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Neuordnungen von Lebenswelten? Studien zur Gestaltung muslimischer Lebenswelten in der frühen Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten Herausgegeben von Andreas Frings Lit Verlag

Kollektivierung tatarisch: Asekeevo, Mittlere Wolga, 1929-1930

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Neuordnungen von Lebenswelten? Studien zur Gestaltung muslimischer Lebenswelten in der frühen Sowjetunion und in ihren

Nachfolgestaaten

Herausgegeben von Andreas Frings

Lit Verlag

Inhalt

Vorwort (Jan Kusber)

7

Andreas Frings Neuordnungen von Lebenswelten?

9-24

Julia Chmelevskaja Kampf gegen den Hunger in der Ural-Region 1921-1923. Amerikanischer Angriff, lokaler Widerstand und wechselseitige Anpassung

25-61

Andreas Frings Der Schleier als Ausdruck lokaler Renitenz? Reaktionen auf die „Befreiung der Frau“ in der frühen Sowjetunion

63-98

Christian Teichmann Kollektivierung tatarisch. Asekeevo, Mittlere Wolga 1929-1930

99-125

Marlies Bilz Stiefkinder der Nation. Zur Brisanz der Kategorie „krjašeny“ im russischen Zensus von 2002

127-162

Christine Hunner-Kreisel Religiösität bei aserbaidschanischen Jugendlichen als Chance. Funktionen von Religiösität bei jugendlichen Frauen in zwei Moscheen

163-196

Autorenverzeichnis 197-198

Christian Teichmann

Kollektivierung tatarisch. Asekeevo, Mittlere Wolga 1929-1930 Am 10. Oktober 1929 wurde im Kreis Asekeevo in der Mittleren Wolgaregion eine Stoßkampagne zur „Getreidebeschaffung“ ausgerufen, da der Kreis zu die-sem Zeitpunkt weit hinter dem staatlich festgelegten Getreideliefersoll zurück-lag. Vom Bevollmächtigten für die Getreidebeschaffung im tatarischen Dorfsow-jet Novo-Sultangulovo, dem 24 Jahre alten Fatich Buranov, wurde zur Durchfüh-rung der Beschaffungskampagne eine „außerordentliche Trojka“ organisiert. Die Trojka, die sich selbst „Kampfstab“ nannte, versammelte dreißig tatarische Bau-ern aus dem Dorf Sultangulovo und seiner Umgebung. Gemeinsam zog man in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 1929 in das drei Werst entfernte Nachbardorf Molozino. Das aus fünfzig Höfen bestehende Dorf wurde umstellt. An der Ein- und Ausfahrtsstraße wurden Schilder mit der Auf-schrift „Boykott Molozinos!“ aufgestellt. In derselben Nacht durchsuchten Bri-gaden Häuser nach Getreidevorräten und -verstecken. Für jeden Hausstand wur-de ein Eigentumsverzeichnis angelegt. Der Dorfteich wurde abgesenkt, weil dort versteckte Habseligkeiten vermutet wurden. Das im „reichen“ Dorf Molozino erhoffte überschüssige Getreide konnte indes nicht gefunden werden. Molozino wurde mit schwarzen Flaggen umstellt. Das Dorf war in den folgenden Wochen von der Außenwelt isoliert. Den Bauern wurde nicht erlaubt, die herbstlichen Feldarbeiten zu beenden. In kleinen, mit Revolvern und Peitschen bewaffneten Gruppen gingen die tatarischen Funktionä-re und Bauern aus Sultangulovo von Hof zu Hof und setzten die Hausdurchsu-chungen fort. Den an den Razzien beteiligten Bauern wurde ein zwanzigprozen-tiger Anteil an dem Getreide versprochen, das sie aufspüren würden. Die Kampfparole lautete: „Bei wem wir verstecktes Getreide finden, den hängen wir an den Füßen auf, bis ihm die Augen herausfallen.“ Während der Durchsuchun-gen wurden Erschießungen mit vorgehaltener Waffe angedroht, Dorfbewohner festgenommen und bis zu drei Tage lang in einem kalten Verschlag interniert. Zunächst wurden alle jüngeren männlichen Dorfbewohner auf diese Weise terro-risiert, dann die älteren Männer und schließlich die Frauen. Auf Schwangere und Stillende wurde dabei keine Rücksicht genommen. Ein Bericht spricht von bis zu 300 „Verhaftungen“.

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In das Haus, in dem der „Kampfstab“ seinen Sitz genommen hatte, wurde eine hochschwangere Frau geschleift. Dort gebar sie unter den Augen der anwesen-den Männer ihr Kind. Andere Frauen wurden sexuell genötigt: „Spiel ein kleines bisschen mit mir, heiz die Banja an und zeig, dass du die Vorgesetzten achtest, dann bekommst du deine Sachen zurück“ oder „Wenn du dich den Vorgesetzten hingibst, kannst du fahren, wohin du willst“. Vergewaltigungen folgten. Die Männer wurden „Verhören“ unterzogen, bei denen Foltermethoden zum Einsatz kamen. Die Drohungen waren unmissverständlich: „Grabt euch das Grab, solan-ge ihr noch lebt, wir werden euch lebendig begraben.“ Ein älterer Bauer aus dem belagerten Dorf, Dmitri Molozino, wurde mit einer Pistole bedroht und dann mit einem Riemen um den Hals auf einen Tisch gestellt, am Dachbalken hochgezo-gen und erst heruntergelassen, als er das Bewusstsein verloren hatte. Dann wurde er in die Kältekammer gesperrt, „bis er sich’s anders überlegt“. Für einige Tage kam der Vorsitzende des Exekutivkomitees des Kreises Asekee-vo, in dessen Grenzen sich die Dörfer Sultangulovo und Molozino befanden, in das belagerte Dorf. Er nahm an „Verhören“ teil und empfahl nach seiner Rück-kunft nach Asekeevo dem Arzt des örtlichen Krankenhauses, keine Kranken aus boykottierten Dörfern aufzunehmen. In Molozino gingen die Razzien weiter. Immer wieder gingen Brigaden von Haus zu Haus – nun auf der Suche nach Geld und Wertsachen. Stück für Stück wurde Molozino ausverkauft. 22 von den 50 Höfen (nach einem anderen Bericht 28 von 42 Höfen) wurden mit der offi-ziellen Begründung „böswillige Verweigerung der Getreideabgabe“ (Artikel 61 des Strafgesetzbuches der RSFSR) enteignet. Elf Höfe wurden völlig ausgeraubt und der Hausrat billig verscherbelt. Ein Mitglied des Kreisexekutivkomitees erwarb für wenig Geld eines der enteigneten Häuser. Die Belagerer veranstalteten unterdessen „Bankette“, bei denen sie die Gewinne aus dem Verkauf enteigneten Eigentums verzehrten. Gleich zu Beginn der Bela-gerung hatten sie das Geflügel aus dem ganzen Dorf zusammengetrieben, das nach und nach geschlachtet wurde. Auch eine Demonstration wurde veranstaltet. Dazu kamen die Bauern aus den Dörfern der Umgebung nach Molozino und marschierten – die Frauen voran – mit schwarzen Fahnen durch die Dorfstraße. Die auf der Demonstration skandierten Losungen lauteten „Molozino den Tod!“ und „Molozino in ein schwarzes Grab!“ Obwohl die dreiwöchige Stoßkampagne zur Getreidebeschaffung offiziell Anfang November 1929 abgeschlossen war,

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blieb Molozino weiterhin besetzt. Die Belagerung endete in den letzten Novem-bertagen nach anderthalb Monaten.1

Die sechs Wochen der Belagerung von Molozino konnten vergehen, ohne dass den übergeordneten Stellen des Verwaltungsbezirks in Buguruslan oder der regi-onalen Administration in Samara auffiel, was dort geschah.2 Die lokalen Funkti-onäre taten in dieser Zeit mit den Bauern, was sie wollten. Erst als Beschwerden in Moskau durchdrangen und im Dezember 1929 das Gebietsparteikomitee in Samara verständigt wurde, begannen die Ermittlungen der Justizorgane und der Parteikontrollkommission. Der Bezirksstaatsanwalt von Buguruslan hatte sich schon Anfang Dezember mit dem Fall beschäftigt, doch wurden die Ermittlun-gen von den Bezirksparteiorganen in Buguruslan unterdrückt. Der Geheimdienst OGPU berichtete über den Vorfall, griff jedoch in keiner Weise ein.3 Als die drei Ermittler der Parteikontrollkommission Raks, Korneev und Illario-nov im Januar 1930 aus Samara in den Kreis Asekeevo reisten und die Be-schwerden der betroffenen Bauern von Molozino hörten, beschrieben sie in ih-rem Bericht entrüstet „unfassbare Zustände“ und „untolerierbare Ausschreitun-gen“. Scheinbar erstaunte die Ermittler die Tatsache, dass den Bauern weder die Parteiorgane noch die staatlichen Stellen zur Hilfe gekommen waren:

„Entweder bemerkten die Mitarbeiter der Bezirksleitung die unglaublichen Zustände in Molozino nicht, oder sie hielten sie für eine ganz normale Er-scheinung.“4

Brisanz bekam der Fall jedoch nicht wegen der gewaltsamen Ausschreitungen gegen die Bauern oder der Missachtung des „Klassenprinzips“ bei der Getreide-requirierung. Für Unruhe in den höheren Parteikreisen, der bis nach Moskau reichte, sorgte die Tatsache, dass es sich bei den staatlichen Getreideeintreibern um Tataren handelte, die ein russisches Dorf wochenlang terrorisiert und öko-nomisch ruiniert hatten. Unter dem Deckmantel der hoch ideologisierten „Ge-

1 Staatliches Gebietsarchiv für soziale und politische Geschichte Samara (Samarskij Oblastoj Gosudarstvennyj Archiv social’no-političeskoj istorii – im Folgenden SamOGASPI), f. 650, op. 1, d. 261, ll. 3-7 [Revisionsurteil des Gebietsgerichts Samara (1930)], ll. 14-20 [Bericht an die Kontrollkommission der VKP(b) des Gebiets Mittlere Wolga (6.02.1930)], ll. 31-33 [Be-richt des Dorfkorrespondenten Pëtr Nikitin aus Buguruslan (21.01.1930)]. 2 In den Jahren 1928-30 lag der Kreis (rajon) Asekeevo mit den Dörfern Novo-Sultangulovo und Molozino im Verwaltungsbezirk (okrug) Buguruslan im Gebiet Mittlere Wolga (Sredne-Vol’žskij kraj). Heute gehört die Gegend zum Gouvernement Orenburg. 3 Vgl. „Soveršenno sekretno“. Lubjanka–Stalinu o položenii v strane (1922-1934). Band 7: 1929. Moskau 2004, S. 590-591. 4 SamOGASPI, f. 650, op. 1, d. 261, l. 20.

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treidebeschaffungskampagne“ waren Nationalitätenkonflikte ausgetragen wor-den. Die üblichen Verdächtigen waren schnell gefunden: Die Umstände der Be-lagerung deuteten nach Meinung der drei Kontrollkommissionsmitglieder auf ein „feindliches, planvolles Vorgehen“ hin, das von „Kulaken und Mullahs“ inspi-riert sei.5 Doch bei dem Schauprozess in der Sache von Molozino saßen nicht „Kulaken und Mullahs“ auf der Anklagebank, sondern 15 lokale Parteifunktionä-re und einfache Bauern.

Staat, Gewalt und Nationalität Im Konflikt um die Kollektivierung der zentralen Getreideregionen von 1929 bis 1931 wurde die elementare lebensweltliche Ordnung der Beteiligten infrage gestellt. Die Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit und Verachtung, mit der für und wider die Kollektivierung gekämpft wurde, waren Ausdrucksformen und symbo-lische Verdichtungen dieser Konfrontation.6 Tradierte Konkurrenzen und aktuel-le Konflikte wurden durch die Propagandasprache des Klassenkampfes aufgela-den und eskalierten. Die Gewaltkampagnen der Kollektivierung speisten sich aus verschiedenen Quellen und Motivationen, die in lokalen Kontexten unterschied-liche Formen annahmen. In ethnisch heterogenen Gebieten wie der Mittleren Wolgaregion führte dieser Mechanismus zu Nationalitätenkonflikten. Am Bei-spiel der Geschehnisse von Molozino zeigten sich die lokalen Wirkungen der vom Zentrum initiierten Kollektivierungskampagne. Die praktischen Strategien der Kollektivierungsaktivisten und der lokalen Partei-funktionäre reichten von propagandistischer Überzeugungsarbeit bis hin zur arbiträren Anwendung physischer Gewalt.7 Das Handeln der Bauern lag in ei-nem breiten Spektrum von schicksalergebener Passivität, Verweigerung und Landflucht auf der einen Seite und organisiertem Protest, Brandstiftung, Lynch-justiz oder Meuchelmord auf der anderen Seite.8 Das Hin und Her im Kampf um

5 Ebenda, l. 19. 6 Vgl. die Augenzeugenberichte bei BERDINSKICH, Viktor: Krest'janskaja civilizacija v Rossii. Moskau 2001, S. 298-349. 7 Vgl. FITZPATRICK, Sheila: Stalin’s Peasants. Resistance and Survival in the Russian Vil-lage after Collectivization. New York 1994, S. 48-79; IVNICKIJ, N. A.: Kollektivizacija i razkulačivanie (načalo 30-ch godov). Moskau 1996. 8 Vgl. VIOLA, Lynne: Peasant Rebels under Stalin. Collectivization and the Culture of Peas-ant Resistance. New York/Oxford 1996.

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Deutungsmacht und Hegemonie war ein symbolgeladener Konflikt, in dem es für beide Seiten um die existentielle Frage des Überlebens ging.9 In den Dörfern war die Kollektivierung selten eine Auseinandersetzung um Ideologie und „neue Lebensweise“, sondern häufig eine Reihe gewaltsam ausgetragener Konflikte. Beide Seiten rangen um Ehre, Anerkennung und materielle Güter.10 Gewalt spielte in den Auseinandersetzungen eine Schlüsselrolle. In einem Dorf, wo jeder von jedem alles weiß, Geschichten und Gerüchte über die Nachbarn die Kommunikation strukturieren und Konflikte face to face ausgetragen werden, ist körperliche Gewalt eine nahe liegende, unter Umständen obligatorische Sankti-onsmaßnahme. Gewalt ist eingebettet in einen bewegten sozialen Kontext, in dem Täter- und Opferrollen nie eindeutig auf bestimmte Gruppen festgelegt werden können.11

Vorgehensweise Die Ermittler, Funktionäre und Richter, die sich mit dem Fall Molozino ausei-nandersetzten, mussten sich Gedanken um die Frage machen, in welchem Zu-sammenspiel Staat, Gewalt und Nationalität im Kreis Asekeevo funktionierten. Im Folgenden werden diese Überlegungen nachgezeichnet. Dazu ist der „ideolo-gische“ Rahmen abzustecken, in dem die Moskauer Bolschewiki argumentierten. In einem nächsten Schritt werden die lokalen Dispositionen aufgezeigt, die die ländliche Wolgaregion am Ende der zwanziger Jahre als staatsferne Region er-scheinen lassen, in der die Überlebenssicherung konkurrierender ethnischer Ge-meinschaften prägend waren.

9 Vgl. BABEROWSKI, Jörg: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus. München 2003, S. 669-752. 10 Vgl. KOPELEW, Lew: Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten. Ham-burg 1979. 11 Vgl. WALZ, Rainer: Agonale Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit. Westfälische Forschungen 42 (1992), S. 215-251; SCHREINER, Klaus / SCHWERHOFF, Gerd: Verletzte Ehre. Überlegungen zu einem Forschungskonzept. In: Dies. (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflik-te in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln u.a. 1995, S. 1-28; SCHMIDT, Heike: Neither Peace Nor War. Making Sense of Violence. In: Sociologus. Bei-heft 1 (1999), S. 211-225; SCHATTENBERG, Susanne: Die Frage nach den Tätern. Zur Neukonzeptualisierung der Sowjetunionforschung am Beispiel von Ingenieuren der 20er und 30er Jahre. In: Osteuropa 50 (2000) 6, S. 638-655.

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Kernstück der Argumentation ist der Versuch einer „dichten Beschreibung“ der Belagerung von Molozino: Gewaltformen und Gewalttraditionen werden ge-schildert und analysiert, das Ausmaß der Gewalt als Reaktion auf den induzierten Wandel der Kollektivierungsperiode interpretiert. Der Verlauf des Schauprozes-ses gegen die Belagerer und die Ereignisse der Kollektivierung des Kreises Ase-keevo zeigen, auf welche Weise die zentralstaatlichen Instanzen versuchten, ihre Auffassung des Verhältnisses von staatlicher Intervention, Gewaltpraxis und lokalen Interessen in einer multiethnischen Region durchzusetzen, und wie der Konflikt die beteiligten Seiten veränderte. Die Kollektivierung unter dem Stichwort „Neuordnung der Lebenswelt“ abzu-handeln, ist ein Euphemismus. Die Bauern der Wolgaregion und die tatarischen Dorfkommunisten wurden durch die Kollektivierung mit einem existenzbedro-henden Umbruch konfrontiert. Es ging dabei nicht um bloße ideologische Ausei-nandersetzungen, sondern um die Verteidigung von Ehre, Würde und materiel-lem Besitz. Die Art und Weise, wie die tatarische Bevölkerung des Kreises Ase-keevo auf die staatlich induzierten Veränderungen reagierte und wie sie in dieser Umbruchzeit agierte, war bestimmt von lokalen Traditionen und biographischen Erfahrungen. Dies lässt an das Diktum von Clifford Geertz aus seinem Aufsatz „Dichte Be-schreibung“ denken,

„dass soziale Konflikte nicht etwa dann eintreten, wenn kulturelle Formen zu funktionieren aufhören, weil sie schwach, unbestimmt, überholt oder un-brauchbar geworden wären, sondern vielmehr dann, wenn diese Formen durch ungewöhnliche Intentionen dazu gebracht werden, auf ungewöhnliche Weise zu funktionieren.“12

Asekeevo ist ein Modell für diese „ungewöhnliche“ Funktionsweise „kultureller Formen“. Russische Bauern, tatarische Dorfkommunisten und die Bolschewiki in Samara und Moskau lebten in getrennten Welten, die 1929/30 in der Belagerung von Molozino und dem Schauprozess von Asekeevo gewaltsam aufeinander prallten. Dabei kennzeichneten ethnisch codierte Symbolformen, Rituale der Gewalt und biographische Erfahrungen das Verhältnis von Staat, Gewalt und Nationalität. Geertz hat in seinem Entwurf einer Kulturphänomenologie wiederholt darauf hingewiesen, dass es in sozialen Beziehungen Konkurrenzen verschiedener Be-

12 GEERTZ, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/Main 1987, S. 40-41.

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deutungssysteme in der Auslegung der Welt gibt, deren wechselnde Konstellati-on es zu beschreiben gilt. Für Historiker wurde er mit dieser These in den achtzi-ger Jahren zu einem wichtigen Bezugspunkt. Seine weitläufig rezipierte und kontrovers diskutierte Kulturtheorie gab dabei jenen Stimmen in der Ge-schichtswissenschaft mehr Gewicht, die sich dafür aussprachen, die begrenzte Reichweite des sozialgeschichtlichen Paradigmas aufzuzeigen und alternative, im Alltag und in kleinen Räumen angesiedelte Themen einzubringen.13 Geertz’ Theorie spielte dabei die Rolle eines ideellen Bezugspunktes. Wie schon in der Ethnologie machte die „dichte Beschreibung“ in der Geschichtswissenschaft nicht als Methode, sondern als Metapher Karriere. Folglich gilt es darüber nach-zudenken, welche Bedeutungen die Metaphern des Ethnologen für ein interpre-tierendes Vorgehen des Historikers bereitstellen. Zunächst klingen die Geertzschen Forderungen für Historiker wie eine Überfor-derung. Wenn Geertz schreibt, es müssten nicht Dörfer untersucht, sondern in Dörfern geforscht werden, stellt er sich einerseits in die bequeme Tradition eth-nographischer Wirklichkeitsillusion, zeigt andererseits aber die Grenzen in der Arbeitsweise von Historikern auf.14 Diese Grenzen liegen nicht nur in der kör-perlichen Unmöglichkeit, in vergangene Realitäten zu gelangen, sondern auch in der Quellenüberlieferung der russischen Archive, die in der Regel wenig über das Leben in den Dörfern zu erzählen hat. Jedoch bilden die Jahre der Kollekti-vierung, insbesondere 1928 bis 1930, eine Ausnahme, da die sowjetische Füh-rung in diesen Jahren Informationen aus jeder nur möglichen Quelle zu erlangen suchte.15 Eine andere Überforderung der Geertzschen Kulturphänomenologie ist ihr Vorhaben, soziale Tatsachen „aus der Sicht der Handelnden“ darzustellen. Geertz selbst wusste wie andere, dass in der Konsequenz dieser Perspektive fik-tionale Texte entstehen würden, da bei einer solchen Vorgehensweise Grenzzie-hungen zwischen Darstellungsform und Inhalt schwerlich fixiert werden können. Wie sich also abgrenzen von dem Vorwurf, „dichte Beschreibung“ wäre nichts als „Phantasieren über Kannibaleninseln“?16

Gerade weil die Agenda der „dichten Beschreibung“ Unmögliches fordert, hat sie besondere Qualitäten. Sie stellt sich ein unerreichbares Ziel und liegt quer zu den Quellen. Damit bringt sie sich selbst immer wieder in den Interpretations-

13 Repräsentativ der von Winfried SCHULZE herausgegebene Band: Sozialgeschichte, All-tagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion. Göttingen 1994. 14 GEERTZ, Clifford: Dichte Beschreibung, S. 32. 15 PENNER, D’ann R.: Ports of Access into the Mental and Social Worlds of Don Villagers in the 1920s and 1930s. In: Cahiers du Monde Russe 40 (1999), S. 171-197. 16 GEERTZ, Clifford: Dichte Beschreibung S. 21-24.

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prozess ein und stellt stetig den Standpunkt des Beobachters infrage. Denn die Quellen geben ihre Geschichten zögerlich preis. Existentielle Brüche und fakti-sche Kontrapunkte, die in den Verlaufgeschichten von Großereignissen entglei-ten und die im Prozess der Herstellung von Großbegriffen verloren gehen, wer-den erst im Modus der „dichten Beschreibung“ sagbar. Dadurch steht Geschichte da als ein unfertiger Text, der ständig umgeschrieben wird, aber nicht festge-schrieben werden kann.17 In der „dichten Beschreibung“ richtet sich das Interes-se auf lokale Konstellationen. Konventionell von der Vergangenheit vorhandene Bilder sollen durch sie modifiziert werden. Das Hinterfragen der „großen Erzäh-lungen“ soll eine andersartige, kleinräumige, „dichte“ Totalität zum Vorschein bringen. Diese Totalität gibt sich den Anschein zu wissen, was Akteure und In-tentionen an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt bewegt hat. Sie schreibt konkretem sozialem Handeln einen Sinn zu. „Dichte Beschreibung“ ist die Konstruktion einer kulturellen Welt in der Differenz zur Erfahrung des Beobachters. Sie ist damit nicht mehr und nicht weniger, als der Versuch, andere Menschen, Zeiten und Orte zu verstehen. Als dieser Versuch ist sie eine Ge-schichtserzählung im Modus des Zweifels.18

Die Ehre der Partei Die „unfassbaren Zustände“ und „untolerierbaren Ausschreitungen“, von denen die Ermittler der Kontrollkommission aus Molozino zu berichten wussten, waren am Ende der zwanziger Jahre überall in der Sowjetunion Normalität. Die seit Ende 1927 durchgeführten „Getreidebeschaffungskampagnen“ mit ihren „außer-ordentlichen Maßnahmen“ bestanden in der Festsetzung von Getreidepreisen unter Marktniveau, der Festlegung von Getreideabgabequoten für einzelne Krei-se und Dörfer, der Durchsuchung von Häusern und Vorratslagern unter Gewalt-androhung, der Verfolgung von Zwischenhändlern als „Spekulanten“ und der 17 Vgl. GADAMER, Hans-Georg: Historik und Sprache (1985). In: KOSELLECK, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M. 2003, S. 119-127, hier S. 125. Dieser Sach-verhalt zum wissenschaftlichen Credo erhoben von MEDICK, Hans: Quo vadis Historische Anthropologie? Geschichtsforschung zwischen historischer Kulturwissenschaft und Mikro-Historie. In: Historische Anthropologie 9 (2001) 1, S. 78-92, hier S. 84. Eine skeptische Rep-lik auf Medicks Programm bei SOFSKY, Wolfgang: Systematische und historische Anthropo-logie. In: Historische Anthropologie 9 (2001) 4, S. 457-461. 18 Vgl. BABEROWSKI, Jörg: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. München 2005. S. 185.

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Enteignung von Bauern, die ihr Getreide nicht abgeben wollten oder keines mehr besaßen. Die „außerordentlichen Maßnahmen“ – bekannt unter Stalins Bezeich-nung „ural-sibirische Methode“ – öffneten Missbrauch und Gewalt Tür und Tor.19 Die Organisatoren der Beschaffungskampagnen waren sich über diesen Zusam-menhang im Klaren. In seinem Bericht über die Getreidekampagne 1928/29 stellte der Geheimdienstchef der Mittleren Wolgaregion, Boris Bak, lakonisch fest:

„Die Getreidebeschaffungskampagne wurde unter größtmöglichem Druck und (als Folge dessen) mit der allergrößten Zahl von Exzessen durch Funkti-onäre durchgeführt.“20

In der Mittleren Wolgaregion gab es eine Vielzahl von Fällen, die dem von Mo-lozino ähnlich waren. Das Dorf Zabladskoe nördlich von Samara wurde im Feb-ruar 1930 von Kreisfunktionären abgeriegelt und unter Kriegsrecht gestellt. Wie in Molozino wurden Häuser und Höfe durchsucht, Vieh konfisziert, Bauern als Geiseln genommen und in kalten Scheunen interniert. Verhaftungen, Folter und Scheinexekutionen führten unter Umständen zum Tod der Opfer.21 Dörfer, die mit Boykotten belegt und deren Bewohner bedroht, misshandelt und erniedrigt wurden, gab es seit 1928 in allen Teilen der Sowjetunion, wo staatliche Funktio-näre die Getreidebeschaffung nach der „ural-sibirischen Methode“ durchführ-ten.22

Der Sinn der Getreidebeschaffungskampagnen und der seit den Sommermonaten 1929 aus ihr entstehenden Kollektivierung erschöpfte sich nicht in ökonomi-schen Gründen.23 Die Getreideversorgung der Städte sowie die Technisierung 19 Vgl. LEWIN, Moshe: The Making of the Soviet System. Essays in the Social History of Interwar Russia. London 1985, S. 142-177. Zur Einführung der „außerordentlichen Maßnah-men“ im Jahre 1928 WEHNER, Markus: Bauernpolitik im proletarischen Staat. Die Bauern-frage als zentrales Problem der sowjetischen Innenpolitik 1921-1928. Köln u.a. 1998, S. 367-373, sowie HUGHES, James: Capturing the Russian Peasantry. Stalinist Grain Procurement Policy and the „Ural-Siberian Method“. In: Slavic Review 53 (1994) 1, S. 76-103. 20 SamOGASPI, f. 52, op. 1, d. 255. l. 315. Zu Boris A. Baks Lebenslauf und Karriere in den Sicherheitsorganen: Kto rukovodil NKVD 1934-1941. Spravočnik. Moskau 1999, S. 97-98. 21 Vgl. SamOGASPI, f. 52, op. 1, d. 20, ll. 223-224; f. 1141, op. 2, d. 22, l. 35; Fitzpatrick: Stalin’s Peasants, S. 29. 22 Vgl. Golos naroda. Pis’ma i otkliki rjadovych sovetskich graždan o sobytijach 1918-1932 gg. Moskau 1998, S. 266; IVNICKIJ: Kollektivizacija i razkulačivanie, S. 123-124. 23 Ein solcher Erklärungsversuch wurde jüngst wieder vorgenommen von TAUGER, Mark: Soviet Peasants and Collectivisation, 1930-1939. Resistance and Adaptation. In: Journal of Peasant Studies 31 (2004) 3-4, S. 427-456.

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und Rationalisierung der landwirtschaftlichen Produktionsweise hätten auf ande-re Art und Weise bewerkstelligt werden können.24 Jedoch sollte die dörfliche Lebenswelt, die sich dem Herrschaftsanspruch der Bolschewiki in den zwanziger Jahren weitgehend entzogen hatte, in ihrer Substanz von Traditionen, Gesell-schaftsstrukturen und Lebensweisen zerstört werden, denn die Dorfbewohner regelten Konflikte oftmals unter Umgehung staatlicher Strukturen und verstan-den es, die an sie von den Bolschewiki herangetragenen Absichten für ihre eige-nen Ziele zu nutzen. 25 Die in den ländlichen Gebieten lebenden Dorfkommunisten fungierten entweder als Außenseiter der Dorfgemeinschaft oder als deren geachtete Mitglieder. Wur-den sie im Dorf als Außenseiter gesehen, begegneten ihnen die Bauern distan-ziert und misstrauisch. Viele Dorfparteizellen der zwanziger Jahre bildeten eige-ne „Kasten“, deren Mitglieder wirtschaftliche Absicherung und materielles Wohlergehen suchten.26 Der zweite Typ von Dorfkommunisten lebte nach den Regeln seiner Umwelt. Ihnen waren die Verhaltensweisen und Eigenschaften, die im Tugendkatalog der Partei gefordert wurden, unbekannt oder sie ignorier-ten sie. Beide Gruppen von Dorfkommunisten waren der Moskauer Führung wie auch den regionalen Parteiorganen suspekt. Entsprechend negativ war das Bild, das sich den zentralen Parteistellen während der „Säuberung“ von 1929/30 von der Situation auf dem Land bot. So berichtete die Parteikontrollkommission der Mittleren Wolgaregion von den Dorfkommunisten aus Sančeleevo, die unfähig wären, die Getreidebeschaffung zu koordinieren, und dadurch „ihre Autorität bei den Bauern verloren“ hätten. Die Hälfte der Parteimitglieder von Sančeleevo musste wegen Unterschlagungen von konfisziertem Eigentum vor Gericht ge-bracht werden. Im Dorfsowjet von Bol’šoj Glušick war die Lage nicht besser. Parteimitglieder unterstützten „Kulaken“, waren bei der Durchführung der Früh-jahrssaat untätig, kümmerten sich nicht um die Besserstellung armer Bauern und „verstanden die Losung von Kritik und Selbstkritik nicht“. In einigen Dörfern stellten die Kontrolleure „rechte Abweichungen“ fest, die sich „in Verstößen gegen die Klassenlinie, der Unterdrückung von Kritik und Selbstkritik und Ge-

24 Vgl. DANILOV, V. P.: Stalinizm i sovetskoe obščestvo. In: Voprosy istorii (2004) 2, S. 169-175. 25 Vgl. BABEROWSKI: Der Feind ist überall, S.681-683 (mit Verweis auf Molotovs Reden vor den Parteichefs der Regionen am 13.01.1930 und der nationalen Republiken am 12.02.1930). 26 Vgl. LIVŠIN, Aleksandr / ORLOV, Igor’: Vlast’ i obščestvo. Dialog v pis’mach. Moskau 2002, S. 68-71.

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walt gegen arme Bauern (Verprügelungen, Einschüchterungen, Vergiftungen usw.)“ äußerten. Der Nachwuchs des Komsomol zeigte sich gleichfalls wenig hoffnungsvoll:

„Die Komsomolzen lassen sich kirchlich trauen, taufen ihre Kinder, spielen abends Küsschenspiele und auf öffentlichen Versammlungen fluchen sie beim Redenhalten.“27

Die höheren Parteichargen kannten zur Verbesserung dieser Situation nur eine Lösung. Sündige Dorfkommunisten wurden aus der Partei ausgeschlossen und vor Gericht gestellt. Sie wurden von ihren Posten entlassen und durch städtische Arbeiter oder andere Dorffremde ersetzt. Wie sich die zentralen Parteiorgane eine funktionierende Partei auf dem Dorf vorstellten, formulierte der Vorsitzende der Bezirkskontrollkommission von Samara, Briskul’s, im Propagandaton der Kollektivierungsperiode. Es ginge darum, so Briskul’s,

„Kritik und Selbstkritik zu entwickeln, damit sie die Initiative nicht nur der Parteimitglieder, sondern auch der Parteilosen hervorruft, damit sie der Par-teiorganisation Autorität verschafft und sie tatsächlich in das Zentrum des dörflichen Lebens rückt“.28

Die Betonung der „Autorität der Partei“ zeigt zum einen die Isolation, in der sich die städtischen Bolschewiki selbst sahen.29 Andererseits weist die Formulierung auf ein Machtverständnis hin, das durch traditionalistische Vorstellungen cha-rismatischer Herrschaftsausübung geprägt ist. Dieses Verständnis von Macht wird durch die Sprache signalisiert, die auch von den Moskauer Parteiführern benutzt wurde, wenn sie über ihren Konflikt mit der dörflichen Welt sprachen. Indem laufend neue Kampagnen initiiert, immer wieder Repräsentanten aus den Städten auf die Dörfer entsendet wurden und deren Machtbereich stetig erweitert wurde, sollten die Autorität des Staates und damit das Ansehen der Partei durch-gesetzt werden. Als der Sekretär des Zentralkomitees, Lazar Kaganovič, auf einer Sitzung des Rates für Arbeit und Verteidigung im September 1928 zu den „außerordentlichen Maßnahmen“ befragt wurde, ließ er die Anwesenden wissen:

27 SamOGASPI, f. 650, op. 1, d. 891, ll. 7-8ob. 28 Ebenda, l. 11. 29 Vgl. GOULDNER, Alvin W.: Stalinism. A Study of Internal Colonialism. In: Telos 34 (1977/78), S. 5-48. Zur Ablehnung dorffremder Funktionäre durch die Bauern LIVŠIN/ORLOV: Vlast’ i obščestvo, S. 73-75.

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„Wenn wir zur Getreidebeschaffung Tausende von Leuten in Marsch auf das Dorf setzen konnten, um uns das Korn zu nehmen, dann sollten wir jetzt Tau-sende Leute in Bewegung setzen, um den Bauern klar zu machen -- Zwischenruf: So viel zur ‚Abschaffung’ der außerordentlichen Maßnahmen -- Hier geht es nicht um außerordentliche Maßnahmen, sondern um Hilfe für die Bauern. Wir sollten unsere Leute hinschicken, damit die Bauernschaft ver-steht, dass die Regierung und die Partei Leute schicken, die kommen, um das Gesetz umzusetzen. Ich denke, dass sich dadurch die Autorität der Partei und der Sowjetmacht erhöht. [...] Wenn wir uns nur auf Direktiven beschränken – dessen versichere ich euch – bleibt alles beim Alten.“30

Die physische Präsenz von staatlichen Akteuren war für Kaganovič das wichtigs-te Argument im Umgang mit der Landbevölkerung. Sein Machtverständnis be-ruhte auf einer Konzeption von Herrschaft als körperliche Durchsetzung von Autorität, Prestige und Ehre. Wie auch Stalin verstand Kaganovič Herrschaft als Demonstration physischer Macht. Stalin seinerseits protegierte Parteimitglieder, die ihre Ziele mit Gewalt durchsetzten.31 Analog beschrieben viele Moskauer Bolschewiki Herrschaft in Metaphern des körperlichen Zweikampfs. Kaganovič rief im Februar 1930 auf dem Höhepunkt der ersten Kollektivierungskampagne einer Parteiversammlung in Samara zu:

„Genossen, gerade durchleben wir eine äußerst schwierige Zeit. Wir fühlen aber sehr genau [prjamo fizičeski oščuščaem], dass, wenn wir die derzeitigen Probleme bei der Aussaatkampagne überwinden, danach alles ganz anders aussehen wird. Die Bauern werden an unsere Stärke glauben [krest’janstvo uveruet v našu silu].“32

30 Russländisches Staatliches Archiv für soziale und politische Geschichte Moskau (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Političeskoj Istorii – im Folgenden RGASPI), f. 81, op. 3, d. 72, ll. 102-103 (21.09.1928). 31 Vgl. Stalin i Kaganovič. Perepiska 1931-1936 gg. Moskau 2001, S. 277-280. Zu Stalins von seiner kaukasischen Herkunft geprägtem Gewaltverständnis RIEBER, Alfred J.: Stalin, Man of the Borderlands. In: American Historical Review 106 (2001) 5, S. 1651-1691, hier S. 1663f.; BABEROWSKI, Jörg: Zivilisation der Gewalt. Die kulturellen Ursprünge des Stali-nismus. In: Historische Zeitschrift 281 (2005), S. 59-102. 32 RGASPI, f. 81, op. 3, d. 210, l. 20 ob. (21.02.1930).

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Lokale Dispositionen Die Moskauer Führung schuf mit Kampagnen und Propaganda den Handlungs-rahmen, in dem die tatarischen Dorfbolschewiki von Asekeevo im Herbst 1929 ihre Getreidebeschaffung organisierten.33 Sie hatten sich die „ural-sibirische Methode“ mit ihren Gewalttechniken zu Eigen gemacht. Doch warum kam es zu diesem Übermaß an Gewalt? Warum wurde der Konflikt um die Getreidebe-schaffung als ethnischer Konflikt ausgetragen? Zwei Faktoren trugen zu dieser Konstellation bei: einerseits die Nationalitäten-politik der Bolschewiki und andererseits die Staatsferne der ländlichen Wolgare-gion. In gängigen Darstellungen der stalinschen Sowjetunion als totalitärer Staat mit einem omnipotenten Partei- und Sicherheitsapparat geriet oft aus dem Blick, dass die Herrschaft der Bolschewiki am Ende der zwanziger Jahre auf einer schmalen städtischen Basis beruhte. Doch aus Sicht der Dörfer war der Staat fern.34 Die ländlichen Regionen wurden nur durch Kampagnen oder kurzfristig abkommandierte städtische Bevollmächtigte „regiert“. In jeder neuen Kampagne zeigten sich die Unwissenheit und das Unverständnis von neuem, das den vom Zentrum entsandten Kommunisten in den Dörfern entgegenschlug.35 Als weitere Kennzeichen für die Staatsferne der ländlichen Wolgaregion sind ihre dysfunkti-onalen Verwaltungs- und Versorgungsapparate, Vetternwirtschaft und Korrupti-on anzusehen.36 Die ausufernde Gewalt der Belagerung und das augenscheinli-che Erstaunen der Ermittler über die „unfassbaren Zustände“ und „untolerierba-ren Ausschreitungen“ in Molozino waren das Ergebnis. Des weiteren spielte bei den Ermittlungen in diesem Fall die Nationalitätenpoli-tik eine wichtige Rolle. Der ethnische Aspekt des Konflikts beschäftigte die 33 Zur Propaganda und deren Wirkungen MERL, Stefan: Gewalt und Militanz in Sowjetruss-land 1917-1930. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1999) 3, S. 409-430. 34 Vgl. LIVŠIN/ORLOV: Vlast’ i obščestvo, S. 65-66. Auch in den Städten war das Netz weitmaschig. Vgl. FITZPATRICK, Sheila: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordi-nary Times. Soviet Russia in the 1930s. Oxford 1999, S. 132-136; HOFFMANN, David L.: Peasant Metropolis. Social Identities in Moscow, 1929-1941. Ithaca 1994. 35 Vgl. RGASPI, f. 81, op. 3, d. 72, ll. 13-23 (12.9.1929). 36 Der aus der Politikwissenschaft stammende Begriff der Staatsferne wurde an lateinamerika-nischen und afrikanischen Beispielen entwickelt. Vgl. WALDMANN, Peter: Nachahmung mit begrenztem Erfolg. Zur Transformation des europäischen Staatsmodells in Lateinamerika. In: REINHARD, Wolfgang (Hg.): Verstaatlichung der Welt? Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Machtprozesse. München 1999, S. 53-68; BIERSCHENK, Thomas / de SARDAN, Jean-Pierre Olivier: Local Powers and a Distant State in Rural Central African Republic. In: Journal of Modern African Studies 35 (1997) 3, S. 441-468.

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Parteibehörden in Samara stärker als die exzessive Gewaltanwendung. Der tata-rische nationale Kreis Asekeevo, in dem es außer Molozino noch zwei weitere russische Dörfer gab, war als Teil des nationalitätenpolitischen Programms der Bolschewiki geschaffen worden. Nationale Minderheiten wurden gezielt geför-dert, indem die Verwaltung in die Hände der lokalen Mehrheitsbevölkerungen gelegt wurde. Einerseits sollte damit „großrussischer Chauvinismus“ bekämpft werden und andererseits die Verwurzelung nichtrussischer Bevölkerungsteile im Sowjetsystem (korenizacija) durch eine gezielte Kaderpolitik befördert werden. Die nationalen Verwaltungseinheiten auf lokaler Ebene, die seit 1924 in der Ukraine und sukzessive in den anderen Regionen der Sowjetunion eingeführt wurden, brachten jedoch nicht das vom Zentrum erhoffte Ergebnis, Nationalitä-tenkonflikte durch basisdemokratische Lokalverwaltungen zu beenden. Statt Klassenbewusstsein zu forcieren, verstärkte sich in den multiethnischen Regio-nen das Bewusstsein ethnischer Identität. Diese starken ethnischen Loyalitäten wurden in lokalen Konflikten um ökonomische Ressourcen (Land und Verwal-tungsposten) leicht instrumentalisierbar.37

Molozino war ein solcher Fall, in dem der ökonomische und ideologische Druck der Getreidebeschaffung von den tatarischen Funktionären zur Überlebenssiche-rung ihrer ethnischen Gemeinschaft genutzt wurde. Das russische Nachbardorf – darin waren sich die tatarischen Funktionäre einig – war reich und konnte darum mehr Getreide abgeben. Das errechnete die Trojka, in deren Hand die Getreide-kampagne lag.38 Da die Politik der Getreiderequirierungen von Bauern und Dorfkommunisten gleichermaßen als existentielle Bedrohung empfunden wurde, war es in den nationalen Kreisen und Dorfsowjets gleichsam folgerichtig, die unterrepräsentierte Minderheit mit einer überhöhten Lieferquote zu belegen. Da in dieser Auseinandersetzung die Lebensgrundlagen verhandelt wurden und die Interessendurchsetzung scheinbar nur auf Kosten der „anderen“ Seite erzielt werden konnte, findet sich hier ein für ethnische Konflikte typisches Handeln: Der potentielle Verlust der Lebensgrundlagen bedroht die Existenz der Gruppe in ihrer politischen, sozialen und kulturellen Totalität. Die Bedrohung der Totalität der Gruppe führt zur Totalität des Konflikts, der ein hohes Gewaltpotential in 37 Vgl. MARTIN, Terry: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923-1939. Ithaca 2001, S. 31-74; Ders.: Borders and Ethnic Conflict. The Soviet Experiment in Ethno-Territorial Proliferation. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 47 (1999) 4, S. 538-555. Grundlegend SLEZKINE, Yuri: The USSR as a Communal Apart-ment, or How a Socialist State Promoted Ethnic Particularism. In: Slavic Review 53 (1994) 2, S. 414-452. 38 Vgl. SamOGASPI, f. 650, op. 1, d. 261, l. 15.

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sich birgt und ausbricht, wenn übergeordnete Handlungskriterien zusammenbre-chen, die das Miteinander beider Gruppen regeln könnten. Die Integrationskraft des Zentrums versagt.39

Die Organisatoren der Belagerung bewegten sich in einem dörflichen kulturellen Kontext. Sie mussten ihren Bauern beweisen, dass die durch sie vertretene Sow-jetmacht in bäuerlichem Interesse handelte, obwohl die zentralen Behörden jähr-lich steigende Getreideabgaben und Steuern forderten. Damit wurde die Belage-rung von Molozino zu einem Ventil für die gegen das Nachbardorf empfundene Feindseligkeit, die für die Gruppe der tatarischen Belagerer eine solidarisierende und sinnstiftende Funktion hatte. In der Umbruchsituation der Getreidekampagne und der Kollektivierung definierten die Dorfkommunisten für sich und die Be-völkerung ihres Kreises Handlungsspielräume, um den vom Zentrum auf sie ausgeübten Druck fernzuhalten oder ihn im Kontext lokaler Interessen zu nutzen. Um dies der Bevölkerung zu demonstrieren, bedienten sie sich in einer Krisen-zeit einer Sprache der Tradition und einer Symbolik traditioneller Konfliktaus-tragung.

Die Riten der Gewalt Von den Belagerern Molozinos wurde eine Reihe von Gewaltpraktiken ange-wendet, die ihren festen Platz in der traditionellen Ordnung dörflicher Gewalt hatten. Kernsymbol dieser Gewalttraditionen war das Drohen mit der Peitsche, das die Macht des Waffenträgers anzeigt und gleichzeitig die Bedrohtheit der physischen Integrität des Opfers markiert. Die Rituale der traditionellen Gewalt müssen sichtbar vor den Augen der lokalen Öffentlichkeit stattfinden, um ihre entehrende und erniedrigende Wirkung zu entfalten. Zu diesem Zweck nutzten die Organisatoren der Belagerung ein sowjetisches Feiertagsritual und veranstal-teten eine Demonstration, bei der die Bewohner der umgebenden Dörfer schwar-ze Fahnen durch Molozino trugen und Losungen skandierten („Molozino den Tod!“, „Molozino in ein schwarzes Grab!“). Die tatarischen Belagerer waren bei der Wahl der Gewaltpraktiken bemüht, ge-zielt russische Bräuche und Riten zu verspotten. Beispielsweise hatte die Ver-knüpfung von Begräbnis und Getreide einen festen Platz in der Kultur der russi- 39 Vgl. ESSER, Hartmut: Die Situationslogik ethnischer Konflikte. In: Zeitschrift für Soziolo-gie 28 (1999) 4, S. 245-262, hier S. 246-247.

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schen Bevölkerung des Wolgagebiets. Es gab den Brauch, Särge, die noch zu Lebzeiten gefertigt wurden, mit Mehlsäcken oder Roggenkörnern zu füllen, die am Tag der Beerdigung an Bedürftige verteilt wurden.40 Die Tataren benutzten in Molozino die „rituellen Codes“ der russischen Dorfkultur und unterstrichen damit die von ihnen gezogene unüberwindliche Grenze zwischen beiden Grup-pen.41 Physische Gewaltanwendung markierte dabei die Asymmetrie des ethnisierten Handlungskontextes, in dem den russischen Bauern von Molozino kein Aktions-raum gelassen werden durfte. Komplementär bedienten sich die Belagerer einer ritualisierten Symbolsprache von Handlungen und Zeichen. Dies geschah, um emotionale Wirkungen zu erzielen. Die körperliche Einschüchterung ging einher mit symbolischen Handlungen, die das Erleben von Angst und Bedrohung mit-hilfe kulturell eingeübter symbolischer Bedeutungen emotional verankern soll-ten.42 Darum verwendeten die Belagerer eine Sprache terrorisierender Todessymbolik. Das Umstellen eines Dorfes mit schwarzen Flaggen war in Russland ein Zeichen dafür, dass ein Dorf verlassen oder durch Hunger ausgestorben sei.43 Doch an-statt die Todesdrohung in die Tat umzusetzen, waren Schandstrafen und die Er-niedrigungen der Opfer die wesentlichen Ziele der nivellierenden dörflichen Gewalt. Der exzessiven Gewaltanwendung waren damit auch Grenzen gesetzt. Gleichermaßen trafen die tatsächlich ausgeübten Akte physischer Gewaltanwen-dung sozial niedrig stehende und schwache Mitglieder der Dorfgemeinschaft (Alte, Frauen, Schwangere). Die Scheinexekution durch Erhängen wurde an einem alten Mann vorgenommen. Öffentliche Vergewaltigungen hatten einen festen Platz in der ritualisierten Gewalt des russischen Dorfes.44 Die tatarischen Belagerer forderten von den Frauen verbal eine Anerkennung als Mächtige 40 Vgl. ZORIN, N. V. / LEŠTAEVA, N. V.: Pogrebal’nyj ritual russkogo naselenija Kazanskogo Povol’žja (konec XIX–načalo XX v.). In: Semejnaja obrjadnost’ narodov Srednego Povol’žja (Istoriko-etnografičeskie očerki). Kasan 1990, S. 104-121, hier S. 108. 41 Vgl. GOFFMAN, Erwing: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt/Main 1986, S. 38-39, 47-48. 42 Vgl. SOEFFNER, Hans-Georg: Protosoziologische Überlegungen zur Soziologie des Sym-bols und des Rituals. In: SCHLÖGL, Rudolf u.a. (Hg.): Die Wirklichkeit der Symbole. Grund-lagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften. Konstanz 2004, S. 41-72, hier S. 43-46, 62-63. 43 Vgl. MERRIDALE, Catherine: Night of Stone. Death and Memory in Russia. London 2000, S. 198-199. 44 Vgl. ALTRICHTER, Helmut: Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung. München 1984, S. 105-108, 130-132.

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(„Zeig, dass du die Vorgesetzten achtest!“) und zwangen sie gleichzeitig durch materielle Versprechen in ein prostitutionsartiges Verhältnis. Eine erniedrigende Travestie russischer regionaler Bräuche war die Niederkunft einer Schwangeren unter den Augen der tatarischen Getreideeintreiber: In der Mittleren Wolgaregi-on war die Anwesenheit der Ehemänner bei der Geburt verbreitet, um durch die Ausübung von Ritualen zum glimpflichen Verlauf der Geburt beizutragen.45

Eine in einem ethnischen Konflikt angegriffene Gruppe ist am stärksten gefähr-det durch die Verletzung dessen, was sie als ihren wertvollsten Besitz betrachtet. Daher zeigen die Angreifer ihre Überlegenheit in der Schädigung der materiellen Existenzgrundlagen sowie der symbolischen Verletzung der kulturellen Normen ihrer Gegner.46 Darauf weist die Form der festlichen Geselligkeit (Versammlun-gen, Demonstrationen und „Bankette“) hin, derer sich die Belagerer bedienten. In nuce zeigt sich hierin der vergesellschaftende Charakter exzessiver physischer Gewaltanwendung. Das allmähliche Aufbrauchen der Beute bei Feiern und „Banketten“, die Entwertung materiellen Eigentums durch billiges Verkaufen und demonstrative Verschwendung gingen daher Hand in Hand mit tatsächlich ausgeübter physischer Gewalt. Der männlichen Bevölkerung Molozinos demonstrierten die Belagerer damit, dass jene nicht in der Lage waren, ihrer Gemeinschaft Schutz zu geben. Es ging um mehr als die symbolisch demonstrierte Feindseligkeit gegenüber russischen Traditionen.47 Die Totalität der Bedrohung der Lebenswelt zeigten die Angreifer aber nicht nur in der missachtenden Verwendung und Instrumentalisierung der Ritualsprache der russischen Bevölkerung. Vor allem durch die Gewaltsprache des noch nicht zehn Jahre zurückliegenden Bürgerkriegs wurde eine Bedrohung signalisiert, die bis zur Vernichtung führen konnte. 45 Vgl. LESTAŠEVA, N. V.: Funkcii členov sem’i v obrjadach, svjazannych s roždeniem rebenka, u russkogo naselenija Kazanskogo Povol’žja vo vtoroj polovine XIX–načale XX v. In: Semejnaja obrjadnost’ narodov Srednego Povol’žja, S. 83-103, hier S. 85: Bei schweren Geburten gaben die Männer der Gebärenden Wasser von Mund zu Mund zu trinken. Sie imi-tierten die Leiden der Frau. Bei ausbleibenden Wehen stellte sich die Frau zwischen die aus-gebreiteten Beine des auf dem Boden sitzenden Mannes, bei postnatalen Komplikationen band der Mann seinen Bastschuh um die Nabelschnur und führte die Frau durch das Haus. 46 Vgl. BOURDIEU, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabyli-schen Gesellschaft. Frankfurt/Main 1976, S. 11-47, hier S. 19, 33. Dazu auch der aktuelle Forschungsüberblick von WIMMER, Andreas / SCHETTER, Conrad: Ethnische Gewalt. In: HEITMEYER, Wilhelm/HAGAN, John (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltfor-schung. Wiesbaden 2002, S. 313-329. 47 Vgl. Terry MARTIN, Affirmative Action Empire S. 292.

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Erben des Bürgerkriegs Die militarisierte Methode der Belagerung und der Isolation des Dorfes von der Außenwelt durch einen „Boykott“, die Massenverhaftungen, die Verhöre und Scheinexekutionen, das tagelange Einsperren von Menschen in kalte Räume und die Vergewaltigungen tragen die Handschrift der entgrenzten Gewalt der Getrei-debeschaffung in der Bürgerkriegsperiode.48 Indem sie die „ural-sibirische Me-thode“ der Getreidebeschaffung propagierten, suchten die Bolschewiki um Stalin bewusst Anschluss an die Gewaltkultur des Bürgerkriegs. Die Besatzer von Molozino ihrerseits riefen traumatische Bürgerkriegserinne-rungen wieder auf. Die ethnische Rahmung der Getreidebeschaffung in Molozi-no spricht dafür, dass es sich bei der Belagerung – wie bei vielen anderen Ge-waltkonflikten der Kollektivierungsperiode – um einen Racheakt handelte, bei dem auf Ereignisse der Bürgerkriegszeit zurückgegriffen wurde.49 Das Erbe des Bürgerkriegs wirkte zweifach: Zum einen hatten viele Akteure Erfahrung mit Gewalt und der situationsverändernden Kraft, die mit ihrer Ausübung einhergeht. Andererseits hatten ihnen die Ereignisse des Bürgerkriegs in der Wolgaregion eingeprägt, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Ethnizität und Ge-walt besteht. Von 1918 bis 1920 zählte der Bezirk Buguruslan, in dessen Grenzen die Dörfer Asekeevo, Novo-Sultangulovo und Molozino lagen, zu den Hauptschauplätzen des Bürgerkriegs. Nachdem die Konstituierende Versammlung im Februar 1918 nach Samara geflohen war, gehörte die Gegend zu deren Einflussgebiet, wurde von Soldaten der Tschechischen Legion besetzt gehalten und war bis zum Herbst 1918 umkämpft. Wenige Wochen, nachdem die Bolschewiki das Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht hatten, wurden Zeichen bäuerlicher Renitenz gegen den Kurs des Kriegskommunismus sichtbar. Allein im Dezember 1918 gab es 15

48 Vgl. DuGARM, Delano: Local Politics and the Struggle for Grain in Tambov, 1918-1921. In: RALEIGH, Donald J. (Hg.): Provincial Landscapes. Local Dimensions of Soviet Power, 1917-1953. Pittsburgh 2001, S. 59-81, 344-347; LANDIS, Erik-C.: Between Village and Kremlin. Confronting State Food Procurement in Civil War Tambov, 1919-1920. In: Russian Review 63 (2004) 1, S. 70-86. 49 Vgl. FITZPATRICK, Sheila: The Legacy of the Civil War. In: KOENKER, Diane P. u.a. (Hg.): Party, State, and Society in the Russian Civil War. Explorations in Social History. Bloomington 1989, S. 385-398, hier 390-391; Sheila Fitzpatrick: Stalin’s Peasants, S. 32-33.

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bewaffnete Aktionen von Bauern aus Buguruslan gegen Komitees der Dorfar-men. Wenige Monate später, im März 1919, wehrten sich die Wolgabauern in einem großen bewaffneten Aufstand gegen die Lebensmittelrequirierungen der Bol-schewiki. Der so genannte Čapany-Aufstand war eine der größten und bestorga-nisierten bäuerlichen Aktionen gegen die Bolschewiki während des Bürger-kriegs. Im Frühjahr 1919 eroberte die Kolčak-Armee die Gegend um Bugurus-lan. Sie wurde im Juni zurückgeschlagen. Ein knappes Jahr später, im Februar und März 1920, gab es eine neue Welle von Bauernunruhen, die sich an der Ei-senbahnlinie Samara-Ufa konzentrierten. Die Eisenbahnstrecke, die durch Bugu-ruslan und Asekeevo führt, bildete die Frontlinie zwischen Bauern und Bolsche-wiki.50 Im Frühjahr und Sommer 1921, als die Wolgaregion hungerte, marodier-ten verarmte Bauernrebellen durch die Gegend, die Kommunisten ermordeten und Getreidelager plünderten.51

Eines der Kennzeichen der bäuerlichen Banden des Jahres 1921 war ihre ethni-sche Heterogenität. Kosaken, Tataren und Kasachen schlossen sich in ihnen zusammen. Die Bauernaufstände der Jahre 1919 und 1920 hatten kein Ansteigen großflächiger ethnischer Spannungen zur Folge, sondern wirkten solidarisierend auf die unterschiedlichen ländlichen Bevölkerungsgruppen. Der „Krieg des Schwarzen Adlers“ von 1920 einte neben den tatarischen und baschkirischen Hauptinitiatoren auch Russen und andere Bevölkerungsgruppen der Gouverne-ments Kazan, Samara und Ufa in ihrem Hass auf die Lebensmittelrequisitionen der Bolschewiki. Die Forderungen der Aufständischen machten sich in Losungen Luft wie „Lang lebe die Sowjetmacht ohne Kommunisten!“, „Weg mit den Ge-treiderequirierungen, zerstört die Sammelpunkte!“ oder „Es lebe die Bauern-macht!“. Diese Losungen waren während des Bürgerkriegs überall in Russland zu hören. Ethnische Animositäten wurden demgegenüber nicht thematisiert.52 Allerdings gilt diese Beobachtung nicht uneingeschränkt. Kurzlebige Solidari-tätsaktionen wie die Bauernaufstände von 1919 und 1920, die nach wenigen

50 Vgl. FIGES, Orlando: Peasant Russia, Civil War. The Volga Countryside in Revolution, 1917-1921. London 1991, S. 165, 197-198, 204-205, 327, 333-334; Krest’janskoe dviženie v Povol’že 1919-1922. Dokumenty i materialy. Moskau 2002, S. 374, 390, 445. 51 Vgl. FIGES: Peasant Russia, S. 348; Krest’janskoe dviženie v Povol’že 1919-1922, S. 710, 739-740. Hungerunruhen gab es im November 1920 und im März 1921 (vgl. ebenda, S. 610, 680). Zur Hungerkatastrophe WEHNER, Markus: Golod 1921-1922 gg. v Samarskoj gubernii i reakcija sovetskogo pravitel’stva. In: Cahiers du Monde Russe 38 (1997) 1-2, S. 223-241. 52 Vgl. FIGES: Peasant Russia, S. 350, 334; Krest’janskoe dviženie v Povol’že 1919-1922, S. 16f.

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Wochen an der militärischen Übermacht der Roten Armee scheiterten, sagen wenig über die Veränderungen aus, die die multiethnische Gesellschaft in der Kriegsperiode durchlebte.53 Die Bauern organisierten sich während der Aufstän-de in taktischen Allianzen. Jedes Dorf stellte dazu einen eigenen Kampfverband auf, der jeweils aus dem Dorf versorgt wurde. Schon am Beginn des 20. Jahrhundert hatten russische Volkskundler an der Mitt-leren Wolga ethnische Differenzierungsprozesse beobachtet. Diese sahen sie im Verzicht der russischen Bevölkerung auf Rituale, die sie mit benachbarten Tata-ren oder Mari teilten.54 In der Bürgerkriegsperiode führte die Erfahrung von Mangel, Gewalt und Unsicherheit zur Verschärfung negativer ethnischer Stereo-type und somit interethnischer Probleme. Dazu trug das Auftreten der Bolsche-wiki in den Wolgadörfern bei, die als „Russen“ angesehen wurden und sich den Bauern als Feinde erwiesen. Diese „Russen“ kamen als Genossen, die Moscheen schlossen und Geistliche verhafteten, als Arbeiter aus Petrograd, die Getreide requirierten, oder als Soldaten, die sich mit Lebensmitteln versorgen mussten.55 Wie sehr sich die ethnischen und religiösen Spannungen im Kriegsverlauf ver-schärft hatten, zeigt ein Befehl des Vorsitzenden der Tscheka, Feliks Dzeržinskij, der noch während der Kämpfe gegen die aufständischen tatarischen und baschki-rischen Bauern im Februar 1920 ausgegeben wurde. Darin wurden die lokalen Parteimitglieder und Soldaten erinnert,

„nicht gegen die Prinzipien und Losungen der Sowjetmacht zu verstoßen so-wie die nationalen und religiösen Gefühle der Bevölkerung nicht zu verlet-zen. Alle Kommandierenden sind persönlich zu unterweisen, dass die Nicht-befolgung dieses Befehls als klare konterrevolutionäre Schädigung der Sow-jetmacht angesehen und unerbittlich bestraft wird.“56

Bürgerkriege zeichnen sich durch eine Eskalation physischer Gewalt aus, die auf der Ununterscheidbarkeit von Freund und Feind, Frontgebiet und Hinterland beruht. Durch die Vielzahl von Frontbewegungen im Wolgagebiet und die Bau-

53 Hierzu die Studie von LOHR, Eric: Nationalizing the Russian Empire. The Campaign against Enemy Aliens during World War I. Cambridge/London 2003. Zu interethnischer Ge-walt in anderen Teilen Russlands während des Bürgerkriegs: BULDAKOV, V. P.: Krasnaja smuta. Priroda i posledstvija revoljucionnogo nasilija. Moskau 1997, S. 140-171; HOLQUIST, Peter: „Conduct Merciless Mass Terror“. Decossackization on the Don, 1919. In: Cahiers du Monde russe 38 (1997) 1-2, S. 127-162; ISCHAKOV, Salavat Midchatovič: Rossijskie musul'mane i revolucija (vesna 1917 g.–leto 1918 g.). Moskau 2004, S. 269-294. 54 Vgl. ZORIN/LEŠTAEVA: Pogrebal’nyj ritual, S. 118-119. 55 Vgl. FIGES: Peasant Russia, S. 334-335. 56 Krest’janskoe dviženie v Povol’že 1919-1922, S. 385.

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ernaufstände ist kaum nachzuvollziehen, wie sich einzelne Dörfer in den Kriegswirren verhielten und auf welche Weise sie die Erinnerung an den Krieg bewahrten. Allerdings zeigt die Zusammensetzung der Dorfsowjets in den russi-schen Wolgadörfern 1918, dass die Bolschewiki Unterstützung bei der „bartlo-sen“ Dorfjugend fanden, die vor 1914 die Schule besucht hatte und die radikali-siert durch ihre Kriegserfahrung in der zarischen und der Roten Armee in ihre Dörfer zurückgekehrt war.57 Zwischen russischen und tatarischen Dörfern der Wolgaregion gab es in dieser Hinsicht keine Unterschiede. Auch in den tatarischen Dörfern sprachen die Bol-schewiki die männliche, gewaltbereite Jugend erfolgreich an. Und in der Mitte der zwanziger Jahre führten die Bemühungen Moskaus, eine effektivere Kontrol-le über die Dorfsowjets zu erlangen, zur Verstärkung dieser Tendenz, als wie-derum insbesondere junge Männer in die Sowjets gewählt wurden. Die Sowjet-macht auf dem Land bestand 1929 aus jungen Männern und Bürgerkriegsvetera-nen. Trotz der zu beobachtenden Gleichförmigkeit der russischen und der tatarischen Reaktionen auf die Bürgerkriegsgeschehnisse gab es spezifisch tatarische As-pekte in den Konflikten um Landrechte und lokale Machtverteilung. Die Neuver-teilung des Landes nahm in den tatarischen Gebieten der Wolgaregion schon im Frühjahr 1917 radikalere und gewaltsamere Formen an. Gutsbesitzer, Kaufleute und reiche Bauern verloren ihre Ansprüche durch religiös motivierte Umvertei-lungsaktionen. Da der Anteil adligen Landbesitzes in den dicht besiedelten tata-rischen Gebieten gering war, verwickelten sich die Landgemeinden schnell in innere Konflikte. Ein häufig gewählter Ausweg für landarme Gemeinden bestand 1918 in der Inanspruchnahme von Landrechten benachbarter Dörfer.58 Die Kriegsrückkehrer katalysierten die Konflikte und gaben ihnen eine ethnisch-nationale Interpretation. In den Jahren 1917/18 waren tatarische Soldaten die wichtigsten Träger und Multiplikatoren der Nationalbewegung.59 Was mit der Aufstellung von muslimischen Einheiten innerhalb der zarischen Armee begann, führte nach der Rückkehr der Soldaten in die Dörfer zur Emotionalisierung und Ethnisierung von Landverteilungs- und Machtkonflikten. Das Scheitern der Au-tonomiebestrebungen der tatarischen Nationalisten im Bürgerkrieg löste die emo-tionale Einheit von revolutionärer Umwälzung, ethnischem Selbstbewusstsein

57 Vgl. FIGES: Peasant Russia, S. 214. 58 Vgl. ISCHAKOV: Rossijskie musul'mane i revolucija, S. 259-262; FIGES: Peasant Russia, S. 124. 59 Vgl. ISCHAKOV: Rossijskie musul'mane i revolucija, S. 222-233.

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und ressourcenorientierter Gewaltanwendung nicht auf, sondern trug zu ihrer Konservierung bei. Aus dieser Gemengelage speiste sich die Gewalt der Kollektivierung. Biogra-phien der Parteifunktionäre, die an der Organisation der Getreidekampagne in Asekeevo und der Belagerung von Molozino beteiligt waren, machen diesen Zusammenhang deutlich. Zalalutdin Nazimovič Chisanov (geb. 1897) kam aus einer armen tatarischen Bauernfamilie und hatte seine Kindheit als Hirte ver-bracht. 1915 war er an die russische Westfront gekommen. Hier hatte er begon-nen, sich für die Nationalbewegung zu begeistern. 1917 reiste er von Kasan nach Helsinki, um dort eine muslimische Freiwilligeneinheit aufzubauen. 1918 trat er in die Rote Garde ein, nahm an Kämpfen gegen die Armeen von Kolčak und Dutov teil und folgte der Ostfront des Bürgerkriegs bis nach Turkes-tan. Dort begann sein Aufstieg. Am Ende des Bürgerkriegs in Mittelasien 1924 war er ein hoch dekorierter „Roter Partisan“. 1925, mit 27 Jahren, wurde Chisa-nov in der neu gegründeten Sowjetrepublik Usbekistan Polizeichef des Bezirks Ferghana und kurz darauf zweiter Vorsitzender des Bezirksexekutivkomitees. Noch im selben Jahr leitete er den Aufbau der Miliz von Chorzem (im ehemali-gen Khanat von Chiva).60 Sein Aufstieg ging in schnellen Schritten voran. Chisanov wurde zum Chef der Gefängnishauptverwaltung Usbekistans ernannt. Mit diesem Posten fungierte er als einer der Stellvertreter des usbekischen Innenministers. 1928 erfuhr Chisa-novs Karriere jedoch einen Dämpfer, als er als Leiter der Innenbehörde nach Zerafšan abgeschoben wurde. Dies war einer der Gründe für Chisanovs Rück-kehr an die Wolga. Seit Anfang 1929 war er im Bezirk Buguruslan als Mitglied des Bezirksexekutivkomitees für Nationalitätenfragen zuständig.61

60 Zur Schlüsselrolle von Tataren beim Aufbau der Sicherheitsorgane in Zentralasien MAR-SHALL, Alexander: Turkfront. Frunze and the Development of Soviet Counter-insurgency in Central Asia. In: EVERETT-HEATH, Tom (Hg.): Central Asia. Aspects of Transition. Lon-don/New York 2003, S. 5-29, hier S. 16, 19; ARIPOV, R. / MIL’ŠTEJN, N.: Iz istorii organov gosbezopasnosti Uzbekistana. Dokumental'nye očerki istorii 1917-1930 gg. Taschkent 1987; LAZZERINI, Edward: Volga Tatars in Central Asia, 18th-20th Centuries. From Diaspora to Hegemony. In: MANZ, Beatrice F. (Hg.): Central Asia in Historical Perspective. Boulder 1994, S. 82-100. 61 Vgl. SamOGASPI, f. 650, op. 1, d. 261, ll. 44-46, 52-54, 59.

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Kollektivierung tatarisch Obwohl die Bolschewiki des Zentrums die exzessive Gewalt inszenierten oder zumindest billigend in Kauf nahmen, zeigten sich einige lokale Funktionäre von der Eruption der Gewalt in den Dörfern überwältigt, weil sie staatliche Kern-funktionen außer Kraft setzte.62 Ein Mitglied des Exekutivkomitees der Mittleren Wolga in Samara formulierte auf einer Sitzung des Gebietsparteikomitees seinen Widerwillen gegen die Brutalität der Kollektivierungskampagne und suchte nach Kriterien, durch die die exzessive Gewaltanwendung erfolgreich sanktioniert werden könnte. Er unterschied dabei „einfache Exzesse“ (wie unrechtmäßige Enteignungen von Bauern oder Verstöße gegen die religiösen Gefühle der Be-völkerung) von

„[...] einer zweiten Art von Exzessen wie Verhaftungen-Verspottungen, das Einsperren von Mittelbauern in Vorratskeller oder Schuppen, das zum Teil zu Erfrierungserscheinungen führte. Es gab Fälle, in denen einige Mittelbauern erdrosselt wurden. Es gab Fälle, die an Plünderungen grenzten – diese Fälle muss man auf jeden Fall vor Gerichte bringen. Man sollte nicht die Fälle vor Gericht bringen, bei denen es sich um einfache Exzesse handelt, die nicht mit eigennützigen Zielen verbunden sind und nicht mit der Verspottung der Per-sönlichkeit (glumlenie nad ličnost’ju) von Mittelbauern oder armen Bauern einhergeht. Da müsste es viele Prozesse geben und das ist nicht unser Ziel.“63

Nach diesen pragmatischen Maßgaben wurde der Schauprozess gegen die Besat-zer von Molozino organisiert. Damit ergab sich ein Widerspruch zum eigentlichen Skandalon des Falls Molo-zino, der in seiner nationalitätenpolitischen Brisanz bestanden hatte. Indem die Justiz gegen Gewalttäter und Ehrverletzer vorging, verschloss sie ihre Augen vor dem heiklen nationalen Aspekt. Trotz des Auftrags des Gebietsparteikomitees in Samara, „dem nationalen Antagonismus zwischen tatarischen und russischen Siedlungen ein Ende zu machen”, setzte das Gericht seine eigenen Prioritäten.64

62 Hinweise zu Motivation und Vorgehensweise der Moskauer Parteibosse gibt Lazar Kaganovičs Reise nach Samara im Februar 1930. Vgl. RGASPI, f. 81, op. 3, d. 210, ll. 2-7, 9-30; SamOGASPI, f. 1141, op. 2, d. 38; Tov. Kaganovič v sele Ekatarinovke: „Ne zabyvajte samoj prostoj istiny“. Za splošnuju kollektivizaciju (Samara), Nr. 6 (1930), 25.02.1930, S. 5-7. Dazu auch Anastas Mikojans Brief an Vjačeslav Molotov aus der Ukraine vom 11.09.1929 in: Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska 1928-1941. Moskau 1999, S. 97-99. 63 SamOGASPI, f. 1141, op. 2, d. 22, l. 35. 64 SamOGASPI, f. 650, op. 1, d. 261, ll. 22-23.

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Die Konstellation des Prozesses sowie sein Zeitpunkt machten jede Art Befrie-dung der Situation von vornherein unmöglich. Der Prozess fand vom 21. bis 23. Februar 1930 in Asekeevo statt, als in den umliegenden Gebieten die Kollekti-vierungskampagne auf dem Höhepunkt siedete.65

Dadurch trug der Prozess zu einer Zuspitzung der Lage bei, anstatt sie zu beruhi-gen, und verwandelte den ethnischen Konflikt zwischen zwei Dörfern in eine Konfrontation zwischen der tatarischen Bevölkerung und den Staatsorganen.66 Die Stimmung in den tatarischen Dörfern um Asekeevo schätzten die Funktionä-re der Kontrollkommission als „äußerst schwierig“ ein.67 Zu dieser Zuspitzung trug die ethnische Konstellation des Schauprozesses bei: Das aus Samara nach Asekeevo angereiste Gericht bestand aus dem Staatsanwalt Velickij und dem gesellschaftlichen Ankläger Galkin – dem Namen nach Russen. Den Vorsitz über die Verhandlung führte eine Frau. Richterin Kamenskaja wurde von einer Beisitzerin namens Siraeva und dem Beisitzer Nifikov begleitet. Für einen Schauprozess, dessen Aufgabe nicht nur in der Wiederherstellung verletzter Ehre, sondern auch in der Autoritätsdemonstration der sowjetischen Justiz vor einem bäuerlichen Publikum bestand, kann man sich eine ungünstigere Ausgangslage kaum vorstellen. Auf der Anklagebank saß eine ethnisch und sozi-al homogene Gruppe tatarischer Männer aus dem Kreis Asekeevo. Die Mehrheit der 15 Angeklagten waren Männer der Jahrgänge 1894 bis 1899, Familienväter, die lesen und schreiben konnten und die Parteimitglieder waren. Vier der Ange-klagten waren zwischen 24 und 30 Jahre alt, acht zwischen 30 und 35 Jahren. Zwei Angeklagte hatten mit 42 und 48 Jahren schon ein höheres Alter erreicht. 13 der 15 Angeklagten waren in Sultangulovo oder anderen Dörfern des Kreises Asekeevo geboren worden. Der Alphabetisierungsgrad der Gruppe war hoch. Nur einer der älteren Bauern war Analphabet, sieben Angeklagte waren halb alphabetisiert und die anderen sieben konnten fließend lesen und schreiben.

65 Zur Kollektivierung der Mittleren Wolgaregion KARASËV, Vadim: Perelom. Zametki o kollektivizacii v Srednevol’žskom krae. In: Černyj perelom. Hg. von Ju. V. ASTANKOV. Samara 1992, S. 113-162; KOLESOVAJA, M. E.: Kollektivizacija i krest’janstvo v zerkale pisem 25-tysjačnikov. Sovetskie archivy (1991) 3, S. 73-84; Kollektivizacija sel’skogo choz-jajstva v Srednem Povol’že (1927-1937 gg.). Kujbyšev 1970; KAREVSKIJ, F. A.: Likvidacija kulačestva kak klassa v Srednem Povol’že. Istoričeskie zapiski 80 (1967), S. 82-103. 66 Zur Tätigkeit der Justizorgane während der Kollektivierung SOLOMON, Peter H.: Soviet Criminal Justice under Stalin, 1924-1941. Cambridge 1996, S. 81-150, speziell S. 102-107 (zur juristischen Verfolgung von Kollektivierungsexzessen). 67 SamOGASPI, f. 650, op. 1, d. 261, ll. 15-16.

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Zu ihrer sozialen Lage gaben die Angeklagten an, dass sie arme Bauern (neun) oder Mittelbauern (vier) seien. Einer bezeichnete sich als Angestellter. Der sozia-le Status der einzigen angeklagten Frau, Zamjal Nasibullina (geb. 1897), war als „Tochter eines vom Wahlrecht Ausgeschlossenen“ (doč’ lišenca) in den Augen der sowjetischen Klassenjustiz prekär. Wegen des sozialen Status ihres Vaters war sie schon aus der Partei ausgeschlossen worden. Ein Drittel der angeklagten Männer besaß das Parteibuch, ein weiteres Drittel bestand aus Kandidaten für die Parteimitgliedschaft. Somit waren die Angeklagten mehrheitlich Menschen, mit deren Unterstützung die Stalinsche Führung in der Kollektivierung das „neue Dorf“ aufbauen wollte. Doch nach den Maßgaben des regionalen Exekutivkomitees der Mittleren Wolga hatten die Urteile im Hinblick auf die Unterbindung von Gewaltexzessen und die Beruhigung des ethnischen Konflikts hart auszufallen. Zwar gab es Freisprüche, doch fünf der 15 Angeklagten verurteilte das Gericht zu jeweils fünf Jahren Frei-heitsentzug und zwei weitere (darunter Zamjal Nasibullina) zu einem Jahr Zwangsarbeit. Unter den zu Lagerhaft Verurteilten war Tagir Murzagulov, 35 Jahre alt, ein armer Bauer, Vater von fünf Kindern und Parteimitglied, sowie der parteilose arme Bauer Bagau Irinazarov (geb. 1881), der eine sechsköpfige Fami-lie zu ernähren hatte.68

Die Ziele, die sich das Gebietskomitee mit dem Schauprozess gegen die Belage-rer von Molozino gesetzt hatte, wurden verfehlt. Davon konnten sich die Funkti-onäre aus Samara überzeugen, die in den Monaten nach dem Prozess den Kreis Asekeevo besuchten. Sowohl die Bauern als auch die tatarischen Dorfkommunis-ten waren nach dem Prozess unzufrieden und frustriert. Ethnische Solidarität übertrumpfte die Loyalität zur Partei und zu den staatlichen Organen. Der Er-mittler der Parteikontrollkommission der Mittleren Wolga, Kufman, der Anfang März 1930 nach Asekeevo kam, beschrieb „eine Stimmung von Niedergeschla-genheit und Orientierungslosigkeit“:

„Sehr weit verbreitet sind Einstellungen wie ‚Sie haben alles auf unseren Kreis abgeschoben’, ‚An anderen Orten ist es nicht besser’, ‚Wegen des Drucks der höher stehenden Organe wurde für den Kreis eine zu hohe Getrei-delieferquote berechnet, jetzt stecken sie die lokalen Arbeiter ins Gefängnis und schließen sie aus der Partei aus’ usw. [...] Weil die überwiegende Mehr-heit der Verurteilten Tataren waren, herrschte unter einigen Kommunisten die Ansicht, dass ‚Mittellose und arme Bauern aus der nationalen Minderheit (bednjaki-nacmen) wegen der russischen Kulaken ins Gefängnis gekommen

68 Vgl. SamOGASPI, f. 650, op. 1, d. 261, ll. 3-4, 6-7.

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sind’, und diese Meinung hat sich auf die Masse der parteilosen Bevölke-rung übertragen.“69

Aus dem Schauprozess zogen die tatarischen Dorfkommunisten zwei Schlüsse. Zum einen wurde der ethnische Konflikt von ihnen in der Sprache des Klassen-konflikts weiter kultiviert. Einige Parteimitglieder sammelten Unterschriften und schrieben Petitionen, um die Freilassung der Verurteilten zu erwirken. Zum an-deren nahmen die Dorfkommunisten den Prozess zum Vorwand, bei der Kollek-tivierung untätig zu bleiben. Dabei argumentierten sie mit der Unzufriedenheit der tatarischen Bauern. Kufman berichtete, dass die tatarischen Kommunisten für das Scheitern der Kol-lektivierungskampagne 1930 zwei Gründe verantwortlich machten, die „Aktivi-tät der Kulaken“ und die Arbeit der Ermittler aus Samara, die „die Maßnahmen der Partei diskreditierte und die Aktivität der Kulaken verstärkte“. „Kulake“ und „Russe“ waren für diese Bolschewiki Synonyme; in den tatarischen Dörfern dagegen gäbe es „keine Kulaken“. Für den Ermittler Kufman gab es in dieser Situation nur den Schluss, die Quellen des Problems in der „Verunreinigung des Parteiaktivs mit klassenfremden Elementen“ zu suchen und Feinde zu benennen, „die mit den Kulaken gemeinsame Sache machen, bestechlich sind und selbst eine Kulakenwirtschaft besitzen“.70 Die Kollektivierung brachte diese Vorgehensweise wenig voran. Eine zweite Stoßkampagne im Herbst 1930 brachte zwar nominell über zwei Drittel der Haushalte in die Kolchosen, doch zerfielen diese noch vor Beginn der Früh-jahrsaussaat wieder. Befragt, warum sie nicht in die Kollektivwirtschaften eintre-ten wollten, antworteten Bauern dem Geheimdienstchef der Mittleren Wolgare-gion, Boris Bak, Anfang 1931,

„dass sie allein arbeiten und eine Familie von fünf oder sechs Menschen un-terhalten müssen und darum im Kolchos nicht genug für die ganze Familie erarbeiten könnten.“71

69 SamOGASPI, f. 650, op. 1, d. 891, ll. 183-184. 70 Ebenda, ll. 184, 190. 71 Staatliches Gebietsarchiv Samara (Gosudarstvennyj Archiv Samarskoj Oblasti), f. 906, op. 18, d. 20, l. 14 (20.01.1931). Die Bauernunruhen gegen die Kollektivierung in der Mittleren Wolgaregion von 1931 sind dokumentiert in Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i razkulačivanie. Dokumenty i materialy. Band 3: Ende 1930-1933. Moskau 2001, S. 91-93 (23.02.1931). Die Renitenz der Bauern betont RITTERSPORN, Gábor T.: Das kollektivierte Dorf in der bäuerlichen Gegenkultur. In: HILDERMEIER, Manfred (Hg.): Stalinismus vor dem zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung. München 1998, S. 147-167.

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In der Ausnahmesituation von Getreidebeschaffung und Kollektivierung 1929/30 entdeckten die tatarischen Bauern und ihre Funktionäre die Kraft der Tradition, die Stärke ethnischer Solidarität und die Macht der Gewalt. Ob dies aus Kriegs-erfahrungen in den Akteursbiographien, aus den in den Dörfern erzählten Ge-schichten der Älteren oder aus der rabiaten Propagandasprache der Bolschewiki herrührte: Während der Besatzung von Molozino schufen sie dort eine eigene Welt, deren Ordnung asymmetrisch und körperorientiert war. „Kulturelle For-men“ funktionierten in der Hierarchieumkehrung zwischen Tataren und „Rus-sen“ in der Tat „ungewöhnlich“: Tataren spielten russische Geburts- und Bestat-tungsbräuche nach, travestierten die sowjetische Festkultur und übersetzten die Klassensprache der Bolschewiki in die ethnischen Kategorien, in denen sie ihre Umwelt wahrnahmen. Mit der Kollektivierung ihrer Dörfer wollten sie sich da-gegen nicht anfreunden. Sie lebten 1929 in der Realität des Bürgerkriegs, in der das Zentrum keine ausreichenden Kontrollfunktionen ausüben konnte und ethni-sche Konflikte mit fast unbeschränkter körperlicher Gewalt ausgetragen werden konnten. Der Ausnahmezustand der Kollektivierung, der kleinräumige Aktionsradius der Akteure und die wenigen Monate Zeit, die zwischen dem Beginn der Besetzung Molozinos und dem Ende des Schauprozesses vergingen, lassen eine an die „dichte Beschreibung“ angelehnte Interpretation nahe liegend erscheinen. Das Beispiel sollte zunächst den Nexus von Mobilisierungskampagnen und Nationa-litätenpolitik in einem multiethnischen lokalen Kontext deutlich machen. An-hand des Beispiels wurden die Möglichkeiten einer ethnographisch inspirierten Quellenlektüre aufgezeigt. Zwangsläufig bleiben dabei Lücken und offene Fra-gen – andere Quellen und Details hätten eine andere Geschichte entstehen lassen. Was die russischen Bauern taten und sagten, als sie zunächst Opfer der Belage-rung wurden und dann das Eingreifen der Staatsmacht in ihrem Dorf erfuhren, darüber geben die vorliegenden Quellen keine Auskunft. Ebenfalls markant bleibt das Fehlen jeglicher religiöser Dimension in der ethnischen Auseinander-setzung. Die „dichte Beschreibung“ kann mit ihrem für Historiker unerfüllbaren Anspruch, die Totalität einer fremden Welt erfahrbar machen zu wollen, als as-soziationsverspieltes „Phantasieren über Kannibaleninseln“ abgetan werden. Sie versteckt jedoch nicht, was sie antreibt: Im Versuch des Verstehens die Kontin-genz der eigenen Perspektive zu erfahren.