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Die Welt der Slaven LX, 2015, 248-275. DIE SPRACHENLANDSCHAFT DER ZENTRALEN UKRAINE: UKRAINISCH, RUSSISCH, SUR Ž YK Verwendung – Kompetenz – nationale Positionierung 1. Einführung 1 Die Ukraine wird allgemein als zweisprachiges Land dargestellt: Ukrai- nisch und Russisch 2 . Stereotyp schwingt dabei auch eine gewisse geogra- phische Distribution der beiden Sprachen im Lande mit: Ukrainisch über- wiegend im Westen und Russisch überwiegend im Osten oder, etwas dif- ferenzierter, Westen und Zentrum überwiegend ukrainisch, Osten und Süden überwiegend russisch. Nicht zuletzt im aktuellen Konflikt zwi- schen der Ukraine und Russland wird dieses Schema von Moskau ja stark exponiert. Dass es dabei weniger um eine schematische Zweiteilung als um graduelle Unterschiede in einem mehrsprachigen Land geht, und das sowohl in der Gesellschaft als auch beim Individuum, soll hier deutlich werden. Man kann die Ukraine in einem gewissen Sinne auch als dreisprachig ansehen 3 . Genauer: bei der soziolinguistischen bzw. sprachsoziologischen Betrachtung des Landes sind nicht nur die zwei ‘Nationalsprachen’ 4 zu sehen, sondern auch ein dritter Kode, ein drittes Idiom, das durch eine Mischung aus Elementen und Strukturen der beiden ersten gekennzeich- net ist. Dieses ist – wie hier gezeigt werden kann – nicht nur in dem Sin- ne prominent, dass es überaus häufig verwendet wird. Mehr noch, es ver- fügt im Lande auch über einen eigenen Namen, nämlich Suržyk, der wohl jedem Ukrainer bekannt ist. D.h., es ist nicht nur eine Kategorie des wis- senschaftlichen Diskurses, sondern eine ‘echte Laienkategorie’. Die Gene- se dieses Kodes wird üblicherweise mit der Ausbreitung des modernen Russischen als sozial dominierender Sprache in der Gesellschaft ab der 1 Wir danken Jan-Patrick Zeller, Thomas Menzel und Anastasija Reis für wertvolle Hinweise zum Text. Verbliebene Unzulänglichkeiten sind unsere. G.H., O.O.T. 2 Eine ganze Reihe von Minderheitensprachen in der Ukraine, wovon mit dem Unga- rischen, dem Krimtatarischen, dem Rumänischen und dem Polnischen hier nur einige der Wichtigsten genannt sein sollen, kann in dieser Studie vernachlässigt werden. 3 Vergleiche ähnlich für Weißrussland Hentschel & Kittel (2011). 4 Als Nationalsprache wird in der Slavistik (in den slavischsprachigen Ländern) ein Aggregat aus allen Varietäten verstanden, die eher intuitiv bzw. auch nach politischen Erwägungen zu dieser einen Sprache gezählt werden können. Deutlich gemischte Exis- tenzformen der Rede sind hier natürlich uneindeutig.

G. Hentschel, O. Taranenko: Die Sprachenlandschaft der zentralen Ukraine: Ukrainisch, Russisch, ‘Suržyk’. Verwendung – Kompetenz – nationale Positionierung. In: Die Welt der

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Die Welt der Slaven LX, 2015, 248-275.

D I E S P R A C H E N L A N D S C H A F T D E R Z E N T R A L E N U K R A I N E: U K R A I N I S C H, R U S S I S C H, SU RŽY K Verwendung – Kompetenz – nationale Positionierung

1. Einführung1 Die Ukraine wird allgemein als zweisprachiges Land dargestellt: Ukrai-nisch und Russisch2. Stereotyp schwingt dabei auch eine gewisse geogra-phische Distribution der beiden Sprachen im Lande mit: Ukrainisch über-wiegend im Westen und Russisch überwiegend im Osten oder, etwas dif-ferenzierter, Westen und Zentrum überwiegend ukrainisch, Osten und Süden überwiegend russisch. Nicht zuletzt im aktuellen Konflikt zwi-schen der Ukraine und Russland wird dieses Schema von Moskau ja stark exponiert. Dass es dabei weniger um eine schematische Zweiteilung als um graduelle Unterschiede in einem mehrsprachigen Land geht, und das sowohl in der Gesellschaft als auch beim Individuum, soll hier deutlich werden.

Man kann die Ukraine in einem gewissen Sinne auch als dreisprachig ansehen3. Genauer: bei der soziolinguistischen bzw. sprachsoziologischen Betrachtung des Landes sind nicht nur die zwei ‘Nationalsprachen’4 zu sehen, sondern auch ein dritter Kode, ein drittes Idiom, das durch eine Mischung aus Elementen und Strukturen der beiden ersten gekennzeich-net ist. Dieses ist – wie hier gezeigt werden kann – nicht nur in dem Sin-ne prominent, dass es überaus häufig verwendet wird. Mehr noch, es ver-fügt im Lande auch über einen eigenen Namen, nämlich Suržyk, der wohl jedem Ukrainer bekannt ist. D.h., es ist nicht nur eine Kategorie des wis-senschaftlichen Diskurses, sondern eine ‘echte Laienkategorie’. Die Gene-se dieses Kodes wird üblicherweise mit der Ausbreitung des modernen Russischen als sozial dominierender Sprache in der Gesellschaft ab der

1 Wir danken Jan-Patrick Zeller, Thomas Menzel und Anastasija Reis für wertvolle Hinweise zum Text. Verbliebene Unzulänglichkeiten sind unsere. G.H., O.O.T.

2 Eine ganze Reihe von Minderheitensprachen in der Ukraine, wovon mit dem Unga-rischen, dem Krimtatarischen, dem Rumänischen und dem Polnischen hier nur einige der Wichtigsten genannt sein sollen, kann in dieser Studie vernachlässigt werden.

3 Vergleiche ähnlich für Weißrussland Hentschel & Kittel (2011). 4 Als Nationalsprache wird in der Slavistik (in den slavischsprachigen Ländern) ein

Aggregat aus allen Varietäten verstanden, die eher intuitiv bzw. auch nach politischen Erwägungen zu dieser einen Sprache gezählt werden können. Deutlich gemischte Exis-tenzformen der Rede sind hier natürlich uneindeutig.

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zweiten Hälfte des 19. Jh. und besonders in der Sowjetzeit verbunden (vgl. Taranenko 2007)5. Eine besondere Rolle spielt dabei auch die Migra-tion von ländlicher ukrainischer Bevölkerung in die Städte vor dem Hin-tergrund von Industrialisierung und damit einhergehender Urbanisierung. In diesem Prozess hatten autochthone dialektale Varietäten des Ukraini-schen prinzipiell eine Substratrolle, die russische Standardsprache eine Su-perstratrolle. Adstrate sind einerseits in der vor 1990 gesellschaftlich zwei-fellos nicht dominanten, in der Sowjetunion (abgesehen von den 1920-er Jahren) weitgehend marginalisierten ukrainischen Standardsprache zu se-hen und andererseits in (meist) sozialen Subvarietäten des Russischen, die mit Arbeitsmigranten aus dem traditionellen russischen Sprachraum zuge-zogen waren. Der Einfluss dieser vier Faktoren auf den Suržyk ist natür-lich unterschiedlich in Zeit, Raum und sozialer Struktur. Dennoch ist für diese ‘Mischung’ heute eine Stabilisierung zu beobachten (vgl. Taranenko 2014, Менцель & Хентшель 2014), und zwar vermutlich im Sinne einer Regiolektisierung, was angesichts des bisherigen Fehlens umfassenderer Untersuchungen (wie angesichts einer fehlenden Soziolinguistik im west-lichen Sinne, d.h. mit umfassenden empirischen Erhebungen) in der Brei-te noch nicht empirisch bestätigt ist6.

Der ukrainische Suržyk wie seine weißrussische Entsprechung Trasjan-ka7 sind in ihren Ländern mehr oder weniger stark negativ konnotiert. Be-sonders ist eine stigmatisierende Haltung gegenüber dem Suržyk bei der

5 Manche Autoren setzen die Entstehung des Suržyk viel früher an (vgl. die Diskus-sion in Hentschel 2014). Es besteht kein Zweifel, dass es Texte mit Phänomenen der Mischung von Russisch und Ukrainisch schon ab Ende des 18. Jh. gab. In dieser Untersu-chung nehmen wir das Aufkommen einer (in der Regel mündlich praktizierten) Subva-rietät Suržyk erst für die Zeit an, für die es wahrscheinlich ist, dass diese zum Kommuni-kationsmittel breiterer Massen von Sprechern in der Ukraine und auch zum primär ver-wendeten Kode in vielen Familien und somit zum Kode der ersten sprachlichen Sozialisierung für Kinder in diesen Familien wurde. D.h., als Varietät sollte der Suržyk erst dann gesehen werden, wenn er innerhalb der Familien von Generation zu Genera-tion weiter gegeben wird.

6 Autoren wie Masenko (z.B. 2014) insistieren auf einem ‘chaotischen’ und individuell unterschiedlichen Charakter des Suržyk. Zur Kritik siehe Hentschel (2014) sowie (2013), wo am Beispiel des analogen weißrussisch-russischen Mischphänomens in Weißrussland sehr stabile Präferenzen für weißrussische bzw. russische Varianten aufgezeigt wurden.

7 Diese war Gegenstand eines vom Koautor Hentschel und dem Sozialwissenschaftler Bernhard Kittel, Wien, geleiteten Forschungsprojekts „Die Trasjanka in Weißrussland – eine ‘Mischvarietät’ als Produkt des weißrussisch-russischen Sprachkontakts. Sprachliche Strukturierung, soziologische Identifikationsmechanismen und Sozioökonomie der Spra-che“, das von der Volkswagenstiftung finanziert worden ist. Auf dieses wird verschie-dentlich aus Gründen des Vergleichs verwiesen werden. Eine vollständige Liste der Pub-likationen und die Dokumentation ist einzusehen unter: https://uni-oldenburg.academi a.edu/GerdHentschel.

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ukrainisch-national orientierten Intelligenz gegeben, auch bei Vertretern der ukrainischen Nationalphilologie. Im Suržyk wird nicht nur eine Be-drohung für die normativen Strukturen des Ukrainischen gesehen, son-dern sogar für die Existenz des Ukrainischen insgesamt (vgl. Сербенська 1994, 5-10; Масенко, 2011, 36-37). Der Suržyk gelte in der Ukraine als das ‘Blutschandekind des Bilingualismus’, drückte es der bekannte ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchovyč aus, ohne in die Polemik gegen die Sub-varietät einzustimmen (vgl. Stavycʼka 2014 dazu und zu Aspekten der kulturellen Konnotation). In dieser Studie verwenden wir statt des negativ konnotierten Terminus Suržyk den neutralen der ‘Ukrainisch-russischen gemischten Rede’, im Text abgekürzt zu URGR. Damit soll auch zum Ausdruck kommen, dass sich in dieser Mischvarietät konventionalisiertes Mischen (‘fused lect’) und spontanes Mischen (‘code mixing’ – im Sinne von Auer 1999) überlagern, da die beiden ‘Gebersprachen’, das Ukraini-sche und Russische – wie auch diese Studie belegen wird – in der Gesell-schaft natürlich überaus aktiv verwendet werden, neben der URGR.

Die herkömmliche Meinung ist, dass die URGR besonders in der zent-ralen Ukraine verwendet wird, während der äußerste Westen sehr stark ukrainisch, der äußerste Osten und der Süden sehr stark russisch geprägt sind. Die folgende Studie ist eine Untersuchung sprachsoziologischer Art über die Einschätzung der Sprecher über die Präsenz der drei Kodes Uk-rainisch, Russisch und URGR im Zielareal der i.w.S. zentralen Ukraine. Dieses bezieht einerseits auch den Bezirk Chmel’nyc’kyj ein, der in einer herkömmlichen Dreiteilung zum Westen gezählt wird, sowie Charkiv und Dnipropetrovs’k, die traditionell dem Osten bzw. Südosten zugerechnet werden. Es geht also um ein ‘erweitertes Zentrum’ der Ukraine. Obwohl die Schwarzmeerbezirke des Südens und die grenznahen Bezirke des Westens und Ostens sowie die grenznahen Teile der Bezirke Žytomyr, Kyïv, Černihiv und Sumy8 ausgeblendet werden, erfasst das hier berück-sichtigte zentralukrainische Zielareal eine Fläche von ca. 1.000 km in sei-ner maximalen West-Ost-Ausdehnung und knapp 500 km von Norden nach Süden. Es geht also um ein großes Teilareal innerhalb der Ukraine, das keineswegs als homogen hinsichtlich seiner sprachlichen Situation an-genommen werden kann, wo aber – anders als in den ausgeschlossenen Gebieten – mit einer starken Präsenz aller drei Kodes zu rechnen ist. Es geht darum, die Binnengliederung der Verwendung der Kodes in diesem Areal zu prüfen, d.h. die Verhältnisse in den elf Bezirken (in alphabeti-

8 Alle Städte- bzw. Bezirksnamen werden in der wissenschaftlichen Transliteration

ihrer ukrainischen Namen und nicht in der mitunter in Deutschland bekannteren russi-schen Form wiedergegeben. Städtenamen stehen in der Regel für die jeweiligen Bezirke, nicht – soweit nicht anders vermerkt – für die Städte selbst.

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scher Reihenfolge) Čerkasy, Černihiv, Charkiv, Chmel’nyc’kyj, Dnipropet-rovs’k, Kyïv, Kirovohrad, Poltava, Sumy, Vinnycja, Žytomyr. In diesem Gebiet soll die URGR in sprachsoziologischer wie auch in soziolinguisti-scher Hinsicht untersucht werden9. Die hier vorgelegte Studie ist die erste Analyse einer sprachsoziologischen ‘geschlossenen’ Umfrage mit 1.400 Respondenten10. Abgesehen von der genannten arealen Begrenzung gab es für die Gewinnung der Daten eine weitere Einschränkung. Großstädte gelten in der Ukraine als Domäne der beiden Standardsprachen. Insofern wurden die drei Städte Kyïv, Charkiv und Dnipropetrovs’k bei der Erhe-bung der Daten ausgeschlossen. Außerdem wurden keine Daten in Dör-fern erhoben, da diese als noch stark von ‘alten’ autochthonen Dialekten geprägt gelten. Es geht also um Respondenten aus Städten, mit der Aus-nahme der genannten Großstädte.

2. Erster Überblick: der primär im Alltag verwendete Kode

Von den 1.400 erfassten Respondenten ordnen sich 1343 (95,9%) der uk-rainischen Nationalität zu. Nur wenige offenbaren somit eine russische ‘Nationalität’11. Aus der Sicht der Respondenten mit ukrainischer Nationa-lität ist klarerweise das Ukrainische die dominierende Sprache ihres All-tags; vgl. Graphik (1a) unten. 38,3 % pflegen es, wie sie meinen, in ‘Rein-form’, 24,3% räumen ein, dass einige russische Wörter12 darin auftauchen. Das Russische spielt als primärer Kode eine deutlich geringere Rolle: 9,3% meinen, es ‘in Reinform’ zu praktizieren, 5,1% gemischt mit einigen ukrai-nischen Wörtern. Knapp ein Viertel (23%) sehen als primären Kode ihres Alltags dagegen eine URGR, die im großen Umfang sowohl ukrainische als auch russische Wörter (Wortformen) umfasst.

9 Gefördert wird das Projekt von der Fritz-Thyssen-Stiftung. 10 Aus der geschlossenen Umfrage (mit vorgegebenen Antwortoptionen) werden im

Anschluss ca. 100 Respondenten ermittelt, die sich zur häufigen, wenn nicht permanen-ten Verwendung der URGR bekennen. Mit ihnen sollen sog. Tiefeninterviews (mit offe-nen Antworten auf Fragen) geführt werden, die erstens sozialwissenschaftlich qualitativ auszuwerten sind und zweitens in Fragmenten mit ‘deutlicher URGR’ als Korpusmaterial für eine kontaktlinguistische Analyse dienen. Deren Ergebnisse sollen dann mit Daten aus spontanen Familiengesprächen in der URGR verglichen werden, die im Rahmen des durch die DFG geförderten und vom Koautor Hentschel geleiteten Projekts ‘Flexions-morphologische Irregularität(en) in ‚aktuellen‘ Kontaktvarietäten nordslavischer Spra-chen’ erhoben wurden.

11 Die ‘Nationalität’ war früher in sowjetischen Pässen vermerkt. Sie ist heute eher als ethnisches Zugehörigkeitsgefühl zu verstehen, muss aber nicht mit ihm zusammenfallen. In ukrainischen Pässen wird sie seit Anfang der 1990-er Jahre nicht mehr differenziert, ist aber als Laienkategorie noch präsent. Es geht also nicht um die Staatsbürgerschaft.

12 Die entsprechende Frage betrifft ‘Wörter’. Da Laien nicht zwischen Wörtern (i. S. v. Lexemen) und Wortformen differenzieren, ist ‘Wort’ im weiten Sinne zu verstehen.

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Hier erhebt sich die Frage, ob eine weitere oder engere Interpretation des Terminus URGR zu wählen ist. In einer weiten könnte man auch die Antworten Ukrainisch bzw. Russisch ‘gemischt’ mit jeweils einigen Wör-tern der anderen Sprache zur URGR zählen. Dies tun wir in dieser Ana-lyse nicht, und zählen diese Antworten zum Ukrainischen respektive Rus-sischen, da dies der Wahrnehmung der Respondenten entspricht. Wir wählen also die engere Interpretation der URGR. Unten stehende Gra-phik (1b) fasst dann für die Respondenten mit ukrainischer Nationalität die Ergebnisse in einer Dreierskala zusammen, die nicht zwischen Ukrai-nisch bzw. Russisch in ‘Reinform’ einerseits und gemischt mit jeweils eini-

1a: Primär verwendeter Kode

auf einer 5-er-Skala:

1b: Primär verwendeter Kode auf einer 3-er-Skala:

Graphik 1: Primär verwendeter Kode

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

Ukrainer "reines" Russisch

Russisch mit einigen ukrainischen Wörtern

zu gleichen Teilen gemischte Rede

Ukrainisch mit einigen russischen Wörtern

"reines" Ukrainisch

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

Ukrainer

Ukrainisch

URGR

Russisch

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gen Wörtern der anderen Sprache andererseits differenziert13. Ukrainisch nennen also fast zwei Drittel, die URGR fast ein Viertel und das Russi-sche gut ein Achtel der Respondenten als primär verwendeten Kode.

3. Ein zweiter Blick: Über den primär verwendeten Kode hinaus

In Sprachlandschaften wie der ukrainischen (ähnlich wie der weißrussi-schen) ist nicht nur die Sprache der primären Verwendung im Alltag zu hinterfragen, sondern auch die Verwendung der ‘nicht-primären’ Kodes. Ähnlich wie Hentschel und Kittel (2011) auf der Basis von Umfragedaten sowie Hentschel und Zeller (2013) aus korpuslinguistischer Sicht für Weißrussland die Diglossie zwischen Russisch und der WRGR als das do-minierende Moment der sprachlichen Architektur des Landes herausge-stellt haben, ist auch für die Ukraine mehrfach auf eine weitverbreitete Diglossie zwischen dem Ukrainischen und/oder Russischen einerseits und dem Suržyk (der URGR) andererseits hingewiesen worden (vgl. z.B. Ta-ranenko 2014, Šumarova 2014). Die hier untersuchten Daten weisen eben-so auf eine starke Verbreitung der URGR als ‘L-Varietät’ unter dem Ukra-inischen und/oder Russischen als ‘H-Varietäten’ hin. Auf die im Fragebo-gen (auch aus Gründen der Kontrolle) gestellten Frage ‘Wie häufig ver-

Graphik 2: Häufigkeit der Verwendung der drei Kodes

13 Auf jeden Fall wird durch die rechnerische Reduktion der Fünferskala auf die

Dreierskala (wobei der Anteil der URGR gleich bleibt) vermieden, dass die Rede der Re-spondenten aufgrund eher geringfügiger Interferenzen oder zu großer Vorsicht als ge-mischt qualifiziert wird.

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

Russisch URGR Ukrainisch

immer

oft

manchmal

selten

nie

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wenden Sie …’, antworteten alle Respondenten in einer vorgegebenen Fünferskala. Graphik 2 (oben) illustriert diese Ergebnisse.

Die Häufigkeit der Verwendung der Kodes lässt eine klare Hierarchie erkennen: Ukrainisch > URGR > Russisch. Drei Viertel (74,5%) erklären, Ukrainisch ständig oder oft zu verwenden. Für die URGR ist dies die Hälfte (49,1%), für das Russische ein gutes Viertel (27,6%). Umgekehrt er-klären knapp die Hälfte (46,2%) der Respondenten, Russisch selten oder sogar nie zu verwenden. Für die URGR ist der entsprechende Anteil ein knappes Drittel (31,2%), für das Ukrainische etwa ein Achtel (13,3%). D.h., mehr als zwei Drittel der Respondenten dürften häufiger als ‘selten’ oder ‘nie’ auf die URGR zurückgreifen, nicht nur das Viertel, für das die URGR der primäre Kode ist. Nur 15% erklären, die URGR nie zu ver-wenden. Ebenso verwenden 15% nie Russisch, 5% nie Ukrainisch.

Zu klären bleibt, ob und wie die drei Kodes von den Sprechern in Kombination (‘plurikodal’) verwendet werden:

Kode n % Ukr. 492 36,6

Ukr. / URGR 333 24,8 URGR 139 10,3 Russ. 128 9,5

Ukr. / Russ. / URGR 120 8,9 Russ. / URGR 67 5,0 Ukr. / Russ. 56 4,2

Gesamt 1335 99,4 Fehlend 8 0,6

Zusammen 1343 100,0 Tabelle 1: ‘Mono-’ oder ‘plurikodale’ Orientierung

(häufiger oder ständiger Gebrauch)

Die größte Gruppe von Respondenten ist somit diejenige, die allein für das Ukrainische eine ständige oder häufige Verwendung angab: etwas mehr als ein Drittel von allen. Die zweitgrößte ist mit ca. einem Viertel der Respondenten die Gruppe, die Ukrainisch und URGR als ständig oder häufig verwendet sieht. Jeweils ca. 10 % der Respondenten finden sich in drei weiteren Gruppen: erstens diejenige, die nur die URGR als ständig oder häufig verwendet sieht, zweitens diejenige, die hier nur das Russische nennt, und drittens die Gruppe, in welcher die Respondenten angeben, alle drei Kodes ständig oder häufig zu verwenden. Mit jeweils ca. 5% sind die Gruppen, die Russisch und die URGR bzw. Russisch und Ukrainisch ständig oder häufig verwenden, nur sehr schwach vertreten.

Diese Übersicht über das gesamte Zielareal soll im Folgenden hinsicht-lich der arealen Gliederung in Bezirke (oblasti) differenziert werden. Na-

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türlich ist auch eine Differenzierung nach sozialen Kriterien geboten, wie etwa Bildung, Beruf, Größe des Wohnortes etc. Die arealen Unterschiede sind jedoch die auffälligsten. Inwieweit dies auf areal unterschiedlichen Ausprägungen sozialer Faktoren basiert, soll in späteren Studien analysiert werden.

4. Analysen mit arealer Differenzierung

Im Weiteren soll der aktuelle Gebrauch der Kodes im Mittelpunkt stehen, immer auf der Basis, wie dies die Respondenten einschätzen. Im Gegen-satz zu Weißrussland, das areal relativ homogen in den Präferenzen (oder Nicht-Präferenzen) der drei entsprechenden Kodes ist (vgl. Hentschel & Kittel 2011; 2014)14, muss in der Ukraine von erheblichen arealen Unter-schieden hinsichtlich der Präferenz für das Ukrainische bzw. für das Rus-sische ausgegangen werden, wie eine Reihe von vorangegangenen Studien zeigt (vgl. Hentschel & Kittel 2014). Dies ist selbst dann der Fall, wenn – wie in dieser Untersuchung – der äußerste Westen, der äußerste Osten und die südlichen Schwarzmeerbezirke unberücksichtigt bleiben.

Im Zusammenhang mit der arealen Herkunft der Respondenten (im Sinne des gegenwärtigen Wohnsitzes) offenbaren sich in der Tat erhebli-che Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten in den Daten für die er-fassten 11 Bezirke. Tab. 2 gibt die grundlegenden quantitativen Verhält-nisse wieder. Die Zahlenwerte in den Kolumnen beziehen sich auf die relative Häufigkeit (%) der Angaben der Respondenten, die drei Kodes (Ukrainisch, URGR, Russisch) selbst zu verwenden, in der Familie und in der Umgebung anzutreffen, und zwar ständig oder häufig. Angeordnet in der Tabelle sind die einzelnen Bezirke grob in ihrer West-Ost-Erstre-ckung; bei gleicher Lage in der geographischen Breite wurden die südli-cheren Bezirke zuerst aufgelistet.

Ukrainisch URGR Russisch

Bezirk Resp. Fam. Umg. Resp. Fam. Umg. Resp. Fam. Umg. Chmel’nyc’kyj 92,5 95,9 96,6 36,1 33,3 39,5 9,5 10,2 11,6

Vinnycja 91,0 89,7 92,4 37,9 30,3 38,6 26,9 15,9 24,8 Žytomyr 69,1 69,1 70,1 36,1 37,1 41,2 15,5 21,6 41,2

Kirovohrad 69,9 64,4 69,2 38,4 43,8 50,7 36,3 35,6 52,1 Čerkasy 86,2 86,9 89,7 22,8 21,4 26,9 19,3 13,8 26,2

Kyïv 90,7 92,8 94,8 59,8 58,8 72,2 32,0 30,9 44,3

14 Es gibt Unterschiede zwischen den weißrussischen Erhebungsorten. Diese sind aber eher in der unterschiedlichen Größe der Erfassungsorte bzw. im Urbanisierungsgrad begründet als in einer arealen Gliederung nach einem Ost-West- bzw. Nordost-Südwest-Schema.

256 Gerd Hentschel, Oleksandr O. Taranenko

Černihiv 84,6 84,6 84,515 58,8 57,7 67,0 11,3 12,4 13,4 Poltava 75,0 75,7 85,1 54,7 54,7 63,5 31,1 31,8 47,3 Sumy 51,0 57,1 63,3 82,7 87,8 93,9 36,7 36,7 38,8

Dnipropetr. 63,5 62,8 72,3 81,0 81,8 94,2 27,7 29,9 36,5 Charkiv 24,4 26,7 32,5 45,3 46,5 44,1 69,8 68,6 69,8

Tabelle 2: Stärke der Verwendung der drei Kodes in den 11 Bezirken (in Prozent), differenziert nach Respondent, seiner Familie, seinem weiteren Kontext

Zunächst sollen aber weniger die Bezirke untereinander verglichen wer-den, als dass zu überprüfen ist, inwieweit die Angaben über den eigenen Gebrauch mit der Verwendung in der Familie und in der weiteren Umge-bung einander ähneln bzw. differieren. In den meisten Fällen (21 von 33) werden zwischen der eigenen Redepraxis der Respondenten, derjenigen in der Familie und der in der weiteren Umgebung keine nennenswerten Unterschiede in den Respondentenurteilen sichtbar. Die Fälle, die zwi-schen dem Minimum und Maximum der jeweils drei Werte einen Unter-schied von min. 10 Prozentpunkten zu erkennen geben, sind grau unter-legt; die meisten davon betreffen das Russische, die wenigsten das Ukrai-nische. Fast durchgehend beträgt der Minimum-Maximum-Unterschied in solchen Fällen nicht mehr als 15 Prozentpunkte. Nur in einem Fall, und zwar in Žytomyr hinsichtlich der Verwendung des Russischen, beträgt der Minimum-Maximum-Unterschied 25 Prozentpunkte. Die zwölf Fälle (bis auf den letztgenannten), in denen ein solcher Unterschied von 10 Pro-zentpunkten oder etwas mehr besteht (leicht grau unterlegt), lassen dabei ein sehr konstantes Moment erkennen: Der Wert für den Gebrauch der betreffenden Kodes in der Umgebung ist jeweils der höchste. Dies korre-liert mit der arealen Verteilung: In Poltava und Sumy wird das Ukraini-sche in der Umgebung mehr verwendet als in der Familie sowie von den Respondenten selbst. Beide Gebiete liegen im Osten bzw. Nordosten des Zentrums. Mit der Ausnahme von Poltava liegen die Fälle dagegen, in denen das Russische merklich häufiger in der Umgebung verwendet wird als in der Familie sowie vom Respondenten selbst, auf der rechten, westli-chen Seite des Dnipro (der Bezirk Kyïv natürlich nur zum Teil, aber zum größeren). Was die URGR betrifft, so ist das Bild ähnlich.

Zur Klärung, welcher der drei Kodes in welchem Bezirk wie stark ver-wendet wird, wurde aus den drei Prozentwerten der obigen Tabelle (Res-pondent, Familie, Umgebung) jeweils das arithmetische Mittel errechnet, das somit eine Art Index zur Verbreitung des Kodes in den Arealen ist, so wie die Respondenten dies für sich und andere einschätzen (Tab. 3).

15 Die Identität bzw. Fast-Identität der drei Werte für Ukrainisch in Černihiv ist auf-fällig und wurde überprüft. Die Grunddaten in der SPSS-Datenbank, die unsere Kiewer Partner (SOCIS) aus der Soziologie erstellt haben, sind jedoch in der Tat entsprechend.

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Zunächst sind die Unterschiede zwischen den drei ‘Verwendungshier-archien’ der Bezirke zu diskutieren. Was das Ukrainische betrifft, so liegen alle Bezirke, die Werte von ca. 85% und mehr für eine häufige oder stän-dige Verwendung erreichen (zumindest mit dem größeren Teil des Areals wie im Falle von Kyïv und Čerkasy), westlich des Dnipro. Poltava, östlich des Flusses, erreicht jedoch auch fast 80%. Aber auch in vier anderen Be-zirken, die westlich (Žytomyr, Kirovohrad), überwiegend westlich (Dnip-ropetrovs’k) oder aber nordöstlich (Sumy) davon liegen, erreicht das Uk-rainische recht hohe Werte, zwischen knapp 60 und knapp 70%. (Überall sind hier die Werte für Russisch deutlich niedriger; s.u.) Der ‘Ausreißer’ ist Charkiv, wo das Ukrainische nur von knapp mehr als einem Viertel

Bezirk Ukr. Bezirk URGR Bezirk Russ. Chmel’nyc’kyj 95,0 Sumy 88,1 Charkiv 69,4

Kyïv 92,8 Dnipropetrovs’k 85,7 Kirovohrad 41,3 Vinnycja 91,0 Kyïv 63,6 Sumy 37,4 Čerkasy 87,6 Černihiv 61,2 Poltava 36,7 Černihiv 84,5 Poltava 57,6 Kyïv 35,7 Poltava 78,6 Charkiv 45,3 Dnipropetrovs’k 31,4 Žytomyr 69,4 Kirovohrad 44,3 Žytomyr 26,1

Kirovohrad 67,8 Žytomyr 38,1 Vinnycja 22,5 Dnipropetrovs’k 66,2 Chmel’nyc’kyj 36,3 Čerkasy 19,8

Sumy 57,1 Vinnycja 35,6 Černihiv 12,4 Charkiv 27,9 Čerkasy 23,7 Chmel’nyc’kyj 10,4 Tabelle 3: Die jeweilige Stärke der drei Kodes in den 11 Bezirken

der Respondenten im häufigen oder ständigen Gebrauch gesehen wird. (Die Schattierungen in der obigen Tabelle deuten diese Abstufungen an.) Ein West-Ost-Gefälle offenbart sich durchaus, auch wenn es nicht absolut gilt (vgl. den sehr hohen Wert in Kyïv und den deutlich niedrigeren in Žytomyr, dem westlichen Nachbarbezirk), und für alle Bezirke (bis auf Charkiv) die Werte für Ukrainisch klar höher sind als die für Russisch.

Was das Russische betrifft, so hebt sich das gerade erwähnte Charkiv auch hier krass hervor; es zeigt den mit Abstand höchsten Wert von fast 70%. Hinter Charkiv ergibt sich ein sehr großer Abstand von fast 30 Pro-zentpunkten zum Bezirk mit dem zweithöchsten Wert (Kirovohrad) und dann ein sehr kontinuierlicher Abfall des ständigen oder häufigen Ge-brauchs des Russischen von ca. 40 auf nur 10%. Die anderen zehn Bezirke lassen sich weiter in drei Gruppen einteilen (vgl. die Schattierungen in der o.a. Tabelle). Die Gruppe mit Werten um 35% umfasst zwei Bezirke östlich des Dnipro (Sumy, Poltava), zwei auf beiden Seiten (Dnipropet-rovs’k, Kyïv) und einen (Kirovohrad) westlich. Die beiden Gruppen mit den niedrigsten Werten enthalten nur Bezirke westlich des Dnipro. Der

258 Gerd Hentschel, Oleksandr O. Taranenko

niedrigste Wert wird in der Tat im westlichsten der berücksichtigten Be-zirke erreicht. Hier deutet sich ebenso ein Ost-West-Gefälle an, auch wenn dies hier wiederum nicht absolut gilt. So unterscheidet sich bei-spielsweise der sehr weit östlich gelegene Bezirk Dnipropetrovs’k (ähnlich östlich wie der von Charkiv) kaum vom viel weiter westlich gelegenen Žytomyr.

Vergleichen wir die beiden diskutierten Hierarchien mit einem Korre-lationstest aus der analytischen Statistik, ergibt sich ein starker Zusammen-hang zwischen dem ständigen bzw. häufigen Gebrauch des Ukrainischen und dem ständigen bzw. häufigen Gebrauch des Russischen. Die Korrela-tion ist negativ, umgekehrt proportional (Pearson-Korrelation r = –0,844), was der tendenziell gegenläufigen Häufigkeit der Verwendung des Ukrai-nischen bzw. des Russischen entspricht, und außerdem hochsignifikant auf dem 1‰-Niveau16). Einerseits bestätigt sich also, dass dort wo das Uk-rainische stark verwendet wird, das Russische zurücktritt, und umgekehrt. Andererseits ist zu unterstreichen, dass das Ukrainische in der zentralen Ukraine (bis auf die Ausnahme von Charkiv) dennoch durchgehend hö-here Werte als das Russische hat! Dazu gleich mehr.

Kein Zusammenhang (weder positiv noch negativ) kann zwischen dem ständigen Gebrauch des Ukrainischen oder Russischen einerseits und dem der URGR festgestellt werden (die entsprechenden Werte der Pearson-Korrelation sind –0,244 für das Ukrainische und die URGR bzw. 0,198 für das Russische und die URGR, beide weit entfernt von jeder Sig-nifikanz). D.h. man kann von der Verbreitung von Ukrainisch oder Rus-sisch in der zentralen Ukraine nicht auf Stärke oder Schwäche des Ge-brauchs der URGR schließen. Möglich sind aber punktuelle Beobachtun-gen. Ausgesprochene Hochburgen des ständigen oder häufigen Gebrauchs der URGR sind die Bezirke Dnipropetrovs’k und Sumy, mit Werten weit über 80%.

Die hier vorgestellten Daten konfligieren in manchen Punkten mit kar-tographischen Darstellungen zur Verteilung von Ukrainisch und Russisch in der Ukraine z.B. im „Nacional’nyj atlas Ukraïny“ Kyïv 2007, im „Kom-pleksnyj atlas Ukraïny“ Kyïv 2007 sowie in deutschen Zeitschriften wie „Osteuropa“ (2010; 60/2-4) oder „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (64. Jg. 47-48/2014). Diese basieren jedoch nicht oder nicht nachvollziehbar auf Erhebungen zur Verwendung der Sprachen, wie sie hier vorgestellt wur-

16 Korrelationskoeffizienten, also Maße des Zusammenhangs, zeigen Werte von +1 bis

–1. Bei Erreichung von Signifikanz (Minimum auf dem 5%-Niveau) gilt: 0 – kein Zu-sammenhang, > 0 bis ±0,2 – ein sehr schwacher Zusammenhang, > ±0,2 bis ±0,5 – ein schwacher, > ±0,5 bis ±0,7 – ein mittlerer, > ±0,7 bis ±0,9 – ein starker, > ±0,9 – ein sehr starker (Bühl 2014, 310).

Die zentrale Ukraine: Ukrainisch, Russisch, ‘Suržyk’ 259

den, sondern, trotz teils anderslautender Überschriften, auf Fragen nach der Muttersprache oder der Beherrschung (dazu s.u.). Darüber hinaus schlägt sich in diesen Karten und auch in vielen anderen Erhebungen das Problem nieder, das z.B. auch Kulyk (2010, 392) anspricht: Der Suržyk erschwert die Analyse der Distribution von Ukrainisch und Russisch als Alltagssprache in der Ukraine. Dies gilt insbesondere dann, wenn man ihn bzw. die URGR in Befragungen und den darauf basierenden Präsentatio-nen der Sprachen (und sei es in Karten) ignoriert. Vor die Wahl zwischen Ukrainisch und Russisch gestellt, ist die Entscheidung von Respondenten, die hauptsächlich die URGR praktizieren, nicht vom alltäglichen Sprach-gebrauch, sondern von anderen Faktoren (z.B. sprachlicher Loyalität, ‘muttersprachlicher’ Empfindung u.ä.) und dem Zufall geprägt.

Eine andere, nicht in dieser Studie zu beantwortende Frage ist, ob die URGR eher ukrainisch oder eher russisch geprägt ist17. Die Bezirke Kyïv, Černihiv und Poltava bilden eine zweite starke Gruppe der Verwendung der URGR mit Werten um 60%. Das Zentrum des ständigen oder häufi-

Graphik 3: Hierarchische Cluster nach Ausprägung von Unterschieden in der Verwen-dung der drei Kodes

17 Der Prototyp des Suržyk ist sicher der ukrainisch basierte. Ohne Zweifel kann es

aber in den letzten 20 Jahren auch zur Entwicklung eines russisch basierten Suržyk ge-kommen sein, der dadurch bedingt ist, dass sich viele zuvor eher auf das Russische orien-tierte Sprecher (besonders im Osten) aufgrund der Forcierung des Ukrainischen in der Gesellschaft seitens der Politik umorientiert haben. Wieweit die URGR in den östliche-ren Bezirken ‘russischer’ als in den westlicheren ausfällt, soll in einer weiteren Studie analysiert werden. Untersuchungen zu Phänomenen der Flexionsmorphologie legen je-denfalls nahe, dass dem so ist, wobei die dialektale Grundlage des Ukrainischen in diesen Regionen auch mehr mit dem Russischen übereinstimmende Merkmale aufweist als in westlicheren Bezirken (vgl. Menzel 2014, 259, 262; Менцель & Хентшель 2014, 44).

260 Gerd Hentschel, Oleksandr O. Taranenko

gen Gebrauchs der URGR ist somit der Osten und der Nordosten des Erhebungsgebiets in der Zentralukraine. Eine gewisse Ausnahme bildet hier Charkiv, das die einzige Region ist, wo das Russische im ständi-gen und häufigen Gebrauch deutlich über beiden anderen Kodes rangiert und das Ukrainische stark im Hintergrund steht. Aber hinsichtlich der URGR ähneln die Werte von Charkiv denen von viel westlicheren Bezirken. Diese unterscheiden sich mit Werten von 44% und 36% nicht stark von Charkiv mit 45%, bis auf den ‘zentralsten’ Bezirk der Ukraine Čerkasy mit einem Wert von nur 24%.

Nach diesen isolierten Analysen zur Häufigkeitsverteilung der drei Kodes im Zielareal folgt eine Zusammenschau der Gliederung der Bezirke nach Präferenzen für die drei Kodes ‘en bloc’: Eine Gruppierung der Be-zirke unter Berücksichtigung von drei Variablen (Ausmaß des Gebrauchs von Ukrainisch, Russisch und URGR) nach bloßem Augenschein ist na-türlich nicht möglich. Daher wird eine sog. Clusteranalyse gerechnet (vgl. Bortz 2005, 566-583). Graphik 3 (oben) illustriert die Clusteranalyse durch ein sog. Dendrogramm

In Tab. 4 werden Clusteranalyse und Dendrogramm ‘ausbuchstabiert’:

ständig / häufig verwendet Rang im Bezirk Kodes und Cluster

Bezirk Ukr. URGR Russ. Ukr. URGR Russ. Cl5 Cl3 Cl2

Chmel’n. 95,0 36,3 10,4 1 2 3 A I U>R Vinn. 91,0 35,6 22,5 1 2 3 A I U>R Čerk. 87,6 23,7 19,8 1 2 3 A I U>R Kyïv 92,8 63,6 35,7 1 2 3 B I U>R Čern. 84,5 61,2 12,4 1 2 3 B I U>R Polt. 78,6 57,6 36,7 1 2 3 B I U>R Žytom. 69,4 38,1 26,1 1 2 3 C I U>R Kirov. 67,8 44,3 41,3 1 2 3 C I U>R

Dniprop. 66,2 85,7 31,4 2 1 3 D II U>R Sumy 57,1 88,1 37,4 2 1 3 D II U>R Chark. 27,9 45,3 69,4 3 2 1 E III R>U

Tabelle 4: Clusterbildungen mit Bezug auf die Häufigkeit der Verwendung der drei Kodes

Bei einer Clusteranalyse stellt sich stets die Frage, wie viele Cluster in ei-nem Kontinuum von mehreren Variablen (hier die jeweilige relative Häufigkeit eines starken Gebrauchs von Ukrainisch, Russisch und URGR) anzunehmen sind. Die Clusteranalyse ist ein sog. exploratives Verfahren18.

18 Die in sprachwissenschaftlichen Betrachtungen (sofern überhaupt quantifizierend)

häufiger anzutreffenden Signifikanztests sind sog. konfirmatorische, die zur Ablehnung  

Die zentrale Ukraine: Ukrainisch, Russisch, ‘Suržyk’ 261

Zunächst wurde mit hierarchischen Verfahren das Optimum der Annah-me von fünf Clustern ermittelt19. Sowohl dieses als auch das nicht-hier-archische sog. K-Means-Verfahren ergeben dieselben fünf Cluster. Die Gliederung ist also in unterschiedlichen Verfahren stabil. Die entspre-chende Spalte in obiger Tabelle ist ‘Cl5’. Nach dieser Spalte und sekundär nach der Spalte ‘Ukr.’, zweite von links, ist die Tabelle sortiert. Es sind aber, bei weniger tiefer Analyse, auch weniger Cluster denkbar und gut zu interpretieren, und zwar drei oder zwei: die Spalten ‘Cl3’ und ‘Cl2’, ganz rechts.

In allen drei Clusterkalkulationen (Cl2, Cl3, Cl5) hebt sich Charkiv von allen anderen Bezirken ab, was nach der obigen Diskussion naheliegt. In der obigen Tabelle in der Kolumne ‘Cl2’ wird Charkiv ‘allein gestellt’, da das Russische (wie gesagt) im ständigen oder häufigen Gebrauch das Uk-rainische überwiegt, und zwar extrem deutlich.

Innerhalb des zweiten Clusters in der dualen Aufteilung des Cl2, wo durchgehend ‘Ukrainisch > Russisch’ gilt, hebt sich ein Cluster ‘II’ mit Su-my und Dnipropetrovs’k ab (also mit zwei areal nicht-adjazenten Bezir-ken). Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass die URGR die meisten Nen-nungen für den ständigen oder häufigen Gebrauch erhalten hat, auch deutlich vor dem Ukrainischen. Hier gilt die Hierarchie ‘URGR > Ukrai-nisch > Russisch’. In der Dreiergruppierung (Cl3) sind also Charkiv ‘I’ vs. Sumy/Dnipropetrowsk ‘II’ vs. die anderen acht Bezirke ‘III’ zu kontrastie-ren.

Unter den letztgenannten acht, wo die Hierarchie ‘Ukrainisch > URGR > Russisch’ gilt, sind die Unterschiede schwächer ausgeprägt, aber auch hier lassen sich noch drei Cluster ausmachen. Das Cluster (A) in der Ko-lumne ‘Cl5’ bzw. von nun an ‘ClV’ (für ‘allgemeines Verwendungscluster zu allen drei Kodes’, das in weiteren Analysen eine Rolle spielen wird) bilden die drei Bezirke Chmelʼnycʼkyj, Vinnycja und Čerkasy. Dies ist ein schmales, zentrales Band, das sich von Westen bis etwas über den Dnipro erstreckt. Hier ist das Ukrainische im ständigen oder häufigen Gebrauch stark dominant20. Das Cluster (B) umfasst die Bezirke Kyïv, Černihiv und oder Annahme zuvor aufgestellter Hypothesen führen, während explorative ausschließ-lich auf die Ermöglichung weiterer Arbeitshypothesen abzielen, was natürlich die Inter-pretierbarkeit ihrer Ergebnisse verlangt.

19 … und zwar sowohl mit dem Ward- als auch dem Average-Linkage-Verfahren. Die optimale Clusteranzahl lässt sich sowohl durch visuelle Inspektion des sog. Dendro-gramms ermitteln, das die Clusterzugehörigkeit und die Unterschiedlichkeit zwischen Clustern visualisiert, als auch durch Veränderungen in bestimmten Koeffizienten, die bei der Zusammenführung von Clustern berechnet werden.

20 Die URGR hat interessanterweise in den beiden westlichen Bezirken höhere Werte als im absolut zentralen Gebiet von Čerkasy, was hier nicht erklärt werden kann.

262 Gerd Hentschel, Oleksandr O. Taranenko

Poltava. Hier finden wir annähernd so hohe Werte für das Ukrainische wie in der Gruppe (A), aber im Gegensatz zu Cluster (A) auch recht hohe für die URGR. Diese Gruppe aus drei areal adjazenten Bezirken legt sich sozusagen nordöstlich um das zentrale Cluster (A). Das Cluster (C) mit den nicht adjazenten Bezirken Žytomyr und Kirovohrad ähnelt dem Clus-ter (B) dahingehend, dass die Diskrepanz zwischen den Werten für Ukra-inisch und die URGR sich verringert, wobei die Werte für das Ukraini-sche niedriger ausfallen, aber dennoch – wie in den Clustern (A) und (B) – dominant bleiben. Die Cluster (D) mit Sumy und Dnipropetrovs’k und (E) mit Charkiv heben sich nicht nur von allen anderen, sondern – wie dargelegt – auch untereinander deutlich ab. Die folgende Graphik 4 bildet die Cluster in einem Streudiagramm ab.

Graphik 4 veranschaulicht die Ergebnisse einer sog. Diskriminanzana-lyse. Diese prüft, ob sich eine vorab bekannte Gruppeneinteilung durch bestimmte Merkmale der Untersuchungsobjekte begründen lässt (vgl. Bortz 2005, 605-625). Sie kann also als Gegenprobe einer Clusteranalyse herangezogen werden (vgl. Bortz 2005, 583). In unserem Fall werden auf Basis der Werte der drei Sprachen alle Bezirke ‘richtig’ dem entsprechen-

Graphik 4: Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Bezirken

den Cluster zugeordnet. Auch die angesprochenen Ähnlichkeiten zwi-schen den Clustern (A), (B) und (C) finden sich in der Graphik wieder.

Die zentrale Ukraine: Ukrainisch, Russisch, ‘Suržyk’ 263

5. Sprachliche Kompetenzen

Es stellt sich die Frage, inwieweit die Einschätzung von Sprachkompeten-zen Präferenzen für die Kodes beeinflussen. Hier kann es natürlich nur um Ukrainisch und Russisch gehen. (Eine Frage, wie Respondenten ihre eigene Kompetenz in der URGR einschätzen, würde zu Irritation oder Belustigung führen.) Die entsprechende Frage konnte in einer 10-er Skala beantwortet werden, von ‘gar nicht’ bis ‘ausgezeichnet’; vgl. Graphik 5.

Bis Stufe 7 sind die Werte für Russisch mehr oder weniger deutlich hö-her als für Ukrainisch, dann ab Stufe 8, also auf den drei höchsten Stufen der Sprachkompetenz sind die Nennungen für Ukrainisch häufiger. Diese 10-er Skala soll für die folgenden, areal differenzierten Betrachtungen in eine Zweiteilung überführt werden: Bis Stufe 7 soll von ‘schwächeren Kenntnissen’ gesprochen werden, ab Stufe 8 von ‘guten’.

Graphik 5: Kenntnisse des Ukrainischen und Russischen von 1 – ‚gar nicht‘ bis 10 – ‚ausgezeichnet‘

Bilinguale Kompetenz Cluster

Bezirk beide gut nur Ukr. gut

nur Russ. gut

beide schwächer ClK ClV

(=Cl5) Charkiv 64,0 8,1 23,3 4,7 1 E

Kyïv 67,0 24,7 5,2 3,1 2 B Dnipropetrovs’k 65,7 13,9 5,1 15,3 2 D

Kirovohrad 50,7 29,5 10,3 9,6 3 C Vinnycja 49,7 33,8 9,0 7,6 3 A Poltava 44,6 32,4 9,5 13,5 3 B Sumy 43,9 38,8 5,1 12,2 3 D

0 5

10 15 20 25 30 35 40

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Ukrainisch Russisch

264 Gerd Hentschel, Oleksandr O. Taranenko

Čerkasy 39,3 36,6 6,2 17,9 3 A Žytomyr 44,3 25,8 5,2 24,7 4 C Černihiv 36,1 49,5 2,1 12,4 5 B

Chmel’nyc’kyj 33,3 51,0 3,4 12,2 5 A Gesamt 48,3 31,9 7,4 12,3

Tabelle 5: Niveau der bilingualen Kompetenz in den Bezirken

Auch auf der Basis der ‘selbst-geschätzten’ bilingualen Kompetenz wird eine Clusteranalyse mit 5 Clustern gerechnet (‘Kenntniscluster’, ClK, von ‘1’ bis ‘5’). Die Cluster sind gut zu interpretieren. (1) und (2) sind sich sehr ähnlich: Wir haben einen sehr hohen Anteil von Respondenten, die sich gute Kenntnisse im Ukrainischen und im Russischen attestieren (jeweils ca. zwei Drittel). Dabei unterscheiden sich (1) mit Charkiv und (2) mit Kyïv und Dnipropetrovs’k besonders dadurch, dass (1) dreimal mehr Res-pondenten zeigt, die meinen, nur Russisch gut zu beherrschen, als solche, die nur Ukrainisch gut beherrschen, und dass dies in (2) in etwa umge-kehrt ist. Auch die Cluster (3) und (4) ähneln sich: In beiden liegt ein re-lativ hoher Anteil an Respondenten vor, die sich in beiden Sprachen gute Kenntnisse attestieren (um 45%). Cluster (4), d.h. Žytomyr allein, hebt sich von (3) mit seinen fünf Bezirken dadurch ab, dass sich in (4) die Zahl der Respondenten, die sich in keiner der beiden Sprachen gute Kenntnis-se zusprechen und die, die sich nur im Ukrainischen als kompetent sehen, die Waage halten, und zwar mit jeweils ca. einem beachtlichen Viertel. In (3) dominieren dagegen die ersten über die zweiten sehr deutlich. In (5), also in den beiden westlichsten Bezirken Černihiv und Chmel’nyc’kyj, sind die Respondenten mit guten Kenntnissen nur im Ukrainischen in der Überzahl (ca. die Hälfte), aber diejenigen mit guten Kenntnissen in bei-den Sprachen (ca. ein Drittel) auch recht zahlreich.

Im Vergleich von Kenntnis- und Verwendungsclustern (ClK vs. ClV) ergibt sich ein buntes Bild von Entsprechungen. Am deutlichsten ist das beim Kenntniscluster 3, welches Bezirke aus vier unterschiedlichen Ver-wendungsclustern umfasst. Nur Charkiv fungiert in beiden Gruppierun-gen gleichermaßen als besonderes Cluster. Fazit des Augenscheins: Selbst-geschätzte Kompetenz im Russischen und Ukrainischen hängt kaum er-kennbar mit der erklärten Häufigkeit der Verwendung der drei Kodes zu-sammen. Eine Korrelationsanalyse nach Pearson (Pearson’s r) bestätigt, dass es nur schwache oder sehr schwache, punktuelle Zusammenhänge zwischen der selbst geschätzten Kompetenz im Ukrainischen und Russi-schen und der Häufigkeit der Verwendung der drei Kodes gibt. Eine po-sitive Beurteilung der eigenen Ukrainischkenntnisse hängt schwach mit einer häufigen ständigen Verwendung des Ukrainischen zusammen (r = 0,425). Dasselbe gilt für Kennnisse im Russischen und seine Verwendung (r = 0,460; beides auf dem 1‰-Niveau signifikant). Alle anderen Korrela-

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nördlichsten bzw. westlichsten

Die zentrale Ukraine: Ukrainisch, Russisch, ‘Suržyk’ 265

tionswerte, insbesondere derjenige zur Verwendung der URGR und den selbst geschätzten Ukrainisch- und Russischkenntnissen, tendieren gegen Null. Der Grad der gefühlten Kompetenz im Ukrainischen und Russi-schen hat also bestenfalls einen marginalen Einfluss auf die Häufigkeit der Verwendung der Kodes.

6. Zur potentiellen Subjektivität der Beurteilung des Sprachgebrauchs

Befragungen wie die hier beschriebene und ihre Interpretationen basieren natürlich in mehrerlei Hinsicht auf subjektiven Urteilen. Ein erstes rele-vantes Moment der Subjektivität ist sicherlich die Trennfähigkeit der URGR vom Ukrainischen und/oder vom Russischen auf Seiten der Res-pondenten. Natürlich ist es möglich, dass ein einzelner Respondent z.B. seinen eigenen Idiolekt noch dem Ukrainischen bzw. dem Russischen zuordnet, obwohl ein Sprachwissenschaftler ihn bereits der URGR zuord-nen würde21. Auch das Umgekehrte ist denkbar, wenn Respondenten ih-ren Idiolekt der URGR zuordnen, weil sie spüren, dass er nicht dem Eta-lon des Ukrainischen respektive Russischen entspricht, das sie aus den Medien kennen. Eigene Erhebungen zum Weißrussischen (vgl. Hentschel 2013), wo Beurteilungen zum eigenen Kode bei ausgewählten Respon-denten mit Sprachmaterialien abgeglichen wurden, zeigen jedoch, dass Respondenten, die von sich behaupten, in informellen Kontexten die WRGR zu sprechen, in eher offiziellen dagegen Russisch, in Interviews, die mit ihnen geführt wurden, diese Einschätzung widerspiegeln. Beson-ders am Anfang der Interviews war ihre Rede russisch (wenn auch mit starken phonischen Interferenzen des Weißrussischen); im weiteren Ver-lauf jedoch zunehmend gemischt. Man kann also annehmen, dass sich zu enge und zu weite Auffassungen von gemischten Varietäten wie der WRGR und URGR bei einzelnen Respondenten annähernd ausgleichen.

21 Für die Linguistik ist dies nicht nur eine empirische, sondern auch eine komplexe

theoretische Aufgabe, wie Hentschel (2008) für die weißrussisch-russische gemischte Re-de darlegt (vgl. auch Hentschel, Tesch, Zeller 2014). Es kann schwierig sein, in der kon-kreten Rede eines gegebenen Individuums oder sogar in einzelnen Diskurs(fragment)en desselben Individuums die URGR von einer (leichter und spontan) vom Russischen in-terferierten ukrainischen Rede zu differenzieren. Ausgehend von einer leitenden Definition (in unserem Ansatz grob: Anwesenheit von Spuren des Ukrainischen und Russischen auf verschiedenen Strukturebenen und häufige Wiederholung ‘derselben Spuren’ als Symptome einer Konventionalisierung) lässt sich aber sehr wohl typische URGR (typischer Suržyk) abgrenzen und hinsichtlich der Stärke des russischen Einflusses beschreiben (vgl. Hentschel 2013). Das Fehlen scharfer Grenzen in der Klas-sifikation der Rede ist keineswegs als prinzipielle Unmöglichkeit jeder Abgrenzung der URGR misszuverstehen.

266 Gerd Hentschel, Oleksandr O. Taranenko

Beim gegenwärtigen Stand der Forschung ist das allerdings aus methodi-scher und theoretischer Sicht nicht überprüfbar22.

Ein weiteres Moment der Subjektivität könnte im Einfluss der Stärke des Gefühls ukrainischer Eigenständigkeit liegen. Allgemein wird hier für den gesamten ukrainischen Raum von einem Gefälle von Westen nach Osten und Süden ausgegangen (vgl. Лозинський 2008, 49-85; Майборо-да 2008, 144-147). Nicht zuletzt aufgrund der Zeit der Erhebung im Juli des Jahres 2014, also nach den Vorgängen auf dem Majdan und insbeson-dere nach der russischen Okkupation der Krim, könnte vermutet werden, dass das Ukrainische von den Respondenten (besonders, aber nicht nur im Westen) häufiger und das Russische weniger häufig genannt wird, als es von den realen Gegebenheiten her gerechtfertigt wäre. Da außerdem die URGR, der Suržyk von nationalistischen Kreisen der Öffentlichkeit in der Ukraine stigmatisiert wird (vgl. oben sowie Hentschel 2014, Stavyc’ka 2014), könnte dies bei besonders national gesinnten Ukrainern mögli-cherweise auch Wirkung zeigen und wiederum im Westen weniger als real gegeben genannt werden. Diesen Gefahren sollte nicht zuletzt da-durch begegnet werden, dass nicht nur nach der sprachlichen Praxis der Respondenten, sondern auch nach dem Sprachgebrauch in der Familie und besonders in der weiteren Umgebung gefragt wird (s.o.). Zumindest zu letzterer sollte das Bedürfnis des Kaschierens des politisch nicht kor-rekten Sprachgebrauchs deutlich geringer ausfallen.

Die ‘gefühlte Selbstabgrenzung’ der Ukrainer von den Russen soll ge-prüft werden anhand von erklärter Zustimmung oder Nicht-Zustimmung zu drei Aussagen, die auf die Eigenständigkeit der Ukrainer in ihrem na-tionalen, ethnischen bzw. kulturellen Selbstgefühl abheben. Die erste Aussage lautet ‘Die Ukrainer bilden eine eigene Nation’, die zweite ‘Die Ukrainer sind ein Teil des russischen Volkes’, die dritte ‘Die ukrainische und die russische Kultur unterscheiden sich voneinander’. Hier die drei Tabellen dazu, geordnet nach den Verwendungsclustern (ClV):

ClV Bezirk Voll

einver-standen

Eher einver-standen

Eher nicht

einver-standen

Absolut nicht

einver-standen

Verzicht auf Ant-

wort

A Vinnycja 79,3% 16,6% 2,1% 1,4% 0,7% A Chmel’nyc’kyj 74,8% 17,0% 4,1% 0,7% 3,4% A Čerkasy 73,1% 20,0% 4,1% 2,8% 0,0%

22 Eine umfassende Untersuchung der Einstufung verschiedener ‘hybrider’ Äußerun-

gen mit kontrolliert variierenden ukrainischen bzw. weißrussischen und russischen An-teilen, und zwar in qualitativer und quantitativer Hinsicht, d.h. eine Untersuchung im Sinne einer ‘perzeptiven Soziolinguistik’, wird zur Zeit vorbereitet.

Die zentrale Ukraine: Ukrainisch, Russisch, ‘Suržyk’ 267

B Kyïv 84,5% 9,3% 1,0% 0,0% 5,2% B Poltava 78,4% 11,5% 4,7% 0,7% 4,7% B Černihiv 93,8% 3,1% 0,0% 3,1% 0,0% C Žytomyr 79,4% 18,6% 0,0% 0,0% 2,1% C Kirovohrad 71,9% 19,9% 0,7% 0,7% 6,8% D Dnipropetrovs’k 81,0% 14,6% 3,6% 0,7% 0,0% D Sumy 68,4% 16,3% 11,2% 0,0% 4,1% E Charkiv 77,9% 11,6% 3,5% 3,5% 3,5% Gesamt 78,0% 14,9% 3,2% 1,2% 2,8%

Tabelle 6: Akzeptanz der Aussage ‘Die Ukrainer bilden eine eigene Nation.’

ClV Bezirk Voll

einver-standen

Eher einver-standen

Eher nicht

einver-standen

Absolut nicht

einver-standen

Verzicht auf Ant-

wort

A Vinnycja 2,8% 16,6% 8,3% 71,0% 1,4% A Chmel’nyc’kyj 1,4% 8,2% 21,8% 62,6% 6,1% A Čerkasy 4,8% 15,2% 8,3% 65,5% 6,2% B Kyïv 2,1% 3,1% 24,7% 58,8% 11,3% B Poltava 2,0% 10,1% 20,9% 64,2% 2,7% B Černihiv 7,2% 29,9% 10,3% 47,4% 5,2% C Žytomyr 0,0% 10,3% 9,3% 73,2% 7,2% C Kirovohrad 2,1% 9,6% 26,7% 51,4% 10,3% D Dnipropetrovs’k 3,6% 16,8% 35,0% 40,1% 4,4% D Sumy 5,1% 14,3% 24,5% 49,0% 7,1% E Charkiv 16,3% 14,0% 18,6% 44,2% 7,0% Gesamt 3,9% 13,3% 19,1% 57,7% 6,0%

Tabelle 7: Akzeptanz der Aussage ‘Die Ukrainer sind Teil des russischen Volkes.’

ClV Bezirk Voll

einver-standen

Eher ein-verstanden

Eher nicht

einver-standen

Absolut nicht ein-verstanden

Verzicht auf Ant-

wort

A Vinnycja 65,5% 21,4% 9,0% 2,8% 1,4% A Chmel’nyc’kyj 38,1% 37,4% 13,6% 2,0% 8,8% A Čerkasy 23,4% 22,8% 34,5% 11,7% 7,6% B Kyïv 15,5% 50,5% 15,5% 8,2% 10,3% B Poltava 29,1% 37,8% 16,2% 11,5% 5,4% B Černihiv 15,5% 35,1% 23,7% 15,5% 10,3% C Žytomyr 20,6% 29,9% 41,2% 2,1% 6,2% C Kirovohrad 37,0% 30,8% 13,0% 2,7% 16,4% D Dnipropetrovs’k 37,2% 38,7% 16,1% 4,4% 3,6%

268 Gerd Hentschel, Oleksandr O. Taranenko

D Sumy 38,8% 37,8% 16,3% 6,1% 1,0% E Charkiv 43,0% 34,9% 17,4% 3,5% 1,2% Gesamt 34,1% 33,7% 19,1% 6,3% 6,8%

Tabelle 8: Akzeptanz der Aussage ‘Die ukrainische und die russische Kultur unterscheiden sich voneinander.’

Grosso modo kann festgestellt werden, dass die Ergebnisse zu den beiden ersten Fragen ein hohes nationales und ethnisches Eigenständigkeitsge-fühl der Zentralukrainer bestätigen. Bei der Frage nach der Eigenständig-keit der ukrainischen Nation liegt die (annähernde oder völlige) Zustim-mung um 90%, wobei die Nennung der vollkommenen Zustimmung über-all mindestens ein ca. Vierfaches der etwas zurückhaltenderen Zustim-mung ist. Die intensional eher entgegengesetzte Aussage, die Ukrainer seien Teil des russischen Volkes, wird sicher nicht in dem Maße abge-lehnt, wie der Feststellung der Eigenständigkeit der ukrainischen Nation zugestimmt wird. Hier liegt die Zustimmung zur Zugehörigkeit zum rus-sischen Volk immerhin zwischen 4% und 37%, wobei bis auf Charkiv stets die zurückhaltende Zustimmung ein Mehrfaches der vollen ausmacht. Diese Zustimmung zur Zugehörigkeit zu einem russischen Volk ist also trotz allem die Meinung einer Minderheit. Hervorzuheben ist, dass auch im sprachlich eindeutig russisch orientierten Bezirk Charkiv vier von fünf Respondenten die nationale, drei von fünf die ethnische Eigenständigkeit der Ukrainer bejahen.

Nicht ganz so eindeutig, d.h. areal unterschiedlicher ist die Haltung zur Aussage ‘Die ukrainische und die russische Kultur unterscheiden sich voneinander’. Die beiden Bezirke mit der höchsten und klarsten Zustim-mung zur kulturellen Andersartigkeit von Ukrainern und Russen finden sich in Vinnycja aus dem Verwendungscluster (A) und in Charkiv aus dem diametral entgegengesetzten Cluster (E). Auch in Sumy und Dnipro-petrovs’k (D), also im östlichen Zentrum, ist die Zustimmung weit häufiger als die Ablehnung, ähnlich wie Chmel’nyc’kyj aus dem Cluster (A). Aber es gibt mit Žytomyr (aus C) und Čerkasy (aus A), also in sprachlich deutlich ukrainisch orientierten Arealen, auch zwei Bezirke, wo sich Zustimmung und Ablehnung hinsichtlich eines kulturellen Unter-schieds zwischen Ukrainern und Russen die Waage halten. Der kulturelle Unterschied wird also insgesamt als nicht ganz so deutlich eingeschätzt wie der nationale und der ethnische. Dennoch sieht die Mehrheit ihn als gegeben an.

Das Wesentliche ist: Für alle drei hier diskutierten Aussagen lässt der Korrelationstest nach Pearson keine nennenswerten Zusammenhänge zwi-schen den jeweiligen Einstellungen und der Häufigkeit der Verwendung der Kodes erkennen, denn alle Werte liegen zwischen ±0,2 und können somit als sehr schwach vernachlässigt werden.

Die zentrale Ukraine: Ukrainisch, Russisch, ‘Suržyk’ 269

Letztlich wurden die Respondenten mit zwei Aussagen zu einer sprachlichen Bedrohung der ukrainischen Kultur konfrontiert: Die russi-sche Sprache bzw. die gemischte Rede (URGR) stelle eine Bedrohung für die ukrainische Kultur dar. Hier die Ergebnisse zu Zustimmung und Ab-lehnung:

ClV Bezirk Voll

einver-standen

Eher einver-standen

Eher nicht

einver-standen

Absolut nicht einverstanden

Verzicht auf Ant-

wort

A Vinnycja 24,1% 16,6% 11,0% 46,2% 2,1% A Chmel’nyc’kyj 30,6% 18,4% 19,0% 23,8% 8,2% A Čerkasy 23,4% 13,8% 20,7% 30,3% 11,7% B Kyïv 40,2% 16,5% 18,6% 8,2% 16,5% B Poltava 12,2% 15,5% 26,4% 37,8% 8,1% B Černihiv 23,7% 22,7% 33,0% 20,6% 0,0% C Žytomyr 16,5% 4,1% 45,4% 24,7% 9,3% C Kirovohrad 11,0% 13,7% 30,8% 20,5% 24,0% D Dnipropetrovs’k 11,7% 12,4% 32,1% 38,7% 5,1% D Sumy 4,1% 11,2% 28,6% 45,9% 10,2% E Charkiv 3,5% 5,8% 31,4% 58,1% 1,2% Gesamt 18,5% 14,1% 26,1% 32,2% 9,1% Tabelle 9: Akzeptanz der Aussage ‘Die russische Sprache stellt eine Bedrohung

für die ukrainische Kultur dar.’

Durchschnittlich gesehen wird dieser Aussage eher nicht zugestimmt, im Verhältnis von ca. zwei zu eins. Die stärkste Ablehnung liegt in Charkiv vor, wo in der Tat die mit deutlichem Abstand größte Häufigkeit der Verwendung des Russischen zu beobachten ist (E). Auch im Verwen-dungscluster (D), wo zwar nicht das Russische, sondern die URGR in der Verwendung dominiert und das Ukrainische noch vor dem Russischen rangiert, ist eine klare Ablehnung vorzufinden. Im Verwendungscluster (A) pendelt die Einstellung von ausgewogen bis leicht ablehnend. Die größte Zustimmung findet sich überraschend im Bezirk Kyïv. Allerdings wird die Stadt Kyïv von manchen als ‘russischsprachiges L’viv’ bezeichnet, also als patriotisch ukrainisch gesehen trotz (heute vielleicht weniger aus-geprägter) Präferenzen für das Russische. Das kann in die Umgebung der Hauptstadt hineinwirken.

ClV Bezirk Voll

einver-standen

Eher einver-standen

Eher nicht einver-standen

Absolut nicht

einver-standen

Verzicht auf Ant-

wort

A Vinnycja 18,6% 26,9% 17,9% 34,5% 2,1% A Chmel’nyc’kyj 16,3% 27,9% 25,2% 10,2% 20,4%

270 Gerd Hentschel, Oleksandr O. Taranenko

A Čerkasy 20,7% 18,6% 26,2% 21,4% 13,1% B Kyïv 32,0% 27,8% 14,4% 10,3% 15,5% B Poltava 21,6% 27,0% 21,6% 18,2% 11,5% B Černihiv 8,2% 26,8% 30,9% 28,9% 5,2% C Žytomyr 46,4% 14,4% 26,8% 4,1% 8,2% C Kirovohrad 13,7% 24,7% 24,0% 13,0% 24,7% D Dnipropetrovs’k 13,9% 16,8% 35,8% 30,7% 2,9% D Sumy 3,1% 20,4% 31,6% 41,8% 3,1% E Charkiv 4,7% 7,0% 43,0% 37,2% 8,1% Gesamt 18,1% 22,3% 26,4% 22,3% 10,9%

Tabelle 10: Akzeptanz der Aussage ‘Die URGR ist eine Bedrohung für die ukrainische Kultur.’

Diese Werte zur vermeintlichen Bedrohung durch die URGR sind denen bezüglich des Russischen nicht unähnlich. Es überwiegt im Allgemeinen die ablehnende Haltung, allerdings etwas schwächer als im Falle des Rus-sischen: fünf zu vier. Dies ist nicht verwunderlich, denn die URGR bzw. der Suržyk wird ja von vielen als Symptom einer ‘Unkultur’ gesehen. Zu dieser Frage zeigt Žytomyr (C) den höchsten Grad der Zustimmung noch vor Kyïv (B). Charkiv (E) hebt sich wieder durch ganz überwiegende Ab-lehnung ab. Sumy (D), wo die URGR ja der dominante Kode ist, kommt dem am nächsten, Dnipropetrovs’k (ebenso D) nicht ganz so nah.

In beiden Tests, die auf die Einstellung der Sprecher zu den Kodes ab-heben, die nicht stereotyp mit der (spezifischen) ukrainischen Kultur zu verbinden sind, spiegeln sich also durchaus die Verwendungscluster (E) und (D) wider: Dort, wo es die geringsten Vorbehalte gegen das Russi-sche und die URGR gibt, ist einer der beiden Kodes auch als dominant erklärt worden. In den Clustern (A), (B) und (C) ist das Bild dagegen dif-fus. Punktuell gibt es deutliche Vorbehalte, besonders in Kyïv. (Hentschel & Kittel (2011) beschreiben einen ähnlichen Effekt des ausgeprägten Ge-fühls einer Bedrohung der weißrussischen Kultur durch das Russische und die WRGR für die weißrussische Hauptstadt Minsk.) Überwiegend wird aber weder im Russischen noch in der URGR eine Bedrohung für die ukrainische Kultur gesehen. Der Korrelationstest nach Pearson ergibt nur Werte zwischen ±0,2. Das sind nur sehr schwache Zusammenhänge.

Es kann also davon ausgegangen werden, dass weder etwaige Gefühle der kulturellen Bedrohung der Ukraine durch das Russische oder die URGR noch das einer nationalen, ethnischen und kulturellen Eigenstän-digkeit der Ukrainer einen nennenswerten Einfluss auf die Urteile zur Verbreitung von Ukrainisch, Russisch und der URGR im Leben der Res-pondenten ausgeübt haben. Unsere Analysen zum Ausmaß der Verwen-dung der drei Kodes sind somit kaum von derartigen subjektiven Einstel-lungen beeinflusst.

Die zentrale Ukraine: Ukrainisch, Russisch, ‘Suržyk’ 271

7. Resümee und Fazit

Üblicherweise wird ja von einem West-Ost-Gefälle (wenn nicht von einer West-Ost-Teilung) hinsichtlich der Präsenz des Ukrainischen im Kommu-nikationsraum der Gesamtukraine gesprochen. Dieses Bild ist sicher zu einfach und kann auf der Basis der gerade beschriebenen Verhältnisse modifiziert bzw. präzisiert werden, gerade weil der äußerste Westen, der äußerste Osten und die Schwarzmeerbezirke ausgespart wurden.

Zunächst ist festzuhalten, dass im gesamten Zielareal der i.w.S. zentra-len Ukraine im weiten Umfang alle drei Kodes bei einzelnen Individuen im Gebrauch sind: Es sind jeweils nur kleine Minderheiten, die sagen, dass sie den einen oder anderen Kode nie verwenden. Was die häufige oder ständige Verwendung der jeweiligen Kodes betrifft, so können etwas mehr als ein Drittel der Respondenten im Zielareal einer erweiterten Zen-tralukraine als ‘tendenziell monolinguale’ Ukrainischsprecher herauskris-tallisiert werden, und ein Viertel, die ein (offenbar) diglossisches Neben-einander von Ukrainisch und URGR praktizieren. Jeweils jeder Zehnte ist ‘tendenziell monolingual’ auf die URGR bzw. auf das Russische ausge-richtet. Ebenso einer von zehn Befragten verwendet alle drei Kodes in einem ähnlich starken Umfang.

Insgesamt dominiert somit das Ukrainische recht deutlich, und es wird auch fast durchgehend von den Respondenten als ‘Muttersprache’ ge-nannt, als ‘erste’ (86%) oder als ‘zweite’ (11%). Die Nennungen des Ukrai-nischen als primär verwendete Sprache bzw. Kode und als Sprache der ersten Sozialisierung sind jedoch im Durchschnitt deutlich niedriger (je-weils etwas über 60%). Dies deutet darauf hin, dass die symbolische Be-deutung des Ukrainischen auch heute noch klar größer ist als die prakti-sche, was im Weißrussischen aber noch stärker der Fall ist (vgl. Hentschel & Kittel 2011).

Der (i.w.S.) zentralukrainische Raum ist dabei hinsichtlich des erklärten Umfangs der Verwendung der drei Kodes keineswegs homogen. Der ek-latant von allen anderen abweichende Bezirk ist dabei das nordöstlich ge-legene Charkiv, und zwar in dem Sinne, dass hier das Russische als der absolut am häufigsten verwendete Kode erkennbar wird, mit großem Ab-stand zur URGR und noch größerem zum Ukrainischen. Zu betonen ist dabei, dass diese Unterschiede und andere keineswegs mit einer prinzipi-ell anderen Einstellung zur kulturellen, ethnischen und nationalen Unab-hängigkeit der Ukrainer von den Russen verbunden sind. Diese ukraini-sche Eigenständigkeit ist im Verständnis der Bevölkerung von Nation, von Ethnie und von Kultur die flächendeckende Mehrheitsmeinung, ge-rade auch in Charkiv mit seiner deutlichen Präferenz des Russischen im Alltag.

272 Gerd Hentschel, Oleksandr O. Taranenko

In allen anderen Bezirken wird das Ukrainische deutlich häufiger als das Russische genannt. Allerdings tritt das Ukrainische im Bezirk Sumy und Dnipropetrovʼsk ebenso klar hinter die URGR zurück. Die beiden Bezirke ragen in ihrer arealen Lage mit Charkiv wie eine Speerspitze in den Osten, in welchem die Bedeutung des Ukrainischen zwar abnimmt, aber in Sumy und Dnipropetrovʼsk noch vor dem Russischen rangiert. Die oft angenommene überwiegende Russischsprachigkeit des Bezirks Dnipropetrov’sk ist also durchaus fraglich. Abgesehen von Charkiv lässt sich dabei für das Ukrainische kaum ein Ost-West-Gefälle, sondern eine Differenzierung von Zentrum (i.e.S.) und Peripherie erkennen. In einem zentralen West-Ost-Band von Chmel’nyc’kyj über Vinnycja, Čerkasy und Kyïv nach Poltava sind zwar leichtere Unterschiede feststellbar, die aber keine kontinuierliche Abnahme der Bedeutung des Ukrainischen vermu-ten lassen. Feststellbar ist, dass die nördlich dieses Bandes lokalisierten (nicht adjazenten) Bezirke von Žytomyr und Sumy einerseits und die süd-lichen (adjazenten) von Kirovohrad und Dnipropetrovs’k klar geringere Werte zeigen.

Hinsichtlich der Nennung des Russischen und der URGR als häufig oder ständig verwendeter Kode liegen deutlichere West-Ost-Unterschiede vor, im Sinne eines Abfallens der Häufigkeit von Ost nach West. Dabei reihen sich jeweils einzelne Gebiete nicht ‘perfekt’ in dieses Schema ein, wenn z.B. das maximal östliche Charkiv nur einen mittleren Wert für die URGR zeigt (bei maximaler Häufigkeit des Russischen), oder das nördlich zentrale Černihiv einen der niedrigsten Werte für die Verwendung des Russischen (bei einem recht hohen für die URGR).

Die folgende schematische Karte der Zentralukraine soll die allgemeine Konstellation in der extensiven Verwendung der drei Kodes illustrieren. Sie basiert auf der ‘holistischen’ Clusteranalyse, welche die Angaben zu den drei Kodes ‘en bloc’ berücksichtigt (allgemeine Verwendungscluster).

Černihiv (B) Sumy (D)

Žytomyr (C) Kyïv (B) Poltava (B) Charkiv (E) Chmel’nyc’kyj

(A) Vinnycja (A) Čerkasy (A)

Kirovohrad (C) Dnipropetrovs’k (D)

Schwarze Schrift: Ukrainisch überwiegt URGR und Russisch Unterstrichen: URGR überwiegt Ukrainisch und Russisch Weiße Schrift: Russisch überwiegt URGR und Ukrainisch

Graphik 6: Schematische Karte zu Unterschieden im Ausmaß der drei Kodes

Die zentrale Ukraine: Ukrainisch, Russisch, ‘Suržyk’ 273

Diese Karte soll grob die West-Ost- und Zentrum-Peripherie-Gewichtung gleichzeitig abbilden (die Größe der Zellen hat keine Bedeutung).

Die Einschätzung zur Häufigkeit der jeweiligen Verwendung der drei Kodes lässt nur äußerst schwache Zusammenhänge mit den erklärten Kenntnissen in den beiden Standardsprachen erkennen. Nur Charkiv weicht hier wiederum etwas ab, da es hier deutlich mehr Menschen gibt, die nur Russisch gut beherrschen als solche, die nur Ukrainisch gut kön-nen. Allerdings meinen zwei Drittel, beide Sprachen gut zu beherrschen, und das ist der zweithöchste Wert überhaupt. Dennoch wird dort von knapp drei Vierteln das Russische, das Ukrainische von nur knapp einem Viertel extensiv verwendet.

Die häufige oder sogar ständige Verwendung der URGR lässt (ähnlich wie die des Russischen) ein Ost-West-Gefälle erkennen, wenn auch mit punktuellen Abweichungen. Während sich in den östlich vom Dnipro ge-legenen Gebieten ca. die Hälfte der Respondenten oder sogar deutlich mehr zu ihr bekennt, ist es in den westlicheren Bezirken (mit der Aus-nahme von Čerkasy in der Mitte des Landes) mindestens ein Drittel. Dies sind hohe Werte insbesondere, wenn man in Rechnung stellt, dass von der Art der Fragestellung in dieser Erhebung eher eine engere Abgren-zung der URGR gewählt wurde. Diese ist überall überaus präsent23. Sie hat offensichtlich ein gewisses ‘covert prestige’ im Sinne von Chambers & Trudgill (1998). Eine Mehrheit der Befragten sieht in der URGR (und noch weniger im Russischen) zumindest keine Bedrohung für die ukraini-sche Kultur, und einer Aussage ‘In der gemischten Sprache sind Gefühle am besten auszudrücken’ stimmt selbst im westlichen Chmelʼnycʼkyj jeder vierte Respondent zu; im östlichen Sumy sind es drei von vier. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die URGR für viele in weiten Teilen der zentralen Ukraine der ‘natürlichste’ Kode ist.

L i tera turverze ichnis

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23 Tarasenko (2014) spricht sogar von einer Ausweitung der URGR (des Suržyk) un-

ter jungen Leuten im Raum Kyïv.

274 Gerd Hentschel, Oleksandr O. Taranenko

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Oldenburg Gerd Hentschel ([email protected]) Kyïv Oleksandr O. Taranenko ([email protected]}