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Band 2
HerausgE!geoen von
Hans-Thies Lehmann
und Burkhardt Lindner
Medien
HeraUSE!:E!2eben von
Andreas Gelhard,
Ulf Schmidt und
Tanja Schultz
Zeit
Antonia Birnbaum
Andreas Becker
Manfred Schneider
Sandro Zanetti
Jens Schröter
Saskia Reither
lsa Wortelkamp
Gabriele Brandstetter
Ulrike Hagel
Susanne Goumegou
lakovos Steinhauer
Regina Lösel
Tanja Schultz
Inhalt
MEDIEN
Nomadische Bilder. Verweisungszu samrnenhänge
Ermordung John F. Kennedys.
Blow up und Medienwechsel 37
47
Die Macht der Stillstelhmg.
technologischen Abtastung und Verfolgung
am Beispiel der Fotografle und
»An der Zeit hat alle Kunst ihre
Techniken des Stillstellens in der Medienkunst
Das Ornamentale im Videoclip 83
FZEICHNUNG
Sehen mit dem Stift in der
Stille Stellen der Aufzeichnung 99
lllld-::>nnmi:r. Le Spectre de Nijinsky
Paradox idyllischen Erzählens hei Jean Paul
60
75
Vom Traum zum Text. Die Prozesse des Stillstellens
und In-Gang-Setzens in Traumprotokoll und
Prosagedicht des Surrealismus i40
Die Struktur des Stillstands in der Neuen Musik
Von der Unmöglichkeit, Textilien stillzustellen
Erotisch-poetisches Stillstellen in
Robert Musils Mann ohne Eigenscha~en
Marion Thielebein
UlfSchmidt
Timo Skrandies
Susanne Kaul
Andreas Gelhard
Thomas Schestag
Svenja Kriebel
ZE
Metaphysischer Stillstand. Die Schrift,
Idee und der Tod bei Platon 211
Vor der »Zeitmauer« - und darüber hinaus?
Zur Konstellation von Nihilismus und
Gehaltene Gegenwart. Zu Heidegger und Kafka
Arret. Levinas' frühe Philosophie
»Zur >Lampe<«.
Stille Stellen. Lektüre einer Architektur
zwischen Stillstand und Bewegung 269
Die Autorinnen und Autoren 274
229
Stillstellen.
Was cilso »Zeit«? niemand danach
fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es
es nicht.«
Viele Grundprobleme unseres sind Probleme der Stmktu-
von Unser Alltag geprägt durch Prozesse zunehmender Beschleunigung
teclrnischer Zeitverknappung, die in den verschiedensten Gestalten sichtbar werden:
zum Bildschnitt des
Videoclips. Die rapide Entwicklung dieser Prozesse verlangt in
und privaten eine Neuordnung bislang bewährter Organisations- und Wahrnehmungs-
formen. Dabei läßt die
Rhythmen alte Frage nach dem Verhältnis von Bleiben und Vergehen in neuer Schärfe
hervortreten. Nicht ohne Grund geht in der Modeme die Entwicklung von
samung, der gezielten Unterbrechung und insgesamt der Produktion von Standigkeit im zeitlichen
Sinne dienen.
digkeit mit wc<a~n„oc•u""'"-'"u'u'-" ic•rm_uhiert; es ist sicher kein Zufall, daß sich viele deT philo
sophisch orientierten Beiträge des Bandes mit dem Denken Heideggers oder Schüler
auseinandersetzen. Heidegger fragt nach der »Ständigkeit des Selbst«, nach dem »Insichstehern<
des Kunstwerkes, nach der Schrift als dem Ort, in dem »Gesprochenes zum Stehen« kommt.2 In
einem seiner Hölderlin-Vorträge heigt es: »Erst seitdem die >reigende Zeit< aufgerissen ist in
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, besteht Möglichkeit, auf ein Bleibendes zu
einigen. [ ... ] Seitdem Zeit aufgestanden und zum Stehen gebracht ist, seitdem sind wir ge
schichtlich.«3 Die Frage nach dem Verhältnis von Fortriß und Ständigkeit bleibt eine der Fragen,
Nachdenken üher Zeit früher oder später heimsuchen: so auch dem
StiUsteUens.
Was ist also »Zeit«? Wendet man sich Medium Sprache so ergibt sich folgender
Befund: Etymologisch bedeutet sowohl das deutsche Wort »Zeit« als auch das lateinische tempus,
das sich von griechisch temnein ableitet, soviel wie »teilen«, »Zerschneiden«, einen Schnitt in ein
Kontinuum.4 ist/sind somit eigentlich bereits Stillstellen und changiert zwischen
Jens Schröter
PROLOG IM KRIEGSTH EATER Der General starrt schon seit Minu-
ten auf den Radarschirm, verharrt Ein strahlender
General weist den Operator an zu tun, was zu tun ist. Mit seiner
auf dem Schirm, einen Punkt von dem er weiß, daß er kein Punkt ist, sondern eine
rasende eines Piloten und eines Kampffiugzeuges. Und er weiß auch, daß der Punkt
mit ihm das Leben des Claude
zu kommen, mufS mit berechnet werden, bevor sie auf den Weg zu ihm wird, hin zu
dem Punkt, wo das Flugzeug sein wird. Der Tod findet immer in der Zukunft statt. Nur einen
Augei:iblick später hat der Pilot einen Ausweichversuch gemacht, doch das Radar erfaßt seine
tödliche, unbarmherzig präzise Krake an dem Flugzeug festgesaugt, seine Gescb,wi1:id1gk<:1t
stimmt, sich auf dem Schirm nur als die Länge des Abstands zwischen zwei Punkten zeigt.
auszuweichen. Der leuchtende Punkt verlischt.1
Für die Idee und für konstruktive Mitarbeit an diesem Prolog danke ich Ulf Schmidt. Und vor allem
danke ich ihm für ein hervorragendes Lektorat.
DIE MACHT STILLSTELLUNG
Informationen. sie schreiben nicht Nachkommenden
außerhalb ihres Kommunika.lfonssystems können sie keine
Intorniat;~onen 1liberm1tte!n. Das der entscheidende Unterschied zwischen dem
Menschen und der restlichen Tierwelt.
EINLEITUNG: TECHNOLOGISCHES STILLSTEU.EN ALS AllTASTUNG Wenn um das »Still
stellen« geht, so ist zu betonen, daß eine der fundamentalen Funktionen, auf denen die sogenann-
tle:tsu1mi~en Gedanken und feinsinnigen beruhen, das Stillstellen,
APch1v1eren von Informationen ist. Stillstellung
und Bewegung (nian kann auch Prozesse speichern),
schichte-Werden von Information verstanden. Dieser Prozeß entreißt die Informationen der
und macht und kulturelle
Prozeß ist als Folge solcher Aufzeichnungen verständlich. Epoche gewinnt ihre soge-
nannte Geschichte und ihr Selbstbild aus den verfügbaren Aufzeichnungen, dem Archiv.3 Auch
Ein Ab dem 6. Dezember I877 machten die phonographischen und
die grammophonischen Aufzeichnungstechniken den Klang Stimme, der bis u<U.uu iuuwci
flüchtig verhallte, Seit der Erfindung der Schallplatten-Matrize r893 wird
abgelöst Körpern
auftreten (die göttlichen und die halluzinatorischen ausgeklammert): Das Kon-
zept der personalen Identität und Integrität änderte sich somit.4
nungstechniken- und das heißt: Speichermedien - entscheiden, was for Arten von Information
überhaupt dem Vergessen entrissen werden, an wen weitergegeben werden können und wie
die Ha.ltb;i,rkeit, Reprod11z1erbarke1t, J1v'lotnlltät
sei die
zwischen den analog-mechanischen, analog-fotochemischen und analog-elektromagnetischen
auf der einen und den sowie Speicher
medien auf der anderen Seite eine mächtige Kontinuität fortlebt, die das Spezifikum aller (im
engeren Sinne) technologischen darstellt: Das Paradigma der Stillstellung
lastung. Die verschiedenen technologischen Speichermedien können je bestimmte
des Realen in ihrer stochastischen Streuung erfassen. Diese :'.:>p1:1ct1en1n2
die der menschlichen und von Gedanken angewiesen, wie das die
Speicherung in den Symbolismen der Schrift oder malerischer voraussetzte. Mit der
William S. Die elektronische Revolution, Bonn 1986, 5. Michel Archäologie des Wissens, Frankfurt
M.edium F.oucault. Weimarer Vorlesungen Weimar 2000.
62
JENS SCHRÖTER
aufgezeichneten Aspekte des Realen der Klassifizierung,
Vermessung, Analyse und anderen Zwecken zugänglich, die für die efftsprechei:id<~n diskursave'n
Praktiken eine neuartige Kontrolle und Machtausübung über eben jenes Reale ennöglü:hen.
Daran zeigt sich, daß Kommunikation und
nicht, was zu als archivierenswert
gespeicherten Informationen geordnet werden, welche Aufzeichnungen an wen weiterzugeben
erlaubt ist, ob und, wenn ja, wie die werden dürfen oder
sollen etc. Und vor allem werden die Sp,eicJliertechniken selbst lüst.ori.sd1 g<~pr:ägtvon poJlitis:cht!n
oder sozialen Prozessen, die sich in die technische Struktur einschreiben, was im Folgenden
FOTOGRAFISCHE ABTASTUNG Die Fixierung der mit Hilfe lichtempfindlicher Silberverbin
dungen herstellbaren Bilder gelang erst nach beträchtlichen Mühen. Thomas Wedgwood hat ~~ ~~~~~~~
stellung der Bilder. Das älteste erhaltene Foto ist mutmaßlich von 1826. Niepce speicherte das
Licht von circa 8 Henry Fox
Talbot arbeitete ab etwa 1834 mit Bildern auf Silberchlorid (AgCl)-Basis sowie verschiedenen
Chemikalien zur und erzeugte heute erhaltene Bilder.7 Als FixierITiittel für
Silberhalogenid-Fotos hat sich letztlich das r819 von Herschel erforschte Natriumthiosulfat
(Na2 S2 0 3) durchgesetzt. Nachdem die Fixierung gelungen war, wurden die Verfahren der foto
grafischen Abtastung bald erweitert. Zwei der wichtigsten Entwicklungen waren erstens die am
8. Februar r84r zum Patent angemeldete Kalotypie von Henry Fox Talbot, die das uns heute
selbstverständliche Negativ/Positiv-Verfahren und damit die so viel diskutierte Reproduzierbar
keit des fotografischen Bildes einführte. Die 1839 von Arago offiziell vorgestellte Daguerreotypie
verbunden. Die Fotografie hätte ein Medium werden können, das Unikate hervorbringt, was
für die Nutzung der Fotografie in der diskursiven Praxis »Kunst« günstig gewesen Die
Zwecke nützlich war.
Jens ist tot, es lebe der König. Zum Phantasma eines technologischen Subjekts Geschichte, in: Reale fiktive Realitäten. Medien, Diskurse, hg. von Johannes
müller, Katharina Bunzmann und Christina Rauch, Hamburg 2000, 13-2+
Vgl. Larry Schaaf: The Photographie Art ofHenry Fox Talbot, Princeton and Oxford 2000. r9f.
DIE MACHT DER STILLSTELLUNG
zus:amtme'n mit Verbesserunflen
tungszeiten von 1/ 5000 Sekunde erreicht.
in this way, and taking orders for them.«11 Noch heute IKEA-Katalog auf dieser
(wenn auch nicht Und dies gilt letztlich auch für Ausstel-
lur1gslk:at:lio1~e - auf den der sogenannten »Kunst« mit den Dispositiven der
ich nochmals zurück.
Gerade durch die Kombination von Momentaufoahme und der Reprodu-
zierbarkeit wurde Fotografie schnell zum unentbehrlichen zur konstitutiven
JENS SCHRÖTER
Größe der Kriminalistik, der Kriegsführung, des der Wissenschaft und der Wer
bung.12 Diese Funktion in Herrschaftsdiskursen zeigt sich am disziplinatorischen Einsatz von
Fotografie und Kinematographie noch deutlicher. Diese abtastenden Medien entstehen kurz
nach der von Foucault beschriebenen Wende zur modernen Bio-Macht. Diese Machtform setzt
nicht mehr in erster Linie auf Repression und den spektakulären Einsatz des (wie zum
Beispiel in öffentlichen Hinrichtungen), sondern zielt beim einzelnen Körper »auf Steigerung
seiner Fähigkeiten, die Ausnutzung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen Nützlichkeit
und seiner Gelehrigkeit, seine Integration in wirksame und ökonomische [ ... ]
Eine solche Macht muß[ ... ] qualifizieren, messen, abschätzen, ahstufen.«13 Mit Hilfe der ver
messenden Erfassung körperlicher Fähigkeiten und Phänomene und den daraus ahleitbaren
Statistiken und Durchschnittswerten werden seit dem 19. Jahrhundert Normalitätszonen he
stimmt, an denen Subjekte sich ausrichten müssen.14
Eine besonders drastische Form der Disziplinierung ist die ab dem späten 19. Jahrhundert
durch Frederick W. Taylor und durch Frank B. Gilbreth entwickelte Arbeitswissenschaft und ihr
tern eingesetzt. Die optimierten Arbeitsabläufe zeichnete man wiedemm kinematografisch auf,
Beispiel zeigt, sind die Disziplinierungsprozeduren, um die Funktionalität der Körper zu
matografisch gewonnene
einerseits massenhaft Bilder immer »junger« und »schöner«, aber vor allem auch »gt:suna,er«
1Vl()a<:1-l',orper, die eben zur Körperpflege und das heißt zur Einsatzfähigkeit erziehen sollen,
andererseits Darstellungen intakter, patriarchaler und vor allem konsumierender Kleinfamilien.
rarmllent1::itoi;;rat1e. Mit
Eastman-Kodaks Einführung des Rollfilms nach 1889 und damit der Befreiung der Amateur-
dazu unter anderem Herta Wolf: Fixieren - Vermessen. Zur Funktion tot1)gr:1ns1:ner Moderne, in: Riskante Bilder. Kunst Literatur von Norbert
Richard und Susanne Holschbach. München 1996, Zur Geschichte medialer Konstruktionen des l'.nmrn,eue:n
London r997. •3 Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1986, I, 166 und
i4 Jürgen Link: Versuch iiber den Normalismus: wie Normalität produziert wird, Opladen u. a. r999, Vgl. auch Allan Sekula: The ßody and the Archive, in: The
weist.
'7
MACHT DER STILLSTELLUNG
alltäglichen Kontext Der zu:neltm•encien MclbiJlisierumi:<
wickelnden Kapitalismus entspricht ein Medium, das Höhepunkte des Fainilienlehens still
stellen dazu noch reproduzierbar und transportabel machen konnte. Durch die Familien-
DIE ANALOG/DIGITAL-WANDLUNG; VON DER 0iGITALISIEIWNG ZU SIMULATION UND iNTER-
AKTIVITÄT technische Welte:rentwitckJlung cler tt:chnrnlogischen A.btasltunLg ist
Computer ist zunächst nur eine Rechenmaschine, deren Operationen ohne
tics . War America. Cambridge/Mass. und London 1996, 75_n2 .
Vgl. John V. Harrmgton: Radar Data Transmission, in: Annals of the History 0 f Computing 5
(r9
8J), H. 370-374. 4,
JENS SCHRÖTER
»Fotorealismus« entgegen.22
the altributes of a pixel in the image.«23 Die numerische Form der Daten erlaubt, sie mathemati-
tiell zu machen.25 Weiterhin erlaubt der mathematische Charakter der Daten solche Dinge wie
die Fehlerkorrektur bei cn-Playern oder Special Effects wie das aus dem Film Terminator 2 (usA
DIE MACHT STILLSTELLUNG
Dieser »Realismus« der (wissenschaftlich und """•au~c.u entspringt wieder hei
wind war ursächlich als ein digitaler und unive:rse.ller .Flt1gsimulator füJ '"·'-ll.JlcJ.t,
latoren machen nur Sinn, wenn sie »rea11;;tis1ch«
Display henu lzt.
(also einen Punkt) auf dem Display so als wäre er den Gesetzen der Schwerkraft unter
worfen. Entscheidend ist also, daß das Hüpfverhalten des virtuellen Balls dem HüpfVerhalten realer Bälle abgelesen war.29
de nämlich später zusätzlich so programmiert, daß er durch die richtige Wahl entsprechender
Parameter in ein »Loch« Computerspiel. Auch
Realen tmd Virtuellen, in; Digitaler Schein. Ästhetik der dektroni-Rötzer, Frankfurt am Main 1991, 346-355, hier 348.
Retrosi:iectives r; The
68
JENS SCHRÖTER
Bei SAGE wurden die Lightgun und ihr Nachfolger, der leichtere Lightpen, dann Gerät
zur taktischen Echtzeit-Kontrolle eines radarabgetasteten Luftraums. Wenn ein Offizier ein Flug
zeug auf seinem Schirm entdeckte, berührte er den Punkt mit seinem Lightpen und instmierte
aktivität aus der Verfolgung von Zielobjekten und die dadurch implizierte doppelte Abtastung
komme ich zurück.
DIE MACHT DER DIGITALEN STILLSTEl.LUNG sei betont, dafS der Computer als Rechen
maschine keineswegs »natürlich« in das Paradigma der Stillstellung durch Abtastung gehört:
Historisch kontingente Umstände wie der »kalte Krieg« haben jedoch schnell die Verarbeitung
abgetasteter Real-Signale durch digitale Rechner erzwungen. Wie man daran erneut sieht, ist
eine zentrale Bedingung moderner Machtausübung die technologische Abtastung des Rea
len und deren Auswertung, also werden die Maschinen in entsprechender Weise eingesetzt
und formiert. Die Auswertung der Daten hat sich mit ihrer numerischen Speichemng jedoch
verändert. Oh und welche neuartigen Machtformen damit auftreten, ist zum gegenwä1tigen
Zeitpunkt noch schwer abzuschätzen. Daher möchte ich dazu nur vorläufige Bemerkungen
a Universalität der A/D-Wandlung: Dadurch, dafS alle in elektrische Ströme umsetzbaren
dien verschiedene mediale Formen auf einer Ebene. Dadurch könnten neue Ordnillnf~en
entstehen, die tradierten institutionellen Grenzen überschreiten.31 Augerdem er-
laubt die numerische Speicherung der Daten zum Beispiel neue Formen der Sortierung und
Analyse von Bildern, die sie möglicherweise nach anderen Kriterien als etwa nach der kunst
historischen Gröge »Stil« oder der Verschlagwortung klassifizierbar macht.32 Mit solchen Ver-
sieh unser Bild der Geschichte(n) und auch unser Selbstbild ändern.
b j Computersimulation 1: Insofern die Simulation die Manipulation von Modellen realer
Phänomene ermöglicht und so deren mögliche Zukünfte genauer prognostizierbar macht, geht
mit ihr das Phantasma einher, die Entwicklung der Phänomene vorwegzunehmen und damit auf
jede Überraschung bereits vorbereitet zu sein: »What sells simulation technology today is the
seductive claim that any image is ohservahle, that any event is programmable, and thus, in a way
foreseeable.«33 Gerade im militärischen Sektor spielt dies in der Vorwegnalime von Flugbahnen,
Trup1per1bewe12;1111gen, JKa1nptsil:ua'ti01ller1 u11d ~str;1te1~s<:hen Ko•ns1tellatü)nt~n <~ine entscheidende
Rolle: Wer die schnelleren Rechner hat, kann die wichtigen Entscheidungen rechtzeitig treffen -
und da die
von militärischen Imperativen geprägt bleiben, und das heifSt von einem bisher ungekannten
Vorhersagbarkeit der Zukunft.
Manovich: Archäologie des Computerbildschirms, Kunstforum International r32 (1995),
33
MACHT DER STILLSTELLUNG
janus!cöp,hg.keit der Interaktivität besteht darin, dai~ sie nicht nur
Eingriff in die hereits vorliegenden Daten sondern auch eine des
interagierenden Subjekts (in sogenannter Echtzeit) darstellt. Die problematischen Kons~'.quenzen, die sich daraus ergehen, sind in den letzten Jahren
sicherheit im Internet sehr deutlich geworden.
Instanzen, fremde Programme auf dem heimischen PC zu starten oder
(zumindest wenn der operiert), wie
zum Beispiel sogenannte Cookies, die unter anderem mit der Zeit immer mehr Informationen
über das Kaufverhalten der Konsumenten aufzeichnen. Daß man der hei
falls mit (vermeintlich) passenden Buchtips überhäuft wird, hat den schlichten Grund in eben einem solchen Cookie
ganz selbstverständlich als »Service«.
70 die entspr·edternden
wantto go today ?«
»IDLUlt1pl1en« oder „flexiblen« Subjekts nimmt eine immer wichtigere
JENS SCHRÖTER
Frage »Where you
bemerkt zu dem von ihm angenommenen Übergang von der Disziplinar- zur Kont1:oilge;;ell
schafi:: »Die Individuen sind >dividuell< geworden und die Massen Stichproben, Daten, Märkte
oder >Bankern«.36 Durch die Aufi:eilung des im Netz surfenden Subjekts in verschiedene Identi-
(zumindest Konsumenten-Identitäten) und die Verfolgung dieser Spuren und
man ein Relief dieses »multiplen« Subjekts zeichnen. So kann sich
die Kontrolle auf die Erfassung des kleinsten Aufblitzens verschiedener, sonst vielleicht verbor
gener, aber im Netz lebbarer Begehren richten, um das Subjekt vielfältig an die »Freuden des
Marketings« anzukoppeln.37 Der Nutzen solcher und ähnlicher Strategien Ahtastung und
Verfolgung der User für eine Ökonomie ist offensichtlich: Statt mühsame Um
fragen zu veranstalten, kann man die Nutzer Bewegungen durch verschiedene Netz
selbst das »Benutzerprofil« strukturieren lassen, das heißt, mit Hilfe der In-
teraktion wird (jedenfalls eine Mikro-Marktsegmentierung his hin zum Einzelnen
zu schweigen von den potentiell totalitären Implikationen dieser
Wenn eine sehr populäre der Medienkunst wie die »interaktive Installation«
ansieht, dann frage ich mich immer, warum Menschen (Betrachter) von dieser neuen
Möglichkeit, sie zu manipulieren, begeistert sein l<önnen. Anscheinend ist Mcmqtiut1:ttHm
die einzige Kommunikationsweise, die sie kennen und schätzen. ALEXEI SHULGIN39
ZWISCHENSPIEL IM ABSURDEN THEATER DER SOGENANNTEN »INTERAKTIVEN MEDIEN·
KUNST« Kein Medium oder Medienverbund erzeugt nur einen Typ von Effekten. Außerdem
hängen die Effekte einer Technik, wie ich anzudeuten versuchte, mindestens teilweise von der
Einbindung der Technik in bestimmte institutionelle, ökonomische und semantische Gefüge
35 Vgl. Christian Persson/Peter Siering: Big Brother Bill. Microsofts heimliche ID-Nummern angeblich H. 6, 16-20.
37 verhindert werden kann.
38 Auch das allseits beliebte
Prinzip) mobilisierbar macht. ist es Nutzerbewegungen von
besitzern zum in urbanen Räumen So könnten Konsumentenströme
werden; vgl. Jan Mobilität unter Kontrolle, in: Datenschutz-Nachrichten
39 Zit. in: Lev Manovich: über totalitäre Interaktivität. Beobachtungen vom Feind
(1997), H. 1, 123-127, hier 123.
DIE DER STILLSTELLUNG
Diskurse von ihnen eingeräumten Gebrauchsweisen ab. dargestellten Machteffekte
tion arriviert« ist,4° erscheinen zahlreiche Texte zum Thema »Medien«, die
wie die User von Microsoft Word, also meisten Akademiker
Medien haften bleiben.
ver:1a11t einer ».l\stne1:11<<< (lln Sinne von aisthesis) der Reduktion der Phänomene de1· sogeriannten
»Neuen Medien« auf das menschlich Wahrnehmbare.41
Ein Beispiel, an dem sich die Probleme Diskussion aufweisen lassen,
ist die schon genannte »Interaktivität«. Diese wiTd immer als das Kriterium bemüht, das die
Users erzeugte die kommerzielle
Kommunikation über das Netz, zur Utopie des endgültigen Kapitalismus zu verklären: »Das interaktive
für Konsumenten sein.«42
JENS SCHRÖTER
aktive Medien·» Kunst« nicht nur den buchstäblich oberflächlichen Bezug zur bisherigen Kunst,
sondern auch den zu anderen Formen der Interaktivität gefallen lassen. lm Lichte dieser Forde
rung ist diese nuT als Fortsetzung deT interaktiven VeTsuche
der bildenden Kunst begreift, einseitig.43 Denn eine solche Betrachtung rückt inteTaktiven
die Medienkunst basiert, aus ihrem historisch-gesellschaftli.
sen auf der einen und ihTer künstlerischen Applikationen, ihrer Oberflächen auf der anderen
Seite findet sich auch in einem Buch wie Pioniere interaktiver Kunst von 1970 bis heute von Söke
Dinkla. Das Buch hat unbestritten das Verdienst, die Geschichte der interaktiven Medienkunst
erstmals systematisch aufgearbeitet zu haben. Auch berücksichtigt Dinkla in einem eigenen
Kapitel die Geschichte Kapitel merk
würdig losgelöst vorn Rest des Buches. Dinkla weist zwar auf die Herkunft der Interaktion mit
Erkenntnis
hat mindestens auch aus dem vorliegenden Aufsatz
klar werden.45 Aus dem instrumentalen Technikverständnis Dinklas folgt die Annahme einer
vollständigen Ablösbarkeit einer Technik aus ihren historischen Ursprungskontexten. Tatsäch-
ist es eine schwierige Frage, wie sehr Technologien von ihren (militärischen) Ursprüngen
geprägt werden und in welchem Maße sie aber auch anders gebraucht oder verformt werden
können durch neue Kontexte - ich meine, daß beides der Fall ist.
noch nicht entkommen: Dinkla erwähnt selbst, daß Norbert Wiener bei der Formulierung des
Feed-Back-Prinzips in der welches am Anfang der Interaktivität steht und mit der
Feindverfolgung entstanden ist, den Unterschied zwischen Mensch und Maschine funktional
verwarf.46
43
44
4S
Eine Skizze Geschichte der Medienkunst, in:
Galerie im Prinz-Max-Palais Karlsruhe, Galerie, Karlsruhe
Pfullingen
DIE STILLSTELLUNG
Datennetzen
Netz Interaktion mit einem Bild
Einführung grafischer Oberflächen mit dem World Wide Weh (1989/1993) und
Browsern wie Netscape (1994) oder dem Internet Explorer hat sich das Internet
breitet (dies ist ein gutes Beispiel dafür, daß man Oberflächen
Vor diesem stiJUschweig;enid v,orausi;esetzten tturrte1rgn1nd
bewegt, wie ein User durch das Internet.48 Sie zieht also selbst die Analogie zwischen der inter
aktiven Medienkunst Shaws und der Interaktion im Datennetz heran.
»Parabel für veränderten Keoepno:nst1ed1mgun1;en
muß man aber kritisieren, weil sowohl Shaw als auch Dinkla ü hersehen, daß nicht nur der Nutzer
Nämlich als
l:\omnrrerz1al1s11erungdes Netzes
und Verfolgung nichts wissen. Wohl aber kann man Dinkla vorwerfen, diese histori-
sche Begrenzung von Shaws Thc 1997 nicht thematisiert zu haben. An anderer Stelle
fordert sie ja selbst von der Medienkunst:
sie Teil eines
nicht, daß dies von The Legible City eingelöst wird.
Einordnung der interaktiven Medienkunst in den größeren Kontext der ökono-
m1scr1-n:1llrl:än.sd1en Machteffekte digital stillgestellter erlaubt also, einzelne
einzuordnen. Auf diese Weise könnte
Stellenwert haben, vgl. dazu Manovich: Ibtalitäre lnteraktivität. 49 Dinkla: Pioniere, n7.
50 Ebd., 229.
51 Vgl. dazu
»Nobilitierung«
Maschinen, die
der
JENS SCHRÖTER
der sich verändernden Formen der Stillstellung von Daten in Diskursen
und deren Machteffekten: Schon die Idee, daß Kunst »autonom« sein kann oder soll, hat Benjaentziffert.53 Man könnte
setzt Heidegger das Werk vom Ding ab. Und in diesem Abschnitt sucht er zunächst zu zeigen,
was ein Ding ist. Dabei schreibt er: „Flugzeug und Rundfunkgerät gehören. zwar heute zu den
nächsten Dingen, aber wenn wir die letzten Dinge meinen, dann denken wir an ganz Anderes.
die Technologien der Abtastung und Verfolgung im von Hitlerdeutschland überfallenen Polen
über die letzten Dinge entscheiden ... Das
das Technisch-Unbewußte in Diskursen über »Kunst« an-
zudeuten versuchten: Denn Kultur ist oder sie nicht. Anders gesagt: »Medien-
wäre nur verkappte Nostalgie, wenn sie auf dem Umweg über Schreibzeuge oder
52
53
54
55
Saskia Reither »An der Zeit hat alle Kunst ihre Grenze.« Techniken des Stillstellens in der Medienkunst
»Was erst Phonograph
nicht umsonst vom Schreiben haben, speicherbar machten, war
der Geräusche im Akustischen, als Bewegung der Einzelbildfolgen im Optischen. An der Zeit hat
alle Kunst ihre Sie muß den Datenfluß des erst einmal stillstellen, bevor er Bild
oder Zeichen werden kann«.1 Friedrich Kittler beschreibt in diesem Abschnitt das Verfahren des
festzuhalten. Durch das fierauslösen der Daten aus dem Alltagsgeschehen und ihrer
als über die bloße Information hinans auch ästhetisch wahrgenommen wer
den. In der Medienkunst kommt diesem Verfahren besondere Aufmerksamkeit zu, da dort mit
diese erst als Information wahrgenommen werden, während die nichtselektierten Daten zu die-
in Form einer Interaktion mit der Maus. 2 Auch die Medienkunst nutzt die technischen Voraus-
Im folgenden es also zwei Perspektiven des Stillstellens gehen: erstens um die
Notwendigkeit in der Kunst, Daten aus einem Zusammenhang herauszulösen, um zum
Zeichen oder Bild arretieren; zweitens die selhstreferenzielle Auseinandersetznng der
Medien-/Computerkunst mit einer explosionsartig anwachsenden Datenflut (als Folge der
wicklung des Computers), innerhalb derer den Betrachter interaktiv einsetzt. Medienkunst
tion aufmerksam wahrnehmen zu können, zum Thema macht. Wie auch im computer
gestützten Alltag ist es in der Medienkunst der Benutzer, der über ein Interface interaktiv in den
Datenstrom eingreift. Daher sollen hier zur Analyse Ausschnitte als Beispiele dienen, in denen
sich Medienkunst vorwiegend mit Buchstaben und Wörtern auseinandersetzt (Computerpoesie
beziehungsweise in
Form von Texten besonders deutlich wird.
NEW ME01A PoETRY