vergleichgültigung des Reiseziels« (ebd.), die durch das Überangebot an inszenierten Orten geschieht, liegt der Grund jener großstädtischen Blasiertheit, von der Simmel spricht: »Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, dass sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, dass die Bedeutung und der Wert der Unter-schiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmäßig matten Tönung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden« (Simmel 1903: 232).

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Bei aller Kritik am oberflächlichen Tant der modernen Reise und des Nachtlebens sieht Kracauer in ihnen, wie bereits angedeutet, ein Erfah-rungsfeld, durch das man sich dem Trubel der Großstadt mental und kör-perlich annähern kann. Der »Kult der Zerstreuung« ist sowohl das Abbild des »unbeherrschten Durcheinanders unserer Welt« (Kracauer 1977 [1926]: 316) als auch ein Weg, die Kontrolle darüber zu bewahren. In den Vergnü-gungsvierteln und auch im Filmtheater wird die richtige Mischung aus »Apathie« und »Energie« einstudiert, wie Gottfried Korff die städtische Mentalität beschreibt, mit der man »die Großstadt erobert, ihr Terrain als Möglichkeitshorizont aus(misst)« und gleichzeitig »verhindert, dass es zu Katastrophen bei der Interpretation und Anpassung kommt« (Korff 1985: 348f). Für letzteres ist Benjamins Begriff des »Chocks« zum Klischee avan-ciert.65 Kracauer schwingt sich auf, in Reise und Tanz auf höchst wider-sprüchliche Weise »Ausschreitungen theologischer Art und Vorläufigkeiten profanen Charakters, Verzerrungen wirklichen Seins und Eroberungen in den an sich unwirklichen Medien des Raums und der Zeit« zu sehen (Kra-cauer 1977 [1925]: 49). In der Zerstreuung liege die Chance, »sich über das Vergängliche und Bedingte (zu erheben), das dem existierenden Menschen in der Beziehung zum Ewigen, Unbedingten widerfahren mag«. Man muss Kracauers metaphysischer Auslegung der Zerstreuung nicht unbedingt folgen, um dennoch zuzustimmen, dass der Weg zu einer wahrhaft städti-schen Lebensform an der Oberflächlichkeit nicht vorbei, sondern nur durch sie hindurch führt.66

—————— 65 Den raschen Wechsel der Bilder, Personen und Objekte, wie das Individuum ihn in der

städtischen Menge erfährt, ist nach Benjamin der Auslöser für den Chock (Benjamin 1991a).

66 Die Neuordnung von Raum und Zeit, so scheint es, ist ein andauernder und zur Zu-kunft hin offener Prozess. Wenn die vielfältigen Urbanisierungs- und Globalisierungs-diskurse oft auch sehr unterschiedliche Phänomene beschreiben – »flow« kann den glo-balen Finanzstrom ebenso bezeichnen wie das U-Bahn-Netz der Metropolen meinen – so ist es umso hilfreicher, in dem von Kracauer beschriebenen Vergnügungs- und Reise-süchtigen Angestellten den Archetypus des modernen Menschen zu sehen. Marc Augé gibt Kracauer indirekt recht. Für ihn verschränkt die Figur des (Freizeit-)Reisenden die Vergangenheit mit der Zukunft: »Es ist also kein Wunder, wenn wir bei den einsamen ›Reisenden‹ des letzten Jahrhunderts und nicht bei den professionellen oder wissen-schaftlichen Reisenden, also bei denen, die Laune, Vorwand oder Gelegenheit zu Rei-senden gemacht haben, jene prophetische Beschwörung des Raumes vernehmen, in der weder Identität noch Relation noch Geschichte wirklich Sinn haben, in der die Einsam-keit als Überschreitung oder Entleerung der Individualität empfunden wird und einzig die Bewegung der Bilder dem, der sie vorbeiziehen sieht, einen Augenblick lang die Hypothese einer Vergangenheit und die Möglichkeit einer Zukunft aufscheinen läßt.«

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Dementsprechend wird der Techno-Underground erst dadurch urban, dass er sich zerstreut, das heißt dass er sein subkulturelles Projekt aus den Augen verliert und sich verwirren lässt (wie Kracauers Angestellte von den Rhythmen gebeutelt werden), weil Chaos und Verwirrung und das Loslas-sen von einem festen Ort und Standpunkt Teil der Großstadterfahrung sind.

Der Kult der Zerstreuung bedeutet jedoch auch einen Kulturkonflikt, der aus den neu entstehenden Massenvergnügungen in der Stadt erwächst. Denn die Populärkultur war zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch keines-wegs die universale Leitkultur, vielmehr wusste sich das Bürgertum mit seinen hochkulturellen Einrichtungen, mit Museen, Theatern und Kon-zerthallen noch fest im Sattel der legitimen Kultur. Kracauer nimmt darauf Bezug, wenn er die hochkulturellen Einrichtungen als unzeitgemäß geißelt. Die Kunst, so Kracauer, hat sich zu einem Gehäuse verfestigt, das dem ewig sich wandelnden Geist der Moderne nicht mehr entspricht. Die Wirklichkeit der modernen Gesellschaft, so Kracauer, liegt im ewigen Wandel und nur durch den permanenten Mitvollzug dieses Wandels blei-ben die kulturellen Akteure auf der Höhe der Zeit:

»Das Berliner Publikum handelt in einem tiefen Sinne wahrheitsgemäß, wenn es diese Kunstereignisse (er meint den Bereich der Literatur, des Theaters, der Musik) mehr und mehr meidet, die zudem aus guten Gründen im bloßen Anspruch ste-cken bleiben und dem Oberflächenglanz des Stars, der Filme, der Revuen, der Ausstattungsstücke den Vorzug erteilt. Hier, im reinen Außen, trifft er sich selber an, die zerstückelte Folge der splendiden Sinneseindrücke bringt seine eigene Wirklichkeit an den Tag. Wäre sie ihm verborgen, er könnte sie nicht angreifen und wandeln; ihre Offenbarwerdung in der Zerstreuung hat eine moralische Be-deutung.« (Kracauer 1977 [1926]: 314f.)

Simmel und Kracauer haben erkannt, dass die Populärkultur und die mit ihr verbundenen Zerstreuungspraxen viel eher der modernen Gesellschaft und Stadt entsprechen, das heißt dass eine urbane Existenz eine sich Ver-gnügende ist, während diese Zeit de facto noch von der kulturellen Hege-monie des Bürgertums, auch und gerade in der Stadt, bestimmt war. Eine kulturkritische Stoßrichtung der Analyse der Vergnügungs- und Populär-kultur setzten die Cultural Studies nach dem zweiten Weltkrieg auf ihre Agenda. Die Durchsetzung eines modernen Lebensstils und einer urbanen

—————— (Augé 1988: 103) Diese positive, ja eschatologische Wendung, die die Reise und Bewe-gung hier nehmen, hat Kracauer bereits vorweg genommen.

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Existenz stellt einen kulturellen und gesellschaftlichen Konflikt mit der nach wie vor herrschenden bürgerlichen Kultur dar.

Populärkultur, Stil und Stammkultur: Das Subkultur-Modell der Cultural Studies

Die Cultural Studies in Birmingham haben nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren Analysen des Feldes der Populärkultur den urbanen »Schwimm-bewegungen« im Sinne Simmels beziehungsweise dem »Kult der Zerstreu-ung« im Sinne Kracauers eine eigene wissenschaftliche Disziplin gegeben. Die aus der Perspektive der bürgerlichen Kultur niedere Unterhaltungs-kultur wurde durch die Vertreter der Cultural Studies zu einem zentralen Forschungsgegenstand (urbaner) Alltagskultur. Rolf Lindner hat in seiner Kulturanalyse der Cultural Studies gezeigt, wie die neuen Themenfelder dieses Faches Teil der damaligen Kultur waren (Lindner 2000).

Es war die Zeit des zunehmenden Wohlstands, des Erstarkens der Kultur- und Unterhaltungsindustrie, der »Teenage Revolution« und des »Swinging London«, in der eine junge Generation erstmalig und schicht-übergreifend den an ihren Bedürfnissen ausgerichteten Markt der Populär-kultur entdeckte, Platten kaufte, auf Konzerte ging, sich modisch kleidete, sich in Cliquen in amerikanischen Milchbars traf, etc. Modern beziehungs-weise urban zu sein bedeutete, sowohl für die kulturellen Träger der Po-pulärkultur als auch deren Theoretiker, die zeitgenössische Musik und Mode zu kennen und sich wie selbstverständlich in diesen neuen Kontex-ten zu bewegen, sie lesen und interpretieren zu können. »What young peo-ple want is the taste of life itself: physically and psychologically, they feel capable of tasting it for the first time« (Hall 1959: 3), wie der auf die Grün-derväter Raymond Williams und Richard Hoggart folgende Direktor des CCCS, Stuart Hall, schreibt. Wie schon für die Theoretiker des Moderne-projekts war auch für Hall die Populärkultur ein Ausdruck der Zeit, die man nur verstehen konnte, wenn man sich auch und gerade mit diesen scheinbar minderwertigen und wenig dauerhaften kulturellen Phänomenen auseinander setzt.

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Subkultur als Stilkultur jenseits von Klasse

Wie Siegfried Kracauer verknüpfen die Cultural Studies die Auseinander-setzung mit der Populärkultur mit einem kulturkritischen Programm und relativierten durch eine Modernisierung des Kulturbegriffs die Wertigkeiten von Hochkultur und Populärkultur. Ihre kulturelle Bedeutung erhält dabei die Populärkultur nicht durch ihren Wert an sich (als Produkt der Kultur-industrie), sondern durch ihren Gebrauch. In den Fokus rückt die Bedeu-tung, die die Konsumenten der Populärkultur, für die Cultural Studies die Jugendlichen und jugendlichen Subkulturen, diesen Produkten zuschrei-ben. Dies bedeutet, um mit Stuart Hall zu sprechen, dass …

»…Kultur eher im Hinblick auf ihre Beziehung zwischen einer sozialen Gruppe und den Dingen, die deren Lebensweise ausdrücken, betrachtet werden muss, als im Hinblick auf die Dinge selbst – also nicht das Bild, der Roman, das Gedicht, die Oper, sondern die Beziehung zu der sozialen Gruppe, deren Leben sich in diesen Objekten widerspiegelt.« (Hall 1977: 55)

Sie interpretieren Kultur also nicht nur als Ensemble geistiger und ideeller Werke, sondern als eine gesamte Lebensweise, in der die kulturelle Pro-dukte – Lieder, Bilder, Redensweisen – sinnvoll eingebettet sind ohne auf diese reduzierbar zu sein. Raymond Williams, der sich selbst allerdings skeptisch gegenüber der Populärkultur zeigte, hatte mit »culture is ordi-nary« (Williams 1958) und »culture as a whole way of life« (Williams 1958: xvi) die Leitformel vorgegeben.67

Damit lieferten sie indirekt eine weiterführende theoretische Konkreti-sierung für die Forschungspraxis Kracauers, durch das nächtliche Berlin zu streifen und den Angestellten bei ihren Vergnügungen zuzusehen. Deren Zerstreuungspraxis, so kann man im Sinne der Cultural Studies interpretie-ren, ist ebenso eine kulturelle Äußerung wie der Besuch der Oper und eines Konzerts. Aus der Perspektive des »Gebildeten«, hochkulturell ge-schulten Betrachters hat das Vergnügungsprogramm der »Pläsierkasernen« keine künstlerische Qualität, als Bestandteile einer gesamten Lebensweise sind sie bedeutsame gesellschaftliche Sinnressourcen, da sie dem urbanen Leben angemessen sind, modern, urban, auf der Höhe der Zeit. Sie bilden »a direct expression of the aspiration and dreams of society as it is, rather

—————— 67 Williams unterschied (im Gegensatz zu Hall) noch die für sein Verständnis wertvollen

Produkte der Populärkultur vom »Schund«. – Fußball war für ihn »a wonderful game«, Comics hingegen zählte er zur letzteren Kategorie (siehe Hebdige 1998 [1979]: 13).

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than an attempt to impose a ›desirable‹ culture from above« (Melly 1970: 8f.), wie der Publizist, Jazz-Sänger und Dandy George Melly schreibt (Melly selbst publizierte jenseits des akademischen Kontexts, gehörte also auch nicht den Cultural Studies an, aber seine Analysen der Populärkultur sind Teil der selben kulturellen Erneuerung intellektuellen Denkens). Oder, wie Stuart Hall über die Aneignung von Popularkultur durch die Jugendli-chen schreibt: »They (die Jugendlichen) expend their generous emotional responses in an attachment to its commodities« wohingegen sich die Hochkultur durch ein »lack fo social relevance« auszeichnet (Hall 1959: 20).

Ihre Kritik gegenüber der Kulturindustrie behielten sie dabei durchaus bei: Populärkultur war kommerziell produzierte Gefühlsware und somit ein Medium kultureller Manipulation. Stuart Hall lieferte keine Apologie der Kulturindustrie aber er relativierte die konservative Kritik an ihr, indem er darauf hinwies, dass das ursächliche Problem nicht die Massenkultur selbst sei, sondern die aus einem schlechten Bildungssystem resultierende man-gelnde Aufgeklärtheit ihrer Konsumenten. Als Kultur für die Massen stellt sie im Gegensatz zur Hochkultur eine demokratische, das heißt für alle verfügbare Kultur, dar. Anstatt weniger Massenkultur zu fordern, forderte er mehr soziale Gerechtigkeit: »A common culture, available to all and modified by the experience of different social groups is the only guarantee we possess of a genuinely democratic society« (ebd.). Und er spitzt seine Aussage zu: »Mass culture is the culture of a mass democracy without democracy« (ebd.).

Die Analyse der Populärkultur und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nimmt Bourdieus These eines schichtspezifisch ortlosen neuen Kleinbür-gertums vorweg. Wie die Aufwertung der Populärkultur gegenüber der Hochkultur bereits nahe legt, sehen die Cultural Studies in der Entstehung einer neuen Jugend- beziehungsweise Subkultur die traditionelle bürgerli-che Schicht, die sich über die Hochkultur gesellschaftlich legitimiert, in Frage gestellt. Gleichermaßen relativieren sich auch die traditionellen Werte der Arbeiterklasse, die durch die aufkommende Populärkultur ebenso überkommen erscheint wie die bürgerliche Kultur. George Melly zufolge entstand die Populärkultur im Zuge des Zerfalls der proletarischen Kultur und des Erstarkens der Kulturindustrie, deren Produkte sich die junge, ebenfalls proletarische, Generation zu eigen machte und aus ihr eine eigene Kultur formte. Populärkultur, so schreibt Melly, interessiert sich nicht für die Vergangenheit und somit auch nicht für die soziale Herkunft.

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Sie ist im Hier und Jetzt angesiedelt: »Pop culture offers the only key to the instant golden life, the passport to the country of now, where everyone is beautiful and nobody grows old« (Melly 1970: 6). Sie bietet, wie auch Mike Brake in seiner Übersicht über Subkulturen und Subkulturtheorien schreibt, »an identity magically freed from class and occupation« (Brake 1980: 16). Melly unterscheidet zwischen Popularkultur und Popkultur (die hier Populärkultur genannt wird). Beide sind in der Arbeiterschicht ver-wurzelt, doch während die Popularkultur als traditionelle Arbeiterkultur von unten über einen langen Zeitraum gewachsen ist, speist sich die Pop(ulär)kultur aus den schnelllebigen Formen der Kulturindustrie, die reflexiv angeeignet werden. Während die Popularkultur auf die Arbeiter-schicht beschränkt bleibt, überschreitet die Populärkultur alle Schichtgren-zen: »Pop has rapidly permeated all strata of society and at the same time succeeded in blurring the boundaries between itself and traditional or high culture« (Melly 1970: 2).

Befördert wurde die Hinwendung der Jugendlichen zur Populärkultur durch einen steigenden Wohlstand, der Mittelschichts- und Arbeiterju-gendlichen gleichermaßen in die Lage versetzte, populärkulturelle Produkte in der für diesen Bereich signifikanten Verschwendungsmanier zu erwer-ben und dem schnellen Wechsel der Moden zu folgen. Ohne ein finanziel-les Vermögen zu besitzen, waren sie dennoch mit dem »in-and-out-flow of money«, der den Konsum populärkultureller Güter auszeichnet, vertraut, den Hall als großstadtspezifisch beschreibt und damit an Simmel erinnert: »They have the spending habit and the sophisticated tastes to go along with it. They are city birds. They know their way around« (Hall 1959: 23). Stuart Hall begegnet diesen Oberflächlichkeiten urbanen Lebens ideologiefrei und unaufgeregt. Seine Äußerungen unterscheiden sich von vielen zeitge-nössischen darin, dass er die »oberflächliche und genusssüchtige Genera-tion« weniger kritisiert als zu verstehen versucht. Wie die Jugendlichen selbst gibt auch Hall das Denken in starren Klassenkategorien auf und sieht in der ideologiefreien Auseinandersetzung mit der Populärkultur eine »Revolution der Haltung«, die das psychologisch gewendete Komplemen-tär zur sozialen Revolution der proletarischen Klasse darstellt und die Hall als aufgeklärten Theoretiker der Populärkultur auch selbst zu eigen ist. An die Stelle von Verantwortung als sozialem Verhaltenskodex, so Lindner, »ist Verständnis als individuelles Vermögen getreten« (Lindner 2000: 55). In dieser Unaufgeregtheit entspricht Halls reflexive Haltung exakt der »modern attitude«, die von der älteren Generation leicht als mangelndes

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Engagement und als Haltung ohne Moral missinterpretiert wird. Rolf Lindner schreibt: »To be modern« heißt 1959, »sich nichts vormachen zu lassen, und dies sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: sich nicht täuschen zu lassen, skeptisch zu sein, aber auch von nichts auszuge-hen, voraussetzungslos sein« (Lindner 2000: 54).

Diese »modern attitude«, die ideologiefrei die Populärkutlur gebraucht und dabei Schichtunterschiede transzendiert, kommt in Colinn MacInnes’ Roman »Absolute Beginners« (1959) paradigmatisch zum Ausdruck, den Stuart Hall in der New Left Review rezensierte und damit Lindner zufolge einen »blueprint« (Lindner 2000: 53) des Forschungsprogramms der Cultu-ral Studies liefert. Der jugendliche rebell without a cause verabschiedet sich darin von den proletarischen Werten seiner Stammkultur und gibt das starre Denken in Klassenideologien auf, also jene Selbstverständlichkeiten, die bis dato ein linkes gesellschaftskritisches Bewusstsein ausmachten (die traditionelle Linke stimmte mit dem konservativen Bürgertum darin über-ein, dass das Aufkommen der Populärkultur einen Kulturzerfall darstellte; die Linke sah in der Populärkultur eine kommerzielle Manipulation der Massen68). An die Stelle der sozialen Klassen tritt der individuelle Stil, durch den die Persönlichkeit zur Schau gestellt wird und ihn als Zugehöri-gen zum »country of now« markiert. Die jüngere Generation, die sich für »spitze Krokodillederschuhe«, »hellrosane Nylonsocken« und »blaue, haut-enge Cambridge-Jeans« interessiert (MacInnes 1965: 46f.), trifft in MacIn-nes’ Roman auf die ältere Generation, die noch der alten proletarischen Denkweise von »us« und »them« verhaftet ist. Während die ältere Genera-tion die Interessen der Jüngeren als oberflächlich abtut, sieht die jüngere und mit ihr die Vertreter der Cultural Studies ihre gesellschaftliche Bedeu-tung gerade darin, dass sich in ihnen das jugendliche Lebensgefühl jener Zeit eingelagert findet, in der es eben um diese konkreten alltagsweltlichen Dinge geht und nicht um Fragen des Klassenkampfes. In einer Schlüssel-szene formuliert der Held eine utopische Zukunft, in der sich kein Mensch mehr darum kümmert, »woher man kommt, welcher Rasse oder Klasse man angehört, wieviel Geld man verdient, ob man Junge oder Mädchen oder beides oder gar nichts ist – solange man die Sache kapiert, sich richtig aufführt und allen übrigen Unsinn hinter sich lässt, sobald man einen Jazz-club betritt« (MacInnes 1965: 89). Die Anwesenheit an der location, dem

—————— 68 Vgl. Würthner, Carolin: Die Zeitschrift Universities and Left Review als Archiv der frühen

Cultural Studies in Großbritannien. In: Kreativität. Eine Rückrufaktion, Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008.

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Jazzclub, wird hervorgehoben und die populärkulturelle Logik des Ortes (des Here and Now) dominiert über die Zugehörigkeit zu einer Schicht, das heißt über die soziale Ordnung.

In einem Aufsatzband von MacInnes finden sich die Aussagen von »Absolut Beginners« noch einmal thesenartig versammelt. Er betont darin abermals:

»The ›two nations‹ of our society may perhaps no longer be those of the ›rich‹ and ›poor‹ (or, to use old-fashioned terms, the ›upper‹ and ›working‹ classes), but those of the teenagers on the one hand and, on the other, those who have assumed the burdens of adult responsibility. Indeed, the great social revolution of the past fifteen years may not be the one which redevided wealth among the adults in the welfare state, but the one that’s given teenagers economic power.« (MacInnes 1961: 54)

In den Aufsätze der Autoren der Cultural Studies tritt somit ein Bild jener Zeit hervor, das die humane Seite der Populärkultur erkennen lässt und deutlich macht, wie sich die zu kommerziellen Zwecken produzierte Po-pulärkultur mit den Träumen und Wünschen der Jugendlichen verwob und eine Gefühlsqualität artikulierte, die durch die Hochkultur nicht repräsen-tiert wurde. Diese neue Kultur wirkt zunächst unmoralisch, weil sie keine Prinzipien hat und keiner »Sache« verpflichtet ist. Dennoch besaß sie, wie auch in MacInnes Roman deutlich wurde, ausgeprägt moralische Ansich-ten. Wie Rolf Lindner schreibt, waren sie dem Vergnügungsprinzip zuge-neigt und verstanden doch in bestimmten Streitfragen keinen Spaß. Mit ihrer Obsession mit den Fragen des Stils verschrieben sie sich der Ge-genwart, dem Hier und Jetzt und dem launigen Wechsel der Mode und wussten zugleich, dass eine Kultivierung des Stils allein noch keine Lösung des gesellschaftlichen Problems sozialer Ungleichheit darstellt.

Man kann also sagen, dass für die Cultural Studies wie vorher für Kra-cauer und Simmel die Populärkultur Ausdruck einer neuen Zeit war, die nur zu verstehen war, wenn man sie in ihrer Eigenwertigkeit anerkennt, auch wenn es keinen direkten Zusammenhang zwischen Kracauer bezie-hungsweise Simmel und den Cultural Studies gibt. Sie war für alle glei-chermaßen verständlich und als Ausdruck der Zeit sowohl für die proleta-rische Jugend als auch für die Mittelschichtsjugend attraktiv. »Spaß« haben zu wollen einte die junge Generation, ob sie nun als Mittelschichtsjugendli-che gegen den Protestantismus ihrer bürgerlichen Eltern aufbegehrten oder

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als proletarische Jugendliche gegen das traditionelle »Wir/Sie«-Denken.69 Sie meint eine Kultur, die die gesellschaftliche Ordnung irritiert, weil sie auf das Hier und Jetzt abzielt und nicht darauf angelegt ist, Schichtunter-schiede zu reproduzieren. Nicht zuletzt aus profanen Marktinteressen wurde dieses utopische Moment der Klassenüberschreitung voran getrie-ben: die Kulturindustrie vereinte die gesellschaftlichen Schichten zur ho-mogenen Konsumentengruppe um somit möglichst viele Abnehmer zu finden. Als »exact image of our rapidly changing society«, wie Melly schreibt, zielt sie auf Action anstatt auf Ordnung. Das neue Denken gibt dem Augenblick den Vorrang vor dauerhaften Ordnungen und ist somit auch dem Rhythmus urbanen Lebens gemäß:

»Pop culture is for the most part non-reflexive, non-didactic, dedicated only to pleasure. It changes constantly because it is sensitive to nothing else. Its principal faculty is to catch the spirit of its time and translate this spirit into objects or music or fashion or behavior. […] It draws no conclusions. It makes no comments. It proposes no solutions. It admits to neither past nor future, not even its own.« (Melly 1970: 5)

Ein modernes beziehungsweise urbanes Leben zeichnete sich somit da-durch aus, dass man, unabhängig von der sozialen Schicht, Übung und Kompetenz in der Auseinandersetzung mit der Populärkultur zeigt, dass man, um mit Simmel zu sprechen, die Schwimmbewegungen routiniert ausführen kann. Für Rolf Lindner stellen die Cultural Studies die Avant-garde der Gesellschaftstheorie dar, als sie bereits voraus sahen, dass die Populärkultur alle Bereiche der Gesellschaft infizieren würde und es bald »kaum noch einen gesellschaftlichen Bereich gibt, der nicht dem popkultu-rellen Prinzip unterworfen ist« (Lindner 2000: 66).

Diese ideologiefreie Auseinandersetzung mit der Populärkultur kulmi-niert 1979 in Dick Hebdige Standartwerk zu urbanen Subkulturen: Subcul-ture. The Meaning of Style. In diesem Werk indentifiziert Hebdige die Praxis der Stilbildung, die er als semiotische Guerillastrategie interpretiert, als genuines Merkmal von Subkulturen.

Auch Dick Hebdige betont in Bezug auf die Subkultur des Punk die ordnungszerstörende Wirkung des Stils. In seinem zum Klassiker der Cul-tural Studies avancierten Essay The Meaning of Style schreibt er, dass der

—————— 69 Vordenker war Talcott Parsons, der 1942 den Begriff der »youth culture« einführte, und

damit den der historische Wandel von der Arbeits- zur Konsumgesellschaft bezeichnete, wo der Wunsch »sich zu amüsieren« das traditionelle Arbeitsethos verdrängt (Parsons 1954).

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chaotische und schockierene Punk-Stil seine Bedeutung gerade darauf begründete, dass er sich jeglicher symbolischer Ordnung entzieht: »The key to punk style remains elusive. Instead of arriving at the point where we can begin to make sense of the style, we have reached the very place where meaning itself evaporates« (Hebdige 1998 [1979]: 117). Durch ihre Stilpro-duktion repräsentieren Punk und Subkulturen allgemein »noise (as op-posed to sound)« (ebd.: 90), wie Hebdige schreibt, sie sind »mechanism of semantic disorder: a kind of temporary blockage in the system of repre-sentation« (ebd.).

Damit bestätigt er Stuart Halls Diagnose der Populärkultur: Die Obses-sion mit Stilen, wie sie bereits MacInnes Roman »Absolute Beginners« auszeichnete, ist als eine vom traditionellen Schichtmodell sich lösende und somit urbane Praxis anzusehen. Die Individuen kleiden sich nicht mehr gemäß ihres Standes, sondern gehen statt dessen mit der Mode, deren Prinzip nicht die Ordnung, sondern der permanente Wandel ist. Durch die Herausbildung eines Stils soll eine künstliche Ordnung geschaffen werden, die dem Augenblick verpflichtet ist und die an die Stelle einer scheinbar natürlichen Ordnung, die der Dauer verpflichtet ist, gesetzt wird. Bei Mike Brake schwingt diese ursprüngliche Bedeutung noch nach, wenn er schreibt: »Indeed, style is usually a predominant defining feature of youthful subcultures. The precious gains of working life, money and lei-sure, become invested in dramaturgical statements about self-image, which attempt to define an identity outside that ascribed class, education and occupational role, particularly when the latter is of low status« (Brake 1980:16).

Es gibt jedoch jenseits der Analyse der Populärkultur als schichtüber-greifende Kultur der Moderne eine zweite Strömung innerhalb der Cultural Studies, die die Schichtspezifik kultureller Ausdrucksformen in der post-modernen Wohlstandsgesellschaft beschreibt. Während das Konzept der Subkultur im Sinne von Stilbildung auf die schichtübergreifenden Uni-versalität einer sich neu ausbildenden »popular culture« verweist, verweist das Konzept der Subkultur im Sinne von Klassenkultur auf die auch in der Postmoderne fortwirkende soziale Differenzierung spezifischer Stile und Geschmackspräferenzen. Auf diese soll im Folgenden eingegangen werden, da die Signifikanz der Populärkultur als universale Kultur der Moderne nur vor dem Hintergrund der nach wie vor bestehenden Schichtunterschiede hervor treten kann.

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Subkultur als klassenspezifische Kultur

Die ideologiefreie Analyse der Populärkultur als universale Kultur der Moderne und der Stadt läuft Gefahr, nach wie vor bestehende Klassenge-gensätze zu verschleiern. Die Verkomplizierung der Welt, die Auflösung traditioneller Zusammenhänge, die Konfusion von oben und unten durch die Populärkultur war nur bis zu einem gewissen Grad eine gesellschaftliche Tatsache. In hochgradig ambivalenter Weise war die Rede von der Auflösung der Schichten auch ein Mythos, der nicht nur von der kulturel-len Avantgarde, sondern auch, jedoch mit anderen Zielen, von der nach wie vor herrschenden bürgerlichen Klasse, insbesondere auch von Politi-kern, in der auf sozialen Wandel fokussierten Nachkriegszeit gepflegt wurde. Sie konnten mit diesem Mythos die de facto nach wie vor beste-hende soziale Ungleichheit verschleiern. Die Cultural Studies schrieben trotz oder gerade wegen ihrer Sensibilität gegenüber der Populärkultur gegen diesen Mythos an. In der theoretischen Einleitung des zum Klassiker avancierten Sammelbandes Resistance Throuth Ritual (Hall/Jefferson 1998 [1975]) schrieben die Autoren John Clarke, Stuart Hall, Tony Jefferson und Brian Roberts gegen den Mythos der klassenlosen Wohlstandsgesellschaft und sozialer Mobilität an und konstatierten, »that the relative position of the classes had remained virtually unchanged« (ebd.: 22). Sie verwiesen auf die nach wie vor bestehende gesellschaftliche Dominanz der bürgerlichen Kultur und zeigten auf, wie sich die sozialen Unterschiede auch durch die Nutzung der Populärkultur hindurch offenbarten.

Sein kulturtheoretisches Fundament findet der Gegensatz zwischen universaler Populärkultur und schichtspezifischer Alltagskultur in der Be-tonung auf den schichtspezifischen Gebrauch der jeweiligen kulturellen Güter. Die Produkte der Kulturindustrie mögen sich tatsächlich an alle gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen wenden. In der Art und Weise jedoch, wie sie gebraucht und zu einem kohärenten Stil zusammen gefügt werden, tritt die soziale Verortung wieder deutlich hervor. Dort, wo die Vertreter der Cultural Studies nicht nur Filme und Musik rezensieren, sondern wo konkrete Lebenswelten beschrieben werden, die die Aneig-nung kultureller Produkte in einen breiteren kulturellen Kontext stellen, dort sind die untersuchten Akteure an ihre soziale Position gebunden, die entweder im Oben, in der Mittelschicht, oder im unten, in der Arbeiter-schicht, lokalisiert ist. Rolf Lindner schreibt in diesem Sinne über die Per-spektive der Cultural Studies: »In der kulturellen Verarbeitung der sozialen

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Lage scheint immer noch die soziale Lage als kulturell verarbeitete durch« (Lindner 1981: 187).

Subkultur in diesem schichtspezifischen Sinn war geprägt von der je-weiligen Stammkultur (im Englischen: »parent culture«, Hall/Jefferson 1998 [1975]: 13), der sie entstammten und waren somit als gesellschaftliche Untereinheit entweder innerhalb der Mittelschicht oder innerhalb der pro-letarischen Kultur verortet. Das Konzept der Stammkultur erlaubt es, die Aneignung der massenkulturell produzierten Güter als kollektive Strategie einer bestimmten sozialen Gruppe zu interpretieren. In dieser kulturellen Kontextualisierung des Konsums tritt wieder die soziale Ordnung und die soziale Ungleichheit in den Vordergrund, also genau jene Thematik, die mit dem Aufkommen der Populärkultur, der Irritation von hoher und niederer Kultur, relativiert werden sollte. So ist es kein Zufall, dass das Theoriemo-dell der Stammkultur das am breitesten rezipierte ist (auch und gerade weil die jüngere Cultural-Studies-Generation sich heute wieder davon distan-ziert). Mit diesem Modell relativierten sie – zu Recht – den Mythos der universalen Jugendkultur und machten deutlich, dass die hedonistische Jugend keineswegs zu einer homogenen Konsumentengruppe zu vereinen ist, sondern in ihrem Umgang mit der Populärkultur und dem, was sie durch deren Aneignung zum Ausdruck bringen, schichtspezifisch unter-schiedlich ist. Als »most fundamental groups« stellten die Klassenkulturen für die Cultural Studies nach wie vor »the major cultural configurations« (Hall/Jefferson 1998 [1975]: 13) moderner Gesellschaften dar. Subkulturen waren innerhalb ihrer jeweiligen »parent culture« beziehungsweise Stamm-kultur zu verorten, von der sie sich zwar abgrenzten, deren Züge sie aber dennoch trugen: »Relative to these cultural-class configurations, sub-cultu-res are sub-sets – smaller, more localised and differentiated structures, within one or other of the larger cultural networks« (ebd.).

Für Mike Brake lassen sich diese Unterschiede in den Subkulturen ide-altypisch zusammenfassen als die Gruppengemeinschaftstradition (»street-wise«) der Arbeiterjugendlichen und die Bohème-Tradition (»trippers and trashers«) der Mittelschichtsjugendlichen. Diese Unterscheidung treffen auch Hall u.a. in ihrer Einleitung zu Resistance through Ritual: die »focal concerns« der Bohèmekultur stehen trotz aller Differenz in Bezug zu ihrer Mittelschichtsherkunft, die der Straßengangs zu ihrer proletarischen Her-kunft. Für die Bohème-Kultur gilt einerseits:

»The bohemian sub-culture of the avant-garde which has arisen from time to time in the modern city, is both distinct from its ›parent‹ culture (the urban culture of the

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middle class intelligentsia) and yet also a part of it (sharing wiht it a modernising outlook, standards of education, a privileged position vis-a-vis productive labour, and so on).« (Hall/Jefferson 1998 [1975]: 13)

Für die Arbeitersubkultur gilt andererseits:

»We might think here of the recurrent organisation around collective activities (›group mindedness‹); or the stress on ›territoriality‹; or the particular conceptions of masculinity and of male dominance. The ›parent‹ culture helps to define these broad, historically located ›focal concerns‹.« (ebd.: 53)

Die Arbeitersubkulturen waren zudem »doppelt artikuliert«, denn sie hat-ten sich nicht nur von ihrer proletarischen parent culture, sondern auch von der dominanten bürgerlichen Kultur abzugrenzen. Sie bildeten somit eine Subkultur, die sich sowohl in ein Verhältnis zur proletarischen Kultur als auch zur bürgerlichen Kultur setzte und abgrenzte.

Mit dem Modell der Stammkultur wurde somit die de facto bestehende soziale Ungleichheit wieder hervor gehoben und als priviligiertes Moment der Sinnstiftung verstanden. Brake schreibt:

»An individual is born into a class location, involving him or her in a set of institu-tions and social relations, and also a configuration of meanings within that culture. Social groups develop distinct patterns of life, which involve giving expressive form th their social and material life. A social group then develops a particular way of life – meaning, values, life-style, and how it expresses relations both in material production and in leisure.«70

Diese soziale Verortung kultureller Praxis führte zwangsläufig weg von der Idee der Populärkultur als universale urbane Kultur (Subkultur im Sinne von Sil) und hin zu einem Modell vielfältiger, sozial unterschiedener Sub-kulturen (Arbeiter- und Mittelschichts-Subkulturen). Die subkulturelle Vielfalt entsteht dabei durch je unterschiedliche kulturelle Strategien, mit der Abweichung von der bürgerlichen Norm umzugehen. Die Heraus-

—————— 70 Brake 1980: 67. Mit diesem Befund werden die Cultural Studies auch den Resultaten der

historischen Jugendforschung gerecht. John R. Gillis schreibt am Ende seiner »Ge-schichte der Jugend«: »Mann kann wohl mit Sicherheit vorhersagen, dass solange es so-ziale und ökonomische Unterschiede geben wird, auch die ausgesprochenen Unter-schiede in den Jugendkulturen verschiedener sozialer Schichten fortbestehen werden wie bisher. Die Jugend der Mittelschicht und die Jugend der Arbeiterklasse werden ihre Ge-schichte weiterhin auf verschiedenen Wegen fortsetzen, die von den schreienden Unter-schieden im Status, in der Kultur und in ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten, die alle westlichen Kulturen charakterisieren, stark beeinflusst sein wird« (Gillis 1980: 210).

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bildung von Subkulturen wird als eine von Anpassungsschwierigkeiten an die gesellschaftliche Norm motivierte Kultur verstanden. Subkulturen entstehen dort, so schreibt Ulf Hannerz, »where a number of individuals with similar problems of adjustment are in effective interaction with one another« (Hannerz 1992: 70). Der wissenschaftliche Auftrag bestand hier vor allem darin, die Eigenlogik dieser sozialen Welten zu beschreiben und aus der Perspektive ihrer Akteure verstehbar zu machen. Insbesondere delinquente Jugendliche wurden durch diese Verstehensperspektive ent-kriminalisiert, es wurde gezeigt, dass ihr Handeln nicht auf ihrem kriminel-len Charakter basiert, sondern auf ihre gesellschaftliche Marginalisierung zurück zu führen ist, das heißt sozial bedingt ist. Die Herausbildung von Jugendbanden, etc. war eine kulturelle Strategie, eine eigene sinnhafte Symbolwelt in Abgrenzung zur bürgerlichen Norm zu schaffen, die ihnen der bürgerliche Mainstream nicht gewährte. Damit wurde nicht zuletzt gezeigt, dass die scheinbar chaotischen Jugendbanden eine eigene Struktur und Ordnung aufweisen.

Die bahnbrechende Neuerung des Konzepts der subkulturellen Stammkultur war somit, dass den von den Regeln und Normen der Gesell-schaft abweichenden Gruppierungen eigene Regel- und Normhaftigkeit zugebilligt werden. Somit wurde der »Mythos der gesellschaftlichen Ein-heitlichkeit destruiert« (Lindner 1981: 184), der auch ein Mythos der sozia-len Gleichheit ist.

Ihr wissenschaftlicher Auftrag war dabei auch von der Cultural Anthropology inspiriert, die ein weiteres Argument dafür lieferte, eher die kulturelle Vielfalt und die Unterschiedlichkeit verschiedener Kulturen zu betonen anstatt das Modell einer universalen Kultur des Urbanen bezie-hungsweise der Moderne zu propagieren. Die Auseinandersetzung mit ur-banen Subkulturen diente dazu, die universale Gültigkeit der herrschenden Normen und Werte (die Hegemonie der Hochkultur) in Frage zu stellen und alternative Lebensentwürfe aufzuzeigen. In diesem Sinne wurde der Begriff der Subkultur, den der Anthropologe Milton M. Gordon erstmalig einführte, auch gebraucht (Gordon 1947). Er bezog sich ursprünglich auf die Analyse ethnischer Einwanderergruppen in den USA als Untergruppen der Nationalkultur. Für Gordon diente er dazu, die Vorstellung einer ein-heitlichen weißen, angelsächsischen protestantischen Mittelschichtskultur (den sogenannten WASPS) durch das Konzept der Vielfalt unterschiedli-cher Subkulturen und somit der kulturellen Pluralität zu ersetzen. In Gor-dons Kulturbegriff fließt die Kolonialismus-Erfahrung ein: Die Kolonisa-

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toren hatten sich mit der Widerborstigkeit der lokalen Dorfbewohner aus-einander zu setzen, die mit einer eigenen und mit der eingeführten westli-chen Kultur nicht immer zu vereinbarenden Kultur konfrontiert waren. Fritz Sack wies auf diese Homologie zwischen dem intergesellschaftlichen Begriff der Kultur und dem intragesellschaftlichen Begriff der Subkultur hin: »Die Idee der Subkultur hat […] die gleichen erkenntnismäßigen Funktionen für die Analyse und Erklärung menschlichen Verhaltens inner-halb ein und derselben Gesellschaft wie die Idee der Kultur für das Ver-halten der Menschen in verschiedenen Gesellschaften mit unterschied-licher Kultur« (Sack 1971: 269). Wie der anthropologische Begriff der Kultur eine Relativität zwischen den einzelnen Gesellschaften impliziert – hier die westliche, dort die nicht-westliche Kultur – so zielte auch der Be-griff der Subkultur auf kulturelle Besonderheiten und Abweichungen in-nerhalb ein und der selben nationalen Kultur. Was bei genuinen Kulturen die ethnische Differenz zur westlichen Kultur ist, ist beim Konzept der Subkultur die kulturell unterschiedlich verarbeitete soziale Position. Kultur erscheint als gelebte soziale Praxis, als »struktur in praxi« (Lindner 1981: 186), wie Lindner schreibt, wobei das Kulturelle als das gelebte Soziale begriffen wird.

Das Konzept der Subkultur im Sinne von Klassenkulturen neigt jedoch dazu, geschlossene, in sich homogene Einheiten zu konstruieren, die sich gegen ein fremdes, anonymes und chaotisches Außen abgrenzt und die kapitalistischen Mächte, zu denen auch die Kulturindustrie zählt, als ein der Subkultur äußerliches betrachtet und nicht als ein von ihr durchdrungenes. Die Besonderheit der Stadt als einem dynamischen und chaotischen, im-mer im Wandel begriffenen Organismus bleibt somit ein der Subkultur äußerliches Phänomen. Subkulturen erscheinen als Dorf-ähnliche, symbo-lisch geordnete Einheiten innerhalb der chaotischen Stadt. Unterstrichen wurde dies auch durch die Auseinandersetzung mit Territorialstrategien seitens der Arbeitersubkulturen (John Clarke zeigt anhand der Skinhead Kultur, dass »this sub-culture focuses around the notions of community and territory«, Clarke 1998: 99). Die soziale Distanz, der »social void«, zwi-schen den Individuen ist zwar innerhalb der Subkultur aufgehoben – Sub-kultur wurde auch als Gegenstrategie zur kalten, anonymen Gesellschaft gesehen (Brake 1980: 10), aber neue kulturelle und schichtspezifische Grä-ben tun sich auf zwischen den einzelnen urbanen Subkulturen, die die Fluidität der Stadt erstarren lassen. Das utopische Moment, das der Stadt inne wohnt, die Auflösung aller Schichten und traditionellen Bindungen

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und das Zusammenkommen an der location (die der Held von MacInnes als Jazzclub identifizierte), zu dem die mit der Stadt entstehende Populärkultur maßgeblich beitrug, wird somit durch die Herausbildung neuer, ebenso voneinander abgegrenzter kultureller Einheiten wieder rückgängig gemacht.

Die vormals schichtübergreifenden gesellschaftlichen Effekte der Po-pulärkultur drehen sich somit um. Indem die Cultural Studies eine zuneh-mende und gesamtgesellschaftlich relevante »Infizierung« der Gesellschaft mit der Populärkultur identifizieren, wird durch die Betonung des schicht-spezifischen Gebrauchs der Populärkultur dieser Befund wieder rückgängig gemacht. Ist einerseits die Populärkultur für die Cultural Studies jene Kul-tur, die zunehmend das Alltagsleben aller gesellschaftlichen Gruppen durchdringt (und hierin traditionelle kulturelle Unterschiede der einzelnen Schichten in Frage stellt), so ist andererseits die Tradierung der sozialen Ungleichheit und ihre je unterschiedlichen Kulturen auch in der postmo-dernen Wohlstandsgesellschaft. Obwohl die Cultural Studies also durch die Auseinandersetzung mit der Populärkultur die Modernisierung und Ver-jüngung der Gesellschaft insgesamt erkannten und eine dem urbanen Le-ben adäquate Existenzweise beschrieben, so hielten sie dennoch am Modell der gesellschaftlichen Ordnung als Ordnung der Klassen fest und sahen in der Analyse der auch in der modernisierten Gesellschaft bestehenden sozi-alen Ungleichheit und den aus ihr erwachsenden vielfältigen kulturellen Ausdrucksformen ihren Auftrag.

Das Konzept der Subkultur bleibt somit widersprüchlich: Subkultur im Sinne von Stilbildung verweist auf eine neue, Schichtunterschiede trans-zendierende soziale Klasse (die Bourdieu später als »neues Kleinbürger-tum« bezeichnet), Subkultur im Sinne von klassenspezifischen kulturellen Untereinheiten verweist auf die auch in der Jugendkultur gegebene Repro-duktion sozialer Gegensätze.

Heutzutage wird innerhalb der Cultural Studies nur noch der Begriff der Subkultur im Sinne von Stilbildung benutzt und auch in dieser Arbeit wird der untersuchte Techno-Underground aus der Perspektive des sich-sozial-nicht-verorten-lassen-wollens analyisert. Dennoch hat sich gezeigt, dass die fluide Praxis der (sozialen) Grenzüberschreitung nur zu verstehen ist, wenn zugleich die subkulturelle Orientierung berücksichtigt wird, die Herausbildung einer anderen Kultur, die zwischen wir und die anderen unterscheidet und gerade dadurch neue Räume (im wörtlichen wie übertra-genen Sinne) erschließt und Momente ermöglicht.

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Bevor in den nächsten beiden Unterkapiteln auf das neue Kleinbür-gertum und urbane Szenen einzugehen ist, muss jedoch auf eine Entwick-lung hingeweisen werden, die bereits die Cultural Studies erkannten und die zu Bourdieu hinführen. Schon in der klassischen Phase der Cultural Studies wurde nämlich erkannt, dass sich das Feld der Subkultur mit dem Feld der Kulturindustrie verwebt, auch wenn die Cultural Studies hieraus keine gesellschaftstheoretischen Konsequenzen zogen und es verpassten zu zeigen, was diese Entwicklung für die Ordnung des Gesellschaftsraums bedeutet.

In seiner Stiltheorie bezog John Clarke (1998) die Verwischung der Grenze von Subkultur im Sinne von Stilbildung und Kulturindustrie als Produzent populärkultureller Güter ein: Der subkulturelle Stil wurde durch die auf Neuerung angewiesene Kulturindustrie zu einer für breitere Konsumen-tenschichten allgemein zugänglichen Ware. Als Modevariante endete der subkulturelle Stil, ein wenig geglättet, in den Regalen der Warenhäuser (Clarke 1998; Hebdige 1998 [1979]; Lindner 1986). Einerseits war dies eine Form, vormals deviante Ausdrucksformen durch ihre Transformation in eine Ware gesellschaftlich einzugliedern und ihr somit die Spitze zu bre-chen, andererseits zeigt er die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit von Sub-kulturen: Was sich vormals durch die Subkultur nur lokal artikulierte, wird durch die Kulturindustrie zu einem national und international verbreiteten Lebensstil. Durch diese massenkulturelle Verbreitung löst sich zwar der Stil von seinem ursprünglichem lebensweltlichen Kontext, doch erlischt der Keim der Rebellion nie gänzlich und findet so zu einer allgemeneinen gesellschaftlichen Verbreitung, die dazu führt, dass vormals subkulturelle Werte wie Abenteuer, Subversion und Rebellion zu allgemein anerkannten Idealen werden. Was einerseits eine Inkorporierung der Subkultur durch die Kulturindustrie ist, ist zugleich (freilich in weit schwächerer Form) eine Inkorporierung der Kulturindustrie durch die Subkultur. John Clarke geht sogar noch weiter und beschreibt ein unmittelbares Einwirken der subkul-turellen Akteure auf die Kulturindustrie. Schon damals wurde deutlich, dass die Kulturindustrie auf kleine, lokal verwurzelte »grass-root-Unter-nehmen« (Clarke 1998 [1975]: 187) angewiesen ist, die in Kontakt mit der lokalen Subkultur stehen, ja ihr selbst angehören, die ein Gespür für neue Trends haben, ja diese selber mitgestalten und auf diese Weise eine uner-setzliche Ressource für die Kreativproduktion der Kulturindustrie darstellt. »Young entrepreneurs, in touch with their markets, have played a key role.

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Such fashion enterprises, and developments such as minor record labels, have anticipated trends and explored markets, often on a small scale and on the basis of relatively low investment, before the mass-production companies moved in« (ebd.). Schon damals wurde deutlich, dass Subkultur und Kulturindustrie sich nicht als monolithische Blöcke gegenüber stehen, sondern dass es zwischen beiden ein »network or infrastructre of new kinds of commercial and economic institutions« gibt, bei denen »the small-scale record shops, recording companies, the boutiques and one or two-woman manufacturing companies« mit der Kulturindustrie in Verbindung stehen – Clarke nennt es »artisan capitalism« (ebd.). Heutzutage redet man von »Majors« und »Minors«, die die Differenz zwischen beiden hervorhe-ben und dennoch deutlich machen, dass zwischen »Groß« und »Klein« eine untrennbare Beziehung besteht. Inzwischen gehört es zum Allgemeinwis-sen jedes populärkulturell Aufgeklärten, dass die Kulturindustrie heutzu-tage nur noch dadurch funktioniert (und nur noch dadurch funktionieren kann), dass sie sich auf lokale Subkulturen einlässt und mit »Minors« ko-operiert, wobei dies für die »Minors« nicht nur eine Form der Kontrolle, sondern auch der Existenzsicherung darstellt (Bader/Scharenberg 2005). Mit Richard Floridas The Rise of the Creative Class (2002) wurde dabei die Subkultur beziehungsweise das neue Kleinbürgertum endgültig kapitalis-tisch eingemeindet und zu einem priviligierten Standortfaktor von Städten in der postmodernen, globalisierten Welt erklärt. Clarke hat die Theorie der »Creative Class« bereits in nuce vorweg genommen.

Das heute gängige Modell der »Creative Class« (Florida 2002), wie es der Wirtschaftswissenschaftler Richard Florida entwarf, verkennt, dass Subkulturen nach wie vor eine kulturelle Eigenlogik besitzen, die sich ge-genüber der kapitalistischen Logik der Kulturindustrie als widerborstig zeigt und sich nicht zum Standortfaktor instrumentalisieren lässt – hierin erweist sich das Modell der »Creative Class« als kulturwissenschaftlich uninformiert: Es entwickelt seine Argumentationslogik aus der Perspektive der Ökonomie und nicht der Kultur und suggeriert dadurch ein harmoni-sches Ineinandergreifen von den (als ökonomischen Einheiten verstande-nen und also kontrollierbaren) Subkulturen und der Kulturindustrie, die de facto so nicht existiert. Das Moment existiert nicht bei Florida. Bei aller Kritik ist jedoch die Konjunktur des »Creative Class«-Modells auch Indi-kator dafür, wie sehr Subkulturen heutzutage in ihrem Lebensstil auf die Gesellschaft insgesamt einwirken und diese – nach einer (sub-)kulturellen und nicht einer kapitalistischen Logik – transformieren.

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Pflicht zum Genuss: Das neue Kleinbürgertum als ortlose Klasse

Die von Siegfried Kracauer und später von den Cultural Studies beschrie-bene neue Schicht, die auf dem Prinzip der Populärkultur, also des perma-nenten Wandels, basiert und die jenseits der traditionellen Schichtunter-schiede von proletarischer Kultur und bürgerlicher Mittelschichtkultur lo-kalisiert ist, hat Bourdieu in seiner materialreichen, inzwischen zu den soziologischen Klassikern zählenden Studie »Die feinen Unterschiede« als »neues Kleinbürgertum« (Bourdieu 1997: 561ff.) beschrieben. In der Studie zeigt er, wie die angeblich statischen gesellschaftlichen Klassen in und durch das Alltagsleben und den Habitus seiner Akteure kulturell hergestellt werden. Seine Leistung ist nicht die Entdeckung der gesellschaftlichen Relevanz der Populärkultur – das haben Kracauer und die Cultural Studies vor ihm getan – sondern, dass die Aneignung der Populärkultur und die Herausbildung eines der sozialen Position gemäßen Stils für ihn nicht im Bereich des Symbolischen verbleibt. Bourdieu definiert mit dem neuen Kleinbürgertum eine neue soziale Schicht, die in und durch ihre kulturelle Praxis gerade darauf abzielt, eine Kultur jenseits von Schichtunterschieden zu etablieren. Sie macht sich in ihrer gesamten Lebensweise das populär-kulturelle Prinzip des permanenten Wandels (der urbanen »Schwimmbe-wegungen«) zu eigen und versucht sich damit sowohl einer sozialen Zu-ordnung im gesellschaftlichen unten als auch im gesellschaftlichen Oben zu entziehen. Während das Modell der subkulturellen Stammkultur davon ausgeht, dass auch die Subkultur die Ordnung ihrer Stammkultur reprodu-ziert und ihr verhaftet bleibt, stellt das neue Kleinbürgertum gerade das Modell einer angestammten Kultur in Frage. Für sie gibt es keine soziale Zugehörigkeit, sondern nur die permanente Relativierung von oben und unten durch die Populärkultur, die die Leitkultur dieser sozialen Gruppe darstellt.

Bourdieu zufolge sind dies diejenigen gesellschaftlichen Akteure, die aus der traditionellen bürgerlichen Gesellschaftslogik ausgemustert wurden, weil ihnen kein stabiler Platz mehr im sozialen Raum der Gesellschaft angeboten werden kann und/oder weil sie durch den Hedonismus der Populärkultur infiziert sind und diesen stabilen Platz von vornherein gar nicht mehr anstreben. Dieser neue Lebensstil wird…

»…mit Vorliebe von all denen ergriffen, die vom Ausbildungssystem nicht die Titel erhalten haben, die es ihnen erlaubt hätten, mit Erfolg die von ihrer sozialen Her-

300 K O S M O N A U T E N D E S U N D E R G R O U N D

kunft ihnen angewiesenen herkömmlichen Positionen zu beanspruchen, und ebenso denen, denen ihr Titel nicht das eingetragen hat, was sie sich angesichts einer früheren Relation zwischen Titeln und Posten davon versprechen zu dürfen glaubten.« (56171)

Es sind einerseits Abkömmlinge des Bürgertums, die über ein »hohes kul-turelles Kapital« (561) verfügen aber daraus keinen Nutzen für ihre soziale Position ziehen konnten (das heißt, dass sie ihr kulturelles Kapital »unzu-reichend in Bildungskapital konvertiert haben« (562)), andererseits sind es Aufsteiger aus den unteren Schichten, die, um aufzusteigen, nicht den klassischen bürgerlichen Mustern folgen (Bilde Dich und Spare, vgl. S. 528), sondern die auf schnellerem und einfacherem Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung gelangen wollen. Insgesamt zeigt sich das neue Klein-bürgertum als Alternative zum traditionellen Kleinbürgertum, das mit letzterem den Mangel an ökonomischem und kulturell beglaubigtem Ka-pital teilt, diesen Mangel jedoch mit Hilfe der Populärkultur umdeutet und in eine Attitüde der Freiheit, des Abenteuers und der Ungebundenheit transformiert.

Die Populärkultur ist ihre neue Leitkultur, die nicht, wie die klassische bürgerliche Kultur, durch langjährige schulische und außerschulische Bil-dung (durch das Elternhaus) mühsam angeeignet werden muss, sondern die sofortigen Erfolg, Anerkennung durch Gleichgesinnte und Glücks-erfüllung verspricht. Anders als das hochkulturell gebildete Bürgertum liefert die Populärkultur zwar keine Garantie auf einen gesellschaftlichen Status, aber, und darin sind sie für das neue Kleinbürgertum attraktiv, sie »verlangt (auch) keine Eintrittsgebühr (vor allem nicht im Sinn einer be-stimmten Ausbildung)« (561) – Populärkultur ist (im Gegensatz zur Hoch-kultur) für jeden verständlich und für jeden unmittelbar zugänglich. Sie gewährleistet keine »sichere Zukunft«, aber sie schließt auch keine »Hoff-nung auf berufliche Zukunft aus […] und sei’s die ambitionierteste« (ebd.). Zukunft, das ist für diese neue Schicht zentral, ist keine von kulturellen Normen diktierte Zukunft, sondern eine, die »selbst gemacht« (562) und nach individuellen Vorstellungen gestaltet werden kann.

Der tatsächliche gesellschaftliche Wandel, der durch diese neue Kultur herbeigeführt wird (und deren Ausdruck sie ist), wird besonders durch den Wandel der Berufsfelder deutlich. Neue, vorher gesellschaftlich nicht exis-

—————— 71 Bourdieu 1997: 561. In diesem Kapitel über Bourdieu und das »neue Kleinbürgertum«

wird ausschließlich aus Bourdieus Werk Die feinen Unterschiede zitiert, weshalb hier und im folgenden der Zitatnachweis auf die Angabe der Seitenzahl reduiert ist.

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tente Berufsformen stellen ein »achtbares Refugium« für diejenigen dar, die ansonsten keinen oder nur einen Beruf mit niederem Status errungen hät-ten: »Man denke nur an die Gegensätze zwischen Animateur und Grund-schullehrer, zwischen Zeitungs- und Fernsehjournalist und Sekundarstu-fenlehrer, zwischen Meinungs- und Marktforscher und Bank- oder Postan-gestellter« (562). Für die 1990er Jahre lassen sich die mit dem Dotcom-Boom entstandenen zahlreichen Medienberufe ergänzen, deren Vertreter im Bereich des Grafik- und Webdesigns, der Animation, der Programmie-rung, des Projektmanagements aus dem klassischen bürgerlichen Berufs-profil ausscheren und trotzdem hohes symbolisches Kapital besitzen. Diese neuen Berufe lassen sich in ihrem gesellschaftlichen Status nicht mehr verorten (was damit korreliert, dass Außenstehenden oft nicht mehr ersichtlich ist, worin der Inhalt ihrer Arbeit besteht), sie bilden ein neues Gesellschaftsfeld aus, in dem sozialer Auf- und Abstieg, die Existenz im oben und unten, Erfolg und Misserfolg, nahe beieinander liegen.

Die Berufswahl fügt sich in den gesamten Lebensstil, der »improvisierte Mahlzeiten mit der Vorliebe für originelle und exotische Gerichte« (568) verbindet, wo auf »fantasiereiche und kunstvoll gestaltete Einrichtung und schicke Kleidung« (572) Wert gelegt wird und wo man eine »ausdrückliche Vorliebe« (ebd.) für »weniger bekannte musikalische Werke« (ebd.) legt, sowohl im Bereich der Popmusik als auch in der klassischen Musik, der man sich konsequenterweise ebenfalls nicht versperrt. Sie bilden »die Avantgarderolle in den Auseinandersetzungen, bei denen es um Fragen des Lebensstils geht, genauer: um den häuslichen Bereich und um Konsum, um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Generationen und um die Reproduktion der Familie und ihrer Werte« (575).

Die Kulturindustrie erachtet Bourdieu als Agenten und Verbündeten jener neuen, ortlosen und hedonistischen Schicht. Er nennt sie »Talmi-Industrie« (573), zielt damit auf ihren unbeständigen Wert ab und erkennt in dieser Flüchtigkeit eine Homologie zu den gleichermaßen vergänglichen, für den schnellen »Kick« produzierten Gütern der Kulturindustrie. Ge-nauso, wie die Kulturindustrie keine Werte von echter Dauer produziert und das Prinzip der Mode, des schnellen Wechsels an ihre Stelle setzt, ist auch das neue Kleinbürgertum eine nervöse und immer auf der Jagd nach neuen Stimulationen begriffene Schicht, die zu Gunsten immer neuen Anregungen ihre soziale Unsicherheit in Kauf nimmt. An die Stelle von solider Arbeit und Bildung tritt der Genuss, der auch zu einer Verpflich-tung werden kann. Jede Unfähigkeit sich zu amüsieren, »to have fun« (ebd.:

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576), wird »als Misserfolg empfunden, der das Selbstwertgefühl bedroht, so dass […] Genuss nicht nur erlaubt, sondern geradezu vorgeschrieben ist« (ebd.).

Dass dieses Genießen ein soziales Risiko darstellt wird deutlich, wenn man es den Normen und Werten des klassischen Kleinbürgertums (die zu einem Großteil die Eltern des neuen Kleinbürgertums darstellen) gegen-über stellt. Hier war Genießen gerade das größte Tabu, denn man musste sich in Disziplin üben, wollte man es zu etwas bringen. Die Illusion, ir-gendwann im gesellschaftlichen Oben anzukommen, führte zu einem per-manenten Aufschub der Glückserfüllung und rechtfertigte die Entbehrun-gen des Hier und Jetzt. Das klassische Kleinbürgertum entwickelte eine »Tugend« des Sparens, des »Opfers, Verzichts, Entsagung, Eifer« (528) durch das sie die fehlenden Privilegien der Mittelschicht, »Geld, Bildung oder Beziehungen« (ebd.) auszugleichen versuchten. Sie wachten eifer-süchtig über den mühsam erarbeiteten Besitz, was zu »Akkumulation, Schatzbildung, kurz, einem Besitzhunger (führte), der ständig mit ängstli-cher Sorge um den Besitz verbunden ist« (517). Die klassischen Kleinbür-ger werden darin zum Einzelkämpfer (»selbst ist der Mann«; 528) und isolieren sich von ihrem sozialen Umfeld, das ihnen bei dem Ziel, etwas zu erreichen, nur zeitraubend im Wege steht. Genau gegen diese zwingende Aufstiegslogik des klassischen Kleinbürgertums wehrt sich das neue Klein-bürgertum. Die Ideale, denen das neue Kleinbürgertum folgt, sind genau jene, dem das klassische Kleinbürgertum entsagen musste: Glückserfüllung im Hier und Jetzt ohne Aufschub auf eine bessere Zukunft, Gemein-schaftlichkeit, die das gesellschaftliche Miteinander nicht als Last und Zeit-verschwendung empfindet und Freiräume – nicht nur im ideellen, sondern auch im konkreten räumlichen Sinne – die es erübrigen, für die eigenen vier Wände ein Leben lang sparen zu müssen.

In dieser Umkehrung der Wertigkeiten – an die Stelle der kleinbürgerli-chen »Pflicht« tritt die neukleinbürgerliche »Pflicht zum Genuss« – nehmen die Akteure des neuen Kleinbürgertums den permanent drohenden sozia-len Abstieg in Kauf.72 Um die bereits zitierte Aussage Bourdieus noch

—————— 72 Noch präziser müsste man Bourdiues Formel »von der Pflicht zur Pflicht zum Genuss«

als »von der Pflicht als Genuss zur Pflicht zum Genuss« formulieren: Das Befolgen der gesellschaftlich vorgegebenen Pflichten stellte für das klassische Kleinbürgertum ja auch eine Form des Genusses dar: es befriedigte sein Genussbedürfnis durch das Befolgen ei-ner gesellschaftlichen Norm, die eben vorschreibt, dass der Pflicht fröhlich und beja-hend begegnet werden sollte.

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einmal ins Gedächtnis zu rufen: »Lieber wollen sie als ›drop-outs‹ und Randgruppe leben, als klassifiziert, einer Klasse, einem bestimmten Platz in der Gesellschaft zugeordnet zu sein« (581). Auf diese Weise rücken sie in die Nähe traditioneller subkultureller Werte, denen man sich freilich ebenso wenig ganz verschreiben möchte, die aber ein hohes Sinnstiftungs-potenzial haben, da durch sie die eigene prekäre Lage plausibilisiert und heroisiert werden kann. Der Habitus, den Bourdieu dem neuen Kleinbür-gertum zuschreibt, ist teilweise nicht mehr von dem einer traditionellen Subkultur zu unterscheiden. Die 68er Kultur (574) und der »Underground« (566), die Bourdieu zufolge die Herausbildung des neuen Kleinbürgertums voran getrieben hat, scheint unverkennbar durch den Habitus hindurch:

»Geleitet von ihrer anti-institutionellen Stimmung und von dem Bemühen, allem zu entkommen, was an Konkurrenz, Hierarchien und Klassifizierungen erinnert, und vor allem an schulische Klassifizierungen, an hierarchisiertes und hierarchisie-rendes Wissen, an theoretische Abstraktionen oder technische Kompetenz, erfin-den diese neuen Intellektuellen einen Lebensstil, der ihnen Vergütungen und Pres-tige einer Intellektuellenexistenz zum geringsten Preis sichert, indem sie im Namen des Kampfes gegen ›Tabus‹ und für die Liquidierung von ›Komplexen‹ die äußer-lichsten, also am leichtesten kopierbaren Züge des intellektuellen Stils, freies oder ›emanzipiertes‹ Verhalten, kühne Kosmetik und Kleidung, laxe Haltungen und Posen pflegen und mit ihrer kultivierten Disposition an alles herangehen, was mit Kultur auf dem Wege zur Legitimation (Film, Comic, Underground usw.), mit dem Alltag (›die Kunst auf die Straße‹), mit dem privaten (Sexualität, Kosmetik, Erzie-hung, Freizeit usw.) und existentiellen Bereich (Verhältnis zur Natur, zur Liebe, zum Tod, usw.) zu tun hat.« (582)

All dies sind »kaum verhüllte Ausdrucksformen eines Traums, der Gesellschaft zu entfliehen (kursiv im Original), eines verzweifelten Versuchs, sich der Anziehungskraft des gesellschaftlichen Gravitationsfeldes zu entziehen« (582), wobei der neue Raum, den sie schaffen, freilich ebenso verortbar ist wie die sozialen Positionen der traditionellen Schichten.

Wie bereits John Clarke überschreitet auch Bourdieu die analytische Grenze von Kulturindustrie und Subkultur. Das neue Kleinbürgertum ist nicht mehr nur kreativer Rezipient der Produkte der Kulturindustrie, son-dern auch ihr Produzent. Das neue Kleinbürgertum formt insgesamt ein Feld aus, in dem die Grenze zwischen Produzenten und Konsumenten zerfließt. Die Kulturindustrie, so Bourdieu, wirkt nicht nur an der »Verbreitung des Lebensstils der neuen Bourgeoisie mit«, sie ist auch ihr Arbeitgeber, das heißt sie bildet das Berufsfeld, »zu der ihre Karriere (das heißt die der urbanen Kleinbürger) führen soll« (573). Das neue Kleinbür-

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gertum, so Bourdieu, findet »seinen vollendetsten Ausdruck« im Bereich der »Produktion und Verbreitung von Kultur (Animateure, Erzieher, Rundfunk-, Fernseh- und Pressejournalisten, usw.)« und »in all den Insti-tutionen, die den Verkauf von symbolischen Gütern und Dienstleistungen betreiben, sei es medizinisch-soziale Betreuung« oder der Bereich der Wer-bung und des Designs, »Handels- und Werbeagenten, Spezialisten für Public Relations, für Mode und Inneneinrichtung«. Dieses gesellschaftliche Feld, so Bourdieu, expandiert, so dass diese Branchen »ein starkes Wachs-tum im Verlauf der letzten Jahre verzeichnete« (ebd.; siehe auch: Featherstone 2005).

Die Angestellten in diesen Berufsfeldern zählt Bourdieu zum neuen Kleinbürgertum, wobei die eigentlich typische Existenzform nicht der Angestellte, sondern das kreative unternehmerische Selbst ist, das seinen Beruf und seinen Platz in der Gesellschaft nicht vorgegeben sieht, sondern selbst erfindet. Diese Akteure und ihre Berufe, so Bourdieu, haben ihren »gesellschaftlichen Ort neu zu definieren« (564). Ausführlich geht er dabei auf das Beispiel einer 35jährigen Industriellentochter ein, die eine Boutique für Design, moderne Objekte und Geschenke in Paris besitzt, eine Schule für Innenausstattung besucht, aber nicht abgeschlossen hat und ihren Kunsthandel wie einen künstlerischen Beruf ausübt. Diese Frau, so zitiert Bourdieu, fühlt sich keinem traditionellen Beruf zugehörig, weshalb sie Schwierigkeiten habe, anderen, zum Beispiel ihren Eltern, den Inhalt und die Bedeutung ihres Projekts zu vermitteln. Sie fühle sich nicht als Verkäu-ferin, eher fühle sie sich »jemandem, der Werbung macht in einer Agentur, oder einem Innenausstatter« (ebd.) nahe. Anstatt sich durch ihren Beruf sozial zu verorten, definiert sie ihn um als »Spiel« und gibt somit vor, sich der gesellschaftlichen Logik zu entziehen: »Es ist sehr schwer, das auszu-drücken. Ich habe schon den Eindruck, so ein bisschen am Rande zu ste-hen, irgendwie in der Luft zu hängen, ich weiß nicht. Für mich ist das Geschäft so ziemlich ein Spiel; es ist immer irgendwie spannend, wenn man kauft und verkauft« (565f). Dass diese Frau eine Industriellentochter ist hilft ihr dabei, ihr Projekt als »Spiel« zu definieren, weil sie durch ihre Eltern finanziell abgesichert ist (vgl. Bourdieu: 564). Diese transitorische Kultur eint also Aufsteiger und Absteiger (die sich freilich weder als das eine noch als das andere verstanden wissen wollen) gleichermaßen, mit einer Tendenz allerdings, Mittelschichtsabkömmlinge auf Grund ihres höheren Risikokapitals zu bevorzugen.

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Bourdieus Leistung ist es somit, die Existenz einer neuen Schicht auf-zuzeigen, die nach den Prinzipien der Populärkultur funktioniert und jen-seits traditioneller Schichtunterschiede angesiedelt ist. Diese setzt alles daran, sich einer Zuordnung von oben oder unten zu entziehen. Bourdieu hat gezeigt, dass diese Schicht trotz ihrer Selbsterzählung des permanenten Wandels genauso wie die anderen Schichten im sozialen Raum der Gesell-schaft verortet ist. Beim Techno-Underground betrifft diese Lokalisierbar-keit auch und gerade räumliche Territorien in der Stadt, die, das ist das spezifische am neuen Kleinbürgertum, ebenso fluid sind wie ihre Position im sozialen Raum.

Szenen als fluide Stadtkulturen

Um die Fluiditität dieser neuen Kultur zu betonen, eignet sich der Begriff der »Szene« eher als der der Subkultur. Er bringt zugleich den Ort dieser Kultur – die Stadt – in den Fokus und schließt damit den Bogen zu Sim-mel. »Szene« als theoretisches Konzept knüpft an Bohème- und Subkultur-Theorien an, im Gegensatz zu letzteren ist der Bezugsrahmen aber weniger die dominante bürgerliche Gesellschaft als die heterogene und fluide Stadt. Während in der Subkultur-Theorie die deviante Gruppe der dominanten Mainstream-Kultur monolithisch gegenüber steht, zeichnet Szenen eine Flüssigkeit und Durchlässigkeit zwischen oben und unten und zwischen einzelnen Subkulturen und ihren jeweiligen Räumen aus. Szenen verlaufen quer zu den angestammten gesellschaftlichen Ordnungssystemen und zeichnen sich eher dadurch aus, welche Räume und Kulturen sie miteinan-der verknüpfen, als dadurch, was sie zu einem gegebenen Zeitpunkt sind. Sie sind kein vorgefertigtes Set an Symbolen, Zeichen und Wertvorstellungen, also dem, was man landläufig als charakteristisch für Gruppenbil-dungsprozesse versteht, sondern sie sind vielmehr der Prozess selbst, durch den Personen, Gruppen und Orte miteinander in Beziehung treten und immer neue Verbindungen eingehen. Wenn Robert Ezra Park die Stadt als Mosaik von koexistierenden sozialen Welten versteht, so sind Szenen diejenigen sozialen Formationen, die dieses Mosaik zu einem ephemeren Patchwork verweben.

Der alltagssprachliche Begriff der »scene« wurde im Rahmen jüngerer stadtsoziologischer und kulturanalytischer Forschungen nobilitiert, insbe-

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sondere durch das interdisziplinäre Forschungsprojekt Culture of Cities. Montreal, Toronto, Dublin, Berlin (Yorck University, Toronto), das sich mit der Stadt sowohl als Text als auch als materieller Struktur, als Ort kon-fligierender Meinungen als auch geteiltem Erfahrungsraum auseinander setzt. Es knüpft implizit oder explizit an Theorien zu Bohème- und Sub-kulturen an, betont jedoch die urbanen und ephemeren Momente jener Kultur. Mit dem Begriff der »Szene« soll der Instabilität der Subkultur und ihrer Räume Rechnung getragen werden. Szenen geben der Fluidität der Stadt eine sinnvolle Form. In ihrer elastischen, mobilen, nicht-essentialisti-schen Beschaffenheit machen sie aus der Stadt als »space« einen »place« (Blum 2001: 7). Sie bilden das Spannungsfeld, wie der Soziologe Kieran Bonner schreibt, »between the city as a stable home which enables a meaningful connection between past deeds and future renewal, and the city as an un/willing participant in the celebration of constant change and consumerism« (Bonner 2002: 5). Der Soziologe Alan Blum beschreibt Szenen als situativ, kreativ und spektakulär, worin sie mit der Flüchtigkeit, Kreativität und Spektakularität der Stadt homolog ist. Er betont die Sicht-barkeit und Räumlichkeit von Szenen, die sich im Stadtraum soziale Orte und Bühnen schaffen, um die Stadt in ihrer Vielfalt und Widersprüchlich-keit zu leben und zu erleben. Ihre Streben basiert auf dem Moment ihres Erscheinens und Sichtbarwerdens, hierin verwirklicht es sich und hierin erschöpft es sich auch. »Szenen«, so schreibt auch der Kommunikations-wissenschaftler Will Straw, sind »a metaphor for urban flux« (Straw 2001: 253).

Der Begriff der »Szene« ist diffus, jedoch in einer intentionalen Form, denn er weiß um die flüchtigen, oberflächlichen und auch chaotischen Momente urbanen Lebens und urbaner Gruppenbildungsprozesse.

In Deutschland hat der Soziologe Ronald Hitzler eine Theorie der Szene als postmoderner Vergemeinschaftung versucht (Hitzler 2001), jedoch unter Missachtung von Theorien des Urbanen, was ein tieferes Verständnis von Szenen nahezu verunmöglicht. Er greift empirisch auf Parkplatz-Umfragen zurück, womit ihm die konstitutive Bedeutung des Moments verschlossen bleibt.

Das Modell der Szene, wie es von dem Culture of Cities Project entworfen wurde, stellt meines Wissens den ersten Versuch dar, urbane Ver-gemeinschaftungsformen als eine Funktion des Städtischen darzustellen. Sein Innovationspotenzial liegt darin, die Fluidität urbanen Lebens als kulturelle Praxis zu beschreiben, indem Zerstreuung ins Zentrum urbanen

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Lebens gerückt wird. Alan Blums Aufsatz, der mehrmals auf Simmel Be-zug nimmt und auch eine stilistische Nähe zu Simmel aufweist, spinnt die Ideen von der Stadt als Bühne, transitorischem Begegnungsort und Ort des Konsums weiter und lässt aus ihr heraus eine soziale Formation entstehen. Wie er in Abgrenzung zum Modell der Subkultur betont, ist die Ökonomie integraler Bestandteil dieser Kultur, sie ist der Motor, der die Szenen am Leben hält. Auch Geoff Stahl und Will Straw, ebenfalls Mitglieder des Culture of Cities Project und intime Kenner der lokalen Szenen in Montreal und Toronto, heben besonders die ökonomische Durchdringung der Szene hervor und sehen in ihr das fluide Moment urbaner Zusammenhänge. Die Vitalität der Szene nährt sich gerade durch ihre ökonomischen Institutionalisierungen, durch die Entstehung von Clubs, Bars, Record Studios, Galerien, etc.

Die Abwesenheit des Moments

In den unterschiedlichen Theoriemodellen von Subkultur und Szene (mit dem neuen Kleinbürgertum als deren Träger) zeigt sich im Kleinen das Dilemma, das auch im Großen die Kulturanalyse des Urbanen ausmacht: Befasst man sich mit kleinen kulturellen Einheiten, so lässt sich zwar das Wirken einer kulturellen Eigenlogik zeigen, die der Veroberflächlichung urbanen Lebens entgegen steht und alternative kulturelle Normen und Werte schafft. Jedoch tendiert das Modell der Subkultur dazu, gerade die typisch urbanen Momente von Kultur, das Fluide und Mobile, wie sie letztlich auf die Geldwirtschaft zurück zu führen sind (Simmel), auszu-blenden. Öffnet sich dieses räumlich begrenzte Kulturmodell jedoch dem Prinzip des urbanen »flows«, so läuft es Gefahr, der Beliebigkeit anheim zu fallen und die kulturelle Logik urbanen Lebens – Kultur als soziale Struktur in praxi (Lindner) – zu übersehen. Allen neueren Kulturtheorien zur urba-nen Kultur – nicht nur dem der Szene und der »Creative Class«, sondern u.a. auch Appadurais Konzept der Scapes, Sojas Konzept der urbanen Neustrukturierung durch Hyperrealitäten, Hannerz’ Konzept der »Net-works of Networks«, Marc Augés Konzept des non-lieu und das Konzept der Szenen – liegt das Problem zu Grunde, dass sie zwar die Verflüssigung urbanen Lebens beschreiben, dass es aber keine konkreten Räume mehr gibt, an dem urbanes Leben noch real stattfindet und in seiner kulturellen

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Logik als spezifisch urban noch beobachtbar ist. Ihnen fehlt das Moment. Es stellt sich die Frage, wie urban die Subjekte, die sich in diesen behaup-teten Zusammenhängen bewegen, tatsächlich sind und ob die theoretische Phantasie nicht der Empirie voraus eilt. Bisher konnte die urbane Ethno-logie diese Frage noch nicht beantworten, weil ihre Analysen kleinere kul-turelle Einheiten im Blick hatten, für die die urbanen »Schwimmbewegun-gen« immer eine Bedrohung und Zerfall bedeuteten. Ethnografien wie zum Beispiel Soulside von Ulf Hannerz beschreiben urbane Subkulturen und ihre Viertel als Räume alternativer Ordnungen, die, gerade weil sie sich der dominanten Gesellschaftslogik entziehen, ihren urbanen Charakter verlie-ren, dörflich werden. Der Befund der Verflüssigung und Veroberflächli-chung einerseits (von Simmel und Kracauer vorgedacht) und des Mosaiks kleiner Welten andererseits (Chicago School) stehen bisher unvereinbar gegenüber.

Bourdieus Konzept des neuen Kleinbürgertums weist eine Richtung, indem es eine Schicht konstruiert, die auf dem urbanen/populärkulturellen Prinzip des ewigen Wandels basiert und somit das Fluide sozial verortet. Dieser Gedanke der sozialen und kulturellen Lokalisierung des Urbanen wurde weiter geführt.

Die Ethnografie des Techno-Underground will einen Lösungsvorschlag anbieten, indem eine Subkultur vorgestellt wurde, die jedoch genau jenes Prinzip der territorial geschlossenen Einheit aufbricht und an der kontinu-ierlichen Auflösung ihrer eigenen Räume arbeitet. Dieses Auflösen der Räume und der Erkundung immer neuer Räume bedeutet für diese Kultur nicht den Zerfall ihrer Einheitlichkeit und Kohärenz, vielmehr ist diese Auflösung Bestandteil der kulturellen Logik. Während die Verflüssigung kultureller Einheiten bislang als Bedrohung der jeweiligen Subkultur ver-standen wurde, als Einbruch des kapitalistischen Außen in das beschauli-che subkulturelle Innen, wird hier die Fluidität zum konstitutiven Be-standteil der urbanen Logik.

Der Techno-Underground wurde im Sinne des Culture of Cities Projekts als Szene verstanden, die jedoch erst eigentlich urban wird durch deren subkulturelle Verankerung, die der Verflüssigung widersteht und gerade dadurch den Moment ermöglicht.

13. Fazit – Die Stadt, die Szene und der Wandel

Was bedeutet vor diesem Hintergrund die Szene für die Stadt Berlin, was Berlin für die Szene? Sofern Städte nicht nur eine Akkumulation von Ins-titutionen und Gebäuden sind, sondern auch »a state of mind«, wie Robert E. Park in seinem klassischen Aufsatz »The City« schreibt, so stehen die Vorstellungen und Bilder der Stadt Berlin mit der Berliner Szene in Wech-selwirkung (Park 1925 und Lindner 1999).

Berlin galt immer schon und bis heute als ewig im Werden begriffene Stadt, als »Zone in Transition«, wie Rolf Lindner die Zeit zwischen 1945 bis 1989 beschrieb (Lindner 1993). Während die bürgerliche Mittelschicht Berlin nach wie vor meidet (zum Beispiel bezeichnet der Schauspieler Helmut Berger Berlin in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung angewidert als »Proletenstadt«73), während aufwendig renovierte Luxuswohnungen in Ostberlin leer blieben, zogen weiterhin Künstler, Studierende und Bohèmiens nach Berlin um sich hier – für eine Über-gangszeit – einzurichten. Eine passende Metapher fand die Journalistin Laura Weissmüller in der Süddeutschen Zeitung, die die Stadt »zum größten Zeltlager Europas« erklärte (19.4.2005). In den »100 Gründen, die für Berlin sprechen« schreiben die Autoren der selben Zeitung unter Punkt 40: »Weil die Stadt derart pleite ist, dass überall Gebäude leer stehen, in denen man illegale Bars eröffnen kann« (20./21.6.2002). Die internationale Presse schließt sich dem an: So tituliert die New York Times in einer Reportage über das Neue Berlin die Stadt als »city of constant change« (17.9.2000), die London Times beschreibt in Bezugnahme auf den bereits zitierten Karl Scheffler »Berlin is a city that never is, but it is always in the process of becoming« (30.10.1999), die Kanadische Tageszeitung The Globe and Mail beobachtet auch 2002, »there is so much construction going on that you

—————— 73 Der Interviewer hatte die Frage gestellt, ob Berger Berlin als Wohnort in Betracht zieht.

Er antwortete empört: »Uuuh! You must be joking! Proletenstadt! Zisch!« (Süddeutsche Zeitung, 29./30./31.5.2004).

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cough from the dust« (17.8.2002) und Le Monde ruft aus: »Berlin, capitale inachevée!« (4.2.1999)

Hierin zeigt sich eine Stadt, der es auf Grund ihrer historischen Sonder-situation nicht gewährt ist, sich zu normalisieren, anzukommen, worin ihr innovatives Potenzial begründet liegt, ihre Funktion als »social laboratory« (Lindner 1993: 103). Und zugleich zeigt sich eine spätkapitalistische Stadt par excellence, die das von Simmel diagnostizierte Prinzip der Zirkulation (des Geldes) verinnerlicht hat.

Indem die alternative Technoszene im Provisorium lebt und nichts mehr scheut als die Routinen des Alltags, macht sie den Wandel geschehen. Durch sie und mit ihr vollzieht sich das Imaginäre der Stadt in der sozialen Wirklichkeit und umgekehrt speist sie Imaginationen des fluiden Berlins und trägt zu ihrer Reproduktion bei. Dabei katalysiert der Techno-Under-ground den Wandel nicht irgendwie, sondern sie gibt ihm eine spezifische ökonomische, kulturelle, soziale und räumliche Form. StartUps wie die Pyonen oder Sensatonics stellen einen neuen Unternehmertypus dar, für den Subkultur und Mainstream, Kapitalismus und Anti-Kapitalismus kei-nen Widerspruch darstellen. Ihre subkulturelle Existenz steht ihrem öko-nomischen Engagement nicht entgegen, sie ist vielmehr ihr modus operandi. Figuren wie Kalle, Victoria und Gabi leben in Netzwerken und halten durch immer neue hi-and-bye-relationships ihre Bekanntschaften im Fluss. Der Lebensstil ist under construction, kollektive Vergnügungen, das Engagement für die Szene, Genusskultur und Ästhetisierung des Alltags und der Umwelt haben oberste Priorität ihrer Lebensführung. Der Raum dieser Lebensform sind die Brachen und Leerstände der Stadt, die sich durch die Vernetzungspraxis der Szene zu einer imaginären wie realen Landkarte zusammen fügt. Diese umherschweifenden Hedonisten machen den Wan-del zu einer lebbaren Form, sie geben ihm einen Sinn.

Mit dem Wandel treiben sie somit auch die Eventisierung Berlins voran, der permanente Wandel ist der Event. Die Transformation der Stadt in permanent sich wandelnde Erlebnisräume fügt sich nahtlos in das, was Hartmuth Häußermann als »Festivalisierung der Stadtpolitik« kritisiert. Punktuelle Ereignisse ohne politische Nachhaltigkeit und temporäre Kulis-sen, die nach einem langen Wochenende wieder abgebaut werden, gehören ebenso zur neuen Strategie des Stadtmarketings wie zum Überlebensprin-zip der Szene. Hier wie dort wird die Überwindung der Langeweile propa-giert. In gewisser Weise profitieren Stadt und Szene auch voneinander: Berlin-Strategen werben in Kampagnen wie »Sei Berlin!« mit jenen coolen

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Berliner Typen, die man auf Szeneparties trifft, das heißt, das Rohmaterial für die Image-Kampagnen liefern Szenen wie die alternative Technoszene (sowie für Romane und Erzählungen, Zeitungsartikel, Songs etc.). Umge-kehrt kann eben jene Szene besonders in Berlin florieren, wo das Imagi-näre der Stadt dem Habitus der Szene entspricht. Die kulturelle Praxis der Szene konnte nur vor dem Hintergrund der Wende geschehen, die das Ostberliner Territorium als Ort des Experiments frei gab. Dabei hat zwei-fellos die Hausbesetzerbewegung, die nahezu gleichbedeutend mit Kreuz-berg in den 1980er Jahren ist, sowie die DDR-Bohème im Prenzlauer Berg die Kultur der Szene vorstrukturiert. Auch praktisch profitiert die Szene: Party-collectives können sich unter Umständen in ihren Verhandlungen mit Eigentümern, der Polizei und dem Ordnungsamt auf diese auch im Mainstream inzwischen anerkannte kulturelle Figur des unangepassten jungen Berliners berufen.

Der Historiker Karl Schlögel skizziert mit Blick auf das östliche Europa (dessen westliche Grenze in Berlin beginnt) jenen urbanen Typus, wie ihn der Szene-Akteur auszeichnet: ein flexibler Typus, der den Ansprüchen der spätkapitalistischen Gesellschaft auf Spontaneität, Mobilität und coolness bestens entspricht. Ihn zeichne aus…

»… sich auf die Risiken der Zwischenzeit einzulassen, in der ein alter Zustand unhaltbar geworden ist, ein neuer sich aber noch nicht verfestigt hat; im Proviso-rium leben zu können, ohne dass dies als Weltuntergang empfunden würde; nicht in Panik und Hysterie zu verfallen, wenn die Selbstverständlichkeiten einer Lebens-form aufhören, selbstverständlich zu sein; sich einzulassen auf eine Suchbewegung, deren Ende man noch nicht kennt.« (Schlögel 1999: 24)

Dies nicht als Risiko, sondern als Chance zu begreifen, bei der das Provi-sorium zur adäquaten Daseinsform wird, ist letztlich ein kapitalistischer Wesenszug.

Die Szene war und ist somit Träger und Katalysator des Neuen Berlins, einer Stadt im Spätkapitalismus mit mobilen, flexiblen, kreativen und un-konventionellen Lebensstilen, Haltungen und Unternehmungen. Einer Stadt, die schon Siegfried Kracauaer mit seiner Analyse der Pläsierkasernen als einen Ort beschrieben hat, wo die Party nie aufhört, in der sich heut-zutage mit den Moden aber auch die locations wandeln: Die Brachen und Leerstände werden zum locus und Symbol einer neuen urbanen Praxis und mit ihr des Neuen Berlins.

Selbst in ihrer Flucht vor und ihrer Kritik an dem System und der Stadt, so, wie sie ist, trägt sie zu seiner Reproduktion bei. Keine Gruppe

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hat sich differenzierter mit Fragen auseinander gesetzt wie: Was ist Kon-sum? Was ist Spaß? Was macht glücklich? Was ist langweilig? Und gerade hierin liefert sie neue Ideen, Produkte und Lebensstile, die den Rohstoff für die Festivalisierung Berlins darstellen. Gerade hierin, als Expertin der Erlebnisgesellschaft, ist sie auch die wichtigste, bedeutsamste Szene für das Neue Berlin. Vor diesem Hintergrund ist es auch politisch kurzsichtig, gegen Wagenburgen und Hausprojekte vorzugehen, da diese das soziale und kulturelle Fundament der Kreativität darstellen. Wer Berlin als Kultur-Standort sichern möchte, sollte sich dieser Verflechtungen bewusst sein und sich mit Kritik und Protesten auseinander setzen. Diese sind, wie gezeigt wurde, Teil des kreativen Stadtpotenzials.

Das heißt: Ebenso wie die umherschweifende Szene im Hier und Jetzt lebt, so ist auch das transitorische Berlin eine Stadt der Momente. Die alternative Technoszene ist somit eine Szene, die den Wandel voran treibt und in symbolischer Hinsicht sogar jene, die den Wandel wie keine andere verkörpert.

Das heißt jedoch nicht, dass die kulturelle Praxis der Szene deckungs-gleich mit der spätkapitalistischen Stadt ist. Die Szene geht nicht gänzlich auf im Neuen Berlin, ihr stadt- und gesellschaftskritisches Projekt endet nicht zwangsläufig in einem »zirkulären Korridor«, wie es Dick Hebdige einst für die Punk-Bewegung beschrieb. Strukturell mag jede Handlung der Szene der spätkapitalistischen Stadt zutragen, es bleibt jedoch der Moment an sich, die irreduzible Zeit des Festes.

Die gesamte Szene ist darauf ausgerichtet, eingefahrene Rollen immer wieder zu durchbrechen. Sowohl was die interne Struktur betrifft, die Viel-falt der Stile und die Variabilität von Konsumenten- und Rezipienten-Rol-len, als auch die Durchlässigkeit nach außen: eine prinzipielle Offenheit gegenüber anderen Milieus und keine scharfe Trennung zwischen Insidern und Outsidern. Diese Offenheit überschreitet zwar praktisch nicht die schichtspezifischen Grenzen: die Szene bleibt eine Mittelschichts-Subkul-tur. Im Changieren zwischen bürgerlichem Ästhetizismus (Naturromantik) und proletarischer Punk-Geste (Räume erobern) bildet sie jedoch einen Stil aus, der zumindest symbolisch die Trennung zwischen den Schichten überwindet. Dies bedeutet bis auf einige Ausnahmen keine tatsächliche soziale Durchmischung. Aber zumindest wird zu Gunsten des Moments und der Begegnung ein schichtspezifischer Stil immer wieder zur Disposi-tion gestellt. Auch wenn die Szene aus Hierarchien besteht und jeder Ak-teur und jede Akteurin ihren spezifischen Platz in der Szene einnimmt, so

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entstehen doch immer wieder produktive Irritationen und Verschiebungen, die den eigenen festen Standpunkt ins Wanken bringen und weich machen für unerwartete Begegnungen, auch und gerade mit dem sozialen unten.

Die Tatsache, dass das Territorium der Berliner Szene aus herunterge-kommenen Brachen und Leerständen besteht, dass der Kleidungsstil vom proletarischen Punk geprägt ist, dass in der Szene das Improvisierte, Un-fertige favorisiert wird, dass eine berufliche Karriere nicht das dominante Lebensmodell darstellt, etc., all dies lässt sich darauf zurück führen, dass die gleichermaßen schmutzige Stadt Berlin, eine Stadt, dessen Hundekot auf den Straßen zum Teil ihres Imaginären wird, wie Rolf Lindner in seinem Aufsatz Die große Erzählung vom Hundekot. Zur Mythographie Berlins (Lindner 2006) ironisch anmerkt, randseitige Kulturen befördert. Die Szene ist deshalb Agentin des urbanen Wandels, weil sie in der Auseinandersetzung mit dem proletarischen Stil der Stadt versucht, das oben mit dem unten zu versöhnen.

Anhang: Szene Berlin vor 1989

Alternative Bewegungen suchen sich Manifestationen im Stadtraum, be-stimmte Viertel und Quartiere wie Greenwich Village in New York, Montmartre in Paris, Kreuzberg in Westberlin oder eben auch den Prenz-lauer Berg, wo sie sich einrichten, eine eigene Kultur etablieren und, sol-chermaßen im Raum eingelagert, die Zeiten, ja Generationen, überdauern. Sie definieren einen Übergangsraum, in dem sich das dominante Gesell-schafts- und Ordnungssystem schwerer verankern kann und auf diese Weise Freiräume für alternative Lebensformen (migrantisch, proletarisch oder subkulturell) schafft. Das Bild, das sie durch ihre Kultur mit dem Stadtraum verknüpfen, wird zum Mythos, der auch zukünftige Stadtraum-nutzungen prägt (vgl. Lang 1998, insb. S. 30ff).

Durch mediale, »visuelle und diskursive Repräsentationen« (Lang 1996: 238) sowie durch Alltagserzählungen an und über den Stadtteil Prenzlauer Berg öffnet sich für die jeweils aktuelle Subkultur, wie in unserem Fall den Berliner Techno-Underground, ein Möglichkeitsraum, der die Experimente einer alternativen Kultur einschließlich ihrer Orte und Netzwerke gestattet. Um diese Prozesse in ihrer Tiefe zu verstehen würde es einer eingehenden Analyse des »Mythos Prenzlauer Berg« bedürfen, und einer genaueren Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen den alltäglichen und media-len Bildern, Narrativen und der sozialen Wirklichkeit, die diese Bilder und Narrative prägen und von ihr geprägt werden. So lassen sich über die Zei-ten hinweg die Erzählungen vom Prenzlauer Berg als Ort der Unange-passten, Aussteiger und kulturellen Randseiter immer wieder finden. »Keine Agentur«, so schreibt der Publizist Wolfgang Kil in dem Buch Prenzlauer Berg. Ein Bezirk zwischen Legende und Alltag, »hätte sich eine erfolgreichere Werbekampagne ausdenken können, als das gängige Feuil-leton sich durch unermüdliches Weitersagen zustande bringt: Der Mythos vom Prenzlauer Berg!« (Kil 1996: 19) Zweifellos wurde dieser Mythos durch die Transformationsprozesse in Ostberlin und dem massenhaften

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Zuzug von Künstlern und Lebenskünstlern nach Ostberlin aktualisiert. So beschwört beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Juli 1994 die verschwörerische, vom Zigarettenrauch getränkte Atmosphäre eines kleinen Ladenraums im Prenzlauer Berg, der in eine Kneipe transformiert wurde: »Wer hier sitzt und redet, gibt damit zu erkennen, dass ihm all die entfremdeten, korrumpierenden Mechanismen der karrieristischen Ange-stellten-Existenz nichts anhaben können. Er behauptet sein Selbst in einem durchreflektierten Müßiggang« (FAZ vom 23.7.1994). Bis heute reprodu-ziert sich der Mythos des »anderen« Stadtteils mit seinem »Ruinen-Chic« (Die Zeit vom 6.7.2006) als Sammelbecken junger Künstler, Studierender und Kreativer aus aller Welt.

Eine tiefere Analyse würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit spren-gen und kann hier nicht geleistet werden. Dennoch soll in einigen sehr kurzen Schlaglichtern auf die DDR-Bohème Bezug genommen werden, die die heutigen Entwicklungen erst ermöglicht hat. Ich möchte mich dabei auf einige Beispiele aus den 1980er Jahren beschränken, die in ihrem Stil bereits die kulturellen Praxen des heutigen Techno-Underground vorweg genommen haben. Auf die Konflikte mit der DDR-Diktatur und das Lei-den unter der Stasi-Bespitzelung, das eine Bohème-Identiät im Prenzlauer Berg maßgeblich prägte, kann dabei wegen der gebotenen Kürze ebenfalls nicht eingegangen werden.74 Auf die Gefahr hin, die gesellschaftspolitische Situation der Bohème zu verharmlosen, sollen die Beispiele zeigen, wie trotz aller Unterschiede systemübergreifende subkulturelle Entwicklungen ablesbar sind.

Die Prenzlauer-Berg-Bohème entdeckte schon in den 1980er Jahren die Ästhetik des Stadtraums, sie besetzten Häuser und lebten teils in Kommu-nen und sie gründeten sogar kleine Unternehmen, die man heute als Start Ups bezeichnen würde. Auch wenn die Bedeutungskontexte im Sozialis-mus andere waren, so zeigt sich doch eine subtile Kontinuität von den 1980er zu den 1990er Jahren.

In den 1980er Jahren war der Prenzlauer Berg bereits zum Mythos ge-worden, wie der Kunsthistoriker Paul Kaiser in dem Katalog zu der viel beachteten Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Bohème und Diktatur in der DDR schreibt. Seitdem galt er als das »Synonym jener selbstbestimmten Alternativkultur« der DDR (Kaiser/Petzold 1997: 15):

—————— 74 In der Literatur zur DDR-Bohème sind die staatlichen Repressionen freilich zentraler

Bestandteil der Betrachtungen. Siehe: Kaiser/Petzold 1997, insb. S. 24ff, Felsmann/ Gröschner 1999.

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»Der Prenzlauer Berg ist ohne Zweifel eine Legende. Als Quartier für unange-passte Schichten wird er in den letzten beiden DDR-Jahrzehnten zu einem magne-tischen Zentrum und Synonym einer intellektuellen Subkultur. Dieser Stadtbezirk ist eine Insel der Unordnung – eine von den West-Medien bisweilen gut beleuch-tete Bühne des gelebten Widerspruchs und zugleich ein Aktionsfeld des politischen Widerstands.« (ebd.; S. 339)

Hier zog man hin, wenn man »das sogenannte richtige Leben kennen ler-nen wollten« (ebd.: 360), wie die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe es retro-spektiv Ende der 1990er Jahre formulierte. Oder, wie es der Filmer und Siebdrucker Mario Achsnick mit einem provozierend profanen Vergleich ausdrückt (ebenfalls Ende 1990), der dennoch die Lebendigkeit des Prenz-lauer Bergs treffend auf den Punkt bringt: »Man hatte das Gefühl, wenn etwas passierte, dann genau hier! Das war wie in einer Disco: Ich kann herumlaufen und gucken, ob ich jemand finde, aber ich kann auch stehen bleiben. Berlin war ein guter Ort, um stehen zu bleiben, weil alle vorbei-kamen« (Interview mit Mario Achsnick, in: Felsmann/ Gröschner 1999: 30).

Dieser Mythos wurde von der Bohème der 1980er Jahre gelebt und fortgeschrieben. Die Fotografin Tina Bara erzählt von einem besetzten Haus in der Fehrbelliner Straße, in dem sie zwischen 1986 und 1990 mit anderen lebte: »Die vier Jahre in der Fehrbelliner waren trotz chaotischer Lebensumstände intensiv. Es lebte ein wild zusammengewürfelter Haufen von Leuten dort, das hatte etwas sehr Lebendiges« (Interview mit Tina Bara, in: Felsmann/Gröschner 1999: 46). Im Sommer saß man auf dem »völlig abgefuckten Hof«, in dem die meisten von Baras Fotografien ent-standen. »Zu uns kamen andauernd viele Leute, die hier ihre Verabredun-gen machten und Pläne und Projekte schmiedeten und oft auch über Nacht blieben. Man ist zusammen aufgestanden, hat gefrühstückt und so in den Tag hineingelebt. Es wurde viel geredet, getrunken, und es gab immer wieder Feste zu feiern« (ebd.). Im Hinterhaus probten berühmte Punkbands der DDR, »Feeling B« und »Rosa Extra«. Außerdem war die Wohnung ein Treffpunkt für die illegale Umweltbewegung, weshalb sie »ausgiebig bespitzelt worden« sind (ebd.: 46). Eine andere Ost-Berliner Kommune versuchte, ihre Lebensform bei den staatlichen Organen als »sozialistisches Modell einer fortschrittlichen Lebensweise zu propagieren«, was jedoch »von offizieller Seite mit ignorantem Schweigen« beantwortet wurde (ebd.: 33). Kaiser weist darauf hin, dass politische Hausbesetzungen und Kommuneleben ein West-Import waren.

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Auch Formen subkulturellen Unternehmertums entwickelten sich zu dieser Zeit, so doppelt paradox dies für eine Subkultur im Sozialismus klingen mag. Die »bohèmischen Jungunternehmer« (Kaiser/Petzold 1997: 66) entwickelten privatwirtschaftliche Produktionsformen, wie Kaiser schreibt, die von staatlichen Instanzen weitgehend geduldet wurden. Insbe-sondere stellte man, bisweilen in regelrechter Manufakturarbeit, modische Mangelwaren her, die später mit Gewinnspannen auf dem Schwarzmarkt, per Zeitungsannonce, durch Flüsterpropaganda sowie durch den in dieser Zeit entstehenden »individuellen ambulanten Handel« (ebd.) risikolos ver-trieben werden konnten. Die Modegruppen »ccd« und »Allerleihrauh« kreierten eine märchenhafte Form des Punkstils aus Leder, Federn, Tüll, wallenden Feenkleidern und hautengen Rocker-Outfits, die ihnen so viel Geld einbrachten, dass sie in einer Kunstaktion »die Scheine in eine Pfanne getan und regelrecht auf dem Gasherd verbraten« haben (ebd.: 374). Sie betonten die ästhetische, hedonistische Seite des Punk: »Möglichst extrem war, nicht im Strickpullover mit Märtyrerblick neben einer Platte von Wolle B. zu sitzen, auch nicht mehr die Trauer von Nina zu pflegen und rotzigpunkig zu sein, sondern einfach zu leben, schön zu sein und vor allem sorglos. Nicht mit 30 Pfennig in der Tasche zu überlegen, wie der Tank zu füllen ist«, formulierte Antje Schlag das damalige hedonistische Credo der Gruppe (zit. nach ebd.: 373). Sie kleideten »Traumtänzer« ein, wie der Künstler Wolfgang Krause sie nennt, »die Lust hatten, zwei Stun-den vorm Spiegel zu tanzen oder auf der Tanzfläche mit Salto rückwärts und wahnsinnigem Speed rumzutoben« (ebd.: 229). In der Gethsemanekir-che organisierten sie Ende 1989 eine Modenschau, dessen Motto Platons »Exkurs über die Liebe« vorgab, die Schönheit des Körpers, der Lebens-führung und der Erkenntnis, und die ein multimediales Spektakel aus »Erde, Feuer, Hall und Leder« entfachte (ebd.: 370). Auch nach 1989 ent-warfen sie weiterhin Mode, und die Chronologie ihrer Veranstaltungen zwischen 1987 und 1991 liest sich ohne erkennbaren Bruch (Fi-scher/Tippach-Schneider/Mustrop 1993: 112) .

Der Prenzlauer Berg war für diese Subkultur, wie auch für die Nach-wendesubkultur, nicht nur räumlicher Container, sondern auch ästheti-sches Objekt. Nicht erst die zuziehenden westlichen Studierenden, sondern schon die DDR-Subkultur hatte einen romantischen Hang zur verfallenen Kulisse des Prenzlauer Bergs. Wie die Publizistin Annett Gröschner schreibt:

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»Als ich Anfang der 1980er Jahre nach Berlin kam, faszinierten mich die Narben der Häuser. Einschüsse, Luftschutzzeichen, Notdächer. Ich sah eine ›einzige Ka-tastrophe, die Trümmer auf Trümmer häufte‹ und die zum Stillstand gekommen war. Wie eingefroren. […] Die Stadtlandschaft war unterbrochen von Mondland-schaften, durch die man wie durch eine Wüste ging, im Hintergrund eine Fata Morgana oder das nächste Haus, das Menschen versprach und das Versprechen oft nicht hielt.« (Gröschner 2000: 68)

In dieser Kulisse wurde es populär, fotografierend durch den Stadtraum zu streifen und auch, die alten Gebäude nach Hinterlassenem zu durchsuchen. Wie der Graphiker Grischa Meyer erzählt:

»Diese romantische Überhöhung war plötzlich da. Und das ging dann immer weiter, vor allem durch die Fotoprojekte in den achtziger Jahren, so dass man dann irgendwann schon den Witz gemacht hat, der 51. Fotograf sei bei seiner Prenz-lauer-Berg-Safari vom Wasserturm gefallen.« (Interview mit Grischa Meyer, in Felsmann/Gröschner1999: 311)

Mario Achsnick, seines Zeichens »Landwirt, Rüssler, Schmalfilmer und Siebdrucker« (ebd.: 20), schildert seine Streifzüge durch den Prenzlauer Berg, die er als »Rüsseltouren« bezeichnete. Er beschreibt es so leiden-schaftlich, dass man sich wundert, wie in den 1990er Jahren für die nach-rückende Subkultur in den leer stehenden Gebäuden noch auffindbare Objekte übrig bleiben konnten:

»Eine Zeitlang waren wir ständig auf Rüsseltouren: Schauen, Fotografieren und Sammeln. Rüssler waren Leute, die alte, ganz schräge, ganz abgefahrene Sachen suchten, die eben auf Dachböden und in Keller gingen und rüsselten. Sie hatten ein Gespür dafür entwickelt, in alten Häusern, selbst wenn vorher schon hundert Leute durchgegangen waren, genau das zu finden, was sie interessierte. Sie suchten, was andere alten Dreck nannten, also nichts, was man in den An- und Verkauf schaffen konnte, keine Löffel mit Silbernummern, die man einzeln in Plastikfolie einschweißte. Rüssler fuhren auch zu den Russenkasernen und tauschten russische Klamotten ein, besorgten tschechische Militärsachen oder grasten die Flohmärkte in Ungarn ab. Einfach um irgend etwas zu haben, was andere nicht hatten, auf einem ganz eigenen Niveau. Im Prenzlauer Berg und in Mitte gab es noch einige geheimnisvolle Tiefgaragen, alte Tankstellen oder leerstehende Fabrikgebäude. Zum Beispiel die alte Stempelfabrik in der Linienstraße. Da war ich mal im Keller, der war anderthalb Meter hoch mit Büchern, Zeitungen, Musikalienliteratur und alten Fotografien vollgestapelt. Das war früher vielleicht eine Sammelstelle gewe-sen. Vieles war noch in Pakete gepackt, mit Seidenpapier umwickelt. Einen ganzen Nachmittag wühlten ein Bekannter und ich uns schichtweise immer tiefer und räumten den Keller aus. Kaiserfotos von 1912 fand ich dort, unvorstellbar, für einen Rüssler das Paradies! Zum Glück gab es leerstehende Wohnungen, dort

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bunkerten wir das alles. Später hatte ich eine kleine Mappe herausgegeben mit Motiven von den alten Fotos. Und dann machten wir auch Siebdrucke und Re-prints davon, das war so meine Quelle.« (ebd.: 22f.)

Es entwickelte sich schon zu dieser Zeit ein regelrechter »DDR-Chic«, der die ausrangierten Objekte der DDR-Kultur zu Kultobjekten erklärte (Schnittmusterbögen aus der Frauenzeitschrift Pramo, Urkunden mit DDR-Stempel, Behördenpost, Kassa-Bücher mit »Soll und Haben« Spal-ten, etc.; Kaiser/Petzold 1997: 56). Der Künstler Stefan Kayser gestaltete in seiner »Selbsthiflegalerie Sredzkistraße 64 rot – grün« ein dreidimensio-nales »Environment k«, wie er es nannte, eine »Kunstgrotte« (ebd.: 347) aus westlichen Werbeverpackungen und östlichem Alltagsmüll: von aufge-schichtete Orwo-Tonbandhüllen bis zu turmartigen vergipsten Margarine-schachteln, von leeren bulgarischen Konservendosen bis zum Elektro-Schrott aus der Wohlstandsmülltonne. Man kann dies als semiotischen Guerillakrieg gegen die Definitionsmacht der hegemonialen Kultur deuten oder auch als »therapeutischen Selbstbefreiungsversuch aus dem staatlich vorgegebenen Sozialisationsmustern« (ebd.: 56). In jedem Fall wird hier eine für die 1980er Jahre auch im Westen typische Entfesselung der Ober-fläche betrieben, die all das als »camp« erklärt (Sontag 1993), was alt, exo-tisch und anders ist und die in den 1990er Jahren fortgesetzt wird.

Damit einherging eine Sensibilität für die atmosphärische Qualität von Orten, ihre Brauchbarkeit als location. Der Grafiker Grischa Meyer erzählt von einer Brache in der Knaack-/Ecke Wörtherstraße, die sich vorzüglich für romantische Picnics eignete: »Da war Grasland, eine richtig große Steppe, holprig und voller Hasen. Es war ungeheuer schön da, weil sich bei Sonnenuntergang die Silhouetten von der Brauerei und den Häusern wie gemalt gegen den Himmel abzeichneten« (Felsmann/Gröschner 1999: 296). Das Symbol dieser Ruinenromantik ist die Diskussion um den Abriss des alten Gasometers auf dem Gelände des heutigen Thälmann-Parks, bei dem sich viele alternative Gruppen dafür einsetzten, dass es als Veranstal-tungsort erhalten bleiben würde. Es wurde jedoch für den Bau einer Neu-bausiedlung, die heute wie ein Fremdkörper im Stadtraum steht, gesprengt. Bei dem Engagement ist es nicht verwunderlich, dass es auch die Praxis temporärer Raumnutzung schon gab, die Orte vorübergehend als locations nutzt. Es gab, wie Kaiser schreibt, »in der intellektuellen Subkultur der DDR […] eine regelrechte Renaissance von Festen zu konstatieren, deren Dimensionen weit über das Maß des normalen Feierns hinausreichten« (Kaiser/Petzold 1997: 47). Wie Mario Achsnick erzählt, suchte man hierfür

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nach »verrückten Räumen« (Interview mit Mario Achsnick, in: Felsmann/ Gröschner 1999: 24), um dort spontane Partys und »verrückte Veranstal-tungen« zu organisieren. Für die Punkband »Demokratischer Konsum« organisierte er exotische Auftrittsorte, »zum Beispiel Frühstück auf einem Dachboden im Prenzlauer Berg« (ebd.):

»In dieser Zeit hatte gerade der ›Demokratische Konsum‹ angefangen. Das war eine Punkband um Wollo, also Wolfram Ehrhard, und für die veranstaltete ich oben auf meinem Dachboden in der Marienburger Straße das erste Happening. Dazu lud ich noch einen Tänzer ein, der so seine Sachen machte. Der tanzte im-mer mit einem Teppich im leerstehenden Nachbarhaus. Eines Tages hatte der bei mir geklingelt, um sich einen Spiegel zu borgen, und ich schlug ihm vor mitzuma-chen. Jedenfalls war das ein irrer Abend.« (ebd.)

Eine andere location, die »ganz heiß im Gespräch war«, waren die Turm-zimmer am Frankfurter Tor: »Der eine Turm war eine Stasikammer, in den gegenüber aber, so hieß es, sollte man reinkommen können. Das zu versu-chen, reizte mich natürlich – irgend etwas zu schaffen, was noch nicht da war« (ebd.: 24). Inzwischen ist in einem der Türme eine offizielle Lounge eingezogen. Der Reiz dieser Orte ist, wie auch der Künstler Wolfgang Krause sagt, dass hier noch nichts vorher existiert hat und »du dir dein Publikum und deine Atmosphäre selbst erzeugen musst« (Interview mit Wolfgang Krause, in: ebd.: 237). Er nennt diese symbolisch und sozial noch nicht besetzten Orte »trockene Orte« (ebd.). Nach der Wende wurde für Krause das Stadtbad in der Oderberger Straße und das Fabrikgelände Dock 11, ebenfalls keine offiziellen Club-Orte, seine »Lieblingsorte« (ebd.). Es ist vielleicht kein Zufall, dass die romantische Entdeckung des eigenen Stadtraums zur selben Zeit einsetzte wie der Exodus der Bohème aus dem Prenzlauer Berg in den Westen. In den 1980er Jahren wurden massenhaft und meist auch gewährte Ausreiseanträge gestellt. Für die Zurückgebliebe-nen mag der Prenzlauer Berg zunehmend eine surreale Kulisse dargestellt haben.

Auch Flyer gab es damals bereits, um auf die Veranstaltung aufmerk-sam zu machen. Sie waren zugleich ein, wenn auch sicher kaum von Erfolg gekrönter Versuch, jenseits des Auges der Staatssicherheit eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. In den 1980er Jahren entstanden eine ganze Anzahl von privaten Siebdruckwerkstätten, die diese Einladungen in klei-ner Auflage serienmäßig herstellten. Schon vorher bedienten sich Künstler diverser Laientechniken für die Flyerproduktion. Man stempelte mit der bewährten Kaltnadelradierung, aber auch mit Kohlrabidruck oder auch,

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wie der Schriftsteller Ekkehard Maaß, indem man mit dem Lötkolben ein Abendbrotbrettchen bearbeitete und es als Druckvorlage nutzte. Verwen-dung fanden ebenso die handgefertigte, mittels Echtfoto-Abzügen verviel-fältigte Einladungscollage, der Fleckenentferner »Nuth«, mit dessen Hilfe man Abreibungen von Druckvorlagen herstellen konnte, oder der begehrte Kinderstempelkasten »Famos 527«, etc. (Kaiser/Petzold 1997: 36). In der Tradition dieser Flyerproduktion standen auch die ersten Formen von dem, was man heute Street Art nennt. Der Gelegenheitsautor Lothar Feix erzählt: »Manchmal habe ich auch aus Spaß Buntpapier mit Klebeseite, auf das ich irgendwelche Sprüche draufgeschrieben hatte, an Schaufenster oder Litfasssäulen oder auf die Klappen von Briefkästen geklebt. – Solche Sa-chen haben viele Leute gemacht« (Interview mit Lothar Feis, in: Fels-mann/Gröschner 1999: 83).

Diese subtilen Parallelen der Bohème-Kultur der 1980er Jahre mit dem heutigen Techno-Underground legt nahe, dass Aspekte dieser Kultur die Wendezeiten überdauert haben und die Akteure der 1980er Jahre ihre Aktivitäten auch in den 1990er Jahren fortsetzten, wie es auch das Beispiel Wolfgang Krause zeigt. Während der Feldforschung bin ich den Spuren der DDR-Bohème im Techno-Underground nicht nachgegangen. Wie erwähnt trieb sich Kalle bereits in den 1980er Jahren in der Subkultur des Prenzlauer Bergs herum, besuchte Punk-Konzerte in Kirchen und war mit vielen Druckern befreundet, die vermutlich eigene Zirkel ausgebildet ha-ben. Eine andere Spur wäre die Bar »NBI« in der Schönhauser Allee gewe-sen, in der das »Goldmund«-Collective öfter Veranstaltungen organisierte. Wie mir ein Akteur der Szene erzählte, ist diese Bar fest in der Hand der alten Ost-Bohème. Anstatt aber diesen Spuren nachzugehen, folgte ich den Spuren in die Natur und zu den Wagenburgen.

Eine historische Relevanz dieser subtilen Kontinuitäten müsste erst noch nachgewiesen werden. Doch selbst wenn es sich hier nur um Einzel-fälle handelt, ist dennoch unbestreitbar, dass der Mythos Prenzlauer Berg, der durch die DDR-Bohème geschaffen wurde, das Imaginäre des Bezirks so weit umgeformt hat, dass auch der Techno-Underground in ihm Platz findet und von den Möglichkeitsräumen profitiert, die er eröffnet.

Dieser Mythos erweist sich selbst gegenüber den im Prenzlauer Berg stattfindenden Gentrifizierungsprozessen resistent, die aus dem einst rui-nösen Innenstadtraum einen auch für wohlhabende Besucher aus West-berlin attraktiven Ausgehbezirk geschaffen haben (wobei umgekehrt die

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Bohème auch Protagonist der Gentrifizierungsprozesse ist). Freilich hat es zwischen 1980 und 2000 grundlegende Wandlungen gegeben – bereits 1992, also nur drei Jahre nach der Wende, konstatiert der Publizist Wolf-gang Kil in Die Stadt als Gabentisch »eine extreme stadträumliche Um-wertung: Eben noch diffuses Arme-Leute-Viertel im völlig irregulären Stadtschema der Halbstadt Ostberlin, ist er über Nach zu einer sehr att-raktiven Wohnlage in unmittelbarer Nachbarschaft der erweiterten City mutiert« (Kil 1992: 517). Doch trotz dieser Verschickungen ist der Prenzlauer Berg neben Kreuzberg und Friedrichshain nach wie vor derjenige Bezirk, an dem sich Szenen mit subkultureller Orientierung ansiedeln.

Auf diese Weise sind die Aktivitäten des Techno-Underground mit der Vergangenheit verwoben, die für ihn den Ort bereitet und den Raum ge-öffnet hat.

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