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Pflege in gesellschaftlichem Wandel – Ein Vergleich zwischen Russland und Deutschland
Sozialstrukturelle und soziokulturelle Verankerung der Pflegebereitschaft
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung der Doktorwürde
der Philosophischen Fakultät
der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg i.Br.
vorgelegt von
Irina Siegel
aus Sokirani
WS 2017/18
Erstgutachter: Prof. Dr. Ulrich Bröckling
Zweitgutachter: apl. Prof. Dr. Hans Hoch
Vorsitzender des Promotionsausschusses
der Gemeinsamen Kommission
der Philologischen und
der Philosophischen Fakultät: Prof. Dr. Joachim Grage
Datum der Disputation: 20.3.2018
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .................................................................................................................................. 7
Einleitung ............................................................................................................................ 11
1. Aktualität der Thematik Pflege(potential).................................................................. 17
1.1 Ausmaß der Pflegebedürftigkeit in Russland und Deutschland ....................................... 17
1.2 Landestypische Versorgungssituationen ........................................................................ 28
1.3 Demographische Entwicklung in Russland im Vergleich zu Deutschland und ihre Implikationen auf die Familienpflege von heute und in der Zukunft ............................... 31
1.4 Auswirkungen sozialer Wandlungsprozesse auf das informelle Pflegepotential -
Forschungsbefunde in Deutschland ............................................................................... 36
1.5 Forschungsdefizite in Russland zum Thema Pflege älterer Angehöriger ......................... 41
1.6 Theoretische und methodische Überlegungen zum Russland-Deutschland-
Vergleich ...................................................................................................................... 45
2. Das binationale Projekt – pflegekulturelle Orientierungen in Freiburg und
Samara – Bedeutung der Familienpflege und ihre Bedingungen ............................. 51
2.1 Untersuchungsgegenstand, Untersuchungsziele und methodischer Ansatz ..................... 51
2.1.1 Intergenerationelle Unterstützung in der Pflege - Begriffe im Wandel ............................ 51
2.1.2 Untersuchungsansatz und methodische Vorgehensweise ................................................ 55
2.2 Konzepte und handlungstheoretische Annahmen (Mikroebene) ..................................... 60
2.2.1 Soziale Milieus – Sicht auf die deutsche Sozialstruktur .................................................. 62
2.2.2 Handlungsstrukturen der Pflege - (Opportunitäts-)Kosten und Gratifikationen ............... 65
2.2.3 Soziokulturelle Wandlungsprozesse .............................................................................. 69
2.2.4 Kompatibilitätsüberlegungen zu den Präferenzen in unterschiedlichen sozialen Milieus und Handlungsstrukturen der Pflege ................................................................. 77
2.2.5 Freiburger Erklärungsmodell im Kontext anderer theoretischer Erklärungen zur
intergenerationalen Pflegeunterstützung ........................................................................ 81
2.3 Methoden ...................................................................................................................... 83
2.3.1 Stichprobendesigns und resultierte Stichproben ............................................................. 83
2.3.2 Sozialstrukturelle Ressourcen ........................................................................................ 91
2.3.3 Soziokulturelle Ressourcen (Lebensentwurf) ............................................................... 102
2.3.4 “Pflegekulturelle Orientierungen” ............................................................................... 109
2.4 Ergebnisse................................................................................................................... 115
2.4.1 Verteilungen pflegekultureller Orientierungen in einer ländervergleichenden Perspektive ................................................................................................................. 115
2.4.2 Bewertung der Dilemma-Situation und Motivationszusammenhänge „für“ oder
„gegen“ Pflegeübernahme ........................................................................................... 117
2.4.3 Index „Bereitschaft zur häuslichen Pflege von Angehörigen“ ...................................... 125
2.4.4 Determinanten der pflegekulturellen Orientierungen .................................................... 127
2
3. Systemvergleich – Opportunitätsstrukturen moderner Lebensführung in einer
Gesellschaft und Folgen für die Angehörigenpflege ................................................. 141
3.1 Strukturelle Bedingungen ............................................................................................ 146
3.1.1 Volkswirtschaftliche Performanzkriterien .................................................................... 146
3.1.2 Vertikale Stratifikation der russischen und deutschen Gesellschaft in 2010 (unter
den deutschen strukturellen Bedingungen) ................................................................... 154
3.2 Kulturelle Faktoren ..................................................................................................... 160
3.2.1 Orientierungen an individualisierten Lebensführungen ................................................ 160
3.2.2 Familienwerte und Normative Grundlagen der Generationenbeziehungen .................... 163
3.2.3 Genderordnung in der Pflege und in der Gesellschaft ................................................... 170
3.3 Versorgungsstrukturelle Rahmenbedingungen der Altenpflege .................................... 174
3.3.1 Definition und Bestimmungsverfahren der (Pflege)-Bedürftigkeit ................................ 179
3.3.2 Legislative Verantwortlichkeit und Anspruchsberechtigung auf öffentlichen
Leistungen .................................................................................................................. 186
3.3.3 Art und Umfang der Versorgungsleistungen und deren Finanzierung ........................... 188
3.3.4 Pflegeinfrastruktur ...................................................................................................... 192
3.3.5 Pflegeberufe und Pflegemarkt ..................................................................................... 208
3.3.6 Honorierung und Entlastung pflegender Angehörigen .................................................. 215
3.3.7 Zusammenfassung zur öffentlichen Pflege in Russland ................................................ 219
3.3.8 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Pflegeregime im Vergleich ............................... 221
4. Zusammenfassung, Diskussion und Ausblick ........................................................... 225
4.1 Kontext der Fragestellung, Hypothesen und Begründungen ......................................... 225
4.2 Zentrale Ergebnisse der Pilot-Studie ............................................................................ 229
4.3 Präzisierungen durch Makroprämissen ........................................................................ 231
4.4 Makroebene-Ergebnisse: Zusammenfassung und Diskussion ....................................... 232
4.4.1 Beobachtungen - Entwicklungen bei der Pflege in Russland ........................................ 245
4.4.2 Leitbilder des Alterns und der Pflege in Deutschland und Russland ............................. 249
4.5 Kritische Bemerkungen zur Studie .............................................................................. 253
4.6. Anregungen für weitere Forschung .............................................................................. 255
Literaturverzeichnis ......................................................................................................... 259
Anhang .............................................................................................................................. 281
3
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Bevölkerungszahlen und Leistungsempfänger in den Pflegesystemen
Russlands und Deutschlands in 2015 (in Mio.) 22
Abb. 2: Gegenwärtiger und zukünftiger Pflegebedarf, Russland-Deutschland 2015 -
2050 27
Abb. 3: Pflegebedürftige 2015 nach Versorgungsart, in Deutschland und Russland 29
Abb. 4: Theoretisches Erklärungsmodell von Makro-Mikro-Level Zusammenhängen:
Faktoren und Bedingungen der intergenerationalen Pflegebereitschaft 57
Abb. 5: Ressourcentypologie – Definition über strukturelle (sozialer Status) und
symbolische bzw. soziokulturelle Ressourcen (Lebensentwurf) 65
Abb. 6: Aspekte des Habitus der „traditionellen“ und „modernen“ Subjekte – Werte,
(Anerkennungs-)Bedürfnisse, (Berufs-)Ansprüche 77
Abb. 7: Sozialstrukturelle Ressourcen der 40-bis 65-Jährigen in den Samara und
Freiburg und repräsentativen ESS Stichproben 102
Abb. 8: Soziokulturelle Ressourcen (Lebensentwürfe) der 40-bis 65-Jährigen in den
Samara und Freiburg Stichproben und repräsentativen GGS Stichproben 108
Abb. 9: Präferenz für ein spezifisches Pflegearrangement 117
Abb. 10: Dilemma-Bewertung: Ist die Entscheidung der Tochter zur Heimversorgung
falsch oder richtig? 118
Abb. 11: Begründungen für die Bewertung der Dilemma-Entscheidung – offene
Nennungen 121
Abb. 12: Bedeutung von Moral und Kosten in der Pflegeentscheidung 123
Abb. 13: Bewertung der Heimentscheidung und Begründungsmuster 124
Abb. 14: Bereitschaft zur häuslichen Pflege Angehöriger –zusammengefasster Index 126
Abb. 15: Bedeutung von Moral und Kosten nach Geschlecht 129
Abb. 16: Pflegebereitschaft (Index) nach sozialstrukturellen und soziokulturellen
Ressourcen, % der Pflegebereiten 130
Abb. 17: Bedeutung von Moral und Kosten nach Lebensentwurf und Geschlecht 132
Abb. 18: Bedeutung von Moral und Kosten nach struktureller Ressourcen bei Männern
und Frauen, Freiburger Studie 133
Abb. 19: Theoretisches Modell für den Systemvergleich 143
Abb. 20: Soziale Stratifikation Russland – Deutschland, 2010 155
Abb. 21: Filiales Verantwortungsgefühl bei 40-65 Jährigen 167
Abb. 22: Geschlechterkluft in Deutschland und Russland, 2016 172
4
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Ausschöpfungsquote 87
Tab. 2: Soziodemographische Merkmale der Freiburger und Samara Stichproben im
Vergleich zur Gesamtbevölkerungen Freiburgs und Samaras sowie
Deutschlands und Russlands 88
Tab. 3: Skala “Pflegebereitschaft” 114
Tab. 4: Bedeutung von Moral und Kosten nach strukturellen Ressourcen, Samara
Studie 137
Tab. 5: Bedeutung von Moral und Kosten nach Lebensentwurf, Samara Studie 137
Tab. 6: Ausgewählte Indikatoren der ökonomischen Lebensbedingungen
(Ungleichheit und Wohlstand) 152
Tab. 7: Kaufkraftbereinigte Sozialausgaben 2013, in international $ 153
Tab. 8: Exemplarischer Vergleich zweier Pflege(bedürftigkeits)Stufen in Deutschland
und die Oblast Samara (Stand 2015) 185
Tab. 9: Pflegeversorgungssysteme in Russland und Deutschland 191
Tab. 10: Stationäre und ambulante Versorgungsinfrastrukturen in Russland und
Deutschland 199
Tab. 11: Versorgungsinfrastruktur für die ältere und pflegebedürftige Bevölkerung in
Freiburg und Samara, Stand November 2011 202
Tab. 12: Beispiel der Tarife der ausgewählten Versorgungsleistungen in der Oblast
Samara, Stand 2016 206
Tab. 13: Anerkennung und Unterstützung der familialen Pflege durch pflegepolitische
Maßnahmen 218
5
Anhang
Anhang 1: Schätzungen der Pflegebedürftigenzahl, in Tsd. in Russland 2015-2050,
(Status-Quo-Szenario) 281
Anhang 2: Lebenserwartung von Männer (M) und Frauen (F) bei Geburt (in Jahren),
in Russland und Deutschland 1960-2014 282
Anhang 3: Medianalter der Bevölkerung 283
Anhang 4: Prozentualer Verteilung der Bevölkerung in ausgewählten Altersgruppen in
Russland und Deutschland 283
Anhang 5: Anteil der jüngeren (0-14) und der älteren (65+) Bevölkerung in Russland
und Deutschland, 1992-2015 284
Anhang 6: Gesundheitszustand verschiedener Bevölkerungsgruppen in Russland und
Deutschland 2004 285
Anhang 7: Zusammenhänge zwischen den Prädiktoren „Strukturelle Ressourcen“ 285
Anhang 8: Anlage Nr. 2: Bestimmung des Pflegebedürftigkeitsgrades, zur Verordnung
№ 22 v. 23.01.2015, Ministerium für Soziales, Demographie und
Familienpolitik der Oblast Samara. 286
Anhang 9: Anlage Nr. 3: Maximale Leistungsgewährung, zur Verordnung № 22 v.
23.01.2015, Ministerium für Soziales, Demographie und Familienpolitik
der Oblast Samara. 289
Anhang 10: Stationäre Einrichtungen für die Versorgung von älteren Personen und
Personen mit Behinderung (Erwachsene und Kinder), Zum Ende des Jahres,
Stand: 29.7.2015 290
Anhang 11: Komplexzentren und Abteilungen der ambulanten sozialen Dienste für die
älteren und Personen mit Behinderung in der RF, zum 1. Januar. Stand:
29.7.2015 291
Anhang 12: Anteil der älteren und behinderten Leistungsempfänger der häuslichen
Betreuungsdienste in der Russländischen Föderation, zum 1. Januar, Stand:
29.7.2015 292
Anhang 13: Befragungsinstrument zur Bilateralen Pilotstudie Samara-Freiburg 2010/11
(Auszug) 292
6
Umgang mit russischsprachigen Literaturquellen und begriffliche Anmerkungen
Grundsätzlich werden russischsprachige Quellen (Autorennamen und Originaltitel) in
englischer Transkription angegeben. Im Falle von Personen, die ihre Schriften bereits auf
Deutsch und ihren Namen unter der deutschen Schreibweise veröffentlicht haben, werden diese
beibehalten (z. B Schabanowa statt Shabanova). Fürs bessere Leseverständnis wird im Text
bzw. in den Fußnoten - dann in quadratischen Klammern - die deutsche Übersetzung des
Originaltitels (z.B. Gesetze) angegeben. Im Literaturverzeichnis findet man immer beide
Varianten. Das Wiederauffinden zitierter russischsprachiger Quellen im Literaturverzeichnis ist
nach Autor, Herausgeber(n) bzw. Organisation somit grundsätzlich möglich.
In den wissenschaftlichen Publikationen tauchen immer häufiger die Neologismen
„russländisch“ oder „Russländer“ wie z.B. in der Übersetzung der offiziellen
Staatsbezeichnung Pоссийскaя Федерация (in Transkription als „Rossijskaja Federazija“,
weiter als RF abgekürzt) oder des Begriffs россиянин (rossijanin - Staatsbürger Russlands).
Mit diesen Begriffen wird auf die Befindlichkeiten und das Nationalgefühl der ethnischen
Minderheiten in Russland Rücksicht genommen. Im Rahmen dieser Arbeit werden in den
offiziellen Bezeichnungen diese neuen Begrifflichkeiten verwendet, die eine klare
Unterscheidung zwischen Staat und Ethnie betonnen. In den restlichen Fällen (wie auch in
offiziellen Sprachgebrauch üblich ist) werden aber nur die Begriffe russisch, Russe, Russland,
deutsch, Deutsche, Deutschland verwendet.
7
Vorwort
Lehrforschungsprojekt und akademische Kooperation als Forschungsanlass - und Danksagung
Die vorliegende Arbeit knüpft an die bisherigen Forschungsansätze des Freiburger
Forschungsverbunds „Soziale Sicherheit im Alter“1zu Pflegebereitschaft und ihrer sozialen
Verankerung an. Sie möchte auf der Basis eigener empirischer Befunde einen Beitrag zur
Pflegeforschung in Russland und Deutschland leisten und die konzeptionelle Perspektive auf
die Bedingungsfaktoren von Pflegebereitschaft durch die Länderkontexte erweitern. Über die
Grundlagenforschung hinaus ergeben sich möglicherweise Ansatzpunkte, die zur Verbesserung
der Pflegeversorgung in beiden Ländern genutzt werden könnten.
Als empirische Grundlage dient das russisch-deutsche Pilot-Forschungsprojekt (SOLIDERU),
das in Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg/Deutschland und der Fakultät für Soziologie der Samara State University/Russland
2010-2012 exemplarisch in den zwei Städten (Freiburg und Samara) realisiert wurde. Unser
Forschungsprojekt fand Unterstützung durch die Wissenschaftliche Gesellschaft Freiburg (in
Form einer Reisebeihilfe) und die Deutsche Forschungsgesellschaft2 (BL 1155/1-1 vom
5.8.2010), für die ich an dieser Stelle nochmals herzlich danke.
Das gemeinsame Pilotprojekt wurde in die Lehrtätigkeit beider Kooperationsseiten integriert.
Studierende beider Partnerländer konnten im Rahmen von zweisemestrigen curricularen
Forschungspraktika zu Methoden der Sozialforschung an ihm teilnehmen. Unsere russischen
Kooperationspartner*innen halfen uns dabei, die Erhebungsinstrumente an die historischen,
ökonomischen und sozial-kulturellen Gegebenheiten Russlands zu adaptieren sowie Daten in
Russland zu erheben. So wurden mit Hilfe studentischer Projektteilnehmer*innen Befragungen
bei der 40-65-jährigen Wohnbevölkerung in Samara/Russland und Freiburg/Deutschland
durchgeführt. Zudem wurden gemeinsame Begehungen und Expertengespräche durch unser
russisch-deutsches Projektleiterteam realisiert.
1 An diesem Forschungsverbund waren beteiligt das Institut für Soziologie an der Universität Freiburg, Prof.
Dr. Thomas Klie und der Arbeitsschwerpunkt Gerontologie und Pflege (AGP) an der Evangelischen
Fachhochschule und das Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft (FIFAS). 2 Die Förderung wurde ermöglicht auf der Basis eines Abkommens zwischen Russland und Deutschland zur
“Initiierung und Intensivierung der bilateralen wissenschaftlichen Kooperation“.
8
Mit der bilateralen Kooperation konnte für diese Studie zugleich sichergestellt werden, dass
Expertise im Bereich der Sozialforschung und Sozialpolitik mit sehr guten Landes- und
Sprachkenntnissen vereint werden konnten. Dabei erwiesen sich persönliche Kontakte der
Mitarbeiter*innen der wissenschaftlichen Institute in Russland zum Sozialministerium und zu
Praxisakteuren in den Altenpflegeeinrichtungen als zuverlässig und ertragsreich, um den
Zugang zum Forschungsfeld zu ermöglichen. Oft lassen offizielle Statistiken nur ein sehr
beschränktes Bild über die soziale Realität zu, weil gerade die benötigten Informationen über
besonders kritische (Rand)gruppen3, aber auch, wie man nach umfassenden Recherchen
feststellen musste, über ältere oder pflegebedürftige Menschen fehlten. Bei der Besichtigung
der Altenpflegeeinrichtungen und in persönlichen Interviews mit Experten aus Wissenschaft,
Verwaltung und Praxis konnte man sich einen ersten Einblick verschaffen, wie die Versorgung
alter pflegebedürftiger Menschen in Russland im Vergleich zu Deutschland konkret aussieht.
Das akademische Lehrforschungsprojekt kann als Beispiel betrachtet werden, wie eine
gelungene Forschungskooperation über Ländergrenzen hinweg auf Grund des Engagements der
Dozierenden und Studierenden entstehen kann.
Seit dem Beginn meiner Arbeiten an diesem Forschungsvorhaben im Januar 2010 war eine
Vielzahl von Menschen mehr oder weniger direkt in dieses Projekt involviert. Sie hatten einen
maßgeblichen Anteil am Gelingen des gemeinsamen russisch-deutschen Projekts und meiner
Dissertation. Ihnen allen gebührt mein ausdrücklicher Dank.
An erster Stelle möchte ich einen ganz besonderen Dank meinem Doktorvater und
akademischen Lehrer, Prof. Dr. Baldo Blinkert, aussprechen. Durch seine langjährige
Lehrtätigkeit und Leitung des Freiburger Instituts für angewandte Sozialwissenschaft (FIFAS
e.V.) bot er viele praktische Anwendungsmöglichkeiten für Soziologiestudierende als
Tutor*innen in seinen Statistikvorlesungen, als Seminarteilnehmer*innen oder
Praktikant*innen in den von ihm geleiteten Projekten auf dem Gebiet der praxisnahen
empirischen Sozialforschung. Die Sammlung dieser Praxiserfahrungen hat enorm zu meiner
methodischen Ausbildung beigetragen. Ihm verdanke ich auch die Möglichkeit einer
wissenschaftlichen Laufbahn an der Universität Freiburg und das Gelingen meines
Dissertationsvorhabens mittels seiner Unterstützung (bei dem Projektantrag, wissenschaftlicher
Begleitung der Studie und Betreuung meiner Promotionsarbeit). Sein Vertrauen in mich, die
3 Vgl. Sidorina et al. (2003).
9
Zeit und Freiheit, die er mir bei der Ausarbeitung meiner Dissertation gewährte, sowie
konstruktive Gespräche halfen mir, die Arbeit erfolgreich zu Ende zu führen. Sein unerwarteter
Tod im November 2017 hat mich unsäglich traurig und ratlos gemacht. In dieser kritischen
Phase übernahm Prof. Dr. Ulrich Bröckling die Betreuung meines Promotionsverfahrens, was
ich nicht als selbstverständlich erachte. Ich bin Prof. Bröckling nicht nur für die Übernahme der
Erstbegutachtung und seine wertvollen Kommentare und Anregungen zu meiner Arbeit sehr
dankbar. Besonders schätze ich seine Mitmenschlichkeit und seinen großen organisatorischen
Einsatz für meine nahtlose Weiterbeschäftigung nach der Promotion.
Mein großer Dank gilt gleichermaßen für die fachliche Unterstützung und Ermutigung Prof.
Dr. Hans Hoch, Dr. Gernot Saalmann sowie meinen russischen Kolleginnen Prof. Dr. Anna
Gotlib, Dr. Anna Almakaeva, Dr. Svetlana Egorova und Dr. Yana Krupets. Auch möchte ich
mich bei Prof. Dr. Manuela Boatcă und Prof. Dr. Nina Degele bedanken, die mich im Rahmen
eines Doktorandenkolloqiums und fachlichen Austauschs auf manche trügerischen
paradigmatischen Selbstverständlichkeiten bzw. neuere Erklärungsansätze hingewiesen haben.
Dr. Andreas Mergenthaler und Hannah Köpper bin ich für ihre fachlichen Tipps und kritischen
Kommentare, insbesondere zu den methodisch-statistischen Abschnitten der Dissertation sehr
dankbar. Für die zahlreichen Korrekturhilfen, Gespräche und sonstige Unterstützungen aus
meinem privaten bzw. kollegialen Umfeld bin ich Dr. Hans-Peter Durić, Dr. Gernot Saalmann,
Elke Goldschmidt, Diana Cichecki, Dr. Natallia Sprossmann und Maria Villalobos ebenfalls zu
Dank verpflichtet. Selbstverständlich trägt die Verfasserin die vollständige Verantwortung für
die Inhalte dieser Arbeit. Allen genannten Personen sei auch für ihre emotionale Unterstützung
in kritischen Phasen meines Schreibprozesses herzlich gedankt!
Ein großer Dank gilt den am Lehrforschungsprojekt beteiligten Soziologiestudierenden in
Samara und Freiburg im Studienjahr 2010-2011. Ohne ihr Engagement hätte man dieses
Forschungsvorhaben nicht realisieren können. Meinen russischen Kolleginnen danke ich auch
sehr für ihre Hilfe, ihren Beistand und ihre Flexibilität, als ich wegen des plötzlichen Todes
meiner Mutter unsere erste gemeinsame Projekttagung in Samara unterbrechen musste.
Besonderen Mut und Anspornen in der Endphase gab mir die Vorfreude meiner 10-jährigen
Tochter Katinka auf den erfolgreichen Abschluss meiner Dissertation und damit zu zukünftig
mehr gemeinsamer Zeit. Ihr und meinen verstorbenen Eltern, Valentina und Wjatscheslaw
Korobko, widme ich meine Dissertation.
11
Einleitung
Die Bewältigung von Altersgebrechen, Krankheiten und Behinderungen hängt ganz
überwiegend vom Einsatz naher Familienangehöriger ((Ehe-)Partner und erwachsener Kinder)
ab. In geringerem Umfang lässt sich Hilfe aus den sozialen Netzwerken wie Nachbarn,
Kolleg*innen oder Freundeskreis mobilisieren4. Dies ist die gängige Versorgungspraxis in
vielen europäischen Ländern5. Wie zu zeigen sein wird, ist die Familienpflege das Leitbild der
Pflegepolitik auch in Deutschland und Russland. Im Kontext des demographischen und
sozialen Wandels ist die Untersuchung von bisherigen Pflegearrangements sowie
Entwicklungen in familialen Pflegebeziehungen von besonderer Relevanz für jedes Land. Zu
diesem Thema stellen sich viele Fragen: Wie ist das Verhältnis des gegenwärtigen und
zukünftigen Pflegebedarfs und des informellen, in der Regel unbezahlten, Pflegepotentials?
Gelingt es unter den bisherigen institutionellen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen
einer Gesellschaft die Pflege älterer Menschen auch in Zukunft zu sichern? Welche Rolle spielt
in den Pflegekulturen Russlands und Deutschlands die Familie (insb. erwachsene Kinder) in
Bezug auf die Versorgung von Älteren, die nicht mehr zur selbstständigen Lebensführung in
der Lage sind, und somit Pflege und andere Unterstützung brauchen? Was lässt uns annehmen,
dass sich die familiäre Pflege in den beiden Ländern verändert? Welchen Einfluss haben dabei
der demographische und insbesondere der soziale Wandel? Wie und unter welchen
Bedingungen entscheiden sich Pflegebedürftige bzw. deren Angehörige für die eine oder andere
Form der Versorgung?
Verschiedene PflegeforscherInnen aus Deutschland prognostizieren seit Jahren einen Trend zu
steigendem Pflegebedarf bei einem gleichzeitig abnehmenden Pflegepotential6. Man geht
einerseits von einer soziodemographisch bedingten Reduktion des „informellen
Pflegepotentials“ aus, womit die Chancen für eine Familienpflege sinken. Als Gründe werden
in der Regel die sich verändernden Altersstrukturen bzw. das Generationengefüge genannt. Im
Zuge des Älterwerdens der Gesellschaft stehen, statistisch gesehen, immer weniger junge
Menschen zur Verfügung, die häusliche Pflege von (absolut und prozentual) immer mehr
pflegebedürftigen Älteren übernehmen können. Ursachen sind geringere Geburtenraten
4 Blinkert/Klie 2006: 425. 5 Siehe z.B. Bettio/Verashchagina 2010; Lipszyc et al. 2012. 6 Blinkert/Klie 2004; Blome et al. 2008, Blinkert/Gräf 2009, etc.
12
einerseits sowie steigende Lebenserwartung andererseits. Vor allem nimmt die Zahl jener
Personen ab, die an und für sich in der Lage wären, Pflegebedürftige zu versorgen, nämlich die
40-65 -Jährigen7.
Anderseits werden Veränderungen im Zusammenleben der Menschen (Pluralisierung und
Diversifizierung von Haushalts- bzw. Familienstrukturen und Lebensformen) für den
„Pflegenotstand“ verantwortlich gemacht. Die Haushalte werden immer kleiner (insb. wegen
des Trends zu Single-Haushalten). Ursache sind steigende Trennungs- und
Scheidungshäufigkeit, weniger Eheschließungen sowie geringere Geburtenraten. Das wirkt
sich auf die Lebenssituation im Alter aus8. Die Versorgungschancen von Pflegebedürftigen
hängen von den zur Verfügung stehenden informellen Unterstützungsnetzwerken ab. Es gibt
deutliche Anzeichen dafür, dass im Zuge des sozialen Wandels die absolute und relative Anzahl
„labiler bzw. prekärer Netzwerkkonfigurationen“ zunehmen9.
Aber es ist nicht allein der demographische oder familienstrukturelle Wandel, der die
Versorgungssituation der pflegebedürftigen Menschen bestimmt und verändert. Zu den
sozialen Bedingungen der Pflege gehören vor allem strukturelle Anforderungen einer modernen
postindustriellen Gesellschaft hinsichtlich sozialer und geographischer Flexibilität, aber auch
die Folgen des soziokulturellen Wandels (insbesondere fortschreitende Individualisierung und
Wertewandel). Diese äußern sich konkret in gestiegenen Ansprüchen an die eigene Identität
und veränderte Bedeutung der Erwerbsarbeit für das selbstbestimmte und erfüllte Leben. Das
abnehmende Pflegepotential führt man zudem auf die in Deutschland seit einigen Jahrzehnten
beobachtbare zunehmende Erwerbsbeteiligung der Frauen zurück, die bislang den Hauptanteil
der Pflege tragen10. Verschiedene Szenarien, die zukünftige Veränderungen in
demographischen und sozialen Bedingungsfaktoren berücksichtigen, zeigen, dass die „Schere
zwischen Pflegebedürftigen und Pflegepotenzial sich öffnet“11.
Die Versorgungssituation verändert sich auch mit der Ausdifferenzierung und Pluralisierung
der Sozialstruktur. Untersuchungen zur sozialen Verankerung von „pflegekulturellen
Orientierungen“ in der deutschen Gesellschaft ergaben, dass manche Lebensorientierungen für
die Übernahme der Pflegeverpflichtungen gegenüber Familienangehörigen eher günstig, oder
7 Vgl. Blinkert/Klie 2004; Blinkert/Gräf 2009. 8 Vgl. Mager/ Eisen 2002. 9 Blinkert/ Klie 2001: 46. 10 Dallinger 1997; Blinkert/Klie 2001; Blome et al. 2008; Blinkert/ Gräf 2009, etc. 11 Blinkert (2008); König et al. 2001- DIW; Blinkert/Gräf 2009: 21.
13
eher hinderlich sein können12. Damit wirken sich die skizzierten Entwicklungen nicht nur auf
die Verfügbarkeit der potentiellen Pflegepersonen aus13, sondern auch auf ihre Motivationen
und Präferenzen und senken damit die Wahrscheinlichkeit einer Pflege im Familienkreis14.
Auch im vorliegenden Vorhaben zur Untersuchung der Pflegekulturen Russlands und
Deutschlands sowie der Verteilung der Pflegebereitschaften innerhalb der Sozialstruktur des
jeweiligen Landes spielen Auswirkungen des sozialen Wandels eine zentrale Rolle. Wodurch
werden die landesspezifischen Pflegearrangements maßgeblich bestimmt?
Der kulturelle Kontext ist prägend für die Pflegesituation15. Darunter versteht man den
kulturspezifisch unterschiedlichen Stellenwert der Pflegebedürftigkeit und die Art und Weise,
wie die Gesellschaft damit umgeht. Relevant sind sowohl kulturell verankerte Familiennormen
in der Bevölkerung (z.B. normatives Verpflichtungsgefühl oder Vorstellungen über das
Familie-Staat-Verhältnis) als auch sozialpolitische Leitbilder, die sich z.B. konkret in der
legislativen Verantwortlichkeiten im Pflegefall zwischen Familie und Staat niederschlagen.
Diese kulturellen Rahmenbedingungen können sich in verschiedenen Ländern beträchtlich
unterscheiden und so den Umgang mit der Pflege beeinflussen. Höhere Familiennormen
werden in der Regel mit höheren Pflegechancen aus dem Kreis der Familie assoziiert16. Auch
der kulturelle Kontext kann sich allmählich wandeln.
Weitere entscheidende Faktoren sind die institutionellen und versorgungsstrukturellen
Rahmenbedingungen (Sozialgesetzgebung, Begriff der „Pflegebedürftigkeit“) und die
staatlichen arbeitsmarktpolitischen Regelungen, um die Vereinbarkeit zwischen Pflege und
Beruf zu verbessern. Wichtig für die Versorgungssicherung ist ein ausgebautes
Infrastrukturnetz mit ambulanten Pflegediensten, Beratungsstellen, Pflegeheimen und
teilstationären Angeboten, das auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen und ihrer Familien
abgestimmt ist. Berufsordnungen und Ausbildungsprogramme tragen dazu bei, qualifizierte
Fachkräfte in der Altenpflege zur Verfügung zu stellen. Dazu gehören auch Bemühungen des
Staates, das gesellschaftliche Ansehen des Pflegeberufs und das Angebot an professioneller
Pflege attraktiver zu machen, um dem Pflegefachkräftemangel vorzubeugen17. Zwischen der
12 Blaumeiser et al. 2001; Blinkert/Klie 2004, 2006. 13 Vgl. mit den „Opportunitätsstrukturen“ der Pflege, siehe Haberkern 2009: 16. 14 Blinkert/Gräf 2009: 12. 15 Siehe z.B. Nauck/Trommsdorff 2009. 16 Siehe z.B. Diskussion bei Lowenstein et al. 2008. 17 Vgl. Blinkert /Gräf 2009: 12.
14
Kultur und wohlfahrtsstaatlichen Regelungen (für den Pflegefall) bestehen wechselseitige
Beziehungen18.
Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Dissertation gliedert sich in vier Kapitel. Nach dem Vorwort wird im ersten
Kapitel die Aktualität der Thematik Pflege(potential) im Kontext der demographischen und
sozialen Entwicklungen in den beiden Ländern erörtert und empirisch sondiert. Es wird der
Frage nachgegangen, inwiefern für die Pflegesituationen in Deutschland und Russland ähnliche
oder unterschiedliche Ausgangsbedingungen vorliegen, und zwar was das gegenwärtige und
zukünftige Ausmaß des Pflegebedarfs (Kap. 1.1), die heutigen Versorgungsformen (Kap. 1.2)
und die demographisch bedingten Veränderungen im informellen Pflegepotential (Kap. 1.3)
angeht. Kap. 1.4 fasst einschlägige Untersuchungen für Deutschland und den hierzulande
geführten Forschungsdiskurs zusammen, die den „Wandel in der (Angehörigen-)Pflege“
belegen. Der Überblick über die aktuelle Forschungslage in Russland zum Thema
Langzeitpflege von Angehörigen wird in Kap. 1.5 vorgestellt.
Kapitel 2 befasst sich mit dem theoretischen und methodischen Rahmen der durchgeführten
empirischen Untersuchung in Freiburg und Samara. Zunächst wird der
Untersuchungsgegenstand näher bestimmt und gezeigt, mit welchen Paradigmen und Begriffen
die familialen intergenerationellen Unterstützungsbeziehungen typischerweise adressiert
werden. Danach werden zentrale Forschungsziele und -fragen, mikrotheoretische Hypothesen
sowie verwendete Datenquellen vorgestellt. Welche methodischen und theoretischen
Schwierigkeiten in der interkulturell vergleichenden Forschung auftreten können und wie die
vorliegende Arbeit diesen Rechnung trägt, wird im Anschluss daran erläutert. Dies betrifft
insbesondere Fragen der Konstruktäquivalenz von Messinstrumenten und des Gebrauchs von
theoretischen Konzepten und Annahmen im Rahmen des Ländervergleichs.
Kapitel 2.2 geht auf das dieser Untersuchung zugrunde liegende handlungstheoretische
Erklärungsmodell der sozialen Verankerung der Pflegebereitschaft ein. Stufenweise werden
zentrale Konzepte und Annahmen des handlungstheoretischen Ansatzes spezifiziert: einerseits
über die Handlungsstruktur der pflegerischen Aufgaben und damit verbundene Kosten-Nutzen-
Erwägungen (Gratifikationen vs. (Opportunitäts-)Kosten der Pflege), andererseits über die
18 Pfau-Effinger 2009.
15
unterschiedlichen Motivationen und Präferenzen in verschiedenen Ressourcenlagen. Zuletzt
wird das verwendete Erklärungsmodell vor dem Hintergrund anderer theoretischer Erklärungen
eingeordnet.
Im Methodenteil (Kap. 2.3) werden die Stichprobendesigns der in Samara und Freiburg
durchgeführten Befragungen beschrieben und soziodemographische Stichprobenkennzahlen
auf Übereinstimmung mit den Bevölkerungsparametern überprüft. Kurze landeskundliche
Portraits zu Freiburg und Samara sollen dabei der Leserschaft helfen, beide
Befragungsstandorte innerhalb des jeweiligen Landes und im Verhältnis zueinander
einzuordnen. Daneben expliziert das methodische Kapitel Konzeptspezifikationen und
Operationalisierungen zentraler Untersuchungsvariablen und stellt ihre Verteilungen mitsamt
deren Validierungen anhand repräsentativer Datenquellen dar. Das Kapitel bietet einen Exkurs
zur Sozialstruktur Russlands und theoretischen Zugänge zu ihrer Untersuchung und widmet
sich dem Umgang mit unterschiedlichen sozialstrukturellen Verhältnissen in der komparativen
Forschung.
Im Kapitel 2.4 werden Auswertungsschritte und zentrale Ergebnisse der Samara-Freiburg
Studien dargestellt. Bei den quantitativen empirischen Analysen geht es um einen binationalen
deskriptiven Vergleich verschiedener Aspekte pflegekultureller Orientierungen sowie die
Überprüfung ihrer sozialen Verteilungen entlang vertikaler und horizontaler
Ungleichheitsdimensionen der Sozialstruktur des jeweiligen Landeskontexts. Das
Forschungsinteresse gilt der Klärung der Frage, ob die für Deutschland typischen
sozialstrukturellen Verankerungen der pflegekulturellen Orientierungen auch in einem
russischen Kontext nachweisbar sind. Das Kapitel schließt mit der Bilanzierung der zentralen
Ergebnisse der Pilot-Studie, die Anlass zu weiteren Fragen und zu einer grundlegenden und
vergleichenden Darstellung der Situation in Deutschland und Russland geben.
Um eine geeignete Grundlage für die Ergebnisinterpretation zu schaffen, werden im Kapitel 3
die mikrotheoretischen Erklärungen durch makrotheoretische Erklärungen erweitert und es
wird ein Systemvergleich entlang der drei Dimensionen Struktur, Kultur und Institutionen
durchgeführt. Dazu wird ein Analysegerüst mit dazugehörigen Prämissen, Kategorien und
Indikatoren entwickelt, anhand derer ein Ländervergleich vollzogen werden kann. Als
geeignete Analysetechnik für einen binationalen Vergleich wird eine Mischung aus
fallbasierten und quantitativen Ansätzen der vergleichenden Forschung gewählt.
16
In den nachfolgenden Abschnitten erfolgt eine detaillierte vergleichende Darstellung der
strukturellen (Kap. 3.1), kulturellen (Kap. 3.2) und versorgungsstrukturellen
Rahmenbedingungen (Kap. 3.3.) der Pflegesituationen in Russland und Deutschland. Nach
einem Exkurs bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklungen geht es um den Vergleich der
sozioökonomischen Lebensbedingungen der Bevölkerung in beiden Ländern. Weiterhin
werden kulturelle Grundlagen (Bedeutung von individualisierten Lebensentwürfen,
Familienkulturen und Verpflichtungsnormen sowie Geschlechterordnungen), die die
Pflegevorstellungen in einem Land maßgeblich prägen, gegenübergestellt. Der Fokus dieser
Arbeit wird jedoch auf die vergleichende systematische Analyse der Systeme der (Pflege-
)Versorgung älterer pflegebedürftiger Menschen in den beiden Ländern gelegt mit
Schwerpunkt auf den Prozessen und Zuständen in der Altenpflege in Russland. Ausgangspunkt
ist eine Forschungsübersicht zum russischen Pflegesystem sowie dessen historische
Entstehungszusammenhänge.
In den folgenden Unterkapiteln geht es um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der
russischen und deutschen Pflegesysteme anhand der folgenden Kategorien: sozialgesetzliche
Definitionen und standardisierte Bestimmungsverfahren der Pflegebedürftigkeit,
Zugangskriterien, Konditionen und Inanspruchnahme von öffentlichen Pflegeangeboten sowie
Honorierung und Unterstützung pflegender Angehöriger. Des Weiteren werden vorhandene
öffentliche ambulante und stationäre Pflegeinfrastrukturen in Samara und Freiburg sowie in
Russland und Deutschland verglichen. Eingegangen wird auf Entwicklung des nichtstaatlichen
Pflegemarkts und der Grauökonomie in Russland.
Das abschließende Kapitel 4 dient als Resümee zur zusammenfassenden Beantwortung der
Forschungsfragen, Ergebnisdiskussion und ihrer kritischen Betrachtung sowie als Ausblick.
Der Ausblick gilt der Bewertung bisheriger sozialpolitischer Antworten auf die
Pflegebedürftigkeit in beiden Ländern und Fragen, die sich für die Zukunft ergeben, sowie
Fragestellungen für weitere Forschungen.
17
1. Aktualität der Thematik Pflege(potential)
1.1 Ausmaß der Pflegebedürftigkeit in Russland und Deutschland
Bevor die Ergebnisse unserer bilateralen Studie vorgestellt und diskutiert werden, sollen die
Unterschiede und Gemeinsamkeiten der demographischen Prozesse in Deutschland und
Russland in ihrer Implikation für das Thema Pflege älterer Angehöriger in dem jeweiligen Land
herausgearbeitet werden. Es sollen z.B. die Fragen beantwortet werden, ob auch in Russland
die Bewältigung der Langzeit(alten)pflege ein gewichtiges gesellschaftliches Problem darstellt
und ob diverse Entwicklungen dieses zukünftig verschärfen werden.
Während man bereits viel über die gesellschaftliche Organisation von Pflege in Deutschland
weiß, mangelt es an verlässlichen Zahlen über den Versorgungsbedarf und die
Versorgungssituation in Russland. Offizielle Statistiken und Bevölkerungsumfragen liefern
hierzu nur ein beschränktes Bild der Realität. Offizielle Hochrechnungen und
Vorausschätzungen zum heutigen und zukünftigen Verhältnis von Pflegebedürftigen und
potentiellen Pflegepersonen sind nicht bekannt.
In einer vergleichenden Perspektive soll der Pflegebedarf und die Versorgungssituation der
Pflegebedürftigen in Russland und Deutschland dargestellt werden. Der (Länder)Vergleich soll
dabei helfen, die folgenden Fragen zu beleuchten:
Welches Ausmaß hat die Pflegebedürftigkeit (sprich der Pflegebedarf) in Russland im Vergleich
zu Deutschland aktuell (2015). Mit welcher Entwicklung muss Russland bis 2050 rechnen? Wie
werden die Pflegebedürftigen in beiden Ländern derzeit versorgt?
Es ist kein leichtes Unterfangen Pflegeprävalenz (d.h. Anzahl der Pflegebedürftigen zu einem
bestimmten Zeitpunkt) und die Pflegequote (Anteil von Pflegebedürftigen an einer bestimmten
Altersgruppe oder an der Gesamtbevölkerung) zwischen Ländern zu vergleichen. Hierzu muss
man folgende Aspekte berücksichtigen: die rechtliche Definition und das standardisierte
Bestimmungsverfahren der Pflegebedürftigkeit, geltende Zugangskriterien (formale
Berechtigungsvoraussetzungen und Konditionen der öffentlichen Pflegeangebote), welche die
tatsächliche Inanspruchnahme (Zugänglichkeit) beeinflussen19. Wie zu zeigen sein wird (siehe
Kap.3.3.), gibt es zwischen Russland und Deutschland einige Parallelen, doch auch deutliche
19 Vgl. Blinkert et al. 2013: 11f.; Blome et al. 2008.
18
Unterschiede. Deshalb werden im Rahmen eines interkulturellen Vergleichs auf verschiedene
Bestimmungsmöglichkeiten zurückgegriffen, um den Ausmaß der Pflegebedürftigkeit zu
schätzen und die Frage nach landestypischen Arrangement(s) zu beantworten.
Pflegebedarf steigt mit dem Alter - altersspezifische Pflegewahrscheinlichkeiten
Wenn der Anteil der Älteren und Hochaltrigen steigt - mag eine Reihe von ihnen auch gesund
altern - wird sich der gesellschaftliche Bedarf an Pflege dennoch vergrößern. Das Pflegerisiko,
also die Wahrscheinlichkeit zum Pflegefall zu werden20, ist in hohem Maße vom Alter
abhängig. Es erhöht sich ab dem 65. Lebensjahr signifikant und steigt deutlich ab dem 80.
Lebensjahr21. Während in Deutschland bei den 70- bis 75-Jährigen 2007 nur etwa jeder
Zwanzigste (4,9%) Leistungen aus der Pflegeversicherung bezogen hat, waren es bei den 80-
85-Jährigen bereits jeder Fünfter (20 %). Von den über 90-Jährigen werden nahezu zwei Drittel
(61,6%) zu Pflegeempfängern22. Frauen ab etwa 80 Jahren haben eine deutlich höhere
Pflegewahrscheinlichkeit als Männer, bei den 90-jährigen Frauen verdoppelt sich Zahl
nahezu23. Aufgrund der im Durchschnitt höheren Lebenserwartung der Frauen gibt es in
Deutschland fast doppelt so viele pflegebedürftige Frauen wie Männer (2015 waren es 63,7 %
Frauen vs. 36,3 % Männer)24. Für Russland könnte man ähnliche Pflegewahrscheinlichkeiten
annehmen, die öffentlichen Pflegestatistiken werden allerdings nicht alters- oder
geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselt.
Da die über 80-Jährigen die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe unter den Älteren ist
(und zwar in den beiden Ländern), deutet sich schon hier ein zumindest für Deutschland
dramatisch steigender Pflegebedarf an. Die zunehmende Zahl alter Menschen hat damit eine
steigende Zahl von Pflegebedürftigen zur Folge: 2015 waren es 2,86 Mio. Pflegebedürftige.
Laut dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) wird auf Basis der Pflegekassenstatistiken
in Deutschland die Zahl der Pflegebedürftigen nach einem „Status-Quo-Szenario“ (d.h. unter
Annahme einer dauerhaft konstanten altersspezifischen Pflegewahrscheinlichkeit) bis 2030 auf
20 Diese errechnen sich aus den Pflegestatistiken als altersspezifische Pflegequoten. 21 Vgl. Gasche 2007: 8f. 22 Laut staatlichen und privaten Pflegestatistiken 2007, siehe Zusammenstellung bei Pu 2012, Tab. 2: 24. 23 Blinkert/Gräf 2009: 6. 24 BMG (2015): Pflegeversicherung, Zahlen und Fakten.
19
3,37 Mio. und bis 2050 auf 4,5 Mio. steigen25. Dabei erhöht sich der Anteil der
Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung von 3,5 % (2015) auf 4,4 % (2030) und wird 2050
bei 6,5 % liegen26.
Informationslage zu Pflegebedarfs(-entwicklungen)
Für Deutschland sind zahlreiche Szenarien zur Entwicklung der Versorgungssituation von
Pflegebedürftigen unter verschiedenen Bedingungen des demographischen und sozialen
Wandels vorhanden27. Auch werden die Lebensumstände älterer und hochaltriger Menschen in
Bezug auf ihre Potenziale und ihren Unterstützungsbedarf regelmäßig und vielseitig erforscht
und dienen als verlässliche Grundlage für die Politik. Mittlerweile liegt dem Deutschen
Bundestag bereits der „Siebte Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik
Deutschland“ vor. In Russland stehen einige wenige offizielle Berichte erst seit jüngster Zeit
zur Verfügung. Diese bemängeln selbst die unzuverlässige und undifferenzierte Datenlage und
können daher das Problem nicht in aller Schärfe erfassen28. Zu der tatsächlichen
Versorgungssituation von Pflegebedürftigen in Russland und im internationalen Vergleich ist
bisher wenig bekannt. Insbesondere fehlt es an systematischen Einschätzungen der
Pflegebedürftigkeit (unter Bezugnahme auf verschiedene Bestimmungskriterien und
Datenquellen) und Prognosen zu zukünftigen Entwicklungen in der Pflege.
Auseinanderklaffen von tatsächlichem Pflegebedarf und gewährten öffentlichen Leistungen
Die Schwierigkeit der Beantwortung der postulierten Fragen liegt auf der Hand: eine mögliche
Dunkelziffer. In Deutschland dürften viele Personen keine oder nur eine ungenügende
Unterstützung erhalten, obwohl sie diese dringend benötigen. Die Anzahl der Personen, die die
Kriterien der Pflegeversicherung nicht erfüllen, aber dennoch Hilfe und Pflege brauchen, ist
beträchtlich. Das Europäische Haushaltspanel (EU SILC) bezifferte die Zahl der tatsächlich
25 Mit der Ausweitung des anspruchsberechtigten Personenkreises seit 2017 durch das Pflegestärkungsgesetz
II gibt es neue Schätzungen, nämlich 5,32 Mio. Pflegebedürftige in 2050, siehe BMG (2017a): Zahlen und
Fakten zur Pflegeversicherung. 26 BMG (2013): Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung. 27 Siehe z.B. König et al. 2001- DIW; Blinkert/Klie (2004) für die Stadt Kassel; Blinkert (2008) als
Begleitforschung zum persönlichen Pflegebudget; Blinkert/Gräf 2009: 21. 28 Z.B. „Ältere Bevölkerung Russlands: Probleme und Perspektiven“, „Rehabilitation von Behinderten in der
Russländischen Föderation“ vom Analytischen Zentrum bei der Regierung RF (Analiticheskiy tsentr pri
Pravitel'stve RF (2015a, b)).
20
Pflege- und Hilfsbedürftigen 2011 auf rund 5,4 Mio. Personen. Nach Schätzung der OECD
haben in Deutschland 2006 rund 3,26 Mio. Hilfsbedürftige, ohne Bezug von öffentlichen
Pflegeleistungen, informelle Pflege erhalten29. Andere Quellen, die die Gesamtzahl der
Pflegebedürftigen zu erfassen suchten, kommen zu ähnlichen Ergebnissen: 2007 - 5,1 Mio.,
davon erhielten nur 2,2 Mio. Leistungen30. Diese Menschen sind auf Pflege und Hilfe ihrer
Familienangehörigen angewiesen bzw. auf selbst finanzierte professionelle Unterstützung.
Laut Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit lag die Bewilligungsquote des
Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen (MDK) in den letzten Jahren für Anträge
auf Anerkennung einer Pflegestufe bei etwas über 70 %31. Anderen Quellen zufolge sind bis zu
70 % der Gutachten des MDK falsch, zum Nachteil der Versicherten, um den Pflegekassen
Kosten zu ersparen32. Viele Betroffene werden entweder in eine falsche Pflegestufe eingeteilt
oder die Pflegestufe wird sogar abgelehnt. 18 % der als pflegebedürftig anerkannten Personen
gaben an, dass die gewährten Haushaltshilfen bzw. Pflegeleistungen nicht ausreichten33. Das
ist nicht überraschend, denn die deutsche Pflegeversicherung deckt nur Grundbedürfnisse der
Pflege. Für Russland liegen keine derartigen Statistiken vor. Im russischen Pflegesystem
kommt es höchst wahrscheinlich unter den gegebenen Zugangskriterien (Berücksichtigung des
sozialen Umfeldes (Familienangehörige) und des Einkommens des Antragsstellers) zum
Auseinanderklaffen zwischen dem tatsächlichen Pflegebedarf und dem Umfang staatlich
gewährter Leistungen, was sich aber nicht genau beziffern lässt. Das erklärt einen deutlichen
Unterschied in Prävalenzzahlen zwischen den beiden Ländern. Kurzum das tatsächliche
Ausmaß der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit dürfte in beiden Ländern deutlich höher sein, als es
offiziell anerkannte Pflegefälle gibt, die sich in den öffentlichen Statistiken zu den
Leistungsempfängerzahlen widerspiegeln.
Bestimmungsmöglichkeiten vom Ausmaß der Pflegebedürftigkeit
Es lassen sich prinzipiell drei Möglichkeiten aufzeigen zu dieser Frage: (a) der Weg über die
offiziellen Pflegestatistiken, (b) über die Umfragedaten und (c) als Projizierung des zukünftigen
29 Zit. n. Geyer/Schulz 2014: 295. 30 Laut Schätzungen von Schneekloth/ Törne, von 2007, zit. n. Schulz 2010: 8-9. 31 BMG 2007, zit. n. Hoffmann/Nachtmann 2007: 8. 32 Schlicht 2014. 33 Schneekloth/Leven 2003: 32.
21
Pflegebedarfs auf der Basis von heutigen Pflegeprävalenzen und Pflegewahrscheinlichkeiten
sowie künftigen Bevölkerungsbestandszahlen34.
Zahl der Leistungsempfänger*innen nach Versorgungsart
In Deutschland wird die Langzeitpflege über die Pflegeversicherung erfasst, in Russland über
das System der sozialen Versorgung der Älteren und Invaliden mit sozialen Dienstleistungen.
Die offiziellen Statistiken liefern diesbezüglich nur Informationen über die Empfänger von
Geld- oder Sachleistungen im Rahmen öffentlicher Unterstützungssysteme zur
Langzeit(alten)pflege. Sie können daher nicht als Indikatoren für das Ausmaß des
Pflegebedarfes dienen. Mit Sicherheit unterstellen kann man, dass öffentlich gewährten Pflege-
und Unterstützungsleistungen zwischen verschiedenen Ländern im Umfang, in der Qualität,
Zugänglichkeitskriterien, Erschwinglichkeit etc. beträchtlich variieren können35. Weiterhin
prägt das Inanspruchnahmeverhalten der Bevölkerung die amtlichen Statistiken. Nicht alle
Betroffenen stellen einen Antrag auf Anerkennung einer Pflegestufe (auf Grund von
Informationsstand, Befähigung, Motivation) und nicht alle Anträge werden bewilligt.
Familiennormen und das Verständnis über „gute Pflege“ in der Bevölkerung, und ob die
professionellen Pflegeangebote den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und ihren Familien
entsprechen36, können aufgrund kulturspezifischer Phänomene wesentlich zur
unterschiedlichen Inanspruchnahme öffentlicher (insbesondere stationärer) Pflegeangebote in
den beiden Ländern führen.
Öffentlich zugängliche Statistiken zu Pflegeprävalenzen in Russland nach
Versorgungsstrukturen sind erst seit 2010 vorhanden. Diese umfassen Daten ambulanter und
stationärer Versorgung, nicht aber das Ausmaß der Familienpflege. In Deutschland werden
Pflegestatistiken dagegen bereits seit 1999 öffentlich geführt.
Nach öffentlichen Pflegestatistiken (Stand 2015) ist ein deutlicher Unterschied in den
Prävalenzzahlen der Empfänger nach Leistungsart zwischen den beiden Ländern feststellbar.
Obwohl die Gesamtbevölkerung Russlands jene Deutschlands um das 1,8-fache übersteigt
(Stand 2015: 146,3 Mio. vs. 80,7 Mio.), die Anzahl der älteren Bevölkerung (60+: ca. 29,1 Mio.
vs. 22,3 Mio.) um das 1,3-fache höher liegt, sowie die Anzahl der Hochaltrigen annährend
34 Vgl. Blinkert et al. 2013; Blinkert/Gräf 2009. 35 Vgl. Blome et al. 2008. 36 Vgl. Eichler/Pfau-Effinger 2009: 623f.
22
gleich ist (80+: 4.678 Mio. vs. 4.599 Mio.), ist die Anzahl russischer
Leistungsempfänger*innen von stationärer Pflege um fast das Dreifache geringer als in
Deutschland (Stand 2015: 0,248 Mio. vs. 0,783 Mio.), siehe Abb. 1. Dies entspricht einer
Heimprävalenzrate von ca. 0,2 % in Russland und ca. 1 % in Deutschland, bezogen auf die
Gesamtbevölkerungszahl. Die Zahl der ambulant Versorgten fällt dagegen in Russland doppelt
so hoch aus (1,21 Mio.) wie in Deutschland (0,642 Mio.). Nähere Untersuchung des
Leistungsspektrums und der Zugäglichkeit der häuslichen Pflegeversorgung durch Fachkräfte
in Samara (Stadt) und Freiburg als Fallbeispiele sowie im Russland-Deutschland-Vergleich
(siehe insb. Kap. 3.3.4) sollte klären, ob der Ländervergleich ambulanter Pflegestatistiken
überhaupt sinnvoll ist. Über die Zahlen der Pflegegeldempfänger lässt sich indirekt auf die
Zahlen der „selbstversorgten“ pflegebedürftigen Personen schließen. In Deutschland erhalten
1,38 Mio. pflegebedürftige Menschen Pflegegeld, das sie an ihre informellen Helfer
weitergeben können. In der Regel sind es nahe Angehörige (Partner und Kinder) und in
geringerem Umfang Nachbarn, Freunde oder weitere Personen37. Die entsprechenden Zahlen
in Russland sind nicht öffentlich bekannt und die Bedingungen für den Erhalt des
„Pflegegeldes“ sind mit jenen in Deutschland nicht vergleichbar (siehe Kap. 3.3.6).
Abb. 1: Bevölkerungszahlen und Leistungsempfänger in den Pflegesystemen Russlands und
Deutschlands in 2015 (in Mio.)
37 In der Annaberg-Unna-Studie stellte man fest, dass Angehörige zu 46 % und nicht verwandte Helfer lediglich
zu 3 % an der Versorgung beteiligt waren, siehe Blinkert/Klie 2006: 28.
23
Der Vergleich der stationären Deckungsraten ist unproblematisch, bezüglich der ambulanten
Versorgung dagegen nicht. Russische Statistiken zu Pflegegeldempfänger*innen sind über die
offiziellen Statistikportale nicht auffindbar. Gerade die ambulanten Pflegeangebote, wie sie im
Rahmen der deutschen Pflegeversicherung definiert und gewährt werden, sind nicht direkt mit
dem staatlichen System der ambulanten sozialen Versorgung in Russland vergleichbar. Damit
ist auch die o.g. offizielle Quote der ambulant versorgten Pflegebedürftigen in Russland nicht
genau bestimmbar oder vergleichbar mit der deutschen.
Auf Basis eigener Recherchen lässt sich behaupten, dass die Zahlen der ambulant Versorgten
in russischen offiziellen Statistiken sehr undifferenziert vorliegen, wobei die ambulante
Versorgung in Russland größtenteils konsultative und hauswirtschaftliche Komponenten
enthält. Für die Grundpflege gilt nur ein geringer Prozentsatz, der sich obendrein auch nur
indirekt schätzen lässt. Als „harter“ Indikator für die Leistungsempfängerquote der ambulanten
Pflegeleistungen könnte z.B. der Anteil der erbrachten sanitäts-hygienischen Dienstleistungen
gelten. Nach den Ergebnissen des russlandweiten Monitorings 2015 fielen 15,1 % der sozialen
Dienstleistungen auf solche pflegerische Hilfen, welche den bedürftigen Haushalten von den
häuslichen Betreuungsdiensten gewährt wurden38. Aber auch diese Dienstleistungen könnten
einmalig oder nur für kurze Zeit gewährt sein. Kapitel 3.3 wird den Fragen der Unterschiede
und Gemeinsamkeiten in den „Pflegesystemen“ der beiden Länder systematisch auf den Grund
gehen.
Pflegeprävalenz über Bevölkerungsbefragungen
Umfragedaten könnten im Prinzip eine Alternative zu den offiziellen Statistiken bieten. Man
könnte von der absoluten/relativen Zahl der Pflegebedürftigen in einer repräsentativen
Stichprobe auf deren Verteilung und die Art und Weise, wie diese versorgt werden, in der
Gesamtbevölkerung schließen. Allerdings dürften auch Befragungen, in denen die Befragten
Auskunft zu ihrem Gesundheitsstatus und zu ihrer subjektiven Einschätzung geben, ob sie Hilfe
bei alltäglichen Aufgaben und Aktivitäten brauchen, das Ausmaß des tatsächlichen
Pflegebedarfs in der Bevölkerung nur sehr ungenau erfassen. Die Pflegeprävalenzen werden
mit diesen Messinstrumenten doch unterschätzt, da die stationär betreuten Pflegebedürftigen
bzw. häuslich versorgten Schwer(st)behinderten sowie pflegebedürftige Kinder und
38 Goskomstat (2016a): [Selektives Monitoring der Qualität und Zugänglichkeit der Dienstleistungen in den
Bereichen (…) der sozialen Versorgung der Bevölkerung 2015,Tab. 32.1 Erhalt und Bedarf an sozialen
Dienstleistungen].
24
Jugendliche unter 18 Jahren über die Haushaltsbefragungen in der Regel nicht erfasst werden.
Weiterhin fehlt es an objektiven, „einheitlichen“ Kriterien zur Feststellung der
Pflegebedürftigkeit. Fremde Hilfe ist bei manchen Einschränkungen nicht immer
lebensnotwendig (dies könnte auch ein technisches Gerät, z.B. ein Rollator leisten)39.
Pflegeprävalenzen auf der Basis von subjektiven Kriterien basieren auf „Selbst-Diagnosen“,
die gruppen- und kulturspezifischen Variationen unterliegen40. Trotz unterschiedlichen
sozialrechtlichen Grundlagen lässt sich in Russland und Deutschland dennoch eine
Übereinstimmung feststellen (wie noch zu zeigen sein wird), was Pflegebedürftigkeit anbetrifft.
Als Schlüsselkriterium für den Bedarf an Langzeitpflege gilt die (erhebliche) Abhängigkeit von
fremder Hilfe (länger als 6 Monate) aufgrund von Einschränkungen in den alltäglichen
Aufgaben und Aktivitäten (siehe Kap. 3.3.1).
Analysen der Generations and Gender Surveys (GGS) mit dem Fokus auf Generationen- und
Geschlechterbeziehungen41 können einen Aufschluss über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit
in den beiden Ländern geben. GGS ist eine der wenigen Studien, mit der sich ein Russland-
Deutschland-Vergleich in einigen Aspekten der Pflegethematik beschreiben lässt.
So ließen sich mit den GGS-Daten (1. Welle 2004) als pflegebedürftig einstufen Personen, bei
denen drei Bedingungen gleichzeitig auftreten42:
1) sie sind eingeschränkt bei alltäglichen Aufgaben und Aktivitäten aufgrund physischer
oder mentaler gesundheitlicher Problemen oder Behinderungen;
2) die Einschränkung besteht bei ihnen bereits länger als 6 Monate;
3) sie brauchen fremde Hilfe bei persönlicher Körperpflege (beim Essen, ins Bett
gehen/aufstehen, Anziehen, Baden/Duschen oder Toilettengang).
Nach diesen Kriterien lässt sich der selbstberichtete Pflegebedarf in beiden Ländern 2004 mit
0,9 % und 0,6 % bei den 18 bis 79-jährigen russischen und deutschen Probanden beziffern. Von
den 60 bis 79-Jährigen können auf diese Weise entsprechend den russischen und deutschen
39 Haberkern 2009: 95. 40 Siehe Blinkert et al. 2013: 12. 41 GGS ist eine international vergleichende Langzeitstudie, die 18 bis 79-jährige Wohnbevölkerungen in
mittlerweile 20 Industrieländern repräsentativ abbildet. Zum Zeitpunkt der Verfassung dieser Arbeit standen
für wissenschaftlichen Gebrauch für Russland lediglich die Daten der 1. Welle (2004) zur Verfügung. 42 Die Kombination der Bedingungen entspricht in etwa den so genannten ‚Activities of Daily Living‘ – ADL.
Das sind Anziehen, Bewegung in häuslichem Raum, Baden/Duschen, Essenseinnahme, ins Bett
gehen/aufstehen oder Toilettengang. Die Einschränkung bereits bei einer dieser Tätigkeiten kann die
selbständige Lebensführung erheblich beeinträchtigen und eine Abhängigkeit von fremder Hilfe bedeuten.
25
Stichproben 3,4 % vs. 1,3 % als pflegebedürftig eingestuft werden, was zwar statistisch ein
geringer, aber dennoch ein höchst signifikanter Unterschied (Phi= 0,07***43) ist. In absoluten
Zahlen ausgedrückt stufen sich mehr als doppelt so viele Russen als pflegebedürftig ein als
Deutsche.
Schätzung der Dunkelziffer der Pflegebedürftigen in Russland (Status-Quo-Szenario)
unter den Gegebenheiten des deutschen Pflegesystems
Wie gesagt, liegen für Deutschland zahlreiche Modellberechnungen zur Entwicklung der
Pflegebedürftigenzahlen vor. In der Tat spiegeln diese Vorausrechnungen die Entwicklungen
der Leistungsempfängerzahlen, aber nicht das tatsächliche Ausmaß an Pflege- und Hilfsbedarf.
Man könnte einen Versuch wagen und die Dunkelziffer der Pflegebedürftigen in Russland
rechnerisch schätzen. Nehmen wir an, in Russland würde den Pflegebedürftigen nach einem
identischen Pflegebedürftigkeitsbegriff Zugang zum öffentlichen Pflegesystem gewährt. Dazu
müssen entweder die Prävalenz oder die altersspezifischen Pflegewahrscheinlichkeiten bekannt
sein und die künftige Altersstruktur berücksichtigt werden. Für Russland sind zwar
altersspezifische Pflegewahrscheinlichkeiten bisher nicht bekannt, Bevölkerungsprognosen
liegen jedoch vor.
Für Deutschland gibt es in der Wissenschaft, bei Statistikämtern und Versicherungen
unterschiedliche Kalkulationsgrundlagen, mit denen die Pflegewahrscheinlichkeit in
verschiedenen Altersgruppen und je nach Geschlecht festgestellt wird44. Ebenso existieren
verschiedene Annahmen über die zukünftigen möglichen Auswirkungen des Zugewinns an
Lebenserwartung auf die Pflegewahrscheinlichkeit im Alter. Die wichtigsten sind die
Medikalisierungs-, die Kompressionsthese und das „dynamische Gleichgewicht“45. Sie
versuchen demographische, medizinisch bedingte und sozio-ökonomische Einflussfaktoren zu
berücksichtigen. Im Wesentlichen geht es darum, ob eine weiter steigende Lebenserwartung
zukünftig zu einer höheren, geringeren oder konstant bleibenden Morbidität bzw.
Pflegebedürftigkeit führen wird.
43 (*) bedeutet, das Ergebnis ist nur tendenziell (p<0,1), * signifikant (p<0,05), ** hoch signifikant (p<0,01),
*** höchst signifikant (p<0,001). 44 Z.B. Blinkert/Klie 2004; Blinkert/Gräf 2009; Pu 2012; Gasche 2007; Ickler 2005. 45 Siehe dazu Pu 2012: 31ff.
26
Bei konstanten Prävalenzraten werden die Pflegefälle bis 2050 in Russland von derzeit 3,4 Mio.
auf knapp 4,2 Mio. steigen.
In Rahmen dieser Arbeit soll für Russland ein pragmatisches Basismodell entwickelt werden,
das altersspezifische Pflegerisiken von Deutschland auf Russland überträgt. Es hat folgende
Annahmen:
Es basiert auf der „Medium-Variante“ der Bevölkerungsvorausberechnung der UN
Department of Economic and Social Affairs - Population Division - (2015) mit den
Annahmen einer leichten Zunahme der Fertilität in Ländern mit weniger als zwei
Kindern pro Frau (wie Russland), einer steigenden Lebenserwartung und
Zuwanderung46. Danach wird zwar die Zahl der in Russland lebenden Menschen von
derzeit 146 Mio. bis zum Jahr 2050 auf 128,6 Mio. zurückgehen. Im Gegensatz dazu
wird die Zahl der Älteren jedoch moderat ansteigen.
„Status-Quo-Szenario“-Prävalenzraten - dabei geht man von konstanten
altersspezifischen Pflegerisiken über den Zeitverlauf aus. Als Grundlage wurden hier
die für Deutschland im Jahre 2007 auf der Basis von gesetzlichen und privaten
Pflegestatistiken berechneten Pflegewahrscheinlichkeiten genommen47.
Unterstellt man diese deutschen Pflegeprävalenzraten für die entsprechenden Altersgruppen,
wird der demographische Wandel dazu führen, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in Russland
von derzeit 3,4 Mio. (Anfang 2015) bis 2050 auf knapp 4,2 Mio. moderat ansteigen wird (Vgl.
Abb. 2)48. Die meisten davon sind im Alter von 60 Jahren und älter, nämlich 82,6 % oder 2,8
Mio. Pflegebedürftige. Die allein auf die demographischen Veränderungen rückführbare
Steigerung der Pflegeprävalenz beträgt somit 24,3 %. Dies entspricht einer Erhöhung des
46 Danach soll 2050 die Geburtenhäufigkeit in Russland bei 1,87 Kinder je Frau, die Lebenserwartung beider
Geschlechter bei 73,9 Jahren liegen und die Migration mehr als 100.000 jährlich betragen. 47 Pu 2012, Tab. 2 S. 24. 48 Es handelt sich hierbei um eine eigene sehr grobe Schätzung der Entwicklung der Pflegezahlen in Russland,
da selbst die öffentlich zugängliche Bevölkerungsstatistiken (Goskomstat 2016b, Tab. 14.1) keine
differenzierte altersspezifische Bevölkerungsdaten enthalten. Dort werden Menschen ab 70+
zusammengezählt. Auch die UN Bevölkerungsprognosen für Russland in 2050 sind lediglich für recht grob
zusammengefasste Altersklassen 0-14, 15-59, 60+ und 80+ vorhanden. Für diese Altersgruppen werden
durchschnittliche Pflegerisiken berechnet. Für Details siehe Anhang 1.
27
Anteils der Pflegebedürftigen an der Gesamtbevölkerung von 2,3 % (2015) auf 3,3 % im Jahr
2050.
Abb. 2: Gegenwärtiger und zukünftiger Pflegebedarf, Russland-Deutschland 2015 -2050
Modellgleichungen Zahl der Pflegebedürftigen*
(1) 𝑃𝐵𝑡𝑖= 𝑃𝐵𝑊𝑖 ∗ 𝐴𝐺𝐸𝑡𝑖
(2) 𝑃𝐵𝐺𝐸𝑆𝑖 = ∑ 𝑃𝐵𝑡𝑖 𝑘𝑖=1
𝑃𝐵𝑡𝑖 ∶ Zahl der Pflegebedürftigen zu Zeitpunkt t in der Altersgruppe i
𝑃𝐵𝑊𝑖: Pflegewahrscheinlichkeit in der Altersgruppe i
𝐴𝐺𝐸𝑡𝑖 : Zahl der Personen zum Zeitpunkt t in der Altersgruppe i
𝑃𝐵𝐺𝐸𝑆𝑖: Gesamtanzahl der Pflegebedürftigen zum Zeitpunkt t
𝑘: 16 Altersgruppen für den Zeitpunkt 2015 und 3 für 2050 (0-59,
60-79, 80 +).
*Die Autorin lehnt sich an die Darstellung von Blinkert/ Gräf (2009) an
28
1.2 Landestypische Versorgungssituationen
Konkreten landestypischen Ausgestaltungen von Pflegearrangements liegt ein Wechselspiel
zwischen (Wohlfahrts)Staat und Familie zugrunde. Dieses lässt eine große Spannbreite zu: (1)
die weitgehende Übernahme von Pflegeverpflichtungen für altersgebrechliche und
unterstützungsbedürftige Menschen durch den Staat, (2) eine teilweise Entlastung und
Förderung pflegender Angehörigen bei gleichzeitigem Akzent auf Familienpflege, (3) die
Überlassung/ Belassung der Pflege der Familie als „traditionelle“ Aufgabe, (4) die Rolle des
(Pflege)Marktes bzw. der Zivilgesellschaft in der Pflege.
In diesem Zusammenhang soll eruiert werden, welche Bedeutung private
Unterstützungsnetzwerke und der Staat in den deutschen und russischen Pflegesystemen haben.
Mit anderen Worten: Inwiefern werden die Pflegebedürftigen bzw. ihre Familien in beiden
Ländern von ambulanten oder stationären öffentlichen Pflegeangeboten unterstützt bzw.
entlastet?
Hierzu könnten wiederum die aktuellen Bevölkerungsumfragen Auskunft geben. Alternativ
bedient man sich der offiziellen Statistiken bzw. der oben geschätzten Prävalenzraten,
aufgeschlüsselt nach Versorgungsart. Die Vergleichbarkeit zwischen Russland und
Deutschland ist in beiden Fällen zwar eingeschränkt, je nach Datengrundlage kommt man zu
unterschiedlichen Verteilungen (die Argumente wurden oben bereits diskutiert), allerdings
lassen sich damit Aussagen zu den jeweiligen landestypischen Pflegearrangements sehr wohl
treffen.
Bezüglich Russland wird auf eine aktuelle, repräsentative Umfrage „Wer wird uns im Alter
versorgen?“ vom März 2016 Bezug genommen, die zum ersten Mal russlandweit die Situation
und den Bedarf an Altenpflege ins Visier empirischer Forschung nimmt und repräsentative
Aussagen ermöglicht. Es handelt sich um eine Studie der Nationalen Agentur für Finanzstudien
(NAFI)49. Der NAFI-Studie zufolge werden fast 93,5 % der pflegebedürftigen Menschen
russlandweit ausschließlich von ihren engen Verwandten versorgt. Lediglich 4 % der
Pflegebedürftigen in den betroffenen russischen Haushalten werden von staatlichen (stationären
oder ambulanten) Pflegediensten versorgt. 2 % der betroffenen russischen Familien
49 Antonjan 2016 –NAFI-Studie. Befragt wurden 800 Menschen in 140 Wohnorten und 42 Regionen Russlands.
Der statistische Fehler betrug laut den Autoren nicht mehr als 3,4 %.
29
beschäftigen private Pflegekräfte. Weniger als 1% nutzt Dienste der Anbieter von privaten
Pflegeheimen.
Für die Darstellung der Pflegearrangements in Deutschland dienen die Ergebnisse von
Haberkern (2009)50 zu den Daten des SHARE-Projekts (2004). Diese europaweite Panel-Studie
erforscht soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Bedürfnisse und Situationen von
Menschen über 50 Jahren und ihren Familien. So lag in Deutschland 2004 der Anteil der
Pflegebedürftigen im Alter 50+, die von Personen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld
gepflegt werden, bei etwa 58 %. Etwa 18 % der Pflegebedürftigen erhielten eine stationäre
Versorgung. Ca. jede fünfte pflegebedürftige Person wurde von der Familie und ambulantem
Pflegedienst versorgt. Und lediglich 3 % wurden allein von ambulanten Pflegediensten betreut.
Weiterhin sollen die geschätzten Pflegeprävalenzen für Russland, kombiniert mit den
russischen Statistiken der stationär bzw. ambulant gewährten Dienstleistungen, den deutschen
Pflegestatistiken nach Versorgungsform gegenübergestellt werden. Auch hier lässt sich je nach
prozentualem Anteil der verschiedenen Versorgungsart(en) über den gesellschaftlichen
Umgang mit der Pflege in den beiden Ländern ein erster Eindruck gewinnen.
Abb. 3: Pflegebedürftige 2015 nach Versorgungsart, in Deutschland und Russland
50 Haberkern 2009, Abb. 5.8, S. 96.
30
Die Pflege ausschließlich durch (Familien-)Angehörigen wird in Russland deutlich häufiger
(78 %51 vs. 49 %) als in Deutschland geleistet. Umgekehrt ist in Russland die vollstationäre
Heimunterbringung im Pflegefall deutlich seltener (7 % vs. 27 %). Die Quote der ambulant
Versorgten in Russland, hier im „engeren Sinne“ als Anteil der geleisteten sanitäts-
hygienischen Maßnahmen (15 %), liegt unter jener in Deutschland (24 %) (siehe Abb. 3). Diese
Schätzung entspricht den Ergebnissen einer russischen Befragung aus dem Jahr 2007: ein
Viertel der versorgungsbedürftigen Alten nehmen Dienstleistungen von ambulanten
Sozialdiensten oder der stationären Pflege in Anspruch. Die Versorgung der großen Mehrheit
(68-73 %) wird meistens von der Familie selbst gesichert52.
Fassen wir zusammen: Unabhängig von der Datengrundlage wiederholt sich ein
unverkennbarer Trend: das gesellschaftstypische Pflegearrangement in Russland wird massiv
zu Lasten der Familie organisiert. Auch in Deutschland hat Familienpflege vor anderen
Pflegearrangements Vorrang. Etwas (mehr als) die Hälfte der deutschen Familien mit
pflegebedürftigen älteren Angehörigen entscheiden sich für die Familienpflege (d.h.
ausschließlich durch Familienmitglieder, zum geringeren Grad durch vertraute Personen aus
dem sozial nahen Umfeld). Und dies trotz der Pflegeversicherung, die ein Teil der Pflegekosten
übernimmt, und dies trotz des ausgebauten Markts für professionelle Pflegedienstleistungen,
der gesetzliche Möglichkeit schafft, zwischen der Familienpflege und verschiedenen Typen
öffentlich geförderter professioneller pflegerischer Leistungen auswählen zu können. Warum
ist es so und welche Motivationen bewegen die Pflegeentscheidungen?
Weiterhin steht fest, dass die stationäre Versorgungsform in Russland die große Ausnahme
bildet. Auch in Deutschland wird diese Pflegeform bislang nur von einem geringeren Anteil
(ein Fünftel bis ein Viertel) der Pflegebedürftigen in Anspruch genommen. Ferner greifen nicht
allzu viele Familien in Deutschland und Russland auf eine ambulante Pflegeversorgung - wie
erwartet - zurück. Dies müsste in beiden Ländern einer genauen Analyse unterzogen werden,
bevor man über diese Art der Versorgung in beiden Ländern etwas sagen kann.
Wie wird die Pflege in 20-40 Jahren aussehen, wenn die Generationen von Babyboomern und
Generation X alt und gebrechlich sein werden? Welche Auswirkungen und Folgen haben
51 Dieser Anteil ist geschätzt als Differenz zwischen der gesamten Anzahl der Pflegebedürftigen und den
Anteilen der stationären und ambulanten Pflegequoten. 52 Umfrage des Unabhängigen Instituts für Sozialpolitik im Rahmen des Projekts „Eltern und Kinder, Männer
und Frauen in Familie und Gesellschaft“, zit. n. Ovcharova 2010: 212.
31
gesellschaftliche Prozesse wie Individualisierung, fortschreitender technologischer Fortschritt
und Strukturwandel der Arbeitswelt auf die pflegekulturellen Orientierungen der heutigen und
zukünftigen Generationen? Und wie beeinflussen demographische Entwicklungen diese
Prozesse? Das sind aktuelle Fragen, welche die Menschen und die Politik beschäftigen.
Der Vergleich der Pflegearrangements in beiden Ländern macht deutlich: es gibt viele
Möglichkeiten, mit dem steigenden Pflegebedarf umzugehen. Wichtig für die Ausgestaltung
einer zeitgemäßen Pflegepolitik ist es, die demographischen, sozialen und strukturellen
Makroprozesse und die damit einhergehenden veränderten Anforderungen und Bedingungen
des „modernen Lebens“ zu berücksichtigen.
1.3 Demographische Entwicklung in Russland im Vergleich zu Deutschland und ihre
Implikationen auf die Familienpflege von heute und in der Zukunft
Stellt die Alterung der Bevölkerung in Russland ein ähnlich gewichtiges Problem dar wie in
Deutschland? Ein paar demographische Statistiken sollen Trends und Verhältnisse in den
beiden Ländern verdeutlichen.
Bevölkerungsrückgang
Seit längerem beobachtet man in Russland mit Besorgnis die demographische Krise, nämlich
den Bevölkerungsrückgang. Auf der politischen Ebene versucht man z.B. mittels des
„Mutterkapitals“53 gegenzusteuern, Der Bevölkerungsrückgang in Russland resultiert aus einer
„geringen Geburtenrate, der europaweit niedrigsten Lebenserwartung, hohen Sterberaten und
der Alterung der Gesellschaft“54. Dabei sind für das territorial größte Land der Erde enorme
regionale Disparitäten typisch55. Die Regionen sind vom Ausmaß des Bevölkerungsrückgangs
sehr unterschiedlich betroffen. Vor allem die Peripherie Russlands entvölkert sich im Zuge
53 Mutterkapital ist eine familienpolitische Maßnahme zur Ankurbelung des Geburtenverhaltens im
gegenwärtigen Russland. Es handelt sich hierbei um eine Prämie, die den Familien ab dem zweiten und jedem
weiteren neugeborenen Kind zusteht. Diese ist zweckgebunden, z.B. für den Kauf einer Immobilie, die
Ausbildung des Kindes oder als Beitrag für die Rentenkasse von Mutter oder Vater. 54 Lindner 2008. 55 Zubarevich 2012.
32
starker Abwanderung bei geringer Zuwanderung56. Junge Menschen verlassen vor allem
ländliche und periphere Regionen Russlands, weil es für sie dort keine Arbeit und wenig
Perspektiven gibt. Zurück bleiben die älteren Menschen, viele alleinstehend, ohne notwendige
Unterstützung vom Familienverband oder dem Staat. Eine große Zahl von ihnen braucht nicht
nur medizinische Hilfe, sondern ist auf einfache Grundpflege und Hilfe rund um das Haus
angewiesen. Das bedeutet, dass Russland als Übergangsgesellschaft auch eine alternde
Gesellschaft ist. Dennoch geht es „einen demographischen Sonderweg“57.
Fertilität
Der Trend sinkender Geburtenraten führt sowohl in Russland als auch in Deutschland zu einer
Alterung der Gesellschaft. Die niedrigeren Geburtenraten sind in Russland nicht nur der Periode
des Systemumbruchs von 1986-1999 geschuldet, sondern begannen bereits in den 1960er
Jahren in der damaligen Sowjetunion. Sie waren jedoch regional und ethnisch unterschiedlich
ausgeprägt und zunächst noch annähernd ausgeglichen58. Die Geburtenrate je Frau betrug kurz
vor dem Systemumbruch mehr als 2 Kinder. Sie sank Mitte der 1990er Jahre infolge der
zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheit auf 1,2 Kinder59. Seit 2008 steigen
die Geburtenraten (1,5 Kinder) wieder an. Das wird jedoch den seit längerem einsetzenden
Trend zur Alterung der Bevölkerung nicht aufhalten können. In Westdeutschland verharrt die
Geburtenrate dagegen in den letzten 25 Jahren statistisch auf dem niedrigen Niveau von 1,35-
1,39 Kindern pro Frau. Sie liegt dabei weit unter dem Reproduktionsniveau von 2,1 Kindern
pro Frau60.
Lebenserwartung
Auf dem Höhepunkt des gesellschaftlichen Umbruchs (Anfang-Mitte der 1990er Jahre) ist die
Lebenserwartung (beider Geschlechter) in Russland deutlich gesunken, und zwar von ca. 65
Jahren für Männer und 74 Jahre für Frauen im Jahre 1987 auf ca. 58 Jahre (M) und 72,5 (F) in
den Jahren 1994-95. Bei den Männern kann man die frühe Mortalität durchaus als dramatisch
56 Lindner 2008. 57 Ebd., S. 8. 58 Polyan 2001: 57. 59 Zhdanow et al. 2010. 60 In der Demografie bezeichnet Reproduktion die Aufrechterhaltung der Bevölkerung durch Erzeugung von
Nachwuchs (Geburten).
33
bezeichnen (siehe Anhang 2). Letztendlich zeigt die Lebenserwartungskurve neuerdings wieder
steigende Tendenz. Dies kann aber den gewaltigen Einbruch in den Jahren 1994-95 bis 2010-
12 noch nicht ausgleichen. Damals starben russische Männer im Durchschnitt zwei Jahre vor
Erreichen des gesetzlichen Rentenalters von 60 Jahren!
Im selben Zeitraum ist die Lebenserwartung in Deutschland dagegen gestiegen. In Deutschland
kletterte sie von knapp unter 75 Jahren (1985-1990) auf 80 Jahre (2005-2010) mit weiter
steigender Tendenz. Zwischen den beiden untersuchten Ländern wird voraussichtlich die
Lebenserwartungsdifferenz von etwa 12 Jahren bleiben, wenn man den UN-
Bevölkerungsprognosen folgt61.
Weitere demographisch bedingte Engpässe des heutigen und zukünftigen familialen
Pflegepotentials ergeben sich aus der geschlechtsspezifischen Kluft in der Lebenserwartung.
Die Lücke zwischen der Lebenserwartung von Männern und Frauen wird sich voraussichtlich
zukünftig von 13,5 (2005-2010) auf 9 Jahre (2045-2050)62 verringern. Dadurch wird sich die
Zahl der russischen Witwen ebenfalls reduzieren, was einen Anstieg in der Pflegeversorgung
durch die Ehepartner erwarten lässt63. Diese Entwicklung würde aber nur minimal zur
Sicherung des Pflegebedarfs beitragen, da Frauen in der Regel ihre Ehemänner überleben und
erst im steigenden Alter Langzeitpflege brauchen.
Anzahl der Älteren zur Anzahl der potentiellen Helfer
Neben der niedrigen Geburtenrate sehen sich beide Länder mit dem Problem der Alterung der
Bevölkerung konfrontiert. 2015 lag das Medianalter64 in Russland bei 38,7 Jahren, in
Deutschland bei 46,2 mit weiter steigender Tendenz (siehe Anhang 3). Der Anteil älterer
Personen (60 +) in Russland wächst, auch wenn die „Alten noch recht jung sind“65. Die
prozentualen Veränderungen des Anteils der älteren Bevölkerung wurden in den Zensus 2002
und 2010 gemessen: während der Anteil der Älteren im „dritten Alter“ (die 60-74 Jährigen) um
13 % zurückgegangen ist, stieg der Anteil der Personen im „vierten Alter“ (75 +) um 16 %, und
61 UN (2015) - World Population Prospects. 62 Edd. 63 Ovseiko (2008) - OIA. 64 Medianalter ergibt sich, wenn die Bevölkerungspyramide in 2 gleiche Hälfte aufteilt wird: 50 % der
Bevölkerung sind jünger und 50 % älter das das errechnete Medianalter. 65 Varlamova/Sinyavskaya 2015.
34
der Anteil der 80-Jährigen und noch Älteren um das 1,5fache66. Auch in Deutschland ist der
Anteil älterer Menschen an der Gesamtgesellschaft vergleichsweise hoch. Mit einen besonders
starken Anstieg rechnet man zukünftig in der relativen Anzahl der Hochaltrigen über 80-
Jährigen (siehe Anhang 4).
Auch wenn die Zahl der Personen im Alter zwischen 45 und 65 Jahren, die für ihre
pflegebedürftigen Eltern potentiell sorgen könnten, in Deutschland bis 2030 noch leicht
zunehmen wird, steigt die Zahl hochaltriger Menschen mit dem in der Regel höchsten
Pflegerisiko überproportional an67. Für Russland liegen Bevölkerungsprognosen, differenziert
nach verschiedenen Altersgruppen, bedauerlicherweise nicht vor oder sind nicht öffentlich
zugänglich. Aussagen über „Middle-Agers“ (40-65 Jährige), die typischerweise als
„informelles Pflegepotential“ gelten, sind daher nicht möglich. Die Größendimension und die
Richtung der Trends lässt sich jedoch durchaus voraussagen: Der Anteil der 15-59 Jährigen
wird bis 2050 in beiden Ländern jeweils um etwa 10 % zurückgehen, in Russland von 63,2 %
im Jahre 2015 auf 53,5 % im Jahre 2050, in Deutschland von 59,5 % im Jahre 2015 auf 48,3 %
im Jahre 2050 (siehe Anhang 5). Beide Staaten werden daher in den kommenden Jahren sowohl
von einem sinkenden informellen Pflegepotential als auch von einem steigenden Pflegebedarf
betroffen sein.
Gesundheitszustand der potentiellen Pflegepersonen und der älteren Bevölkerung
Sowohl der Pflegebedarf als auch die Versorgungssituation werden vom Gesundheitszustand
der Bevölkerung maßgeblich beeinflusst. Diese Annahmen können an dieser Stelle jedoch nur
gestreift werden. Die meisten älteren Menschen in Russland können nicht als gesund eingestuft
werden (siehe Anhang 6)68. Das lässt darauf schließen, dass Pflegebedürftigkeit in Russland
früher und häufiger eintreten dürfte. Hinzu kommen in Russland Sonderprobleme wie
übermäßiger Alkoholkonsum und Drogenmissbrauch. Auch die nicht einschätzbaren Folgen
der Umweltverschmutzung in Russland könnten bei steigender Lebenserwartung mit einer
sinkenden Anzahl an gesunden Jahren einhergehen. Diese Umstände würden zu einem erhöhten
Pflegebedarf führen, der aber eventuell nicht befriedigt werden kann, weil potenzielle
66 Zit. n. Varlamova/Sinyavskaya 2015. 67 Blome et al. 2008: 172. 68 Vgl. auch mit den Ergebnissen der „Future of Retirement“-Umfrage der HSBC-Versicherung, die ähnlich
große Unterschiede im Gesundheitszustand der älteren Bevölkerung in Russland und Deutschland findet.
35
Pflegepersonen aufgrund eigener gesundheitlicher Probleme an der Pflegeübernahme gehindert
sind.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl Russland als auch Deutschland alternde
Gesellschaften sind, wobei für Deutschland bereits weiter fortgeschrittene Prozesse der
Alterung nachweisbar sind. Für Osteuropa, in dem die Bevölkerungsalterung erst viel später
einsetzte als in anderen Teilen Europas, prognostiziert man sogar zukünftig aufgrund der
soziodemographischen Entwicklung der 1990er und 2000er Jahre (dramatischer Rückgang der
Fertilität, massenhafte Abwanderung vieler jungen Menschen und allmählich steigende
Lebenserwartung) eine viel schnellere Alterung der Bevölkerung als in West- oder
Nordeuropa69.
Unter Berücksichtigung der rein demographischen Entwicklungen in den beiden Gesellschaften
bei angenommen gleichen bzw. gleichbleibenden Pflegerisiken ist der aktuelle Pflegebedarf in
Russland größer als in Deutschland (in absoluten Zahlen). Relativ betrachtet ist die
Pflegeprävalenzrate im heutigen Russland niedriger und wird sich in der Zukunft nicht so
dramatisch entwickeln wie in Deutschland. Für den Anstieg des Pflegebedarfs in Deutschland
sorgen auch die letzten Pflegereformen70.
Problematisch unter dem Gesichtspunkt der Pflegeversorgung ist zurzeit die deutlich niedrigere
Lebenserwartung der russischen Männer, die sich nicht so schnell ändern wird. Zwar erledigt
sich durch den frühen Tod der Männer das Pflegeproblem für die männliche Bevölkerung
gewissermaßen von selbst, allerdings fehlt den verbliebenen Witwen die Hilfs- und
Pflegeunterstützung ihrer Partner. Die Abdeckung des Langzeitpflegebedarfs durch
Partnerpflege wird in Russland wahrscheinlich in den kommenden Jahrzehnten etwas
zunehmen, das heißt, die Lebenserwartung von Männern wird voraussichtlich schneller an-
wachsen als jene von Frauen71. Russland altert wie alle Industrienationen der Welt, und zwar
in dreierlei Hinsicht: absolut, relativ und durch die Zunahme der Hochbetagten.
69 Nach Einschätzung von Eastern-European Ageing Societies in Transition Network (EAST). 70 Seit den Pflegeverstärkungsgesetzten I (2015) und II (2016) werden Bedürfnisse der Demenzkranken
vermehrt von der Pflegeversicherung berücksichtigt. Bis Anfang 2017 sollen in erster Linie Menschen mit
Demenz schrittweise die gleichen Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung wie dauerhaft körperlich
Kranke erhalten. 71 Vgl. Ovseiko (2008) - OIA.
36
Russlands demographisches Problem besteht nicht darin, dass es dort so viele alte Menschen
gibt, sondern so viele Personen im Ruhestand72, deren Renten und sonstigen Vergünstigungen
den staatlichen Pensionsfond belasten, der nicht von den Arbeitgebern „mitgeschultert“ wird73.
Eine alternde Bevölkerung und eine wachsende Anzahl von Personen im gesetzlichen
Rentenalter, die einen großen Anteil an der Bevölkerung Russlands bilde, führen zusammen
mit dem demografischen Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern und dem Erhalt
bestehender stereotypischer und gerontophober Altersbilder dazu, dass Russland mit
ernsthaften politischen, fiskalischen und sozialen Risiken rechnen muss, so warnt das
Analytische Zentrum bei der Regierung Russländischer Föderation 2015.
1.4 Auswirkungen sozialer Wandlungsprozesse auf das informelle Pflegepotential -
Forschungsbefunde in Deutschland
Während offizielle Pflegestatistiken noch deutlich zugunsten einer weitverbreiteten Pflege in
der Familie zu sprechen scheinen, zeichnet sich ein Wandel in der Pflege ab, der das deutsche
Pflegesystem vor massive Herausforderungen stellen dürfte. Sowohl Prognoseberechnungen
als auch empirische Studien sagen dies voraus, die den Wandel von "pflegekulturellen
Orientierungen" in der deutschen Sozialstruktur nachweisen.
Modellsimulationen der künftigen Entwicklung der Pflegearrangements:
Vom gesellschaftlich verfügbaren Pflegepotenzial hängt es ab, ob die Versorgung
pflegebedürftiger Menschen durch die Familie wie bisher gesichert werden kann und/oder in
welchem Umfang eine stationäre Versorgung und professionelle Hilfen benötigt wird. Auf der
Basis von Vorausberechnungen zu den zukünftigen demographischen Verhältnissen von
Pflegebedarf und informellem Pflegepotenzial und unter Berücksichtigung von Annahmen über
die Entwicklungen in der Frauenerwerbstätigkeit, den Familien- und Haushaltsstrukturen sowie
den institutionellen Veränderungen wurden für Deutschaland verschiedene Szenarien der
72 Dies produziert eine s.g. „demographische Belastung“ bzw. einen höheren „Altersabhängigkeitsquotienten“
oder das Verhältnis der wirtschaftlich abhängigen alten Menschen einer Population zu 100 Personen im
erwerbsfähigen Alter. In Russland und Deutschland unterscheidet sich das Renteneintrittsalter deutlich. In
Russland liegt dies für Frauen bei 55 und für Männer bei 60 Jahren. In Deutschland lag das Regeleintrittsalter
für die untersuchten Altersgruppen 2010 bei 65 Jahren. 73 Grigorieva 2014.
37
Pflegearrangements bis 2050 berechnet. Sie alle zeigen, eine „Scherenentwicklung“ zwischen
der steigenden Zahl der Pflegebedürftigen und dem sinkenden informellen Pflegepotenzial74.
Man kann kaum damit rechnen, dass „alles bleibt wie es war“ (Szenario 2 mit den Annahmen:
Quoten für die stationäre und häusliche Versorgung bleiben konstant), was zukünftig nur eine
„moderate“ Steigerung der stationär Versorgten (von 783.000 im Jahre 2015 auf 1,4 Mio. 2050)
bedeuten würde75. Wenn Pflegearrangements unverändert bleiben sollen, müsste die
„gesellschaftliche Pflegebereitschaft“ um mehr als das Zweifache ansteigen76, was völlig
unrealistisch ist. Vielmehr muss man von weiteren demographischen und sozialen
Veränderungen des informellen Pflegepotenzials ausgehen. Selbst institutionelle
Verbesserungen (Szenario 4, in dem häusliche Pflege finanziell attraktiver bleibt als stationäre
Versorgung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch lokale Infrastrukturen und
arbeitsmarktpolitische Regelungen verbessert wird77), können an der zukünftigen Verringerung
des informellen Pflegepotenzials wenig ausrichten. Der Anteil der häuslich versorgten
Pflegebedürftigen wird dramatisch abnehmen. Der „Sog ins Pflegeheim“ wird sich mit den
veranlassten pflegepolitischen Innovationen nach 2020 nicht mehr bremsen, sondern höchstens
etwas abmildern lassen. Stationäre Versorgung dürfte künftig zum Normalfall werden.
Schätzungsweise werden 2050, je nach Szenario, 3 bis 3½ Mio. von insgesamt 4,5 Mio.
Pflegebedürftigen in deutschen Heimen gepflegt. Gegenüber den offiziellen Pflegestatistiken
2015 (783.000 Fälle stationär versorgter Pflegebedürftiger) stellt diese Prognose eine
Steigerung etwa um den Faktor 4 dar!78 Mit der Ausweitung des anspruchsberechtigten
Personenkreises durch das Pflegestärkungsgesetz II seit 2017 gibt es neue Schätzungen,
nämlich 5,32 Mio. Pflegebedürftige 205079.
Diese Modelle konnten zwar nicht die Erkenntnis berücksichtigen - was aber diverse
Untersuchungen im Zeitraum von 1998 bis 2007 im Kontext des „Freiburger
Forschungsverbunds Soziale Sicherheit im Alter“ belegen - dass die Versorgungssituation mit
74 Blinkert/Gräf 2009. Siehe auch weitere ähnliche Modellierungen zur Voraussage der Zahl der Pflegefälle
und deren Versorgungschancen von König et al. 2001 - DIW. 75 Blinkert/Gräf 2009: 22. 76 Blinkert 2008: 17. 77 Im Übrigen wurden inzwischen viele dieser Expertenvorschläge im Rahmen des Grundsatzes – häusliche vor
stationärer Pflege (siehe Expertise im Auftrag der Enquéte-Kommission Demographischer Wandel des
Deutschen Bundestages vom Blinkert/Klie 2001) durch die Neuregelungen in der Pflege
(Pflegestärkungsgesetze I bis III) von der deutschen Regierung gesetzlich veranlasst. 78 Blinkert/Gräf 2009: 26. 79 Siehe BMG (2017a): Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung.
38
der Verteilung gesellschaftlicher Chancen, dem Fehlen oder Vorhandensein von Ressourcen zu
tun hat80. Dieser Befund soll anhand des bisherigen Forschungsstandes näher erläutert werden.
Bewegungen in der Sozialstruktur bzw. Milieuverschiebungen und Abnahme des
Pflegepotentials
Die Frage nach der Adäquanz der traditionellen Erwartungen intergenerationaler
Familienpflege im Zuge des soziokulturellen Wandels, insbesondere ob das Risiko der
Pflegebedürftigkeit auch in Zukunft durch informelle Unterstützungsnetze gesichert werden
kann, wurde in der deutschen Pflegeforschung81 gestellt. In mehreren Studien in verschiedenen
Regionen Deutschlands (in Munderkingen, Kassel, den Landkreisen Annaberg und Unna)
konnten Zusammenhänge zwischen sozialstrukturellen und soziokulturellen Merkmalen der
Bevölkerung bzw. Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Milieus82 und der Wahrscheinlichkeit
einer Pflegeübernahme nachgewiesen werden. Es zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen
Orientierungen auf „moderne“ vs. „traditionelle Lebensentwürfe“ und einem höheren vs.
niedrigeren sozialen Status in Hinblick auf die Bereitschaft zur häuslichen Pflege. Danach war
das Pflegepotential hauptsächlich in den Milieus verbreitet, die im Verlauf der
Modernisierungsprozesse (insb. fortschreitende Individualisierung) zahlenmäßig zurückgehen
(insb. „traditionsbewusstes Unterschichten-Milieu“). Häusliche Versorgung ist selten in jenen
Milieus zu beobachten, die an Bedeutung gewinnen, z.B. dem „liberal-bürgerlichen Milieu“83.
Eine abnehmende Tendenz in den Milieus, von denen eine hohe Pflegebereitschaft zu erwarten
ist, und die Zunahme der Milieus, für die Elternpflege nicht in den selbstbestimmten
Lebensentwurf der „Moderne“ passt, führt logischerweise zur Verknappung des familialen
Pflegepotentials. Während 1982 noch 45 % der westdeutschen Bevölkerung dem
„traditionellen Unterschichts-Milieu“ zugeordnet werden konnten, waren es 2000 nur noch die
Hälfte (23 %). In der gleichen Zeit stieg der Anteil des liberal-bürgerlichen Milieus von 5 auf
20 %84.
80 Blinkert/Klie 2008: 238. 81 Z.B. Blaumeiser et al. 2001; Blinkert/Klie 2004, 2006. 82 Siehe zum Konzept soziale Milieus Kap. 2.2.1. 83 Blinkert/Klie 2004, 2006. 84 Blinkert/Klie 2004: 130ff. Ähnlich finden andere Milieu-Ansätzen, dass im Laufe von drei Jahrzenten im
Rahmen der „kulturellen Pluralisierung“ der Sozialstruktur „traditionelle“ Milieus zugunsten „moderner“
abgenommen haben. Während das vertikale Gerüst der (west)deutschen Sozialstruktur sich seit drei
Jahrzehnten kaum verändert hat, sorgen vor allem horizontale Auffächerungen, besonders in der Mitte der
deutschen Gesellschaft, für Milieuverschiebungen, vgl. dazu Diskussion bei Geißler 2014: 115f. und Kap.
2.2.1 in dieser Arbeit.
39
Ebenso ergaben diese Studien, dass variierende Motivationen und Präferenzen der potentiellen
Pflegepersonen für die Bereitschaft zur häuslichen Versorgung älterer Angehöriger bedeutsam
sind. Sie zeigten auch, wie diese Motivationen innerhalb der Sozialstruktur eines Landes
variieren85. Ob sich die Stichhaltigkeit dieser Ergebnisse in einem osteuropäischen Kontext
belegen lässt und ob sich möglicherweise die Beweggründe pro und gegen Selberpflegen
zwischen den Ländern unterscheiden, dazu lassen sich keine ländervergleichenden Beiträge
finden.
Umfangreiche, aber gemischte Forschungsbefunde in Deutschland
Generell lässt sich für die deutsche Gesellschaft ein großes Interesse an den Themen Alter und
Pflege und Unterstützung zwischen den Generationen konstatieren. Die „Pflege im Wandel“
könnte als Leitmotiv des deutschen Diskurses dienen. Dieser lässt sich in kontroversen
Forschungsbefunden, in sich wandelnden Konzepten zur Untersuchung der Beziehungen
zwischen den Generationen innerhalb der Familien (siehe Kap. 2.1.1) und sich verändernden
Leitbildern des Alterns (siehe Kap. 4.4.2) abbilden. Diverse Forschungsstudien greifen die
Brisanz des Pflegethemas in ihren Überschriften auf: „Lebenslange Solidarität?
Generationenbeziehungen zwischen erwachsenen Kindern und Eltern“86, „Solidarität in
Gefahr? Pflegebereitschaft und Pflegebedarfsentwicklung im demografischen und sozialen
Wandel“87 und „Noch ist häusliche Pflege Familiensache“88, um nur ein paar Beispiele zu
nennen.
Forschungen zeigen den Trend auf, dass sich familiale Generationensolidarität nicht aufgelöst
hat, weil noch ausgeprägte Austauschmuster in den Unterstützungshilfen und im Kontakt
zwischen den Familiengenerationen nachweisbar sind. Auch emotionale Bindungen scheinen
nicht verloren gegangen zu sein. Die Intensität der Familienunterstützung schwächt sich jedoch
tendenziell ab89. Immer mehr werden instrumentale Aufgaben in der Langzeitpflege von
Familien an die Wohlfahrtsinstitutionen delegiert. In Westdeutschland werden bereits
„brüchigere Generationenbeziehungen“ bzw. ein eher lockerer werdendes Verhältnis zwischen
Eltern und ihren Kindern diagnostiziert. Für Ostdeutschland rechnet man langfristig mit
85 Blinkert/Klie 2004: 98ff., 2006: 40ff. 86 Szydlik 2000. 87 Blinkert/Klie 2004. 88 Mager/Eisen 2002. 89 Szydlik 2000.
40
ähnlichen Entwicklungen: die bisher noch stärker ausgeprägten Unterstützungsbeziehungen
zwischen den Generationen in den ostdeutschen Familien werden sich mit dem sozialen Wandel
verändern90.
Auf den Wandel in den Pflegeerwartungen in Deutschland deuten folgende Forschungsbefunde
hin: Nach einer Studie aus dem Jahr 2006 schien nur für 44 % der 40- bis 65-jährigen Deutschen
die eigene Pflegeversorgung gesichert zu sein. Fast ein Drittel verneinte die Pflegesicherung,
ein Viertel wusste nicht wie ihre Pflegeversorgung im Ernstfall aussehen würde. Versorgung
wird in der Regel von Angehörigen erwartet, am häufigsten von Partnern oder erwachsenen
Kindern91. Ob diese immer die Versorgung leisten können oder wollen? Die Allensbacher
Studie „Frauen der Sandwich-Generation“ berichtet, dass 60 % der 40 bis 59-jährigen
deutschen Frauen ihren Kindern im Alter weder finanziell zur Last fallen, noch von ihnen
gepflegt werden wollen. Von denjenigen, die einen pflegebedürftigen Angehörigen haben,
wollten es sogar 69 % nicht92. Ferner spricht die These einer „umgekehrten Privilegierung“
bestimmter sozialer Milieus hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, von Angehörigen gepflegt zu
werden, für den Wandel in den Pflegeerwartungen. Die sozial begünstigten Milieus müssen im
Falle einer Pflegebedürftigkeit eher mit einer Benachteiligung hinsichtlich einer Familienpflege
rechnen, die weniger privilegierten sozialen Gruppen können dagegen mit größerer
Wahrscheinlichkeit Pflege durch Angehörige erwarten. Die Bevölkerungsgruppen mit
niedrigerem Status haben häufiger geeignete private Unterstützungsnetzwerke, auf die sie im
Falle der Pflege zählen können, die Milieus mit individualisierten Lebensentwürfen dagegen
eher seltener. 56 % der Angehörigen des liberal-bürgerlichen Milieus akzeptieren die
Versorgung im Pflegeheim. Im Vergleich dazu wollen im traditionellen Unterschichten-Milieu
weniger als ein Drittel (29 %) sich mit dem Gedanken anfreunden, sich auf ein Pflegeheim
einzulassen93.
Weiterhin werden im Kontext der „Pflegewandel“-These familienstrukturelle Veränderungen,
die Zunahme an geographischer Mobilität und Wohnentfernungen zwischen den familialen
Generationen, steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen, veränderte Motivationen und
Präferenzen der Akteure aufgeführt. Selten werden jedoch im Zusammenhang mit der
sinkenden Bereitschaft zur traditionellen Angehörigenpflege explizit die veränderte soziale
90 Schupp/Szydlik 1997: 1; Szydlik 2000: 246. 91 Blinkert/Klie 2006: 60f. 92 Bild der Frau (2015) - Allensbacher IFD-UMFRAGE 6299, Schaubild 69, S. 86. 93 Blinkert/Klie 2004: 119-120.
41
Subjektivität und „neuere“ Selbstentfaltungsansprüche der Subjekte an ihre Arbeit und generell
an die Gestaltung des eigenen Lebens in einer modernen Gesellschaft thematisiert.
Insgesamt lässt sich aus dem deutschen wissenschaftlichen Diskurs die Erkenntnis gewinnen,
dass man nicht von einer „Krise“ der Unterstützung zwischen den jüngeren und älteren
Generationen reden kann, wohl aber von einem Wandel94. Dasselbe gilt für die Solidarität im
Allgemeinen, es deutet nichts auf ein Ende der Solidarität hin95. Es kann lediglich von „einem
Wandel“ die Rede sein, nämlich z.B. von „Nahraumsolidarität (wie diese sich in der
Pflegbereitschaft zeigt) hin zur „Fernraumsolidarität“ (als bürgerschaftliches Engagement für
Belange des Allgemeinwohls)96.
Das Thema der „Familienpflege“ im Zeitalter der Individualisierung und Globalisierung ist
daher brisant, da Formen der Familien- und Generationenbeziehungen sowie Vorstellungen
über diese einem ständigen Wandel unterworfen sind. Damit stellt sich die Frage, wie sich die
Familienpflege weiter entwickeln wird.
Welchen Stellenwert hat das Thema (Angehörigen)pflege dagegen in der russischen
Sozialforschung? Gibt es Untersuchungen über die Auswirkungen des sozialen Wandels auf
das Potential zur Familienpflege in Russland? Diese Fragen sollen im nächsten Abschnitt
anhand des bisherigen Forschungsstandes beleuchtet werden.
1.5 Forschungsdefizite in Russland zum Thema Pflege älterer Angehöriger
Im Unterschied zu Deutschland muss man in Russland mangelndes Interesse und
Forschungsdefizite zum Thema Versorgung von pflegebedürftigen Älteren allgemein und
speziell aus der Sicht der Angehörigen konstatieren. Hier kann nur exemplarisch auf ein Paar
Studien hingewiesen werden.
Obwohl das Thema soziale Versorgung der Älteren im neuen Millennium in Russland rege
erforscht wird, steckt die eigentliche (sozialwissenschaftliche) Pflegeforschung noch in den
Kinderschuhen. Mehrere Dutzend Dissertationen und Forschungsarbeiten sind bereits bis dahin
94 Vgl. Roth 2009. 95 Krüger 1999, 2001. 96 Blinkert/Klie 2004, 2006.
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veröffentlicht worden. Sie analysieren sowohl die soziale Lage der Älteren97 als auch die
Qualität der staatlichen sozialen Dienstleistungen und problematisieren die Befriedigung der
verschiedenen Bedürfnisse von Älteren98. In der ambulanten Versorgung Älterer erstreckt sich
der untersuchte Hilfebedarf an öffentlichen sozialen Dienstleistungen und Sozialhilfe
gewöhnlich auf Weiterqualifizierung, berufliche Umorientierung und Stellensuche der (noch)
aktiven Teile der älteren Bevölkerung. Aber auch die Verbesserung ihres materiellen und
psychologischen Zustandes bis hin zur häuslichen Betreuung der auf fremde Hilfe
angewiesenen Älteren (der eigentlichen Pflegebedürftigen) wird thematisiert. Solche breit
definierten Problemstellungen in den Forschungsarbeiten stehen im Übrigen im Einklang
sowohl mit dem allumfassenden sozialgesetzlichen Begriff der „Bedürftigkeit in verschiedenen
Formen der sozialen Versorgung“ (siehe Kap 3.3.1) als auch der institutionellen Struktur des
staatlichen sozialen Versorgungssystems, das pauschal Probleme der Älteren in sämtlichen
Lebenslagen zu lösen sucht99. Das kann der Grund sein, warum das Thema „Bedarf an
Langzeitpflege und generell Versorgung der pflegebedürftigen Älteren“ kaum erforscht ist oder
sich nur auf medizinische Aspekte100 oder stationäre Versorgung101 beschränkt. Meistens ist
dies nur auf lokaler (kommunaler) oder regionaler Perspektive abgebildet102. Es kristallisiert
sich aber auch heraus, dass die Selbstverständlichkeit der Altenpflege als
Familienangelegenheit weder in der Öffentlichkeit noch in der Wissenschaft kaum in Frage
gestellt wurde und vielleicht deshalb auch kein Untersuchungsgegenstand war. Das erklärt
auch, weshalb eine Suche mit den Stichworten „Langzeitpflege“, „Angehörigenpflege“,
„Dauerpflege älterer Personen“, „(Pflege)-Bedürftige in Dauerpflege“ etc. in disserCat, der
größten Dissertationsdatenbank Russlands103, keine Treffer lieferte. Es fand sich nur ein Beitrag
zur Klärung der sozialen Faktoren der „Nichterfüllung der Verpflichtungen der (erwachsenen)
Kinder gegenüber ihren Eltern“, die als moralische Degradation der Familienfunktion unter den
krisenhaften Bedingungen Russlands gedeutet wurde104. Dagegen stellt die Erforschung von
97 Karl/Krasnova (Hg.) 2001; Erdmann-Kutnevic 2006; Presnjakova 2010; Ovcharova 2010 und andere. 98 Z.B. Mikhaleva 2010; Natakhina 2009; Yashcheritsyna 2006. 99 Die Älteren galten aus sozialpolitischer Sicht sehr lange als nicht adaptiert an den neuen Reformbedingungen
und wurden vom Staat (pauschal) für hilfsbedürftig gehalten. 100 Z.B. Solodukhina 2004; Maksimova 2006. 101 Z.B. Batiy 2006. 102 Z.B. Dyumin 2005; Grokhovskaya 2009. 103 disserCat ist Russlands größte (mit bis zu 750.000 Forschungsarbeiten) und „aktuellste“ (derzeit bis zum
Jahr 2013) elektronische Bibliothek der Dissertationen und Autoreferate verschiedener Fachrichtungen inkl.
Soziologie, soziale Gerontologie, medizinische Soziologie, Gerontologie und Geriatrie,
http://www.dissercat.com/ 104 Vdovina 2000.
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Belangen der pflegenden Familien (noch) eine Ausnahme dar. Ein Einstieg in den
Themenbereich gelingt mit der qualitativen Studie in Arhangel‘sk, Kazan und Samara, die im
Rahmen eines Teilprojekts „Genderordnung der Privatsphäre in den russischen Regionen“ des
Gender Studies Programms an der European University, St. Petersburg in den Jahren 2008-
2010 von Zdravomyslova und ihrem Team durchgeführt wurde105. Aus der Genderperspektive
rekonstruiert die Studie Bewältigungsstrategien und Praxis der Angehörigenpflege in Russland
und thematisiert typische Grenzen und Konflikte aus der Sicht der familiären Pflegepersonen
der „Sandwich Generationen“. Elternpflege wird als Konkurrenzverhältnis um Raum,
Ressourcen und Zeit im Kontext der russischen Wirklichkeit mit defizitärer öffentlicher
Infrastruktur, dem deprivierten Status der älteren Menschen im Gesundheitssystem, dem
unterentwickelten Markt der professionellen Pflegedienste und den hohen Kosten einer privaten
Pflegekraft sowie der Trägheit des erzwungenen Idealbildes der Elternpflege dargestellt. In den
kleinen, überbelegten städtischen Wohnungen haben russische Familien praktisch keine
Ressourcen, um diesen Konflikt zu lösen, und bleiben in diesem gefangen, so das
Studienresümee106.
Repräsentative russlandweite Studien, die explizit das Thema Angehörigenpflege adressieren,
findet man dagegen kaum. Eine sozialwissenschaftliche Studie „Russisches Monitoring der
wirtschaftlichen Situation und Gesundheit der Bevölkerung" (RLMS-HSE)107 beinhaltet zwar
eine Reihe von Fragen zu den Austauschbeziehungen zwischen den Familiengenerationen und
zu dem Vorhandensein primärer Unterstützungsnetzwerke. Die Daten ermöglichen aber keine
Analyse von Transfers je nach Haushaltstyp oder Individualmerkmalen der Befragten108.
Weiterhin sind einige wenige Publikationen zu der Studie „Eltern und Kinder, Männer und
Frauen in Familie und Gesellschaft 2004 (auf Russisch: РиДМиЖ)“109 erschienen, die das
Thema Austauschbeziehungen zwischen den familialen Generationen110 und die Einstellungen
105 Siehe Zdravomyslova 2013. 106 Siehe Tkach 2015. 107 RLMS-HSE wird durchgeführt von der Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics
(HSE) und dem Demographischem Institut „Demoscope“ unter der Beteiligung des Zentrums für
Bevölkerungsstudien an der Universität North Carolina/Chapel Hill und des Instituts für Soziologie der
Russischen Wissenschaftsakademie, https://www.hse.ru/rlms/. 108 Siehe Mironova 2014. 109 РиДМиЖ ist ein ein Teil-Projekt des internationalen Generation and Gender Programms und wird koordiniert
in Russland durch das Unabhängige Institut für Sozialpolitik (www.sozpol.ru), Institut für Demographie an
der HSE und Institut für Soziologie der Russischen Wissenschaftsakademie. 110 Sinyavskaya/Gladnikova 2007.
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zur Rolle des Staates und der Familie bezüglich der Pflege älterer Menschen111 analysieren.
Lediglich die kommerzielle Forschung interessiert sich neuerdings für die Versorgungssituation
in den Pflegehaushalten, um das Potential für den aufkommenden Pflegemarkt auszuloten112.
Wenig wird über die institutionellen und versorgungsstrukturellen Rahmenbedingungen
Russlands in den deutschen bzw. internationalen Forschungskreisen berichtet113. Zwar scheint
der russische wissenschaftliche Diskurs sich für die Erfahrungen im Ausland zu
interessieren114, wissenschaftlich fundierte Vergleiche des russischen Pflegesystems mit den
wohlfahrtstaatlichen Versorgungsstrukturen der Langzeitpflege eines westeuropäischen Landes
sind – soweit ersichtlich – nicht bekannt. Auch internationale, komparative Länderberichte der
letzten 15 Jahre zu wohlfahrtsstaatlichen Modellen der Altenpflege erwähnen kaum
Pflegearrangements in Russland115. Dabei könnte ein Systemvergleich als wichtige
Erkenntnisgrundlage dienen, um folgende Fragen zu beantworten: Wie effektiv deckt
Russlands System der sozialen Versorgung Bedürfnisse der Pflegebedürftigen ab? Wie gut ist
es auf die sich in der Zukunft verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
vorbereitet? Schließlich könnten aus den Analysen Anstöße zu notwendigen sozialpolitischen
Reformen bzw. einem Umbau des Versorgungssystems für die Belange älterer und
pflegebedürftiger Menschen kommen.
Als Fazit ist festzustellen, dass der demografische Wandel in Russland vorrangig mit fehlenden
Arbeitskräften, der zukünftigen Gesundheits- und Rentenversorgung oder
Souveränitätsproblemen (Bedeutungsverlust Russlands als Großmacht) in Zusammenhang
gebracht wird und nicht mit der Pflege116. Dagegen werden der steigende Pflegebedarf und das
sinkende familiäre Pflegepotential als Konsequenz der gesellschaftlichen Alterungsprozesse
und des sozialen Wandels in der Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit als Problem noch
wenig erkannt. Zu der Frage, ob sich daraus für die Familienpflege in Russland ähnliche
Implikationen wie in Deutschland ergeben, soll diese Arbeit einen Beitrag leisten.
In der vorliegenden Arbeit geht es vor allem um die Erforschung der Bedeutung der
individuellen Faktoren für die Pflegeentscheidungen in Russland (also Analysen auf der
111 Korchagina/Prokofyeva 2007. 112 Zu den Ergebnissen der aktuellen NAFI-Studie „Wer wird uns in Alter pflegen? siehe Kap. 1.2. 113 Zum Forschungsstand des russischen Pflegesystems siehe Kap. 3.3. 114 Vgl. z.B. Dregalo/Ulyanovskiy 1996; Grigorieva 2005a,b; Davydova 2012; Shaydukova 2016 und andere. 115 So auch der Bericht des EU Expert Group on Gender and Employment (EGGE) über die Altenpflege in 33
Ländern, er nennt nur beiläufig ein paar Pflegezahlen für Russland, siehe Bettio/Verashchagina 2010. 116 Siehe Ovseiko 2008-OIA; Lindner 2008.
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Mikroebene). Sind die in den deutschen Studien vorgefundenen Zusammenhänge zur sozialen
Verteilung des informellen Pflegepotentials replizierbar und die vorgeschlagenen theoretischen
Erklärungen generalisierbar für einen Länderkontext mit vermutlich ganz anderen
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als in Deutschland? Makrotheoretische
Erklärungsfaktoren sind in diesem Zusammenhang primär für die Kontextualisierung des
Themas und die Interpretation der gewonnenen Ergebnisse relevant (siehe Kap. 3). Näheres
zum methodischen Vorgehen der durchgeführten empirischen Untersuchung siehe Kap. 2.1.
An dieser Stelle sei noch etwas zur Datenlage gesagt. Für die Beantwortung der zentralen
Fragestellungen dieser Arbeit, die einen Vergleich Russland-Deutschland ermöglichen, gibt es
bisher wenig empirisches Datenmaterial. Russland wurde in keines der einschlägigen
europaweiten Forschungsprojekte wie OASIS, SHARE, EUROFAMCARE, Special
EUROBAROMETER 223 einbezogen, da es kein Mitglied der EU ist. Die vorhandenen,
öffentlich zugänglichen Untersuchungen, an welchen Russland partizipierte, wie „Generation
and Gender Survey“ (GGS) und „European Value Survey“ eignen sich für die Beantwortung
der postulierten Forschungsfragen nur bedingt, könnten aber als Validierungsquellen zur
Primäruntersuchung herangezogen werden. Obwohl Russland an den beiden Wellen (1. Welle
2004, 2. Welle 2011) des GGS partizipiert hat, waren die aktuellen Daten (2011) trotz
wiederholtem Nachfragen der Autorin für Russland sechs Jahre nach ihrer Erhebung nicht
öffentlich verfügbar.
1.6 Theoretische und methodische Überlegungen zum Russland-Deutschland-
Vergleich
Dieser Abschnitt soll die Frage beantworten, unter welchen Prämissen ein Ländervergleich
möglich ist und welche Herausforderungen und Schwierigkeiten dabei zu bedenken sind.
Ein Ländervergleich zwischen Russland und Deutschland wirft diverse methodische und
theoretische Fragen auf, die sich im Rahmen eines Landeskontextes normalerweise erst gar
nicht stellen. Wie soll im interkulturellen Vergleich die Frage nach der Vergleichbarkeit der
Befragungsinstrumente und damit der Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Daten gelöst werden?
Abweichungen können sich bereits bei der Übersetzung von einer Sprache in die andere
einschleichen und damit von einem kulturellen Kreis in den anderen. Wurden die
46
Einstellungsabfragen von den russischen und deutschen Probanden in derselben Art und Weise
interpretiert oder muss von kulturell bedingten unterschiedlichen Deutungen und somit
funktionalen Inäquivalenzen117 ausgegangen werden? Kann eventuell ein Forschungsergebnis
allein durch die Unterschiede in den kulturellen und sozialpolitischen Systemen und den
verschiedenen Strukturierungsprinzipien der sozialen Gefüge, die sie hervorbringen, zustande
kommen?118. Sämtliche Strategien, die vergleichende Sozialforschung zur Lösung der
Messprobleme auf dem konzeptuellen Niveau anwendet, „represent an attempt to develop
concepts and generalizations at a level between what is true of all societies and what is true of
one society at one point in time and space”119. Auch diese Arbeit hat versucht, als Antwort auf
die geschilderten methodischen und theoretischen Herausforderungen eine Balance zu
erreichen.
Ferner könnte der Rekurs auf bewährte Forschungsmethoden, -ansätze und Deutungsmuster,
Konzepte und Instrumentarien sowohl Gewinne als auch Probleme hervorbringen. Die
systematische Gegenüberstellung von Tatsachen lässt Unterschiede und Gemeinsamkeiten
erkennen. Damit können Hypothesen überprüft, theoretische Ansätze (weiter)entwickelt und
das Wissen über die singuläre Situation hinaus erweitert werden. Problematisch ist dagegen,
wenn soziologische Konzepte oder Annahmen aus einem Erklärungsmodell, das für einen
modernisierten westeuropäischen Gesellschaftstypus wie Deutschland entwickelt wurde, auf
einen anderen Gesellschaftstypus (postsozialistische Transformationsgesellschaft Russlands)
unreflektiert bzw. unbegründet übertragen werden. Zentrale Konzepte und Annahmen aus den
früheren deutschen Pflegestudien lehnen sich offensichtlich an das Modernisierungsparadigma
an. Zahlreiche Kritikpunkte, insb. Eurozentrismus, Werthaltigkeitsvorwürfe und raumzeitliche
Geltung der Entwicklungen120 stellen eine Übertragung der modernisierungstheoretischen
Annahmen auf eine nicht westliche Gesellschaft erheblich in Frage. Gleichzeitig bedarf es in
einer vergleichenden Arbeit offensichtlich gemeinsamer Begriffe, Konzepte und im Idealfall
allgemeingültiger Theorien, die langfristige strukturelle Wandlungsprozesse zur Erklärung der
„Pflegekulturen“ in den Fokus nehmen und verschiedene Gesellschaftsmodelle bzw.
Entwicklungspfade gleichermaßen miteinschließen.
117 Vgl. Braun 1998, 2006. 118 Siehe Hoffmeyer-Zlotnik 2015. 119 Bendix 1963: 532, zit. n. Hoffmeyer-Zlotnik/Harkness 2005: 5. 120 Zum kritischen Diskurs über den Modernisierungsbegriff siehe z.B. Saalmann 2008.
47
Wie begegnet man also diesem skizzierten Dilemmata im Kontext eines ländervergleichenden
Forschungsvorhabens?
Es empfiehlt sich, auf ein eher neutrales Konzept wie „sozialer Wandel“
zurückzugreifen, statt sich auf eher normative und deshalb problematische Konzepte
(wie Modernisierung, Transformation oder Zivilisationsunterschiede in der
Entwicklung) zu beziehen. Denn keines dieser genannten Paradigmen bietet
zufriedenstellende Lösungen121 an, um die Unterschiede in den Entwicklungen beider
Länder zu beschreiben.
Im Allgemeinen beschreibt man mit „sozialem Wandel“ nachhaltige Veränderungen
gesellschaftlicher Strukturen. Dazu gehört eine Reihe von Entwicklungen wie ökonomischer
und technologischer Wandel ebenso wie ein Wandel der Wertesysteme, sozialstruktureller,
politischer Wandel etc.122. Sozialer Wandel kann die gesamte Gesellschaft oder nur ihre
Teilbereiche betreffen. Er kann schneller („beschleunigter Wandel“) oder langsamer vor sich
gehen. Die Prozesse können auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und Teilsystemen
ablaufen. Es besteht eine „Ungleichzeitigkeit“ verschiedener Elemente (Raum, Institutionen,
soziale Gruppen, Werte etc.)123. So kann der Strukturwandel verschiedener Regionen innerhalb
eines Landes (z.B. Zentrum – Peripherie in Russland) nach unterschiedlichen Mustern und in
unterschiedlichem Entwicklungstempo verlaufen124. Ein Wandel kann sich im Zuge des
121 Die Modernisierungstheorie überträgt ein bestimmtes Entwicklungsmodell auf die nichtwestlichen
Gesellschaften. Den herkömmlichen Transformations-Begriff verwendete man zur Charakterisierung der gesellschaftlichen Umbruch- und Wandlungsprozesse in den ehemals staatssozialistischen Ländern und nicht
zur Beschreibung der sozialen Wandlungsprozesse im Westen, auch wenn es mittlerweile Re-
Konzeptualisierungsversuche gibt (siehe Reißig 2009). Der postsozialistische Gesellschaftstypus Russlands,
wie man ihm heute kennt, hat sich erst unter den Bedingungen der rasanten Systemumbrüche Anfang der
1990er Jahre herausgebildet. Das ursprüngliche politische Idealbild war die Transition von einer
zentralistischen Planwirtschaft zu einer freien Marktwirtschaft und von der kommunistischen Diktatur zur
Demokratie. Man geht, trotz der Systemumbrüche und ihrer Umgestaltungen von einer Kontinuität der
bisherigen sozialen Ordnung aus (z.B. Shkaratan/ Yastrebov 2008). Die Betonung der Besonderheiten, gar
der „inneren Zivilisationsunterschiede“, wie es das Zivilisationsparadigma sieht (z.B Danilevsky 2003,
Shkaratan 2010, Kordonskij 2008 und andere), würde den Blick auf universelle gesellschaftliche
Entwicklungen verstellen, die unabhängig von kulturellen Besonderheiten oder Rückschlägen in Prozessen sind (siehe auch Kap. 2.3.2). Konsequenterweise würde dadurch der Vergleich erschwert bzw. die Reichweite
der Aussagen geschmälert. Verschiedene Ansätze im Rahmen der Weltsystem-Theorie beschäftigen sich mit
kolonialer und imperialer Vergangenheit und globalen Verflechtungen im Rahmen der kapitalistischen
Weltökonomie. Allerdings stehen nicht globale Ungleichheiten der Sozialstrukturen oder soziologische
Grundsatzdebatten um theoretische Paradigmen im Vordergrund dieser Untersuchung, sondern die Erklärung
der Verankerung von Pflegebereitschaften innerhalb der Sozialstruktur des jeweiligen Landes. 122 Vgl. Jäger 1981 oder Zapf 1994. 123 Vgl. Diskussion zum Modernisierungskonzept bei Saalmann 2008. 124 Zubarevich 2012.
48
nachhaltigen Zusammenwirkens und Aushandelns zwischen verschiedenen gesellschaftlichen
Akteuren ergeben, durch einen Zusammenbruch bedingt sein oder als Reformversuch des
bisherigen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells von oben in Gang gesetzt werden125. Aus
einer Kombination von verschiedenartigen Veränderungen in den Teilsystemen und
Pfadabhängigkeiten können in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche institutionelle
Entwicklungspfade126 entstehen mit verschiedenen gesellschaftlichen Ordnungen,
Stratifizierungsprinzipien127 sowie Logiken von Wohlfahrtsproduktion128.
Man richtet den Fokus auf den gemeinsamen Kern der sozialen Wandlungsprozesse
(hier insb. Individualisierungstendenzen). Überall, wo sich Gesellschaften
ausdifferenzieren und spezialisieren, werden auch soziokulturelle Wandlungsprozesse
beobachtet (siehe Kap. 2.2.3). Dabei kann erwartet werden, dass diese unterschiedliche
Verläufe und Ausprägungen vor dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen annehmen können (siehe Kap. 3.3.2).
Für komparative Forschungsansätze kann eine Typenbildung sehr sinnvoll sein, wenn
dabei auf Individual- bzw. Makroebenen Subjekte bzw. Gesellschaftssysteme
miteinander verglichen werden. Es handelt sich dabei um „wertfreie“ analytische
Konstrukte wie „moderne“ vs. „traditionelle“ Subjekte oder Gesellschaftstypen. Zuvor
bedarf es jedoch reflexiver, begrifflicher Klärung des Begriffspaars „modern“ und
„traditionell“, um die oben genannten Vorbehalte auszuräumen. Auf der Mikroebene
wäre der Habitus von verschiedenen Subjekttypen in einem zweidimensionalen
Struktur-Kultur-Raum durch die Kombination positionaler Ungleichheiten und
soziokultureller Differenzierungen analysierbar (siehe Kap. 2.2.1). Die Analysen der
Makrobedingungen sollen dann beispielsweise ermitteln, inwieweit die real
beobachteten Gesellschaftsformen vom Idealtypus anhand objektiver Indikatoren
abweichen (Siehe Kap. 3). Durch Typenbildungen lässt sich eine Raum- und
Zeitbindung der Begriffe lösen und der Blick verschiebt sich von einer wertenden zu
einer strukturellen Betrachtung129.
125 Reißig 2014. 126 Saalmann 2008; Reißig 2009; Holtmann 2012; Tikhonova 2016. 127 Siehe Kap. 2.3.2. 128 Vgl. dazu Esping-Anderson 1990. 129 Vgl. Saalmann 2008: 3.
49
Man befolgt die abduktive Forschungsstrategie nach Peirce130: Zunächst wird auf der
Basis des „originären Arguments“ (Beobachtungen sozialer Verteilung der
Pflegebereitschaft auf Milieus in Deutschland) die Vermutung aufgestellt, dass es
ähnliche Verhältnisse in einem anderen Land (hier: Russland) geben könnte. Im zweiten
Schritt soll diese abduktive Voraussage mittels des Vorgangs des deduktiven Schlusses
überprüft werden. Im dritten (induktiven) Schritt wird nach Fakten gesucht, welche die
Vorannahmen „verifizieren“ oder „widerlegen“. Dabei sollen Spezifika der Prozesse
und Zustände in Russland aufgegriffen werden, um ggf. zu einer re-formulierten
(ergänzten und präzisierten) „erklärenden Hypothese“ in einem neuen Landeskontext
zu gelangen.
Bei dem Vergleich muss eine Systematik im Vordergrund stehen, die den wissenschaftlichen
Grundkriterien wie Reproduzierbarkeit der Ergebnisse, Transparenz der Produktion und
Interpretation von Daten, Nachvollziehbarkeit der Vorgehensweise, Intersubjektivität der
Ergebnisinterpretation genügt. Dabei dienen die Fragestellung und der Gegenstand als das
entscheidende Kriterium für die Methodenauswahl131. Last but not least soll eine Vielfalt von
Methoden angewendet werden, um Schwächen einzelner Verfahren auszugleichen bzw.
Stärken zu kombinieren.
International vergleichende Forschung bietet im Prinzip zwei Strategien für den
Ländervergleich: qualitative („case oriented-approaches“) und quantitative Ansätze („variable
oriented-approaches“). Die fallbasierten methodischen Vorgehensweisen stellen das Land als
ganzheitliches, historisch gewachsenes System dar mit seinen zueinander in Beziehung
stehenden Teilen. Dieser Ansatz verspricht ein umfassendes Bild der länderspezifischer
Besonderheiten und Gesetzmäßigkeiten einer Gesellschaft. Er kann aber das Forschungsziel,
eine Vergleichbarkeit der gemeinsamen Entwicklungen in den Gesellschaften zu gewährleisten,
nicht zufriedenstellend lösen132.
Dagegen liegen die Stärken der Aggregatdatenanalyse als „Königsweg der vergleichenden
Sozialwissenschaften“133 gerade in der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit und analytischen
130 Peirce (Collected Papers Band 5). Zu Anwendung des abduktiven Schlussmodus in verschiedenen
Fachdisziplinen siehe Wirth 1995. 131 Pickel et al. 2009: 12. 132 Zur weiteren Diskussion siehe Haberkern 2009: 54ff. 133 Pickel et al. 2009: 17.
50
Eindeutigkeit. Sie legt Kriterien für die Vergleichbarkeit von Prozessen in mehreren Ländern
fest und macht somit die Generalisierbarkeit der empirischen Befunde auf weitere
Länderkontexte möglich. Der Nachteil der variablenorientierten Ansätze besteht in der
Betrachtung der Gesellschaft als Agglomerat von Teilen, nicht jedoch als zusammengehörendes
System. Zudem besteht bei einem hohen Abstraktionsniveau die Gefahr, durch die
Konzentration auf quantitative Details das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren134. Im
Kontexte eines binationalen Vergleichs erscheint daher eine Kombination aus fallbasierten und
quantitativen Ansätzen als geeignete Vorgehensweise. Es werden (historische) Exkurse in
einzelne gesellschaftliche Teilsysteme und qualitative Ländercharakteristiken durch
international vergleichende Kennzahlen und Sekundärdatenanalysen ergänzt.
Die vergleichenden Analysen werden getrennt auf der Individual- und auf der Makroebene
durchgeführt. Dabei wird sich die Vergleichslogik der Datenanalysen auf der Individualebene
auf gemeinsame Entwicklungen und Annahmen orientieren, bei der Interpretation der
Ergebnisse soll dagegen Unbekanntes und Spezifika der Makrozustände in Russland
herausgearbeitet werden.
134 Vgl. Haberkern 2009; Jahn 2009.
51
2. Das binationale Projekt – pflegekulturelle Orientierungen in Freiburg
und Samara – Bedeutung der Familienpflege und ihre Bedingungen
2.1 Untersuchungsgegenstand, Untersuchungsziele und methodischer Ansatz
Die bilaterale Pilot-Studie baute auf dem konzeptionellen Rahmen der zahlreichen nationalen
„Pflegestudien“ des Freiburger Forscherteams Baldo Blinkert und Thomas Klie (2004, 2006)
auf. Ursprünglich standen im gemeinsamen SOLIDARU-Pilot-Projekt die Fragen nach dem
Vorhandensein von verschiedenen Formen der Solidaritätspotenziale und Grundannahmen
über deren soziale Verteilungen in Russland und Deutschland im Vordergrund. Das Ziel des
gemeinsamen Forschungsprojekts war es, die für Deutschland postulierten Annahmen nach
dem Wandel von Solidarität am Beispiel der Bereitschaft zur Versorgung pflegebedürftiger
Angehöriger – als Indikator für Nahraumsolidarität – und der Bereitschaft zum
zivilgesellschaftlichen Engagement – als Indikator für Fernraumsolidarität – unter russischen
Gegebenheiten zu überprüfen. Sehr schnell, spätestens nach der Datenerhebung wurde klar,
dass im Rahmen des Pilot-Projekts die soziale Verteilung zivilgesellschaftlichen Engagements
in der russischen Stichprobe gar nicht eruiert werden konnte, da dieses Phänomen in Russland
zum Zeitpunkt der Erhebung so gut wie nicht existierte. Im Übrigen würde die Abhandlung der
beiden Themen „Zivilgesellschaftliches Engagement“ und „Altenpflege“ im Ländervergleich
den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Folglich wurde das Vorhaben dieser Arbeit auf das Thema
Pflege beschränkt.
2.1.1 Intergenerationelle Unterstützung in der Pflege - Begriffe im Wandel
Was ist der Untersuchungsgegenstand und wie lässt sich dieser definieren? Was umfasst Pflege
und wie lassen sich die expliziten Handlungsstrukturen der Pflege beschreiben? Ist es
angemessen, die Pflegebereitschaft aus der Solidaritätsperspektive zu sehen?
In dieser Arbeit geht es primär nicht um die Erforschung der tatsächlich geleisteten
Familienpflege in Russland und Deutschland. Dazu gibt es bereits eine ländervergleichende
Untersuchung (siehe Kap. 1.5). Vielmehr konzentriert sich die vorliegende Studie auf die
Eruierung der Bedingungsfaktoren des informellen Versorgungspotenzials, das sich im Krisen-
/Bedarfsfall (bei Pflegebedürftigkeitseintritt) aus den sozialen Netzwerken für die häusliche
52
Versorgung der Betroffenen mobilisieren lässt. In den meisten Fällen geht es dabei um die
Bereitschaft erwachsener Kinder (intergenerationale Pflegebereitschaft) im Bedarfsfall die
Pflege ihrer pflegebedürftigen Angehörigen – Eltern oder Schwiegereltern – selbst zu
übernehmen.
Unter Pflegebedürftigkeit versteht man einen erheblichen Bedarf an fremder Hilfe für die
gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden existentielle Verrichtungen im täglichen
Leben (z.B. Essenseinnahme, Körperpflege), die mindestens sechs Monaten dauert135. Zu den
pflegebedürftigen Personen zählen solche mit, aber auch ohne offiziell anerkannten Pflegegrad
(Bettlägerige, Behinderte, Schwerkranke, Altersgebrechliche, Demenzkranke).
Pflege hat verschiedene Facetten und beschränkt sich nicht nur auf behandlungspflegerische
Maßnahmen (s.g. Grundpflege). Sie beinhaltet auch Hilfe bzw. Unterstützung für den
Angehörigen. In dieser Arbeit wird die Bereitschaft zur Pflege in der Familie als weitgefasster
Begriff136 verstanden, nämlich als häusliche Pflege, Betreuung und Unterstützung von
körperlich, geistig oder seelisch erkrankten, behinderten oder sonst pflegebedürftigen
Angehörigen.
In der internationalen Forschung gibt es verschiedene theoretische Konzepte (“Solidarität“,
„Solidaritäts-Konflikt“, „Ambivalenz“), unter denen die Unterstützungsbeziehungen zwischen
den familialen Generationen betrachtet werden können. Selbst die Tatsache, dass neue
theoretische Begriffe und Operationalisierungen entwickelt und erprobt werden, markiert das
gewandelte Verständnis von intergenerationalen Beziehungen. Allerdings liefert keines der drei
einflussreichsten theoretischen Modelle zur Untersuchung der intergenerationalen Beziehungen
in der Familie, nämlich (1) Intergenerationale Solidaritätsperspektive, (2) Familiensolidarität –
Konflikt-Modell und (3) Intergenerationale Ambivalenz ein angemessenes Konzept zur
Erklärung der Pflegebereitschaft der pflegenahen Generationen. An dieser Stelle wird nur auf
die Solidaritätsperspektive näher eingegangen, aus der das hier angewandte Erklärungsmodell
der Pflegebereitschaft ursprünglich stammt. Zur Diskussion der Vor- und Nachteile der anderen
beiden Paradigmen wird auf Katz/Lowenstein (2010) verwiesen.
135 Die Definition orientierte sich ursprünglich am Pflegebedürftigkeitsbegriff der deutschen
Pflegeversicherung. Zwischen den sozialrechtlichen Begriffen in den beiden Ländern, wie die
Nachforschungen ergaben, existieren aber große Schnittmengen (siehe Kap. 3.3.1, Tab. 8). 136 Zu „expliziten“ und „impliziten“ Handlungsanforderungen in der Pflege siehe Kap 2.2.2
53
Im Gegensatz zum Freiburger Ansatz, der in der Tradition des gängigen „Intergenerationalen
Solidarität-Paradigmas“ in der Pflegebereitschaft ein Zeichen der „Nahraumsolidarität“ bzw.
„Familiensolidarität“ sieht, wird in dieser Arbeit bewusst der Begriff „Solidarität“ in seinen
verschiedenen Wortkonstellationen nicht benutzt, sondern für eine neutrale Umschreibung wie
z.B. „Bereitschaft zur Angehörigenpflege“ plädiert. Zunächst ist es nahliegend, eine hohe
Bereitschaft zur Pflegeübernahme als solidarisches Zeichen zu deuten. Dies geht auf Tönnies
(1991, ursprünglich 1887) und Durkheim (1977, ursprünglich 1893) zurück, die sich mit der
Frage beschäftigt haben, wie sozialer Wandel die Funktionsweise der persönlichen
Beziehungen verändert und wie der Zusammenhalt einer hochdifferenzierten Gesellschaft
möglich ist. Übertragen auf die soziokulturellen Veränderungen der Gegenwart wird auch in
den heutigen komplexen Gesellschaften ein Wandel des sozialen Zusammenhalts bzw. ein
Vorliegen verschiedener Arten von Solidarität diagnostiziert. Für Blinkert und Klie (2004,
2006) ist es der Wandel von der Nahraum- zur Fernraumsolidarität. Die Autoren haben
beobachtet, dass die Unterstützung sich immer häufiger von der eigenen Familie (Nahraum“)
auf die „Gesellschaft“, einen Kreis von fremden, voneinander auch räumlich getrennten
Menschen (Fernraumsolidarität), bezieht. Die praktizierte Unterstützung gegenüber Fremden
mit dem Ziel, deren Interessen zu vertreten und zu verteidigen bzw. deren Lebenslagen zu
verbessern, betont zivilgesellschaftliche Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dabei
zeigen sich milieuspezifisch variierende Präferenzen für die eine oder andere Solidaritätsart,
die sich auch auf der Länderebene nachweisen lassen. In Ländern mit ausgeprägter
Fernraumsolidarität ist die Disposition zur Nahraumsolidarität eher gering und vice versa137.
Während eine Verwendung des „Solidaritäts“-Begriffs zur Verdeutlichung solcher
bemerkenswerter Zusammenhänge innerhalb wie auch zwischen verschiedenen Gesellschaften
einleuchtend ist, kann angezweifelt werden, ob für die Interpretation der Disposition bzgl. der
Angehörigenpflege dieser Begriff noch angemessen bzw. zeitgemäß ist. Die Gründe möchte
ich genauer erläutern.
Das Solidaritäts-Konzept im Kontext der „intergenerationalen Beziehungen“ birgt viele
Schwächen, da es normativ aufgeladen ist. Dadurch schränkt es den Blick auf ein Motiv der
Pflegeübernahme ein und suggeriert (allgemein) geltende Normen. Dabei kann in der
modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft von einer Normhomogenität nicht (mehr)
ausgegangen werden (siehe Diskussion in Kap. 3.2.2). Eine hohe Disposition zur
137 Blinkert et al. 2013.
54
Pflegeübernahme kann verschiedene Gründe bzw. Motive haben: Gefühle der Zuneigung und
Liebe, der gegenseitigen Verpflichtung, Normkonformität aufgrund von Erwartungsdruck aus
dem sozialen Nahraum oder Zugehörigkeitsbedürfnisse, vielleicht auch Antizipation von
ökonomischen Vor- oder Nachteilen. Auch Altruismus oder fehlende Alternativen zum
Selberpflegen können Beweggründe sein. Schließlich könnte man selbst das Gegenteil zum
Selberpflegen – das Aufkommen für die Kosten der stationären Versorgung des Elternteils –
als Akt der Verantwortungsübernahme deuten.
Der Begriff „Familiensolidarität“ idealisiert den enormen Erwartungsdruck an die
Familienmitglieder, ihr eigenes Leben zum Wohle der Familie/ Eltern aufzuopfern, den es in
bestimmten Gesellschaften, ethnischen Gruppen oder sozialen Schichten gibt.
Dementsprechend darf eine geringe oder fehlende Bereitschaft zum Selberpflegen nicht
zwangsläufig als Erosion der Solidarität oder als Konflikt mit dem/n pflegebedürftigen
Eltern(teil) missverstanden werden138. Studien belegen, dass bei einem entsprechenden
staatlichen Angebot medizinisch anspruchsvolle pflegerische Aufgaben gerne an professionelle
Pflegedienste abgegeben werden, anderweitige Unterstützung (emotionaler Beistand, Hilfe im
Haushalt und die Erledigung bürokratischer Angelegenheiten) jedoch nach wie vor von
Familienmitgliedern erbracht wird139.
Deshalb gilt es, im Kontext der ambivalenten Entwicklungen und Anforderungen in der
postmodernen Gesellschaft zur Erforschung von Generationenbeziehungen von dem Begriff
‚Solidarität‘ als selbstverständlichem Bezugspunkt Abstand zu nehmen140. Die Gesellschaften
verändern sich und damit die strukturellen Bedingungen, was in individuellen Ambiguitäten
und kognitiven Dilemmata resultiert141. Gerade in der Postmoderne herrscht daher eine große
Unsicherheit in der Beurteilung gesellschaftlicher Prozesse (siehe Kap. 1.4). Zudem wird die
Notwendigkeit verspürt, der Komplexität der intergenerationalen Beziehungen in den Familien
in postmodernen Gesellschaften Rechnung zu tragen. Das zeigt sich auch im wissenschaftlichen
Diskurs, bei dem es um die Neujustierungen der Konzepte und Modelle der familialen
138 Vgl. auch Haberkern 2009: 35. 139 Brandt et al. 2009; Brandt und Haberkern 2008; Daatland und Lowenstein 2005; Litwak et al. 2003; Motel-
Klingebiel und Tesch-Römer 2006, zit. n. Haberkern 2009: 21. 140 Vgl. Lüscher 2002. 141 Vgl. Billing et al. 1988, zit. n. Katz/Lowenstein 2010: 39.
55
Generationenbeziehungen geht (vgl. z.B. das alternative Konzept „Generationenambivalenz“
von Kurt Lüscher142).
In gegenwärtigen Gesellschaften kann eine starke filiale Verantwortungsbereitschaft für die
pflegebedürftigen Eltern nicht unbedingt als Zeichen der sozialen Güte, sondern auch als ein
Hinweis auf ein Markt-/Staatsversagen oder institutionelle Fehler interpretiert werden. In
Ländern, wo die Versorgungsinstitutionen nicht funktionieren, haben Menschen keine andere
Wahl, als sich selbst um ihre Eltern zu kümmern. In entwickelten Wohlfahrtsstaaten dagegen
können die zuständigen Institutionen den erwachsenen Kindern gegebenenfalls die Pflegelast
abnehmen bzw. die Verantwortung zwischen Familie und Staat aufteilen. Die neutrale
Begrifflichkeit verschiebt den Akzent von der möglichen Moralisierung des „sozialen Verfalls“
auf das Aufzeigen, wie unterschiedliche gesellschaftliche Strukturen derzeitige
Pflegearrangements in verschiedenen Ländern prägen und anhaltende Entwicklungen diese
verändern.
2.1.2 Untersuchungsansatz und methodische Vorgehensweise
Der Untersuchungsansatz geht der Frage nach der Verankerung intergenerationaler
Pflegebereitschaft in der Sozialstruktur nach und thematisiert die (sozio)strukturellen und
(sozio)kulturellen Voraussetzungen für die Familienpflege. Er führt darüber hinaus als neuen
Bestandteil zur bisherigen Forschung den länderspezifischen Vergleich ein. Durch den
empirischen Ländervergleich und theoretische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen der Familienpflege entsteht die Chance auf neue Erkenntnisse.
Das zentrale Ziel des empirischen Vorhabens lautet: Der für Deutschland in früheren Freiburger
Pflegestudien festgestellte negative Zusammenhang zwischen einem höheren sozialen Status,
„modernen“ Lebensentwürfen und Pflegebereitschaft soll in Russland (einem Landeskontext
mit vermutlich gänzlich anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen) überprüft bzw.
repliziert und mit den deutschen Ergebnissen verglichen werden. Für die möglichen
Unterschiede zwischen den Ländern soll der theoretische Erklärungsansatz weiterentwickelt
werden.
142 Lüscher/Pillemer 1998; Lüscher/ Hoff 2013.
56
Daraus ergeben sich folgende Fragestellungen:
1) Lassen sich die deutschen Befunde zu intergenerationaler Pflegebereitschaft und deren
sozialen Verankerung auch unter gänzlich anderen strukturellen Bedingungen wie in
Russland beobachten? Die zentrale Forschungsfrage dieser Arbeit, die mit den primären
Daten aus der bilateralen Studie adressiert werden soll, lautet: Variiert die
Pflegebereitschaft in unterschiedlichen Ressourcenlagen bei russischen Probanden in
der gleichen Weise wie bei den deutschen? Weitere Fragen beziehen sich auf Sinn- und
Motivationszusammenhänge, in die Pflegebedürftigkeit typischerweise eingeordnet
wird. Was verbindet man mit Pflegeverpflichtungen in Russland? Und sind diese
Motive ressourcenspezifisch verteilt?
2) Welche Konzepte zur Beschreibung von Sozialstruktur und sozialer Ungleichheit (z.B.
Klassen, Schichten, Milieus etc.) gibt es in der russischen Sozialforschung? Wie lässt
sich die soziale Stratifizierung der russischen Gesellschaft im Vergleich zur deutschen
beschreiben? Mit welchem vergleichenden Konzept können angemessene Analysen
durchgeführt werden?
3) Lassen sich landesspezifische Unterschiede in der Ausprägung der intergenerationalen
Pflegebereitschaft und im gesellschaftlichen Umgang mit der Pflege ausfindig machen
und wodurch lassen sich diese erklären?
4) Welche staatlichen Regelungen existieren in Russland im Bereich der Alten- bzw.
Langzeitpflege? Wie ist ihre Reichweite im Vergleich zu Deutschland einzuschätzen?
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die länderspezifischen
Pflegearrangements?
5) Welche weiteren makrosoziologischen Bedingungen prägen die Pflegeversorgung und
wie lassen sich diese für Russland und Deutschland charakterisieren? Mit welchen
Entwicklungen müssen die beiden Gesellschaft zukünftig rechnen? Wie werden sie
gesellschaftliche Pflegearrangements beeinflussen?
57
Abb. 4: Theoretisches Erklärungsmodell von Makro-Mikro-Level Zusammenhängen:
Faktoren und Bedingungen der intergenerationalen Pflegebereitschaft
Man kann nach Einflussfaktoren der intergenerationalen Pflege auf der Ebenen des
Individuums und der Gesellschaft unterscheiden. In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt der
empirischen Untersuchung auf der Individualebene. Bei der Erklärung der Ergebnisse soll die
Makroebene einfließen.
Dabei stehen die folgenden Hypothesen im Vordergrund:
1) In mikrosoziologischer (handlungstheoretischer) Hinsicht geht man davon aus, dass
die Handlungsstrukturen der Pflege wenig mit Präferenzen und Motivationen vereinbar
sind, die an „moderne Lebensentwürfe“ und hohe strukturelle Ressourcen gebunden
sind. Den Herausforderungen von Elternpflege wird mit unterschiedlichen
Bewältigungsstrategien begegnet143.
143 Was diese Begriffe genau bedeuten, wird im Kap. 2.2 erklärt.
58
Empirisch geht es dabei um die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen
„sozialstrukturellen“ und „soziokulturellen“ Ressourcen bzw. Lebensentwürfen und der
Pflegebereitschaft bei potentiellen Pflegepersonen (40-65-jährige Befragte in Samara
und Freiburg). Konkret heißt das, je höher die sozioökonomischen Ressourcen und je
mehr man an den „modernen“ bzw. individualisierten Lebensentwurf orientiert ist,
desto geringer ist die Bereitschaft zur häuslichen Pflege eigener älterer Angehöriger144.
Von den Sinn- und Motivationszusammenhängen der Präferenz für ein konkretes
Pflegearrangement (zugespitzt auf Entscheidung zwischen häuslicher Familienpflege
vs. stationärer Pflege) sind wahrscheinlich zwei Faktoren besonders relevant: (a)
Kostenaspekte (z.B. der Fremdpflege im Heim oder als „Opportunitätskosten“ die
Reduzierung der Arbeitszeit oder gar die Berufsaufgabe und (b) Pflichtbewusstsein (als
diverse Moralvorstellungen). Es soll untersucht werden, wie diese konkurrierenden
Motive in den beiden Ländern gewichtet sind.
2) Unter makrosoziologischen Gesichtspunkten wird zum einen angenommen, dass das
Ausmaß und die Art wohlfahrtstaatlicher Regelungen für den Pflegefall
(Sozialgesetzgebung und Institutionen) und auf der Meso-Ebene das Vorhandensein
und die Nutzung lokaler Pflegeinfrastrukturen von großer Bedeutung sind für die
Ausgestaltung des Pflegearrangements älterer Angehörigen. Es gilt zu eruieren, was an
öffentlicher Versorgungsinfrastruktur und gesetzlichen Rahmenbedingungen bei Bedarf
an Langzeitpflege zur Verfügung steht. Neben der konkreten Ausgestaltung des Care-
regimes sind aber auch andere gesamtgesellschaftliche Faktoren für die
Pflegeversorgung von Bedeutung: Landesspezifische Pflegearrangements werden durch
strukturelle und kulturelle Bedingungen geprägt145. Es erscheint daher sinnvoll, beide
Länder hinsichtlich der ökonomischen Lebensbedingungen ihrer Bevölkerung und der
sozialen Stratifizierung, ihrer Orientierungen auf eine autonome Lebensführung sowie
der Rolle „traditioneller“ Normen der familialen Pflege zu vergleichen.
144 Selbstverständlich sind auch weitere individuelle Einflussfaktoren wichtig wie z. B. die Enge der Beziehung,
geographische Entfernungen, Familienwerte etc. Deren Einfluss wurde aber bereits in der interkulturellen
Perspektive erforscht, siehe dazu Nauck/Trommsdorff 2009; Klug et al. 2009; Szydlik 2000; Haberkern 2009,
etc. 145 Vgl. Davey/Szinivacz 2008; Blinkert 2008.
59
3) Interaktionseffekt - Dabei könnten für Samara aus mikrotheoretischer Sicht im Prinzip
die gleichen Ergebnisse erwartet werden wie für Freiburg. Es könnten aber auch
Interaktionen zwischen den Mikro- und Makroebenen der Analyse auftreten (siehe Abb.
4). Das würde bedeutet, dass strukturelle, kulturelle und institutionelle
Rahmenbedingungen beider Länder die Unterschiede in der Pflegebereitschaft und in
ihrer Verteilung in den Sozialstrukturen Russlands und Deutschlands ausmachen. Diese
müssten in diesem Fall genauer untersucht werden.
Neben einer deskriptiven Beschreibung von intergenerationalen Pflegebereitschaften in den
beiden Untersuchungsregionen (Samara und Freiburg) sowie analytischen Vergleichen der
Makrobedingungen (Russland und Deutschland), werden auch auf Erklärungen abzielende
Fragen berücksichtigt. Im Rahmen einer derartigen vergleichenden Untersuchung können
Zeitdiagnosen der familiären Generationenbeziehungen erstellt, Phänomene im Lichte sozialer
Veränderungsprozesse tradiert und wahrscheinliche zukünftige Entwicklungen von
(Familien)pflege in Russland und Deutschland thematisiert werden.
Datengrundlagen und angewandte Forschungsmethoden:
Die Untersuchungen (mit Erhebung primärer Daten) sollten exemplarisch in zwei Kommunen,
Samara und Freiburg, durchgeführt werden146. Dabei wurden auch Unterschiede in den für
intergenerationale Pflegebeziehungen relevanten infrastrukturellen Ausstattungen
berücksichtigt, kommunal, regional bzw. ländervergleichend. Im Rahmen des gemeinsamen
Pilotprojekts mit der Samara Partner-Universität wurden mehrere Studienreisen nach Samara,
der Hauptstadt der namensgleichen Region, unternommen. Mit Besichtigungen der ambulanten
und stationären Einrichtungen sowie durch Expertengesprächen konnte sich das russisch-
deutsche Projektteam selbst ein Bild über die vorhandenen Strukturen und Praktiken
verschaffen. Für Russland ging man von einer größeren regionalen Variation in der
Pflegepolitik aus. Die Analysen russlandweiter und regionaler Statistiken, der
sozialgesetzlichen Grundlagen, der Informationen und Blogs des regionalen
Sozialministeriums und kommunaler Versorgungsanbietern sollten dabei helfen, die Situation
in der regionalen Pflegeversorgung besser einzuordnen und zu klären, inwieweit regionale
Verhältnisse auf ganz Russland übertragbar sind. Die Reviews der Presseberichterstattung als
146 Für Details sehe Kap. 2.3.1.
60
auch des wissenschaftlichen Diskurses inkl. aktueller Konferenzbeiträge zu Altersforschung
und Sozialstrukturforschung in Russland in den letzten fünf Jahren helfen aktuelle und
zukünftige Entwicklungen besser einzuschätzen. Die Analysen in Deutschland konzentrierten
sich auf sozialgesetzliche Bestimmungen (Pflegeversicherung und Pflegestärkungsgesetze)
sowie landesweite und kommunale Versorgungsstatistiken und Infrastrukturen nach
Pflegeform.
Die gewonnenen Erkenntnisse basieren überwiegend auf eigenen Auswertungen der primären
Daten (aus dem SOLIDERU-Projekt). Die Verwendung sekundäranalytischer, repräsentativer
Daten (Generations and Gender Survey 2004 (1. Welle), European Social Surveys 2010 (5.
Welle), allgemeiner sozialwissenschaftlicher Bevölkerungsumfragen (ALLBUS 2010 und
Freiburger Bürgerumfrage 2010) sollte dazu dienen, die Reichweite unserer Studienergebnisse
nach Möglichkeit zu überprüfen.
Zur Beschreibung der demographischen Entwicklungen, sozioökonomischen und
soziokulturellen Wandlungen sowie der öffentlichen Unterstützungssysteme im Bereich Alten-
und Langzeitpflege in Russland und Deutschland werden außerdem internationale
Länderindikatoren von der Weltbank, dem IWF, der OECD, den United Nations Development
Programmen, des World Economic Forums etc., öffentlich zugängliche Statistiken und
Informationen der zuständigen Ministerien, der föderalen und regionalen statistischen Ämter
(z.B. Goskomstat in Russland, Samarastat in der Samara Region und Destatis in Deutschland)
zusammengestellt und im Kontext der Fragestellung interpretiert. Damit lässt sich eine
vergleichende Gegenüberstellung der jeweiligen Landeskontexte im Zusammenhang mit der
Pflege angemessen bewerkstelligen.
2.2 Konzepte und handlungstheoretische Annahmen (Mikroebene)
In diesem Abschnitt geht es primär um das dieser Untersuchung zugrunde liegende
Erklärungsmodell, das auf dem Freiburger Ansatz basiert. Verschiedene Begriffe und
Annahmen sollen vertieft behandelt werden und insbesondere um Implikationen der
postindustriellen Arbeitswelt ergänzt werden.
61
Der Freiburger Ansatz untersucht pflegekulturelle Orientierungen hinsichtlich einer
milieuspezifischen bzw. sozialstrukturellen Verankerung und prognostiziert deutliche
Zusammenhänge: Mit steigenden strukturellen Ressourcen und der Tendenz zu postmodernen
Lebensentwürfen nimmt die intergenerationale Pflegebereitschaft deutlich ab. Umgekehrt zeigt
sich die Bereitschaft zur häuslichen Pflege von Angehörigen am ehesten in sozial
unterprivilegierten Gruppen, deren Lebensentwürfe den modernen Bedingungen am wenigsten
angepasst sind.
Wichtig für die Erklärung der milieuspezifischen Verankerung von Pflegebereitschaften sind
folgende zentrale Annahmen des Freiburger Ansatzes: (1) die Handlungsstrukturen der Pflege
(vor allem Opportunitätskosten aber auch Gratifikationen) werden von den Angehörigen
verschiedener sozialer Milieus sehr unterschiedlich bewertet und gewichtet. (2) In
verschiedenen Milieus bestehen unterschiedliche Dispositionen, Motivationen und
Präferenzen. (3) Die Unterschiede in der eigenen Kosten-Nutzen-Bilanz (Kompatibilität
zwischen den beiden Dimensionen) führen zu unterschiedlichen Präferenzen für die
Versorgung pflegebedürftiger Angehörigen147. Wie kam man zu diesen Annahmen?
In verschiedenen Studien (in Munderkingen, Kassel und Annaberg-Unna)148 wurden
unterschiedliche Sinn- und Motivationsstrukturen eruiert, in welche dilemmatische
Entscheidungen zwischen Selberpflegen oder Pflegen lassen typischerweise eingeordnet
werden. Von den zwei Hauptbegründungen (moralische Überlegungen oder
Kostengesichtspunkte) zeigt sich, dass Kostenerwägungen mit Konsequenzen für die
individuelle Kosten-Nutzen-Bilanz eine weit größere Rolle spielen149. Ferner stellte man fest,
dass die Befürwortung eines Pflegeheims insbesondere unter den Kostengesichtspunkten erlebt
wird, wogegen die Entscheidung zum Selberpflegen in der Regel von moralischen
Überlegungen getragen wird150. Weiterhin lässt sich eine sozialstrukturelle und -kulturelle
Verankerung der Begründungsmuster (sei es unter Kosten- oder Moralaspekten) ausmachen. In
der Tat werden Kostenüberlegungen von Erwerbstätigen, von Personen mit höherem
Sozialstatus und einem modernen Lebensentwurf häufiger zur Rechtfertigung der
Heimversorgung geltend gemacht. Moralische Gesichtspunkte sind für Nichterwerbstätige,
Personen mit niedrigem sozialem Status und einem traditionellen Lebensentwurf häufigere
147 Vgl. Blinkert/Klie 2004, 2006. 148 Blaumeiser et al. 2001; Blinkert /Klie 2004, 2006. 149 Blinkert/Klie 2006: 55. 150 Blinkert/Klie 2004: 116.
62
Bewegründe für häusliche Versorgung von pflegebedürftigen Angehörigen151. Weitere Begriffe
und Annahmen müssen erläutert werden.
2.2.1 Soziale Milieus – Sicht auf die deutsche Sozialstruktur
Der Begriff „Sozialstruktur“ gehört zu den soziologischen Grundkonzepten. Er bedeutet im
engeren Sinne eine Einbettung der Individuen in die Gesellschaftsstruktur. Grundsätzlich
verbindet man damit eine hierarchische Ordnung der Gesellschaft hinsichtlich der ungleichen
Verteilung von günstigen sozioökonomischen Lebensressourcen und Teilhabechancen und
einer „oben-unten“ Positionierung der Gesellschaftsmitglieder. Somit ist die soziale Position
einer Person im gesellschaftlichen Gefüge immer mit Benachteiligung oder Privilegierung
verbunden. In den gegenwärtigen modernen Gesellschaften lassen sich Präferenzen,
Verhaltensdispositionen und Handeln nicht nur durch objektive positionale Ungleichheit
(entlang der vertikalen Dimension der Statushierarchie) erklären. Von der Verfügbarkeit über
„strukturelle Ressourcen“ hängen zwar wesentliche Lebenschancen ab, eigene Bedürfnisse,
Aspirationen und Lebenspläne zu befriedigen152. Je weiter eine Gesellschaft von den
Individualisierungstendenzen und der Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen
erfasst wird, desto mehr gewinnen die subjektiven Wirklichkeiten bzw. horizontalen
Differenzierungen an Bedeutung153. Das sind z.B. die in einer Gesellschaft verbreiteten
Einstellungen, Wertorientierungen oder Orientierungen an bestimmten Lebensentwürfen, die
nicht die gleiche Anerkennung genießen. Das Ausmaß an Anerkennung (von Bourdieu als
„symbolisches Kapital“154 bezeichnet) hängt heutzutage ganz wesentlich davon ab, inwieweit
eine Person mit ihrem Lebensentwurf den Erwartungen von Flexibilität und
Mobilitätsanforderungen einer „entgrenzten“ Arbeitswelt genügen kann und wie stark die
Orientierung an einer individualisierten und selbstbestimmten Lebensführung ist. Je legitimer
diese Vorstellungen in der Gesamtgesellschaft und im Lebensumfeld sind, umso höher ist dann
deren Anerkennung. Von diesen „soziokulturellen“ Ressourcen hängt es ab, welche
Lebensziele eine Person verfolgt, welche sozialen Ansprüche sie hat oder welchen Stellenwert
der Beruf in ihrem Lebensentwurf einnimmt.
151 Blinkert/Klie 2006: 41. 152 Siehe Diskussion bei Geißler 2014. 153 Beck 1986: 121f. 154 Bourdieu 1983.
63
In einer besonders aussagekräftigen Weise bringt der Begriff „soziale Milieus“ die
Kombination von unterschiedlichen Positionen im System der vertikalen und horizontalen
Ungleichheiten zum Ausdruck. Gerade jene Milieuansätze155, die sich an dem
kultursoziologischen und zugleich klassentheoretischen Ansatz von Pierre Bourdieu156
orientieren, lassen den Zusammenhang zwischen den „pluralisierten“ Lebensorientierungen
und den „objektiven“ ungleich verteilten Handlungsressourcen nicht aus dem Auge. Entgegen
den Vorstellungen über eine „entstrukturierte Klassengesellschaft“157 oder eine kapitalistische
Gesellschaft „Jenseits von Stand und Klasse“158 teilen sie die Erkenntnis, dass Lebenschancen,
Risiken, Mentalitäten, Orientierungen und Verhaltensweisen mit den vertikalen
Ungleichheitsstrukturen eng zusammenhängen159. Auch bei der Milieu-Konstruktion des
Freiburger Ansatzes stellt man die Tendenz fest, dass ein „vormoderner Lebensentwurf“ sehr
viel häufiger bei niedrigem strukturellem Kapital zu beobachten ist. Umgekehrt korrespondiert
ein „moderner Lebensentwurf“ deutlich mit hohem strukturellem Kapital. Die beiden
Dimensionen stehen in einem Zusammenhang, der weit davon entfernt ist, perfekt zu sein, was
für eine nur „relative Entkopplung“ der beiden Dimensionen in Deutschland spricht160.
Auf der mikroanalytischen Ebene des Begriffs-Paares lassen sich mit „traditional“ und
„modern“ unterschiedliche Einstellungen, Orientierungen, Werte- und Lebenshaltungen der
Gesellschaftsmitglieder beschreiben (die sowohl im historischen Veränderungsprozess oder zu
einem bestimmten Zeitpunkt empirisch beobachtet werden können). Dabei meint „traditionell“,
das mit „konventionell“, „herkömmlich“ synonym ist, wenn man den bisherigen
Lebensmustern unhinterfragt folgt, ohne das Bedürfnis zu haben, etwas zu verändern. Das hat
nichts mit der „konservativen“ geistigen Haltung zu tun, die bewusst an Traditionen festhält,
sich mit ihnen verbunden fühlt und somit Wandel verhindern will161. Demgegenüber steht die
„modernistische Haltung“ mit ihrer Orientierung an Selbst-, statt Fremdbestimmung,
155 Damit sind gemeint das Lebensstilkonzept von Hans Peter Müller (1992), die klassentheoretischen
Milieutypologien von Michael Vester et al. (2001, ursprünglich 1993), 2003 und Gunnar Otte (2005), die
SINUS-Milieus und die Milieutypologie von Baldo Blinkert und Thomas Klie (2004, 2006). Zur Diskussion
verschiedener theoretischer Zugänge zu Sozialstrukturanalysen in Deutschland siehe Geißler 2014, insb. Kap 5. S. 93-130.
156 Bourdieu 1987. 157 Berger 1986. 158 Beck 1983. 159 Milieu-Konzepte bewähren sich insbesondere dann, wenn es ihnen gelingt, unter der Berücksichtigung von
einer größeren Vielfalt von „objektiven“ Lebensumständen und „subjektiven“ Lebenswelten und
Lebensformen die Dispositionen und Handlungen von Personen besser zu erklären. 160 Blinkert/Klie 2006: 22. 161 Saalmann 2008: 8.
64
Unabhängigkeit von traditionellen Autoritäten, einer Grundbereitschaft, die eigene Laufbahn
pro-aktiv zu gestalten, einer Zukunftsausrichtung und Offenheit für neue Erfahrungen im
Allgemeinen162.
An dieser Stelle soll betont werden, dass der Zugang zur Ordnung und Analyse
sozialstruktureller Vielfalt mittels Milieu-Konzepten typisch für die deutsche
Sozialstrukturforschung ist. Mehr noch, Milieumodelle sind für eine westliche postmoderne
Wohlstandsgesellschaft angebracht, in der postindustrielle Arbeitsverhältnisse große
Bedeutung gewonnen haben. Sie sind eventuell weniger passend, um die Sozialstruktur einer
Transformationsgesellschaft zu beschreiben (über Russlands Sozialstruktur siehe Kap. 2.3.2).
Deshalb ist es sinnvoll, in unserer binationalen Pilot-Studie keine Milieu-Konstrukte zu bilden
und die beiden (Ungleichheits-)Dimensionen der Sozialstruktur (vertikale und horizontale) auf
Zusammenhänge mit der Pflegebereitschaft separat zu untersuchen163. Für die Herleitung des
Erklärungsmodells ist eine theoretische Betrachtung der zwei gegensätzlichen
Ressourcenkonstellationen hilfreich (siehe Abb. 5). So würde man an dem einen Pol der
Sozialstruktur die so genannten „Performers“ oder „modernen Subjekte“ vorfinden, für die
hohe strukturelle Ressourcen und individualisierte Lebensentwürfe kennzeichnend sind. Am
gegenüber liegenden Pol einer zweidimensionalen „sozialen Landkarte“ stehen dagegen die
„Traditionals“ – die so genannten „traditionellen Subjekte“. Sie haben in deutlich geringerem
Maße selbstbestimmte bzw. individualisierte Lebensentwürfe und ein eher niedriges
strukturelles Kapital vorzuweisen. Bei Blinkert und Klie entsprechen diese Typen den beiden
konträren Milieus: (Modernisierungs-)Gewinner vs. -Verlierer164, in der russischen
Transformationsgesellschaft wären dies die (Transformations-)Gewinner und -Verlierer als
Pendants.
162 Für eine detailierte Auseinandersetzung mit „traditionellen“ – „modernen“ Wertehaltungstypen, siehe
Saalmann 2008. 163 Außerdem würden die resultierten Teilstichproben zu geringe Fallzahlen aufweisen, um weitere Analysen zu
ermöglichen. 164 In Blinkert und Klies Konzept sind es „liberales bürgerliches Milieu“ und „traditionelles Unterschicht-
Milieu“. Insgesamt unterscheiden die Autoren sieben Miliues.
65
Abb. 5: Ressourcentypologie – Definition über strukturelle (sozialer Status) und symbolische
bzw. soziokulturelle Ressourcen (Lebensentwurf)
Aus Gründen des besseren Verständnisses werden hier also die beiden Begriffe „soziale
Milieus“ und „Konstellationen aus verschiedenen sozialstrukturellen und soziokulturellen
Ressourcen“ synonym verwendet. Wenn von unterprivilegierten Milieus oder ungünstigen
Ressourcenkonstellationen die Rede ist, dann sind darunter niedrigere sozioökonomische
Statuspositionen bzw. geringe sozialstrukturelle Ressourcen und „traditionelle“
Lebensorientierungen gemeint. Dagegen spricht man von sozial begünstigten Milieus bzw.
privilegierten Ressourcenkonstellationen beim Vorliegen hoher sozioökonomischer
Ressourcen und „modernen“ Lebensentwürfen.
2.2.2 Handlungsstrukturen der Pflege - (Opportunitäts-)Kosten und Gratifikationen
Um die Frage zu beantworten, welche Kosten in welchen Milieus welche Bedeutung haben,
kann man ganz grob zwischen zwei Typen von Kosten unterscheiden. Das sind zum einen die
„direkten ökonomischen Kosten“ der Pflege. Selbst wenn die deutsche Pflegeversicherung in
66
der Regel 50 % der Pflegekosten übernimmt, ist Selberpflegen ohne professionelle Hilfe
zweifellos die kostengünstigste Alternative. Alles andere ist kostspieliger165.
Der zweite Typ von Kosten lässt sich mit dem wirtschaftstheoretischen Begriff
Opportunitätskosten treffend bezeichnen. Unter Opportunitätskosten versteht man ganz
allgemein die Kosten der alternativen Verwendung eines knappen Gutes. Sie sind entgangener
Nutzen oder Gewinn, der dadurch entsteht, dass vorhandene Möglichkeiten zur Nutzung von
Ressourcen nicht wahrgenommen werden166. Die Opportunitätskosten unserer Zeit basieren
darauf, „dass in modernen Gesellschaften jedes Individuum als Träger verschiedener Rollen
zugleich in mehreren gesellschaftlichen Teilsystemen agiert. Damit verbunden ist zum einen
zwar eine Vielfalt an Handlungsoptionen für die eigenen Lebensgestaltung, zum anderen aber
eine chronische Knappheit an Zeit“167. Im Kontext der Untersuchung der Pflegebereitschaft
definiert man Opportunitätskosten als „Hinweis[e] auf entgangene oder verstellte
Möglichkeiten, wenn man die Pflege eines Angehörigen übernimmt“168.
Welche (Opportunitäts-)Kosten entstehen der Pflegeperson – oder mit anderen Worten –
worauf müssen sie verzichten, wenn sie die Pflege älterer Angehöriger selber übernehmen?
Die (Opportunitäts-)Kosten entstehen aus expliziten und impliziten Anforderungen der Pflege,
welche die „Handlungsstrukturen der Pflege“ ausmachen. Die expliziten Anforderungen der
Pflege169 lassen sich aus der Art der Tätigkeit, der Häufigkeit und Intensität und dem
Abhängigkeitscharakter zwischen der pflegebedürftigen und pflegenden Person ableiten. Pflege
ist immer körperbezogen, oft medizinisch anspruchsvoll, muss regelmäßig, dauerhaft und
verbindlich ausgeführt werden, weil sie die für die pflegebedürftige Person lebensnotwendigen
Aktivitäten betrifft. Durch das Angewiesensein der pflegebedürftigen Person auf Fremdhilfe
165 Im Russischen Pflegesystem gibt es ebenso unterschiedliche Versorgungsformen (stationäre und ambulante)
und Kompensationszahlungen für die Versorgung pflegebedürftiger Personen. Zu Details siehe Kap. 3.3. 166 Vgl. Wirtschaftslexikon, Stichwort „Opportunitätskosten“. 167 Fuchs 2000: 263 zit. n. Biedermann 2006: 22. 168 Blinkert/Klie 2006: 38. 169 Pflege beinhaltet Hilfe bei der Körperpflege (z.B. beim Duschen, Waschen, Nägel-, Haareschneiden, An-
und Auskleiden, Rasieren, Mundhygiene) sowie bei der Nahrungseinnahme. Hinzu kommen in der Regel behandlungspflegerische Maßnahmen wie Lagerung und Umdrehen einer bettlägerigen Person sowie andere
Maßnahmen der Prophylaxe wie die Förderung der Aktivität der pflegebedürftigen Person. Weiterhin müssen
bei der Pflege zu Hause der Haushalt geführt, das Essen zubereitet oder Besuche beim Arzt absolviert
werden. Es muss auch für soziokulturelle Teilhabe der pflegebedürftigen Person (z.B. Gespräche,
Spaziergänge, Unterhaltung, Aufrechterhaltung freundschaftlicher und familiärer Sozialkontakte) gesorgt
werden. Wichtige Entscheidungen (gesundheitlicher, rechtlicher Art, etc.) müssen vorbereitet und getroffen
werden und vieles Anderes. Kurz gesagt, wird die pflegende Person neben den Pflegedienstleistern auch noch
zu einem persönlichen Manager und Gesellschaftsleister (zu weiteren „impliziten“ Handlungsanforderungen
in der Pflege siehe Kap 2.2.2).
67
und den Verpflichtungscharakter für die Pflegeperson entsteht eine wechselseitige
Abhängigkeit170.
Im Freiburger Ansatz stehen jedoch die impliziten Auswirkungen der Pflege auf das Leben der
pflegenden Person im Vordergrund. Die gesamte Lebenssituation des pflegenden Angehörigen
bedarf höchster Anpassung an die Erfordernisse der Pflege. Der eigene Tagesablauf richtet sich
streng an den Abläufen im Tagesrhythmus der pflegebedürftigen Person aus. Wann schläft, isst
sie? Wann muss sie gepflegt werden, wann will sie unterhalten werden?171 Altenpflege ist
grundsätzlich mit der Pflege eines Kleinkindes vergleichbar, mit dem Unterschied, dass man
eine erwachsene pflegebedürftige Person evtl. für einige Stunden alleine lassen kann. Die
Erwartungen der pflegebedürftigen Person an ihre Angehörigen beschränken sich in der Regel
nicht nur auf die Verrichtung der Grundpflege, vielmehr wünschen sie, dass die Angehörigen
für sie auch da sind im emotionalen und moralischen Sinne. Pflegeverpflichtungen gegenüber
nahen Angehörigen zeichnen sich daher durch „ein hohes Maß an kontinuierlicher und
dauerhafter Involviertheit aus“172. Aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehungen und der
spezifischen Rollenattribute (als (Schwieger)Tochter, Ehegatte, Geschwister etc.) sind die
Angehörigen also nicht nur partikular, sondern mit ihrer ganzen Person in die Pflege
involviert173. Der Zustand der ständigen Verfügbarkeit, sogar des Aufopferns kann Jahre
dauern. Laut Studienergebnissen beträgt die reine Pflegezeit am Tag im Durchschnitt 3 bis 6
Stunden. Die Hälfte der Pflegenden muss sich aber auch nachts um die pflegebedürftige Person
kümmern174. In Deutschland schätzt man die durchschnittliche Dauer der Pflegebedürftigkeit
bei den über 60-Jährigen auf 2,5 bis 3,5 Jahre175, so lange wird im Schnitt auch zuhause
gepflegt176. Die Verrichtung körperlicher Pflege bei einem Pflegebedürftigen kann zu einer
hohen emotionalen Belastung bei den erwachsenen Kindern führen, bedingt durch den
Rollentausch. Erlebte Ängste, psychische Belastungen sowie körperlich schwere
Pflegeaufgaben können die Gesundheit der pflegenden Angehörigen beeinträchtigen oder
schädigen177. Eine oft „endlose“ Pflege178, die wegen der „erheblichen inneren Konflikte“
170 Vgl. Haberkern 2009: 22. 171 Vgl. Böcken et al. (Hg.) (2013) - Gesundheitsmonitor 2013. 172 Blinkert/Klie 2006: 88. 173 Ebd. 174 Kuhlmey 2014. 175 Rothgang et al. 2009: 151, zit. n. Rothgang 2010: 151. 176 Müller et al. 2010: 236, zit. n. Rothgang 2010: 33; Blinkert und Klie 2006: 27. 177 Kuhlmey 2014. 178 Kuhlmey 2014.
68
praktisch nicht “kündbar“ ist179, beansprucht die pflegenden Angehörigen in besonderer Weise.
Denn selbst wenn die Pflegenden ab und zu die Pflege des Angehörigen an andere delegieren,
fühlt sich knapp ein Viertel (24 %) der Pflegenden dabei ziemlich unwohl180.
Pflegeaufgaben führen zu einer Reduktion der Berufsausübung. In Deutschland ist sie für 11 %
mit einem Beschäftigungsverlust bzw. einer Beschäftigungsaufgabe verbunden181. Es handelt
sich dabei um eine geschlechterspezifische Verteilung der Vereinbarkeitsproblematik
(zwischen Beruf und Pflege), für die in Deutschland ausreichend Erkenntnisse vorliegen.
Frauen sind (zeit)intensiver durch Pflegeaufgaben beansprucht, der Beruf wird
hintenangestellt182. Das dürfte aber strukturelle Gründe haben, Frauen haben häufiger
niedrigere strukturelle Position infolge ihrer geringeren Erwerbstätigkeit und niedrigeren
Einkünfte183. Somit ist intergenerationale Pflege mit Belastungen und Einschränkungen
verbunden, die in eine „moderne“ Lebensweise erheblich eingreifen. Mit der Pflege verbundene
Rahmenbedingungen haben eine flexibilitätseinschränkende Auswirkung auf alle
Lebensbereiche der Pflegeperson. Hat man sich einmal auf die Pflege eingelassen, muss alles
andere den daraus entstehenden Anforderungen untergeordnet werden: Job,
Freizeitbeschäftigungen, eigene soziale Kontakte etc. Unvermeidlich rücken eigene Interessen
in den Hintergrund und es treten Zeitprobleme184 auf. Auch die Lebenszufriedenheit nimmt
aufgrund der Pflegeübernahme häufig ab185. „Ein in eine nahraumsolidarische Beziehung
verstricktes Individuum ist – gemessen an modernen Anforderungen – „überfixiert“”186.
Aus den Handlungsstrukturen der Pflege ergeben sich nicht nur spezifische Kosten, sondern
auch ein möglicher Nutzen der Pflege. Gratifikationen der Pflege sind gewissermaßen
Entschädigungen bzw. Belohnungen, die sich durch „Nähe und Zugehörigkeit ergeben, durch
ein gewisses Maß an Geborgenheit und durch die Anerkennung von signifikanten anderen
Personen aus dem unmittelbaren Umfeld“187. Die Normeneinhaltung dürfte sich somit in
symbolischer, aber auch ökonomischer Sicht durchaus auszahlen. Pflege durch
179 Blinkert/Klie 2004: 141. 180 Kuhlmey 2014. 181 Mager/Eisen 2002: 19. 182 Siehe z.B. Bild der Frau (2015) - Allensbacher IFD-UMFRAGE 6299, S. 75ff. Zur Situation der pflegenden
Frauen sehe auch Dallinger 1997. 183 Blaumeiser et al. 2001:416. 184 Siehe Bild der Frau (2015) - Allensbacher IFD-UMFRAGE 6299, Schaubild 35, S. 49. 185 Siehe Kuhlmey 2014. 186 Blinkert/Klie 2004: 141. 187 Blinkert/Klie 2006: 89.
69
Familienmitglieder könnte eine finanziell attraktive Alternative sein, wenn damit die Chance
auf eine Erbschaft verbunden ist, die dann nicht z.B. den hohen Heimunterbringungskosten zum
Opfer fallen würde. Mit dem Pflegegeld ließe sich auch die Haushaltskasse etwas aufbessern.
Fassen wir zusammen: Die Handlungsanforderungen (bzw. Kosten) der intergenerationalen
Pflege ergeben sich einmal aus der undefinierten bzw. unbefristeten Dauerhaftigkeit der
Pflegeverpflichtung. Dazu kommen physische und psychische Belastungen, Einbußen an
zeitlicher Flexibilität und geographischer Mobilität. Auch berufliche Einschnitte müssen in
Kauf genommen werden, etwa Pflegeauszeiten oder Teilzeitarbeit, wie auch die weiteren oben
besprochenen persönlichen Entbehrungen. Selberpflegen stellt hohe Opportunitätskosten für
„moderne“ Lebensentwürfe dar. Die früheren Studien zeigten ebenso, dass mit steigendem
strukturellem Kapital direkte ökonomische Kosten eines Pflegeheims eine immer geringere und
Opportunitätskosten des Selberpflegens eine immer größere Rolle spielen. Umgekehrt, mit
sinkendem strukturellem Kapital werden die direkten ökonomischen Kosten eines Pflegeheims
prohibitiver, und es sinken die Opportunitätskosten beim Selberpflegen188: Die Bedeutung des
Spagats zwischen Beruf und Pflege in verschiedenen sozialen Milieus und in
geschlechtsspezifischer Perspektive wurde in Russland bisher nicht untersucht.
2.2.3 Soziokulturelle Wandlungsprozesse
Die Grundannahme über die ungleiche Verteilung von Pflegebereitschaften in der
Sozialstruktur stützt sich auf die These fortschreitender Individualisierungstendenzen189 in der
Gesellschaft. Diese haben zum Ansteigen von Lebensentwürfen geführt mit starker
Orientierung zu Autonomie und einer selbstbestimmten bzw. individualisierten Lebensführung.
Es wird ferner angenommen, dass es unter dem Imperativ der Moderne (strukturell gestiegene
Anforderungen an die Flexibilität und Mobilität in der Berufswelt, subjektiv gewachsene
Ansprüche an die eigene soziale Identität, die eigene Selbstverwirklichung in Beruf, Freizeit,
Partnerschaft, im Rahmen des gesellschaftspolitischen Engagements etc.) zur Inkompatibilität
zwischen „modernen“ Lebensentwürfen und Pflegeaufgaben kommen kann.
188 Blinkert/Klie 2004, 2006. 189 Unter Individualisierungstendenzen versteht man Freisetzungsprozesse des Individuums aus traditionellen
kollektiven Lebenszusammenhängen und Abhängigkeiten, eine Zunahme des Entscheidungsspielraums und
sozialer Bedeutsamkeit des Individuums und der Individualität spätestens seit der Reformationszeit, siehe
Beck 1986.
70
Das handlungstheoretische Erklärungsmodell von Blinkert/Klie (2004), das als Grundlage für
diese Arbeit dient, lässt sich mit dem theoretischen Habitus-Ansatz190 von Bourdieu ergänzen.
Die variierenden Präferenzen, Bedürfnisse, Motivationen bei „traditionellen“ und „modernen“
Subjekten kann man mit dem Begriff Habitus erfassen. Der Habitus in verschiedenen Milieus
wird in dieser Studie anhand dreier Subdimensionen beschrieben: a) ihrer Werteorientierungen,
b) ihrer sozialer Anerkennungsbedürfnisse und c) ihrer berufsbezogenen Ansprüche. Den
Hintergrund für die gewählten Charakterisierungsdimensionen bilden verschiedene
soziokulturelle Wandlungstendenzen – allgemeiner Wertewandel, Wandel der „Sozialen
Subjektivität“191 und Tendenzen zum veränderten Verhältnis von Individuen und Arbeit und
dem Trend zur zunehmenden Selbstverwirklichungsaspiration in der Arbeit (Stichwort
„Subjektivierung von Arbeit“). Das sind konkrete Erscheinungsformen der allgemeinen
Individualisierungstendenzen, die letztendlich für die Pluralisierungen und Diversifizierungen
in den sozialen Milieus bei den gleichen strukturellen Lagen sorgen. Diese soziokulturellen
Wandlungsprozesse sollen zuerst kurz skizziert werden, bevor anschließend diskutiert wird,
welche konkreten Werteüberzeugungen, sozialen Anerkennungsbestrebungen und beruflichen
Ansprüche für „moderne“ bzw. „traditionelle“ Subjekte typisch sind und wie gut diese mit den
Handlungsstrukturen der Pflege vereinbar sind.
Individualisierung
Mit Individualisierungstrends lassen sich universelle Tendenzen verbinden, die unabhängig von
kulturellen Besonderheiten oder Rückschlägen im Prozess, „eine gewisse Linearität der
Menschheitsgeschichte“ erkennen lassen in der Steigerung der Fähigkeit des Individuums,
„zunehmend ungehindert seine eigene [selbstbestimmte] Lebensführung zu gestalten“192. Die
Ambivalenz der „Freisetzungsprozesse“ besteht darin, dass beim Verlust von traditionalen
Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen und leitende Normen und Werte, die Individuen
erst lernen müssen, mit den neu gewonnenen Freiheiten umzugehen. Mehr noch, Freiheit und
Autonomie zwingen Individuen zur Selbstverantwortung und zur aktiven Gestaltung des
eigenen Lebens. Diese Bereitschaft, die (neuen) Entscheidungsspielräume auszuloten und für
den eigenen Lebensentwurf zu nutzen, kann je nach Gesellschaftsbedingungen und zwischen
190 Bourdieu 1983, 1987. 191 Popitz 1987. 192 Saalmann 2008: 6.
71
den Subjekten beträchtlich variieren, nicht zuletzt aufgrund „objektiv“ ungleich verteilter
Handlungsressourcen193. Bei den individuellen Voraussetzungen zeigt sich diese Bereitschaft
in unterschiedlich stark ausgeprägten Orientierungen auf „moderne“ bzw. „individualisierte“
Lebensentwürfe. Sie verstärkt sich mit einem höheren Ausmaß an strukturellem Kapital.
Wertewandel
„Werte sind grundlegende Orientierungen, die Menschen dabei behilflich sind, aus einer
potenziell unbegrenzten Zahl möglicher Handlungen und denkbarer Einstellungen zu
wählen“194. Werte unterliegen einem ständigen Wandel und sind abhängig von der jeweiligen
Kultur. In jeder Gesellschaft gibt es zwar allgemeine Vorstellungen darüber, was als
wünschenswert erachtet wird. Verschiedene Gesellschaften gewichten jedoch ihre leitenden
Werteideale unterschiedlich (kollektivistische, individualistische, liberale, egalitäre bzw.
soziale, konservative), die sie als kulturelle Leitbilder auch ihren wohlfahrtsstaatlichen
Regimen zugrunde gelegt haben195. Allerdings finden sich innerhalb jeder Gesellschaft
Individuen und soziale Gruppen mit unterschiedlichen Wertorientierungen196. Als
übergreifender Trend der letzten Jahrzehnte erwies sich eine Verschiebung „weg von Pflicht-
und Akzeptanzwerten“, hin zu mehr individuellen Werthaltungen197. Dabei verschwinden zwar
die alten Werthaltungen Autoritätsgehorsamkeit und Konformität nicht gänzlich, sie werden
aber immer mehr von einem größer werdenden Teil der Bevölkerung zugunsten von
„Selbstbestimmungs- und Selbstentfaltungswerten“ und der Gleichberechtigung in Frage
gestellt198.
193 Vgl. Geißler 2014: 128. 194 Roßteutscher 2013: 936. 195 Vgl. Esping-Andersen 1990; Pfau-Effinger 2009. 196 Roßteutscher 2013: 937. 197 In der internationalen Forschung steht eine Reihe von gegensätzlichen Wertepaaren im Zentrum einer recht
kontroversen Werteforschungsdebatte. Einerseits so genannte „traditionelle“ Werte, auch unter dem Label
„materielle Werte“ bekannt (Fixierung auf materielle Sicherheit, Zugehörigkeit, Konformität, Religion, etc.),
andererseits Orientierungen auf „moderne“ Werten, oft als „postmaterielle Werte“ bezeichnet (wie
gesellschaftliche und politische Partizipation, Selbstverwirklichung, Lebensqualität, Lebenslust, Autonomie,
etc.), siehe die Zusammenfassung bei Roßteutscher 2013: 937, oder bei Welzel 2009. 198 Vgl. Klages 1993: 3-5; Welzel 2009:109.
72
Wandel der „Sozialen Subjektivität“
Wonach Menschen am meisten streben, ist die soziale Anerkennung. Sie unterscheiden sich in
ihrer „sozialen Subjektivität“199, die sich mit der Zeit gewandelt hat. Nach Popitz (1987) lassen
sich fünf Typen der „sozialen Subjektivität“ unterscheiden: (1) soziale Subjektivität als
Bedürfnis, Teil einer Gruppe zu sein (z.B. als Gemeindemitglied oder Staatsbürger). Der erste
Typ der Anerkennungsbedürfnisse erscheint für die Erklärung der Pflegebereitschaft von keiner
großen Bedeutung zu sein. Mit den anderen lassen sich in der Tat interessante Überlegungen
im Kontexte der Pflege anstellen. (2) soziale Subjektivität als Anerkennung in einer
„zugeschriebenen Rolle“ (als Familienmitglied entsprechend angeborener Merkmale wie
Geschlecht und Abstammung oder einer spezifischen „sozialen Funktion“ als Mutter, Tochter,
Schwiegertochter etc.). In jeder Gesellschaft haben sich alters- bzw. geschlechtsspezifische
Erwartungen und Rollenzuschreibungen herauskristallisiert. In verschiedenen Gesellschaften
(modernen wie traditionellen) werden Frauen und Töchtern Aufgaben der Kindererziehung und
die Altenpflege zugewiesen. (3) soziale Anerkennung in einer „erworbenen Rolle“, insb. im
Berufsleben. Im Industriezeitalter kam es zu einer starken Zentrierung des Gesellschaftslebens
rund um die Arbeit und damit zur Dominanz dieses Typus. (4) Bestreben nach Anerkennung
im öffentlichen Bereich bzw. in einer „öffentlichen Rolle“. Historisch ist das Interesse an
öffentlicher Anerkennung mit der Entstehung der politischen Herrschaft verbunden. Heute wird
der „Zuschnitt vieler Berufsrollen öffentlichen Rollen immer ähnlicher“200 (Berufspolitiker,
Vorstände, Abteilungsleiter oder Personen in verantwortungsvollen Positionen wie Referenten,
Beauftragte für besondere Aufgaben, Fachspezialisten, Selbstständige etc.). (5) soziales
Anerkennungsbedürfnis der eigenen Individualität. Bei diesem zuletzt entstandenen Typus
sozialer Identität geht es um das Streben nach Entfaltung eigener Talente und Veranlagungen
199 Das Konzept „soziale Anerkennungsbedürfnisse“ und die These ihres Wandels stammt aus Heinrich Popitz‘
Autoritätstheorie (1987). Popitz (1987: 633) stellt fest, dass es sich immer um eine „doppelte Anerkennung“ handelt, die er als „soziale Subjektivität“ bezeichnet. Diese fungiert als Bindeglied zwischen der Validierung
des Selbstwertgefühls und sozialer Bestätigung von außen bzw. durch andere. Die soziale Bestätigung und
Akzeptanz jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft hängt von der Autoritätsausübung der anderen
Menschen oder der Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsformen wie Familie, Kollektiv,
Unternehmen, Staat, etc. ab. Um Respekt von Autoritätspersonen bzw. -Institutionen zu erlangen, müssen
wir die Dinge aus ihrer Perspektive betrachten und Leistungen entsprechend ihren Erwartungen erbringen.
Soziale Anerkennung wird immer für das vergeben, was man selber geleistet hat, sie ist nicht „in die Wiege
gelegt“. 200 Sterbling 1992: 112.
73
in Kunst, Kultur, Wissenschaft etc., verbunden mit gesellschaftlicher Wahrnehmung und
Ansehen.
Geschichtlich haben sich die fünf Typen mit der Differenzierung der gesellschaftlichen Formen
entwickelt. Heutzutage sind unterschiedliche Identitätsansprüche in jeder Gesellschaft präsent.
Zwei Entwicklungen haben sich im Laufe der Zeit herauskristallisiert. Erstens, die Typen sind
kumulativ, die früheren und späteren Typen müssen sich nicht zwangsläufig gegenseitig
ausschließen, d.h. sie existieren nebeneinander. In einer Querschnittsbetrachtung der
Sozialstruktur lassen sich bei pflegebereiten unterprivilegierten sozialen Milieus eher die
grundlegenderen Typen der sozialen Subjektivität erwarten. Für den Habitus der sozial
begünstigten und wenig pflegebereiten Milieus werden die „fortgeschrittenen“ Typen eine
größere Bedeutung haben201. Die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und nach Anerkennung in
traditionalen zugeschriebenen Rollen entsprechen eher den Handlungsstrukturen der Pflege als
die Bedürfnisse nach Anerkennung in öffentlichen Rollen und nach Anerkennung einer eigenen
Individualität. Zweitens ist angesichts zunehmender Individualisierungstendenzen ein Trend zu
einer sukzessiven Individualisierung „sozialer Subjektivität“ erkennbar.
Durch die Zunahme von Anerkennungserwartungen und -angeboten, ist bei Subjekten mit
pluralen Anerkennungsbedürfnissen zu rechnen, die auch konkurrierend sein könnten. In
bestimmten Situationen (wie im Pflegefall) kommt es vermutlich zu einer Wahlentscheidung
für einen bestimmten Typ der Anerkennung, wenn man die verschiedenen sozialen
Subjektivitätstypen nicht mehr miteinander kombinieren kann. Diese Situation ist besonders
bei den gut qualifizierten Frauen zu finden. Trotz moderner Lebensentwürfe, sehen sie sich oft
mit den traditionellen Erwartungen aus dem Familienverband konfrontiert und finden sich in
einer „Sandwich-Position“.
Veränderter Stellenwert der Arbeit für die eigenen Identität und Lebensentwurf
Der Beruf besitzt im menschlichen Leben einen hohen Stellenwert. „Er ist prägend für die
eigene Identität und weist auf unsere gesellschaftliche Stellung hin“, so Arbeitspsychologe
Hagemann202. Im Übergang von einer industriellen zur postindustriellen Produktion haben sich
große Veränderungen in der Arbeitsorganisation und den Anforderungen an die Arbeit ergeben.
201 Blinkert/Klie 2004: 143f. 202 Hagemann, zit. n. Groll 2011.
74
Aus der subjektorientierten Sicht fand ein Wandel der berufs- und bildungsbezogenen
Identitätsansprüche und Arbeitsmotivationen statt. In der modernen Arbeitswelt wird Arbeit
nicht mehr nur als Instrument der Existenzsicherung gesehen, sondern dient zunehmend der
Realisierung eigener Interessen und Lebenspläne. Es erscheint deshalb besonders lohnend, die
bisher geführte Diskussion über differenzierte Anerkennungsbestrebungen im Beruf mit Blick
auf die Auswirkungen der gegenwärtigen Tendenzen in der Arbeitswelt, wie der
„Subjektivierung der Arbeit“203 fortzusetzen.
In den Diskussionen um die Entwicklung von Erwerbsarbeit wird vielerseits eine „doppelte
Subjektivierung von Arbeit“ diagnostiziert. Darunter versteht man ein Wechselverhältnis
zwischen dem einzelnen Subjekt und seiner Arbeit: die Arbeit fordert immer mehr „subjektive
Fähigkeiten“ von den Beschäftigten, insb. Selbststeuerungs- und
Selbstoptimierungsfähigkeiten ohne unmittelbare Kontrolle von den Vorgesetzten204. Dafür
werden den Beschäftigten Selbstverwirklichungsmöglichkeiten versprochen205. Auch
Beschäftigte entwickeln zunehmend eigene gestiegene („subjektzentrierte“) Ansprüche
gegenüber ihrer Arbeit und tragen diese Erwartungen in ihren Beruf hinein206. „Normative
Subjektivierung“ markiert das neue Bewusstsein, mit dem die Beschäftigten die von ihnen
geleistete Arbeit primär auf die eigene Person beziehen, anstatt auf das Unternehmen207. Es
verdeutlicht den Individualisierungstrend in der Erwerbstätigkeit, einen Sinn über den „reinen
Broterwerb“ bzw. eine Existenzsicherung hinaus zu suchen. Die Nachwuchskräfte lassen sich
heutzutage nicht mehr nur mit Geld, Firmenwagen und Boni locken, sie legen überwiegend
einen größeren Wert auf interessante Aufgaben und eine vielversprechende
Entwicklungsperspektive. „Normative Subjektivierung“ kommt in Entwicklungs- und
Selbstverwirklichungswünschen, Bestreben nach Autonomie, öffentlicher Anerkennung und
Selbstdarstellung der fachlichen Kompetenzen zum Ausdruck.
203 Weitere Entwicklungen in der Arbeitswelt lassen sich unter dem Oberbegriff „Entgrenzung der Arbeit“
subsumieren wie „die Erosion der Grenzen zwischen der betrieblichen Organisation und den Märkten
(‚Vermarktlichung‘), Erosion der Grenzen zwischen (Erwerbs-)Arbeit und privater Lebenswelt
(‚Flexibilisierung‘) sowie zwischen Person und Arbeitskraft (‚Subjektivierung‘)“, Kratzer 2013: 187. Siehe auch Übersicht bei Kleemann 2012 und Kratzer et al. 2003.
204 Kratzer et al. 2003. 205 Weitere konzeptionelle Zugänge, Blickwinkel und soziokritischen Diagnosen der veränderten Qualität des
Wechselverhältnisses von Individuen und Arbeitswelt, die hier allerdings nicht weiter ausgeführt werden
können, finden sich in den verwandten Konzepten wie der „Arbeitskraftunternehmer“ von Pongratz/Voß
2001, 2004, das „Unternehmerische Selbst“ von Bröckling 2007, der „Erlebnisunternehmer“ von Jung 2009
etc. 206 Kleemann et al. 2002: 2. 207 Baethge 1991: 264.
75
Diese Veränderungen lassen sich in den westlichen postindustriellen Gesellschaften seit circa
30 bis 40 Jahren vermehrt beobachten. In den 1970er Jahren entstanden neue kreative bzw.
soziale Berufen: in der Werbung, der Sozialpädagogik, den Medien und später vor allem in den
Beratungsdienstleistungen, in der IT-Branche etc. Auch die Emanzipation von Frauen trug zur
Entstehung neuer Lebensentwürfe und zu den Veränderungen individueller Deutungsmuster
von Arbeit und Ansprüchen an die Arbeit bei. „Mit den Wahlmöglichkeiten stieg jedoch die
Erwartungshaltung, etwas aus dem eigenen Leben zu machen“208. Die neuen Generationen
suchen Sinnhaftigkeit im Beruf und wollen gleichzeitig materiell abgesichert sein.
Gesellschaftliche Anerkennung gibt es aber nur für die erfolgreichen Lebensbiographien,
beruflicher Misserfolg wird mit Stigmatisierung abgestraft, zumindest in Deutschland. "Nicht
jeder Mensch ist für Arbeit [in der modernen Arbeitswelt, Ergänzung der Autorin] geboren"209.
Nicht jede Arbeit wirkt sinnstiftend und ist mit gesellschaftlicher Anerkennung verbunden.
Auch in der heutigen Arbeitswelt gibt es noch viele Jobs mit monotonen, genau definierten
Arbeitsaufgaben, die nur ein geringeres bis mittleres Qualifikationsniveau erfordern und den
Beschäftigten keinen Spielraum und daher auch kein Entwicklungspotential ermöglichen. Jobs,
die klassische Arbeitstugenden von den Beschäftigten erwarten (Pünktlichkeit, Fleiß,
Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit, etc.) sind mit alten extrinsischen bzw. „materialistischen“
Arbeitswerten (gutes Gehalt, gute Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzsicherheit) verbunden210.
Im Zuge des Wandels der arbeitsbezogenen Werte, Motivationen und Einstellungen zur Arbeit,
kommt es zwar nicht zu deren Auflösung, jedoch zur Relativierung. In der flexibilisierten
Arbeitswelt gewinnen die neuen intrinsischen, bzw. „postmaterialistischen“ oder
„subjektivierten“ Arbeitswerte (interessante und abwechslungsreiche Arbeit,
Selbststeuerungsmöglichkeit, Selbstentfaltungsmöglichkeiten, Selbstdarstellung, etc.) stärker
an Gewicht211.
Auch wenn die veränderte Qualität des Wechselverhältnisses von Erwerbspersonen und
Arbeitswelt als eine allgemein gültige Tendenz der Entwicklung von Arbeit angesehen wird,
kann von erheblichen Unterschieden in Ausmaß und Dimensionen der Entgrenzung (zeitliche,
räumliche, qualifikatorische, berufsstrukturelle, etc.) ausgegangen werden212. Ebenso ist zu
208 Hagemann, zit. n. Groll 2011 209 Hagemann, zit. n. Groll 2011. 210 Kholin/Blickle 2015. 211 Vgl. Klages 1993: 3-5; Kholin/Blickle 2015. 212 Kratzer 2003; Voß 1998.
76
vermuten, dass unterschiedliche Branchen, Berufe, Erwerbstätigengruppen und soziale Milieus
in unterschiedlichem Ausmaß von der Verschränkung von Arbeit und lebensweltlichen Sphären
betroffen sind. Dabei wird es sich primär um den „Strukturwandel qualifizierter
Erwerbsarbeit“213 handeln. Mit der Ausbreitung der „Entgrenzungstendenzen in der
Arbeitswelt“ wird die Vereinbarkeit mit den Pflegeverpflichtungen zunehmend schwieriger.
Fassen wir die oben genannten Entwicklungen zusammen: Der Wandel der
Gesellschaftsstrukturen stellt qualitativ und quantitativ mehr Gestaltungsmöglichkeiten bereit,
fördert Wahrnehmungen der Chancenausweitung und fordert die Individuen mehr heraus, diese
Chancen zu ergreifen. Es kann nicht nur von der veränderten Stellung des Individuums in der
Gesellschaft gesprochen werden, sondern auch von einer veränderten und „empirisch
feststellbaren Grundbereitschaft der Menschen, Subjekt des eigenen Handelns zu sein“214,
sprich der Einstellungsänderung. Dabei verschwinden zwar die alten Werthaltungen „Pflicht-
und Akzeptanzwerte“ nicht gänzlich, sie werden aber immer mehr von einem größer werdenden
Teil der Bevölkerung zugunsten von „Selbstbestimmungs- und Selbstentfaltungswerten“
abgelehnt. Der Wandel der Gesellschaftsstrukturen, die Individualisierungstendenzen und
Werteverschiebungen stellen den Ausgangspunkt dar für zunehmende Erwartungshaltungen an
die gesellschaftliche Validierung der eigenen Individualität. Diese wird in die Erwerbsarbeit
hineinprojiziert. Subjektivierte Arbeitsmotivationen werden von den Hoffnungen auf
persönliche Entwicklungsperspektiven und Selbstverwicklungsmöglichkeiten, Wertschätzung,
Anerkennung eigener Identität und Sinnstiftung getragen. Die skizzierten Prozesse des sozialen
Wandels haben vor allem das obere Ende der Sozialstrukturleiter erfasst, wo es weniger
ökonomische Zwänge und mehr Freiheitsgrade gibt. Dort kommen die individualisierten
Lebensentwürfe häufiger vor und werden eher historisch spätere Anerkennungsansprüche
erwartet (wie Anerkennung in der öffentlichen Rolle, Ambitionen auf gesellschaftliche
Wertschätzung eigener Individualität), sowie berufliche Selbstverwirklichungsaspirationen in
den Arbeitsbereichen mit einem hoch „subjekthaften“ bzw. „autonomisierten“ Arbeitshandeln.
Durch die Aufarbeitung bislang verfügbarer Konzepte wurde bezweckt, diese für theoretische
Interpretationen verschiedener Pflegebereitschaften der Subjekte mit unterschiedlichen
Ressourcenkonstellationen (sozioökonomischen und soziokulturellen Merkmalen) fruchtbar zu
machen.
213 Kleemann et al. 2002. 214 Klages 2001: 73.
77
2.2.4 Kompatibilitätsüberlegungen zu den Präferenzen in unterschiedlichen sozialen Milieus
und Handlungsstrukturen der Pflege
Abschließend lässt sich der Habitus „moderner“ vs. „traditioneller“ Subjekte in Bezug auf die
geschilderten Werteorientierungen, Präferenzen für bestimmte Anerkennungsbedürfnisse und
die berufsbezogenen Ambitionen wie folgt zusammenfassen (siehe Abb. 6). Gleichzeitig wird
diskutiert, in wieweit verschiedene Aspekte (Einstellungen, Vorlieben, Ansprüche) bei
bestimmten Ressourcenlagen mit den Pflegeanforderungen vereinbar sind.
Abb. 6: Aspekte des Habitus der „traditionellen“ und „modernen“ Subjekte – Werte,
(Anerkennungs-)Bedürfnisse, (Berufs-)Ansprüche
78
Der Habitus von Personen mit einem „traditionellen“ Lebensentwurf ist primär auf die
Aufrechterhaltung von herkömmlichen Lebensmustern (wie z.B. traditionelle
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) gerichtet, ohne diese in Frage zu stellen. Diese
Orientierungen drücken sich in Traditions- bzw. Konformitätswerten aus und gehen häufiger
mit der Befolgung fremder Autoritäten und Bestrebungen auf Harmonie und Stabilität Hand in
Hand. Der Lebensmittelpunkt von „Traditionals“ ist in der Regel sehr familienzentriert. Eine
überragende Bedeutung der Familie ist meistens mit Traditionen „des Dienens“ und „des Aufopferns“
für das Wohl der Familienangehörigen verbunden.
Den Milieu-Angehörigen am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie fehlen aufgrund
ihrer ungünstigen Ressourcenausstattung (niedrigeres Bildungskapital und wenig
aussichtsreiche berufliche Situation) attraktive Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft:
Chancen auf sozialen und beruflichen Aufstieg, Selbstverwirklichung, Teilhabe an Hochkultur
und gesellschaftspolitischer Gestaltung. Aufgrund dessen haben sie, im Falle des Verzichts
bzw. Einschränkungen zugunsten der Pflege, auch nicht „so viel zu verlieren“ wie Personen mit
höheren sozialen Ansprüchen und strukturellen Möglichkeiten. Bei „traditionellen Subjekten“
kann man von höheren Anerkennungschancen eher im eigenen Familien- bzw. Freundeskreis
als in einer kompetitiven postindustriellen Gesellschaft ausgehen. Dies korrespondiert mit den
primären (historisch früheren) Typen von sozialer Subjektivität. Anstelle von „legitim“
erstrebenswerten aber für sie kaum erreichbaren Zielen einer „modernen Gesellschaft“ gehören
das Bedürfnis nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Stabilität zu ihren subjektiven
Bezugsschemen. Um diese zu erhalten, muss in die Stabilisierung der Familienzugehörigkeit
und das Ansehen im nahen sozialen Raum (in der Regel im Familienverband) investiert werden,
vor allem durch die Erfüllung von konventionellen (Unterstützungs-)Erwartungen. Es steht
außer Frage, dass dies vor allem auf Frauen zutrifft, die aufgrund von Babypausen,
Erziehungsarbeit und mangelnden staatlichen Infrastrukturen für Kinderbetreuung bereits
beruflich kürzer getreten sind oder ihren Beruf ganz aufgegeben haben. Mit ihrer wenig
aussichtsreichen beruflichen Situation lassen sich an sie herangetragene traditionelle
Erwartungen bezüglich Versorgung von pflegebedürftigen Familienmitgliedern leicht erklären.
Die Fügsamkeit und Akzeptanz der „zugeschriebenen Rolle“ als familiäre Pflegeperson kann
sich aber durchaus auch lohnen. Ein möglicher Nutzen bzw. Entschädigungen der Pflege
entstehen durch die Stabilisierung und Aufrechterhaltung der familialen Beziehungen, das
Gefühl der Zugehörigkeit, Geborgenheit und die Anerkennung im Familienverband.
79
Öffentliche Anerkennung für die Altenpflege genauso wie für jede andere Form der
Familienarbeit gibt es außerhalb des Familienverbandes praktisch nicht215 (abgesehen vom
relativ geringfügigen Pflegegeld bzw. Erziehungsgeld). Weil öffentliches Ansehen durch die
„traditionellen Subjekte“ weder erstrebt wird, noch erreicht werden kann, entsteht auch kein
Widerspruch, dass für die Übernahme der Pflegearbeit keine öffentlichen Rollen vorgesehen
sind. Zusätzlich dürfte die Aussicht auf eine potenzielle Erbschaft (z.B. Eigenheim oder
Ersparnisse des pflegebedürftigen Elternteils), die dann nicht den hohen Heimkosten zum Opfer
fallen würden, als weitere Motivation für die Pflegeübernahme fungieren.
Die Bedeutung des Spagats zwischen Beruf und Pflege in der heutigen Arbeitswelt
verschiedener sozialer Schichten ist noch nicht ausreichend erschlossen. Bei beruflichen
Einschränkungen aufgrund einer Pflegeübernahme dürften für „traditionelle Subjekte“ bzw.
untere Milieus nur geringe Opportunitätskosten entstehen. Von Personen mit geringer
beruflicher Qualifikation kann man annehmen, dass ihre Erwerbsbiographien eher im Rahmen
von stark vorstrukturierten, fremdgesteuerten Arbeitsprozessen verlaufen. Wo keine
anspruchsvollen Qualifikationen und / oder keine stringenten beruflichen Karrieren erwartet
werden, gibt es auch kein besonders hohes gesellschaftliches Ansehen und nur geringe
Verdienstmöglichkeiten. Eine solche Erwerbstätigkeit ist primär die Basis für die
Existenzsicherung und nicht für die Selbstverwirklichung. Im niedrig qualifizierten
Arbeitssektor oder bei Teilzeitbeschäftigungen ist die „Arbeitskraft“ leichter austauschbar, eine
Arbeitsstelle kann mit mehreren Teilzeitkräften besetzt werden. Auch ein Wiedereinstieg ist
dort nach einer evtl. Pflegepause einfacher. Weil die Beschäftigten anstatt subjektbezogenen
extrinsische Ansprüche an ihre Erwerbsarbeit stellen, können sie diese im Notfall (z.B. bei
einem Pflegefall in der Familie) der Bedürfnisbefriedigung von Familienangehörigen leichter
unterordnen. Auch der Einkommensausfall im Vergleich zur Aufgabe einer hochqualifizierten
Stelle wäre geringer und könnte teilweise durch das Pflegegeld kompensiert werden.
Personen mit individualisierten Lebensentwürfen zeichnen sich dagegen durch eine
selbstbestimmte Lebenshaltung, Unabhängigkeit, Orientierungen auf eine partnerschaftliche
Ehe und ein gleichberechtigtes Frauenbild aus. Gepaart mit einem hohen strukturellen Kapital
hat man in dieser günstigen Ressourcenkonstellation gute Aussichten, das gesellschaftlich
Erstrebenswerte zu erreichen, wie stabiles Einkommen, Prestige, Einfluss und somit attraktive
215 Vgl. Blinkert/Klie 2004: 141.
80
Lebensbedingungen sowie individuelle Lebensziele zu realisieren. Sie sind „Performers“, weil
sie zu räumlichen und beruflichen Veränderungen bereit sind, sowie wettbewerbsorientiert
handeln und den Mut haben, neue Erfahrungen zu machen. Das schafft einen an die
Anforderungen einer postindustrialisierten Arbeitsgesellschaft optimal angepassten Habitus.
Bei vorliegender Orientierung auf legitime „modernen Lebensentwürfe“ sind hohe soziale
Ambitionen, wie Selbstverwirklichung, hochgradig „subjektivierte“ Ansprüche an ihre Arbeit,
Streben nach gesellschaftlichem Erfolg und Anerkennung erwartbar.
Im Gegensatz zu den „traditionellen Lebensentwürfen“ ist für die „modernen Lebensentwürfe“
nicht die Familie oder das nahe soziale Umfeld der Lebensmittelpunkt, sondern die Gesellschaft
bzw. Öffentlichkeit. Durch Versorgungsverpflichtungen gegenüber ihren Angehörigen würden
den „modernen Subjekten“ besonders viele Chancen entgehen. Ihre Chancen auf
Selbstverwirklichung und individuelle Lebensgestaltung und soziales Ansehen liegen
typischerweise außerhalb des privaten Lebensraums (in der Verfolgung eigener Karriereziele,
kulturellen oder gesellschaftspolitischen Ambitionen, etc.). Speziell hohe
Subjektivierungsansprüche an die Arbeit sind wenig kompatibel mit den oben diskutierten
Handlungsstrukturen der Pflege. Die Antizipation des Kontrollverlusts über die
selbstgesteuerten zeitlichen, räumlichen und organisatorischen Freiheitsgrade, sowie der
eingeschränkten Einbringung von Subjektivität in das Arbeitshandeln machen für die modernen
Subjekte die Übernahme von Pflegeaufgaben fast undenkbar.
Konkurrierende Anforderungen zur Angehörigenpflege entstehen insbesondere mit
öffentlichen Positionen oder anderen beruflichen Verpflichtungen mit öffentlichen
Rollenattributen, die „Perfomers“ häufiger innehaben. Hohen Ämtern werden nicht nur
familiale Verpflichtungen und Familienleben untergeordnet, sondern die ganze
Lebensbiographie wird danach ausgerichtet. Der Rückzug aus der (Teil-)Öffentlichkeit dürfte
für das Selbstwertgefühl einer Person des öffentlichen Lebens mit hohen Einbußen verbunden
sein. „Downshifting“ der eigenen Karriere216 ist in einer Leistungs- und Konsumgesellschaft
wie Deutschland ein Tabuthema, weil es deren Beweggründe, nach Wohlstand zu streben, in
Frage stellt. "Ständige Aktivität und Erreichbarkeit sind eine soziale Währung – man
signalisiert, dass man gefragt ist"217. Freiwilliger Verzicht darauf ist eine Seltenheit. Denn am
216 D.h. einen Schritt zurück auf der Karriereleiter, wenn man von einem anspruchsvollen Job zu einem weniger
anspruchsvollen wechselt. 217 Schulze, zit. n. Sohmer 2009.
81
Arbeitsplatz ist hohes, ja sogar exzessives Engagement eine Selbstverständlichkeit. Viele
würden deshalb mit sich selbst hadern, wenn sie sich zwischen Wohlstand, gesellschaftlichem
Ansehen, Selbstverwirklichung und den „traditionellen“ Erwartungen aus dem sozialen Umfeld
entscheiden müssten218.
Was die ökonomischen Kosten der Pflege, z.B. Heimkosten anbetrifft, dürften diese mit
steigendem Sozialstatus weniger „inhibierenden Effekt“ haben. Dazu trägt in Deutschland auch
die Pflegeversicherung mit ihren Leistungen bei. In den unteren sozialen Milieus wird der
Bezug von beruflich geleisteter Hilfe im Verhältnis zur Einkommenssituation in der Regel als
unbezahlbar abgewählt. Bei niedrigem Einkommen beruht die Selbstverpflichtung zur
häuslichen Versorgung eines pflegebedürftigen Angehörigen definitiv auf ökonomischen
Zwängen. Während psychische und physische Belastungen und Entbehrungen aus dem
Selberpflegen bei allen informellen Pflegepersonen auftreten, dürften die Opportunitätskosten
milieuspezifisch verteilt sein. Für „moderne Subjekte“ entstehen durch die
Pflegeverpflichtungen wesentlich höhere Opportunitätskosten als für „traditionelle“.
2.2.5 Freiburger Erklärungsmodell im Kontext anderer theoretischer Erklärungen zur
intergenerationalen Pflegeunterstützung
In welches theoretische Paradigma und in welche soziologische Denkrichtung lässt sich das
Freiburger Erklärungsmodell der Pflegebereitschaften einordnen?
Es gibt keine speziellen Theorien, um zu erklären, warum manche erwachsenen Kinder bereit
sind, sich in der Elternpflege zu engagieren und andere nicht. Bei der Begründung von
Austauschbeziehungen zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern kann und wird
gewöhnlich auf Konzepte und Annahmen allgemeiner soziologischer Theorien
zurückgegriffen. In der Familiensoziologie, die sich unter anderen auch mit dem Thema
Angehörigenpflege beschäftigt, finden häufiger Theorien des normativen Handelns, des
sozialen Austausches und Rational Choice-Ansätze Anwendung. Für die ausführliche kritische
Auseinandersetzung mit diesen wird auf Dallinger (1997, 1998) verwiesen. Diese Ansätze
bewegen sich in den beiden herkömmlichen Denkrichtungen, mit denen die soziale Welt
gesehen, interpretiert und damit konstruiert wird. Es sind zwei Erkenntnismodi: Objektivismus
und Subjektivismus. Aus deren jeweiliger Erklärungsperspektive ist das soziale Handeln (Tun
218 Vgl. Ebd.
82
oder auch Unterlassen) entweder determiniert durch (a) überindividuelle Faktoren – Elemente
der sozialen Ordnung (Institutionen wie wohlfahrtstaatliche Sicherungssysteme im Bereich der
Langzeitpflege, Struktur, Kultur etc.), oder (b) durch Fokussierung auf innere Beweggründe
des Individuums und seine rationale Entscheidungen (z.B. zweckrationaler, wertrationaler,
traditionaler oder affektiver Natur)219. (c) Modelle, die die beiden Denkweisen verbinden,
liefern angemessenere Erklärungen. Ein gutes Beispiel ist die relationale Sozialtheorie von
Bourdieu mit einem „strukturalistisch“ re-definierten Habitus-Begriff. Anstelle der „Entweder-
Oder“-Sicht bezüglich der Prägung des sozialen Handelns, seien es äußere Einflüsse
(Determination) oder innere Beweggründe (Intention), wird die Disposition der Akteure (durch
den sozial konstruierten, strukturierten Habitus) ins Zentrum der Betrachtung gestellt, die
wiederum das Handeln strukturiert220.
Während in dem Theorieparadigma des normativen Handelns auf überindividuelle, d.h.
gesellschaftliche Faktoren (kulturell tradierte Wertesysteme wie Familiennormen und
gesellschaftliche Verpflichtungen) als Erklärungsfaktoren zurückgegriffen wird, zielen
sämtliche Rational-Choice-Modelle (inkl. sozialer Tausch-Modelle) auf die Erklärung
individueller Handlungsmotive zur intergenerationalen Hilfe und Pflege ab. Beide
Perspektiven, für sich genommen, greifen jedoch zu kurz.
Das Freiburger handlungstheoretische Erklärungsmodell kann man an der Schnittstelle
zwischen Rational-Choice-Ansätzen und der Theorie von Bourdieu sehen, der den Akteur sehr
vom Habitus geprägt sieht. Die Wahrnehmungen von Handlungsmöglichkeiten, die
Bewertungen von Handlungszielen und die Entscheidungen der „rational“ handelnden Akteure
sind also milieuspezifisch eingebettet. Was Rational-Choice-Theorien als Kosten-Nutzen-
Abwägungen erscheint, ist für Bourdieu eine vom Habitus nahe gelegte „Strategie“. Jeder
versucht, Anerkennungsbedürfnisse und berufliche Ansprüche optimal zu realisieren und dabei
die Kosten der Pflegeverpflichtungen möglichst gering zu halten.
219 Vgl. Weber 1976. 220 Vgl. Saalmann 2017: 21.
83
2.3 Methoden
2.3.1 Stichprobendesigns und resultierte Stichproben
Dieses Unterkapitel enthält neben der Erläuterung der angewandten Methoden, der
Stichprobenziehung und der Konzeptspezifikation und Operationalisierung von Variablen, die
Darstellung von univariaten Verteilungen. Zunächst jedoch ein paar Worte zu den beiden
Städten, in denen die Befragungen stattgefunden haben.
Freiburg, eine mittelgroße deutsche Verwaltungsstadt im Regierungsbezirk Freiburg im
Südwesten Baden-Württembergs ist eine der beliebtesten Städte in Deutschland. Zum 31.
Dezember 2015 zählte sie 226 393 Einwohner. Ihre Beliebtheit verdankt sie vor allem ihrer
vorteilhaften Lage in der Rheinebene am Rande des Schwarzwaldes im Dreiländereck
(Deutschland, Frankreich, Schweiz). Freiburg zeichnet sich durch eine hohe Lebensqualität aus
und zieht Hunderttausende von Touristen an. Das Image einer „Green-City“ und einer
familienfreundlichen Stadt manifestiert sich vor allem im Stadtteil Vauban, in ausgesprochen
guten Freizeitinfrastrukturen und Verbindungen des öffentlichen Nahverkehrs zwischen den
Stadtteilen und dem Umland. Ein weiteres Kennzeichen Freiburgs ist die vor über 500 Jahren
gegründete Universität. Die vergleichsweise junge Bevölkerungsstruktur sowie hohe
Humankapitalkonzentration221 erklären sich aus dem spezifischen Charakter Freiburgs als
„Universitäts-“ und „Verwaltungsstadt“. Die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ist eine
Volluniversität und der Wunschstudienort für 26.467 (2014) deutsche und internationale
Studierende.
Samara ist eine russische Metropole an der Wolga, 600 km süd-östlich von Moskau gelegen,
mit 1.164.685222 Einwohnern. Sie ist die Hauptstadt von Samaras administrativer Region (auf
Russisch Samarskaja Oblast´). Als eine „reform- und wachstumsorientierte“ Großstadt zählt
sie zum „Zentrum“ Russlands. Samarskaja Oblast´ gehört zum Wolga Föderationskreis und ist
Teil der Russländischen Föderation. Sie bildet eine Verwaltungseinheit mit einer Fläche von
53.565 km²223. Die Samarskaja Oblast´ gliedert sich in 27 Rajons (territoriale Gebiete) und 10
221 In Freiburg leben ca. 10 % mehr jüngere Menschen (unter 40 J. a.) als im Bundesdurchschnitt. Ca. 1,8-mal
mehr Freiburger*innen haben einen höheren allgemeinbildenden (Abitur/Fachhochschulreife), sowie doppelt
so viele einen Hochschulstudium-Abschluss als die durchschnittlichen deutschen Bundesbürger, siehe Tab.
2. 222 All-russländische Volkszählung 2010. 223 Wikipedia, Eintrag ‚Oblast Samara‘.
84
Stadtkreise. Neben dem Verwaltungszentrum Samara gibt es in der Samarskaja Oblast noch 10
weitere Städte und 14 Siedlungen städtischen Typs. Russen machen 85,6 % der ethnischen
Zusammensetzung der Bevölkerung aus. Die Einwohnerzahl in Samara Region belief sich zum
Zeitpunkt der All-russländischen Volkszählung 2010 auf 321.5532, von denen 23,8 % im
Rentenalter waren. Dies ist eine Steigerung um 11,6 % im Vergleich zu 2002 (21,2 %). Die
überwiegende Mehrheit wohnt in den Städten (80,2 %). Das Bildungsniveau der Bevölkerung
in Samara als Bildungs-, Wirtschafts- und Kulturzentrum ist vergleichbar hoch wie das
Bildungsniveau in Freiburg. 32,8 % der Samara Einwohner haben einen Hochschulabschluss
oder höher, in Freiburg sind es 29,9 % (siehe Tab. 2).
Samara gilt als bedeutender wirtschaftlicher Standort innerhalb Russland224. Wichtigste
Industriezweige der Oblast Samara sind der Maschinenbau, die Automobilindustrie, die
Metallverarbeitung, die Herstellung von Geräten für die Weltraumtechnik und der
Flugzeugbau. Auch im Bereich der Lebensmittelindustrie weist Samara einige landesweit
bekannte Großbetriebe auf. Die zählt zu den „Geber“-Regionen in der Russländischen
Föderation, die Gelder zu einem Finanzausgleich bereitstellen. Ferner ist Samara bekannt für
sein abwechslungsreiches Kultur- und Bildungsangebot. Hier gibt es zahlreiche Theater, eine
Philharmonie und eine Oper, eine Vielzahl an Hochschul- und Bildungseinrichtungen (über
zwölf staatliche und zahlreiche nichtstaatliche Universitäten). Zudem gilt die Region in Bezug
auf sozialpolitische Maßnahmen als fortschrittlich. Bereits im Zuge der Umsetzung von
Krankenversicherungsreformen Mitte der 1990er Jahre wurde die Oblast Samara gebeten,
anderen Regionen Russlands ihre Erfahrungen weiterzugeben225. Positiv hervorzuheben sind
die Bemühungen bzgl. der Versorgung von älteren und pflegebedürftigen Bürger*innen (für
Details sehe Kap. 3.3.1 und Kap. 3.3.4). Damit könnte man Samara als Fallbeispiel der
überdurchschnittlich guten russischen (großstädtischen) Lebensverhältnisse betrachten.
Bessere Lebensbedingungen und Versorgungsmöglichkeiten als im übrigen Russland sind
daher zu erwarten226.
Meine Datengrundlagen bilden zwei primäre Datenerhebungen in Samara (N=203) und in
Freiburg (N=242), bei denen 40- bis 65-Jährige befragt wurden. Diese Altersgruppe ist nicht
zufällig ausgewählt. Spätestens ab Mitte 40 antizipieren und befürchten 2/3 der Angehörigen
224 Zur Einschätzung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklung von Samara Region siehe Kap. 3.1. 225 Kempe 1997: 123-124. 226 Diese Prämissen gelten Zubarevich (2014) zufolge nicht mehr unbedingt für Samara, wie übrigens auch für
das restliche Russland, unter den Bedingungen der neuen „selbstgemachten“ Wirtschaftskrise seit Ende 2013.
85
dieser Altersgruppe auf sie in der Zukunft zukommende Belastungen, die im Zusammenhang
mit dem Älterwerden ihrer Eltern bzw. Schwiegereltern stehen227. Zwei Drittel der russischen
und deutschen 40- bis 65-Jährigen haben bereits laut unseren Umfragedaten Erfahrungen mit
der Pflegebedürftigkeit der eigenen Angehörigen oder im Bekanntenkreis gemacht. Die
Personen in dieser Altersgruppe sind als „Sandwich-Generation“ bekannt. Sie haben häufig
noch schulpflichtige Kinder im Haushalt, stehen mitten in ihrem Berufsleben und leisten die
Unterstützung/ Pflege der (Schwieger-)Eltern. So befindet sich rund jede zweite Frau mittleren
Alters in Deutschland (49 %) in einer „Sandwich-Situation“. Allerdings nur 8 % dieser Frauen
haben es akut mit pflegebedürftigen älteren Angehörigen zu tun228.
Die Befragungen in Freiburg fanden von September bis Oktober 2010, in Samara von
November 2010 bis Januar 2011 statt. Die angestrebten Stichprobengrößen richteten sich nach
finanziellen und personellen Kapazitäten229. In der interkulturellen Umfrageforschung wird
häufig mit unterschiedlichen länderspezifischen Erhebungsmethoden gearbeitet230. Aufgrund
stark differierender Bedingungen vor Ort fanden im gemeinsamen Projekt unterschiedliche
Stichprobendesigns Anwendung. In Freiburg wurden in ausgewählten Stadtteilen
Zufallsstichproben aus dem Einwohnermelderegister gezogen. Die russischen Daten dagegen
basierten auf einer Quotenstichprobe, da in Russland keine vollständige Liste von
Einwohner*innen generell für die Sozialforschung zur Verfügung steht231. An den beiden
Standorten wurden mündliche Befragungen durchgeführt. Interviewer waren
Soziologiestudierende.
Um sicherzustellen, dass in der Freiburger Stichprobe möglichst unterschiedliche
Bevölkerungsgruppen abgebildet werden, wurde die sozioräumliche Verteilung verschiedener
soziokultureller Milieus im Samplingverfahren berücksichtigt. Ein besonderes Interesse galt
jenen sozialen Milieus, bei denen die größten Unterschiede hinsichtlich der Pflegebereitschaft
zu erwarten waren. Aus bisherigen Bürgerumfragen in Freiburg war bekannt, dass das
pflegeaffine traditionelle Unterschichtenmilieu, dessen Anteil allerdings nur 12 % anderer
227 Laut der Bild der Frau (2015) - Allensbacher IFD-UMFRAGE 6299. 228 Ebd. S. 92. 229 Unserem Pilotprojekt standen keine zusätzlichen finanziellen Ressourcen für die Datenerhebung zur
Verfügung. Daher war eine Datenerhebung aus eigenen Kräften nur im Rahmen eines Forschungspraktikums
durch das Engagement der Studierenden und nur in dem durchgeführten Umfang möglich. 230 Vgl. Kish 1994: 173, zit. n. Häder 2010: 163. 231 Vgl. Andreenkov 2009: 35, der über Russlands Erfahrungen mit der Teilnahme am European Social Survey
2006 (ESS) berichtet.
86
Milieuzugehörigen in Freiburg ausmacht, sich vor allem in den westlichen Stadtbezirken
Haslach, Stühlinger und Weingarten konzentriert. Das in Freiburg zahlenmäßig am stärksten
vertretene liberal-bürgerliche Milieu (41 %), das eher pflegefern ist, prägt die
Bevölkerungsstruktur in den östlichen Bezirken Altstadt-Ring, Herdern-Süd, Waldsee, Wiehre
und St. Georgen-Süd (Vauban)232. Auf diese Weise kam die Auswahl der drei Stadtteile
Stühlinger, Weingarten und Oberwiehre mit der am stärksten kontrastierenden soziokulturellen
Milieuzusammensetzung zustande.
Für Samara war das sozioökonomische Clustering der Bevölkerung in bestimmten städtischen
Gebieten eher untypisch. Deshalb orientierte man sich bei den Quotenvorgaben
(Schichtzugehörigkeit) an den Wohngebäudetypen233 als indirektem Hinweis auf den
Wohlstand des zu befragenden Haushaltes. Weitere Quotenmerkmale waren Alter und
Geschlecht. Die Durchführung der Feldarbeit unter Bedingungen des eingeschränkten
Interviewer*innen-Pools und einer fehlenden Auswahlliste der Zielpopulation war mühsam.
Das große Misstrauen gegenüber Fremden in Russland dabei spielte ebenso Rolle. Erschwerend
kam hinzu, dass Befragungen oft von Sales- und Marketing-Agenturen missbraucht werden.
Diese Rahmenbedingen verlangten von den russischen Partner*innen besonders viel
Anstrengungen und Sachkenntnisse, um das Beste aus der Situation zu machen, insbesondere
beim Ausprobieren verschiedener Samplingstrategien. Ein zunächst eingesetztes
Zufallsstichprobeverfahren auf der Basis einer einzigen verfügbaren Wählerschaftsliste aus
einem früheren Jahr hatte sich als nicht realisierbar erwiesen. Die Liste war unvollständig
aufgrund hoher Bevölkerungsbewegungen und einer größeren Anzahl nicht registrierter
Wohnverhältnisse. Im Übrigen war die Bereitschaft der städtischen Bevölkerung, an einer
soziologischen Umfrage teilzunehmen, äußerst gering. Daher stiegen die russischen
Kolleg*innen auf das Quotenstichprobenverfahren und die Snowballtechnik234 um. Die
ungleichen Erhebungsbedingungen schlugen sich in unterschiedlichen Ausschöpfungsquoten
232 Höfflin, Stadt Freiburg (Hg.) 2005, Abb. 10, S. 39. 233 z.B. Plattenbau der 1970-90er, Plattenbau 1940er (Stalinzeit) oder 1960er Jahre (Chruschtschowzeit),
Neubau (Hochhaus), Eigenheim mit Teilbequemlichkeiten, Eigenheim mit allen Bequemlichkeiten,
komfortables Cottage in Einfamilienhaussiedlung, elitäres Mehrfamilienhaus/Condominium. 234 Dabei wird die bereits befragte Person gebeten, Kontaktdaten von weiteren Personen mit den gesuchten
Quoten-Merkmalen (Bildung, Alter, Geschlecht, Wohngebäude) zu nennen.
87
nieder - in Freiburg wurden 31 % erfolgreich durchgeführte Interviews erreicht, in Samara nur
ca. 10 % (siehe Tab. 1)235.
Tab. 1: Ausschöpfungsquote
Anzahl der
Interviews
Bevölkerungsumfrage
2010 der Stadt Freiburg
Freiburg
Stichprobe 2010
Samara
Stichprobe 2011
Anzahl
Anteil
Anzahl
Anteil
Anteil
Erfolgreich
durchgeführt
2580 45,4 % 242 31 % 10 % (Schätzwert)
Keine Teilnahme
(verweigert, nicht
erreicht, Sonstiges)
3104 54,6 % 539 69 % Statistik nicht
vorhanden
Insgesamt
5684 100 % 781 100 %
Quelle: Bilaterale Pilot-Studie 2010/11; Eigene Darstellung
Folgende Tab. 2 zeigt, inwieweit unsere realisierten Stichproben die soziodemographischen
Bevölkerungsstrukturen (der 40 bis 65-Jährigen) in Freiburg und Samara abbilden und wie die
beiden Städte im Länderkontext dastehen.
235 Da im Unterschied zum methodischen Vorgehen Freiburgs in Samara leider keine exakte Dokumentierung
der Ausfälle für die Stichprobe stattfand, schätzte die russische Studienleitung die Rücklaufquote auf 10 %.
88
Tab. 2: Soziodemographische Merkmale der Freiburger und Samara Stichproben im Vergleich zur Gesamtbevölkerungen Freiburgs und Samaras
sowie Deutschlands und Russlands
Merkmale Gesamt-
deutschland
-- Zensus 20111) ,
in %
Freiburger
Bevölkerung
- Zensus 20112),
in %
Freiburger
Stichprobe
40-65-Jährige,3)
in %
Samara
Stichprobe
40-65-Jährige,3)
in %
Samara
Bevölkerung
All-russländische
Volkszählung
20104), in %
Gesamtrussland
All-russländische Volkszählung
20105), in %
Gesamt (Anzahl) 80.219.695 209628 242 203 1.164.685 142.856.536
Frauen 50,0 52,7 55,4 62,7 55,3 53,8
Männer 49,9 47,2 44,6 37,3 44,7 46,2
Alter
unter 40 Jahren 42,4 52,1 Nicht befragt, da keine Zielgruppe 51,1 52,8
40-49 Jahre 16,6 14,8 48,5 53,2 13 13,9
50-64 Jahre 29,1 16,8 51,5 46,8 21 20,5
65 Jahre und älter 20,6 16,4 Nicht befragt, da keine Zielgruppe 14,9 12,8
Quelle: 1) Statistisches Bundesamt (Hg.) (2011) – Statistisches Jahrbuch 2011; Zensusdatenbank des Zensus 2011. 2) Stadt Freiburg i. Br. (Hg.) - Zensus 2011 – Erste Ergebnisse für Freiburg i. Br.
3) Bilaterale Pilot-Studie 2010/11;
4) Samarastat (2013) – [Zusammenfassung der Ergebnisse der All-russländischen Volkszählung 2010 für Oblast Samara].
5) Goskomstat (2010) – [Zusammenfassung der Ergebnisse der All-russländischen Volkszählung 2010]
- Fortsetzung siehe nächste Seite -
.
89
Merkmale Gesamt-
deutschland
-- Zensus 2011,
in %
Freiburger
Bevölkerung
- Zensus 2011,
in %
Freiburger
Stichprobe
40-65-Jährige,
in %
Samara
Stichprobe
40-65-Jährige,
in %
Samara
Bevölkerung
All-russländische
Volkszählung
2010, in %
Gesamtrussland
All-russländische Volkszählung
2010, in %
Höchster Schulabschluss (bei Personen ab 15 Jahren, ohne noch in der schulischen Ausbildung)
Haupt-/Volks-
schulabschluss (inkl. ohne
Abschluss)
41,2 (davon 4,8 %
ohne Abschluss)
27,7 (davon 5 %
ohne Abschluss) 18,7 11,3 11,3 (in der
Oblast Samara:
14,3) 6)
16,5
mittlere Reife oder
gleichwertiger Abschluss
29,6 19,2 22,4 Ohne Harmonisierung nicht
vergleichbar
Hochschul-
/Fachhochschulreife
29,1 53,6 59 Ohne Harmonisierung nicht
vergleichbar
Hochschulstudium 15,4 29,9 36,4 47,5 32,8 (in der
Oblast Samara:
24,4)
22,7
Erwerbstätige 51,5 51,9 51,5 46,6
Einige wichtige Gruppen nach Erwerbsstatus, Mehrfachnennungen waren möglich
ganztags berufstätig 46,3 65,5
teilzeitbeschäftigt 34,7 9,4
Hausfrau 3,3 5,8 5,9
Rentner 21,6 8,7 15,8 28,3 23,4 (+4 %
Invaliditätsrente)
Quelle: 6) Samarastat (2012) – [Das Bildungsniveau der Region Samara. Statistisches Jahrbuch], Eigene Darstellung
90
Zunächst sei angemerkt, dass der Vergleich der resultierenden Stichproben mit den jeweiligen
Zielpopulationen, aus denen sie stammen, nur eingeschränkt möglich ist. Denn sie umfassen
nur einen Teil der Bevölkerung, nämlich die 40- bis 65-Jährigen. Die Freiburger Stichprobe
bildet die Wohnbevölkerung im Jahr 2011 hinsichtlich des Geschlechts und der Bildung sehr
gut ab (als Vergleichsmaßstab diente Zensus 2011). Das auffällig hohe Bildungsniveau in der
Freiburger Stichprobe ist jedoch nicht ungewöhnlich. Auch repräsentative Freiburger
Umfragen weisen in der entsprechenden Altersspanne einen doppelt so hohen Anteil (60 %)
der besser Gebildeten auf, d.h. Personen mit Abitur oder einem abgeschlossenem
Hochschulstudium, im Vergleich zu dem bundesdeutschen Durchschnitt (30,3 %)236.
Was die Samara Stichprobe angeht, sind hier Frauen etwas überrepräsentiert (63 % vs. 55,3 %),
ebenso besser Gebildete (47,5 % vs. 32,8 %)237. Das ist deutlich mehr als im
Landesdurchschnitt: während in Samara jede*r Dritte einen Hochschulabschluss hat, sind das
sonst nur etwas mehr als jede*r Fünfte (22,7 %) im Landesdurchschnitt. Ein überproportional
hoher Anteil von Frauen und Bildungsbeflissenen in der russischen Stichprobe sprechen eher
für den Selektionseffekt (Frauen und besser Gebildete nehmen eher an einer sozialen Befragung
teil, als Personen mit einer geringen Bildung oder Männer). Dieser Befund muss bei der
Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden.
Noch zwei weitere interessante Beobachtungen sind festzuhalten: deutlich mehr Befragte aus
der Samara -Stichprobe arbeiteten in Vollzeit im Gegensatz zu den befragten Freiburger*innen.
Für eine konservative Wohlstandsgesellschaft wie in Deutschland ist Teilzeitarbeit (für Frauen)
typisch. Im gegenwärtigen Russland ist es dagegen typisch, Vollzeit- bzw. mehrere Jobs zu
haben, um über die Runden zu kommen oder sich etwas leisten zu können.
Im strengen Sinne sind die Ergebnisse der Datenanalysen nur auf Samara und Freiburger
Stichproben zu beziehen. Zum Zwecke flüssigeren Lesens werden aber auch die Bezeichnungen
„Russen“ und „Deutsche“ verwendet. Obwohl unsere Datenerhebungen in Freiburg und Samara
nicht repräsentativ für die untersuchten Länder sind, erlauben sie dennoch Vergleiche zwischen
unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen innerhalb des jeweiligen kulturellen Kreises.
Weiterhin helfen unsere Ergebnisse, Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den beiden
Ländern zu beschreiben und somit wichtige Trends aufzudecken. Wo vergleichbare Indikatoren
236 Basierend auf eigenen Auswertungen mit den Daten von Allbus 2010 und der Freiburger Bürgerumfrage
2010. 237 Allerdings bezieht sich die Vergleichszahl auf die Samara -Gesamtbevölkerung, und nicht nur die 40- bis 65-
Jährigen.
91
aus den repräsentativen nationalen und internationalen Studien vorhanden sind, wird auf diese
Bezug genommen, um die Ergebnisse besser einzuordnen.
2.3.2 Sozialstrukturelle Ressourcen
Das zentrale Anliegen dieser Arbeit besteht darin, die Verteilungen der Pflegebereitschaften in
den jeweiligen Sozialstrukturen Russlands und Deutschlands zu analysieren. Aufgrund der sehr
unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen und der ungleichen Lebensstandards in beiden
Ländern ist ein Sozialstrukturvergleich eine Herausforderung. Zunächst werden die
Besonderheiten der Sozialstruktur Russlands in einem Exkurs dargestellt. Darauf baut im
nächsten Abschnitt das Operationalisierungskonzept auf, das für den interkulturellen Vergleich
eine Standardisierung der sozioökonomischen Faktoren vornimmt.
Exkurs - Sozialstruktur Russlands und theoretische Zugänge zu ihrer Untersuchung
Verschiedene russische Soziologen, darunter der Mitbegründer der Sozialstrukturforschung in
der Transformationsgesellschaft seit den 1990er Jahren Shkaratan (2003, 2012), bemängeln
einen Eurozentrismus in den gängigen Ansätzen, die den alternativen Entwicklungspfad und
das historische Erbe der sozialen Ungleichheit im postsowjetischen Russland ignorierten. Es
mangele an der Validität der entlehnten westlichen Stratifizierungskonzepte238 bzw. seien diese
gar inadäquat, weil sie die „Trägheit der Vergangenheit“, d.h. den institutionellen Rahmen einer
posttotalitären Gesellschaft und die Möglichkeit ihrer Reproduktion, unberücksichtigt lassen239.
Was ist charakteristisch für die Sozialstruktur des postsozialistischen Russlands? Was
unterscheidet sie von einer westeuropäischen Gesellschaft? Welche Zugänge zur Analyse
wurden von russischen Soziologinnen und Soziologen gefunden?
Es ist nicht eindeutig, welche Sozialstruktur die heutige russische Gesellschaft hauptsächlich
aufweist und ob zu ihrer Analyse Klassenkonzepte herangezogen werden können240. Es herrscht
jedoch Konsens, dass im heutigen Russland gleichzeitig zwei Stratifikationen koexistieren:
korporativ-ständische und klassenspezifische. Dabei sei die „standesbasierte“ soziale Ordnung
dominierend, in der sich soziale Gruppen primär hinsichtlich der Verteilung bzw. Fusion der
238 Kordonskij 2016 (interviewt von Khachaturov 2016). Simon Kordonskij ist ein prominenter russischer
Soziologe. 239 Gudkov 2016. 240 Tikhonova 2007: 6.
92
Macht und der Eigentumsrechte gebildet haben241. Den Grund sieht man darin, dass in Russland
kein grundsätzlicher Wandel hin zu einer wettbewerbsorientierten, privatwirtschaftlichen
ökonomischen Ordnung stattgefunden hat. Im postsowjetischen Russland sollen nach wie vor
staatlich regulierte Verteilungsverhältnisse herrschen, die lediglich eine „privatwirtschaftliche
Hülle“ bekommen haben. Daher änderte die gesellschaftliche Transformation lediglich die
Grundsätze der Standesorganisation, denn der herrschende Stand (sowjetische administrative
Eliten) konnte sich in der Periode des gesellschaftlichen Zusammenbruchs und Übergangs
weitgehend an der Macht halten242. Folglich geht man von einer Kontinuität der sowjetischen
„etakratischen“ Gesellschafsordnung243 (aus, die man „neo-etakratisch“ bezeichnet244.Über die
hierarchische Rangordnung in einer „neo-etakratischen“ Gesellschaft und den damit
verbundenen Umfang und Charakter der Privilegien entscheiden nicht die erworbenen
Charakteristika eines Individuums (wie Bildung, Berufsausbildung, Professionalität etc.),
sondern primär die Machtverhältnisse. Der „askriptive Mediokratismus“245 regelt die Kanäle
der Berufsmobilität und der Elitenbildung. Mit „Mediokratismus“ bezeichnet man den sozialen
Aufstieg, der im Gegenteil zum mertokratischen Prinzip, nicht auf Basis individueler
Leistungen, sondern auf Vetternwirtschaft, Nähe zur administrativen Kontrolle und
Ressourcenverteilung sowie auf dem Verhältnis Macht-Untergebene beruht, Im Resultat
besetzen mittelmäßig begabte und regimgehorsame Personen entscheidende Positionen der
Gesellschaft und verhindern die Chance, dass progressive und fähigere Konkurrenten/ Elite das
Land nach vorne bringen246.,
Dabei soll die deutsche Gesellschaft keineswegs idealisiert werden, denn auch in Deutschland
werden Lebenschancen sozial vererbt, zumindest für ein Drittel der Bevölkerung247. Während
241 Shkaratan 2010, 2012; Kordonskij 2008. 242 Kordonskij 2008. 243 Unter dem "Etakratie"-Konzept, dem man eine zentrale Bedeutung in der Sozialstrukturanalyse der
sowjetsozialistischen Gesellschaft beimisst, versteht man im weitesten Sinne eine gesellschaftliche Ordnung, die
durch den verwaltungshierarchisch organisierten Staatsapparat dominiert wird. Konkret druckt sich die
Staatsherrschaft aus in der Regulierung der sozioökonomischen Sphäre nach dem Prinzip der zentralistischen Verwaltung der Ressourcenallokation statt des Markttausches. Eine weitere Begriffsbedeutung bezieht sich auf
die Korrespondenz der Rangpositionen aller Gesellschaftsmitglieder in der parteistaatlichen
Verwaltungsmaschinerie ihrer Stellung in der sozialen Hierarchie. Im engeren Sinne, wird „Etakratie“ mit
„Nomenklatur“ gleichgesetzt, d.h. die oberste Schicht bestehend aus den Amtsinhabern und der regierenden Macht
nachstehenden Funktionären in leitenden Positionen. Zur detaillierten begrifflichen Auseinandersetzung siehe
Mrowczynski 2008.
244 Shkaratan/Yastrebov 2008; Shkaratan 2012. 245 Shkaratan 2012: 434. 246 Shkaratan 2012; Gudkov 2016. 247 In Bildungs- und Berufschancen erreichen Kinder die gleiche Stufe wie ihre Eltern, siehe Holtmann 2012: 8.
93
in der Bundesrepublik etwa zwei Drittel der Bevölkerung sozial mobil sind, trifft dies in
Russland maximal nur auf ein Viertel bis zu einem Drittel zu, wie zu zeigen sein wird.
Die kritische Unterscheidung zwischen Russland und Deutschland besteht in der Dominanz der
standesspezifischen Gliederung über die klassen- oder berufsspezifischen Differenzierungen
und dementsprechend einer Stratifikation, die auf den „Positionen in den staatlichen
Machtstrukturen, dem Grad der Nähe zu den zentralistischen Verteilungsquellen“ beruht, und
nicht auf „Eigentumsverhältnissen oder der Position auf dem Arbeitsmarkt“248.
Nun soll anhand der Erkenntnisse aus der bisherigen Forschung in Russland dargestellt werden,
welche theoretischen Ansätze und welche Indikatoren sich als effizient für die Beschreibung
der russischen Sozialstruktur erweisen. Sozialstrukturanalysen in Russland sind ein
vergleichsweise neues Forschungsfeld. Seit den 1990er Jahren untersucht eine Reihe russischer
Soziologinnen und Soziologen das Stratifikationssystem im postsozialistischen Russland. Dazu
gehören u.a. Zaslavskaja (2004), Shkaratan (2012), das Marktforschungsteam der Zeitschrift
„Expert“ (2006), Tikhonova (2007), Avraamova (2008), Beljaeva (2009), Forschungsteams
unter der Leitung von Ovcharova (2014) und Maleeva (2015). Sie haben sich dabei primär auf
zwei Ziele konzentriert: 1) Ermittlung der Parameter der Armut und Möglichkeiten der
Reduzierung sozialer Ungleichheit und 2) Beobachtung der Etablierung des „Mittelstandes“.
Die Stratifizierungsmodelle basieren in der Regel auf amtlichen Statistiken oder eigenen
empirischen Untersuchungen. Schwierigkeiten bereitet generell noch eine defizitäre empirische
Basis. Unterschiedliche Zugänge erschweren dabei Vergleiche zwischen den verschiedenen
Stratifizierungskonzepten249. Dabei stützen sie sich auf die in der internationalen Forschung
vorhandenen (neo-)marxistischen, (neo-)weberianischen Klassifikationen und Methodiken
sowie den Ansatz von Bourdieu und passen sie den russischen Verhältnisse an. Besondere
Beliebtheit genießt derzeit das sogenannte Ressourcenparadigma. In der Regel bilden die
Stratifizierungskonzepte die vertikale Ungleichheitsdimension ab mittels Indikatoren wie
Machtressource (im Arbeitsleben), Einkommen, Bildung, Erwerbs- und beruflicher Status,
Selbstidentifikation mit einer Klasse oder Schicht etc. Die daraus hergeleiteten
Schichten/Klassen oder Strata werden dann nur selten mit einer horizontalen Dimension von
soziokulturell unterschiedlichen Aspirationen, Werteorientierungen, Einstellungen zu
248 Shkaratan 2012: 522. 249 Beljaeva 2009: 76.
94
politischen und wirtschaftlichen Themen oder Verhaltensdimensionen (z.B. Konsumverhalten,
Wahlverhalten etc.) verknüpft.
Natalia Tikhonova (Tichonova) vom „Institut für Komplexe Sozialforschung“ der Russischen
Wissenschaftsakademie (IKSI RAN)250 nimmt die zuvor geschilderte Debatte zum
Ausgangspunkt und geht in ihren Analysen der Frage nach, inwieweit Russland auf dem Weg
der Reformen vorangeschritten ist und ob man das gegenwärtige Modell der sozialen Struktur
für ein „Klassenmodell“ halten kann251. Liegt dem gegenwärtigen Stratifikationssystem die
Stellung des Individuums in der Marktwirtschaft zugrunde, d.h. das Vorhandensein, der
Umfang und der Charakter der verfügbaren Ressourcen, die seine Lebenschancen bestimmen?
Oder sind es nach wie vor nichtmarktwirtschaftliche Faktoren wie Nähe zur Macht und
Kontrolle über die Kanäle der Ressourcenverteilung, Beschäftigung in profitablen oder
unrentablen Wirtschaftsbranchen, Wohnort in einem ländlichen Gebiet oder in einer
postindustriellen Metropole usw., die den sozialen Status und die Zugehörigkeit zu
privilegierten Kreisen bestimmen? Für diese Zwecke testete Tikhonova empirisch gleichzeitig
sieben verschiedene Stratifikationszugänge252 mit an die russischen Gegebenheiten angepassten
Indikatoren. Ihr Fazit: weder (neo-)marxistische noch neo-weberianische Klassenmodelle
eignen sich für die Beschreibung der sozialen Stratifikation der russischen Gesellschaft253.
In der Tat beweist die bloße Einteilung der Bevölkerungssegmente in unterschiedliche Klassen
oder Schichten nicht die Nützlichkeit eines Sozialstrukturmodells. Ein Schichtenmodell
bewährt sich dann, wenn dadurch homogene Gruppierungen unterschieden werden, für die
gesellschaftliche Folgen empirisch nachweisbar sind254. Die soziale Positionierung der
russischen Bevölkerung lässt sich bislang in keiner Weise mit ihrer Lebenswelt und ihren
Verhaltensstrategien verknüpfen. Dementsprechend manifestiert sich diese nicht in ihren
politischen, ideologischen Orientierungen oder ihrem kollektiven Handeln, z.B. in Vertretung
(korporativer) gruppenspezifischer Interessen255.
250 Tikhonova 2007. 251 Tikhonovas Monografie [Soziale Stratifikation des modernen Russlands: die Erfahrung der empirischen
Analyse] (2007) gilt als bedeutender Forschungsbeitrag und Beispiel sorgfältiger Vorgehenswese, vgl.
Gudkov 2016. 252 Darunter befanden sich ein neo-weberianische „Goldthorpe-Klassenschema“ (ESOMAR); die
neomarxistische Version von E. O. Wright; der traditionelle marxistische Ansatz; Konzeptionen, basierend
auf der subjektiven Selbstidentifikation (ISSP) sowie zwei Konzeptionen, die aus den Kriterien des
Lebensstandards und des Niveaus der Ressourcenverfügung bestanden und ein eigenes Ressourcen-Konzept. 253 Zur detaillierten Auseinandersetzung wird auf die Monographie von Tikhonova 2007 verwiesen. 254 Vgl. Holtmann et al. 2012: 38. 255 Gudkov 2016: 2.
95
Dagegen lassen sich nach Tikhonova die Unterschiede im Lebensstandard der
unterschiedlichen Strata der russischen Gesellschaft mittels eines Ressourcenansatzes
angemessener beschreiben. Diversen Versionen eines Ressourcenparadigmas russischer
Soziolog*innen256 liegen alternative Stratifikationsmodelle von Bourdieu, Castells, Beck,
Grusky und Sorensen zugrunde. Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, alle
erwähnten Stratifikationsansätze darzustellen. Deshalb wird nur der Kern der verwendeten
Indikatoren, die für die verschiedenen Ressourcen stehen, aufgelistet: a) ökonomische
Ressourcen (Haupteinkommen, Produktionsmittelbesitz, Immobilienbesitz, Vermögen usw.);
b) Humankapitalressourcen einschließlich Bildung, Qualifikationen und Fertigkeiten; c) soziale
Ressourcen (unter Einbezug sozialer Beziehungen verschiedener Art); d) Machtressourcen (nur
als administrative Ressource, z.B. Weisungsbefugnisse im Produktionsprozess); e) symbolische
Ressourcen, verbunden mit dem Prestige dieser oder jener Charakteristiken der Stellung und
des Verhaltens der Individuen in der gegebenen Gesellschaft (z.B. Werteorientierungen,
Selbstidentifikationen, „aufstiegsorientierte Ansprüche an das Erwerbsleben“ etc.). In einigen
Ressourcenkonzepten werden außerdem f) sozioökonomische Raumindikatoren
(Wirtschaftssektor und Eigentumsform des Beschäftigungsbetriebs, Siedlungstyp) und g)
Geschlecht berücksichtigt.
Sämtliche Ressourcenansätze bestätigen empirisch die Macht-Eigentums-
Ressourcenkonstellation als Kern der gesellschaftlichen Hierarchie, was mit dem Modell einer
neo-etakratischen sozioökonomischen Ordnung mit dominierenden ständischen
Stratifizierungskomponenten theoretisch vereinbar ist. Dagegen erweist sich die Situation mit
Humankapitalressourcen generell nicht als besonders günstig. Nicht nur ein formaler
Hochschulabschluss, sondern auch getätigte Investitionen in ein hoch qualifiziertes
Humankapital garantieren keine adäquate Rendite.
Fassen wir die bisherigen Ausführungen zusammen: Russlands Stratifikation weist einen
dualen Charakter auf. Der Symbiose aus dominierender korporativ-ständischen und
zusätzlichen beruflich-professionellen Hierarchien257 müsste bei den Analysen der russischen
Sozialstruktur Rechnung getragen werden. In einer Gesellschaft mit berufsständischer
Tradition wie in Deutschland stellen die „objektiven“ Aspekte der Sozialstruktur und
insbesondere die „meritokratische Triade“ von (Aus-)Bildung, Beruf und Einkommen relevante
256 Shkaratan et. al 2003; Radaev 2003; Zaslavskaja 2004 zit. n. Tikhonova 2006. Auch die Sozialstrukturansätze
von Tikhonova (2006) und Beljaeva (2009) sind hierzu zu zählen. 257 Shkaratan 2010, 2012; Kordonskij 2008.
96
Einflussfaktoren der Chancenstruktur dar. Im postsowjetischen Russland bestimmen zwar
dieselben sozialstrukturellen Faktoren die Stellung im hierarchischen Gefüge, aber nicht
eindeutig bzw. nicht nur. Während in Deutschland eine positive Korrelation zwischen der Höhe
des Humankapitals und dem Einkommen besteht, ist dieser Zusammenhang in Russland nicht
eindeutig. „Eine Putzfrau in einer russischen Bank kann ein höheres Gehalt haben als ein
Professor“258. Persönlichkeitsmerkmale wie Bildung (Humankapital) oder sozio-beruflicher
Status (inkorporiertes Humankapital) sind keine eindeutig sozial strukturierenden Faktoren in
Russland259. Diesen Besonderheiten müsste bei dem Vergleich der vertikalen Dimension der
Sozialstruktur unbedingt Rechnung getragen werden. Hemmend für die berufliche und soziale
Mobilität in Russland sind die oben genannten strukturellen Hindernisse („mediokratisches
Prinzip der Elitenbildung“260 und insgesamt große regionale, siedlungs- und
branchenspezifische Chancenungleichheit). Dadurch lassen sich auch die
Humankapitalinvestitionen nicht in der gleichen Art und Weise auszahlen, wie es für die
deutsche Leistungsgesellschaft typisch ist. Dazu benötigt man in Russland zusätzlich „Vitamin-
B“ und einen raumbezogenen „Trumpf“ (das Glück, in der richtigen geographischen Region
geboren zu sein)261.
Harmonisierungsverfahren der sozio-ökonomischen Variablen in der vergleichenden
Sozialforschung
Wie lässt sich ein Vergleich einer berufsständischen mit einer dualen (ständischen und
beruflich-professionellen) Sozialstruktur angemessen durchführen? Mit welchen Konzepten,
Indikatoren und Annahmen soll die Position der Befragten in der jeweiligen Sozialstruktur
beschrieben werden?
Es ist sinnvoll, die vertikalen und horizontalen Ungleichheitsdimensionen wie im oben
besprochenen Ressourcenansatz separat zu analysieren und keine Milieu-Konstrukte zu bilden.
Außerdem wäre eine Standardisierung der unabhängigen sozio-ökonomischen Variablen
zwingend erforderlich. In der interkulturellen und internationalen vergleichenden Forschung
258 Vgl. Shkaratan 2012: 399-400 (Übersetzung der Autorin). 259 Vgl. Shkaratan 2012; Tikhonova 2007. 260 Vgl. Shkaratan 2012 #434. 261 Für Details sehe Kap 3.1.1
97
wird anstelle von Standardisierung üblicherweise eine der drei Techniken der Harmonisierung
von Variablen verwendet262:
1) Bei der „Input-Harmonisierung“ wird vor der Datenerhebung („ex-ante“) ein
Instrumentarium entwickelt, das die länderspezifischen Besonderheiten zwar
berücksichtigt, aber über die Kulturen/Nationen hinweg abgestimmte Messungen
beabsichtigt. Dazu muss allerdings ein einheitliches Kategoriensystem erstellt werden,
dessen einzelne Kategorien von allen Befragten in den beteiligten Ländern in gleicher
Weise verstanden werden müssen. Bei national unterschiedlichen Definitionen von
Bildungssystemen oder Einkommensniveaus ist das oft schlicht nicht möglich.
2) Bei der „Output-Harmonisierung“ baut man auf den nationalen
Messinstrumenten/Konzepten auf und versucht erst nach Datenerhebung („ex-post“)
den gemeinsamen Kern herauszuarbeiten, um national erhobene Daten der beteiligten
Länder in Einklang zu bringen.
3) Als dritte Technik ist eine Mischform möglich, die s.g. „Ex-Ante Output-
Harmonisierung“. Bereits bei der Fragebogenkonstruktion orientiert man sich an einem
internationalen Standard, z. B. dem „International Standard Classification of Education“
(ISCED), etc. Die Daten werden mit nationalen Instrumentarien erhoben, die allerdings
so konstruiert werden, dass bei der Auswertung die Übertragung nationaler Kategorien
in die internationalen Klassifikationssysteme möglich ist.
Wendet man nationale Konzepte und Indikatoren an, die in der Regel die Kultur besser
reflektieren, für die sie entwickelt worden sind, leidet am Ende die Vergleichbarkeit der
Ergebnisse. Ein weiteres Argument gegen die nationalen Operationalisierungsschemata lieferte
das Ergebnis der Eingangsüberprüfung sämtlicher Indikatoren in der russischen Stichprobe, die
der nationalen Spezifik hätten gerecht werden können: “Wohnverhältnisse” (als Eigentümer
oder Mieter), “Typ des Wohngebäudes”, “Wohnviertel”, “Anzahl der Räume” und
“Klassifizierung der Berufspositionen” wirkten entweder nicht ausreichend differenzierend
zwischen den unterschiedlichen sozialen Positionen oder enthielten eine zu große Zahl
fehlender Antworten, was unseren Stichprobenumfang bei der Bildung von zusammengesetzten
Indikatoren nochmals reduziert hätte. Ein möglicher gemeinsamer Indikator („Anzahl der
Ausbildungsjahre“), der zudem in den European Sozial Surveys standardmäßig erhoben wird,
262 Hoffmeyer-Zlotnik 2015.
98
wurde von unserem russischen Forscherteam angesichts des hohen Re-Qualifizierungstrends
und der Entwertung der Bildungszertifikate in den 1990er Jahren als nicht valide eingeschätzt.
Daher entschied man sich im Rahmen der komparativen Analysen letztendlich für den dritten
(kombinierten) Weg: gemeinsame Konzeptualisierungen (insbesondere des Konstruktes
„strukturelle Ressourcen“) mittels nationaler Kategorien unter Orientierung an internationalen
Standards zu operationalisieren. Diese methodische Entscheidung löste aber noch lange nicht
das inhaltliche Problem der „dualen Stratifizierung“ in Russland, das der Ergebnisinterpretation
im Wege stehen würde. Daher wird in dieser Arbeit vorgeschlagen, wie man mittels
Standardisierung der sozioökonomischen Indikatoren in der russischen Stichprobe auf die
deutschen strukturellen Verhältnisse, unterschiedliche stratifizierende Wirkungen bereinigen
kann.
Anhand „struktureller Ressourcen“, zu denen ökonomische und bildungs- bzw.
berufsspezifische Ressourcen zählen, soll die vertikale Positionierung, in der sich Individuen
und Gruppen auf verschiedenen Stufen der sozialen Hierarchie in den beiden untersuchten
Ländern befinden, abgebildet werden. Vier gemeinsame Indikatoren wurden für die beiden
Länder bestimmt, drei davon in Anlehnung an bisherige deutsche Pflegestudien von
Blinkert/Klie (das höchste erreichte Bildungsniveau; berufliche Qualifikation; Einkommen).
Als vierter Indikator - auf Empfehlung unserer Kolleg*innen in Samara – die subjektiv
bewertete „materielle Lage des Haushaltes“.
Folgende Indikatoren wurden verwendet:
Allgemeinbildende und berufliche Bildungsniveaus
Diese wurden in der deutschen Studie zunächst mittels zweier nationaler Instrumente erhoben,
die dem Fragenblock F15 im European Social Survey (ESS) 2010 entsprechen. Die Variable
zum allgemeinen Bildungsniveau enthielt drei Stufen der niedrigeren (Schule beendet ohne
Abschluss, Volks-/Hauptschulabschluss o.Ä., mittlere Reife, Realschulabschluss) und zwei
Stufen der höheren Bildungsabschlüsse (Fachhochschulreife, Abitur bzw. Hochschulreife). Die
Berufsausbildung umfasst verschiedene Antwortkategorien für das duale Ausbildungssystem
mit Berufs- bzw. technischen Fachschulen, Hochschul- und Universitätsabschlüssen.
In der russischen Studie erfolgte die Messung mittels einer Frage, die verschiedene
Bildungsbereiche (allgemeinbildend, berufliche und tertiäre) kombinierte. Dabei handelt es sich
um ein nationales Messinstrument, das bereits im Hinblick die internationale ISCED-
99
Bildungsklassifikation der UNESCO harmonisiert wurde. Das Messinstrument wird im
Übrigen des Öfteren in russischen Befragungen eingesetzt, z.B. im All-Russian Monitoring des
Zentrums für Untersuchung des Sozialen und Kulturellen Wandels263 (auf Russisch ЦИСИ).
Schließlich wurde für beide Länder ein gemeinsamer Indikator „der höchst erreichte
Bildungsabschluss“ gebildet, orientiert am ISCED-Harmonisierungsschema264 mit folgenden
Kategorien:
- „nicht abgeschlossene niedrige Sekundarstufe“
- "niedrige Sekundarstufe (Hauptschulabschluss in Deutschland, 8. Klasse in
Russland) ohne berufliche Ausbildung“
- "niedrige/mittlere Sekundarstufe (Hauptschul-/Realschulabschluss in Deutschland,
8. Klasse in Russland) mit beruflicher Ausbildung"
- "höhere Sekundarstufe (Abitur/ Fachhochschulreife in Deutschland, 10. Klasse,
nicht abgeschlossenes Hochschulstudium in Russland) mit /ohne Berufsausbildung"
- "Hochschulabschluss und höher".
Objektiver Indikator der ökonomischen Ressourcen
Hierzu diente eine geschlossene Frage nach dem Nettoeinkommen aller Haushaltsmitglieder
anhand von Einkommensintervallen (vergleichbar mit der Frage F41 des ESS 2010)265. Dabei
wurden die unterste und die höchste Stufe der Einkommensskala und die Intervallbreite in den
Befragungsinstrumenten auf die jeweiligen länderspezifischen Armutsgrenzen, die
durchschnittlichen Einkommensniveaus sowie auf die Einkommensverteilung angepasst.
Daraus wurde das Nettoäquivalenzeinkommen266 berechnet, das noch um die Kaufkraft267 im
263 Das Forschungszentrum ЦИСИ spezialisiert sich auf die Untersuchungen der Transformation der
soziokulturellen und strukturellen Stratifikation der russischen Gesellschaft. 264 UNESCO-UIS (2012): - ISCED 2011; Vgl. auch Hoffmeyer-Zlotnik 2015. 265 Eine sensible, offen gestellte Einkommensfrage führt häufig zu Antwortverweigerungen. Daher wurde eine
geschlossene Frage mit vorgegebenen Antwortkategorien – Einkommensklassen bevorzugt. Um
Antwortverweigerung durch die Befragten weiterhin so gering wie möglich zu halten, wurde die ESS
Strategie der „verdeckten Antwort“ eingesetzt. Dabei werden die Kategorien der Einkommensbeträge durch
zufällige Buchstabenkodes repräsentiert. 266 Das Nettoäquivalenzeinkommen ist das Einkommen, das jedem Mitglied eines Haushalts, wenn es erwachsen
wäre und alleine leben würde, den gleichen (äquivalenten) Lebensstandard ermöglichen würde, wie es ihn
innerhalb der Haushaltsgemeinschaft hat. Dazu wird das Einkommen des gesamten Haushalts addiert und
anschließend aufgrund einer Äquivalenzskala gewichtet. Die Gewichtung richtet sich nach Anzahl und Alter
der Personen der Haushaltsgemeinschaft. Entsprechend der OECD-Skala erhält der erste Erwachsene einen
Gewichtungsfaktor von 100 %, weitere Haushaltsmitglieder ab 15 J. von 50 %, Kinder bis 14 Jahre von 30 %.
Aufgrund der fehlenden Altersangaben der Haushaltsmitglieder in unserer Studie erhielt jedes im Haushalt lebende Kind einen Gewichtungsfaktor von 40 %. Vgl. EUROSTAT, Eintrag ‚Nettoäquivalenzeinkommen‘.
267 Kaufkraftparitäten (KKP) [auf Englisch Purchasing Power Parity (PPP)] sind „Preisrelationen, die angeben,
wie viele Einheiten ausländischer Währung erforderlich sind, um die gleiche Menge eines Gutes oder eines
Bündels von Gütern zu erwerben, die im Inland für eine Einheit der inländischen Währung erhältlich ist“
(Burg 2011: 793). Die Kaufkraftparitäten für individuellen Konsum und Wechselkurse sind in der OECD-
Datenbank erhältlich. Der US-$ wird in der Regel als Standard festgelegt. Sie betrug für das Jahr 2010 für
100
jeweiligen Land bereinigt wurde (sogenannte Preisbereinigung). Zuvor wurden in den
jeweiligen Stichproben für 16 Einkommensintervalle Einkommensklassenmitten berechnet, um
die Verzerrung durch Ausreißer zu verringern.
Subjektiver Indikator zum Wohlstand des Haushaltes
Die Variable wurde aus dem All-Russian Monitoring des ЦИСИ-Instituts 2006 übernommen
(vgl. mit der Frage F42 im ESS 2010). Dabei sollen die Interviewten die finanzielle Situation
ihres Haushaltes einschätzen. Dies geschieht mit der Frage, was der Haushalt sich anhand einer
6-Punkte-Antwortskala leisten kann. Sie reicht von “Nicht genug Geld, selbst für das
Wichtigste” bis “Wir können uns beinahe alles leisten”.
Standardisierung der Schichtungsverhältnisse in der russischen auf die deutsche Stichprobe
Mit der Standardisierung wird natürlich eine hypothetische Schichtung der Samara -Stichprobe/
russischen Gesellschaft erzeugt, die den realen Gegebenheiten nicht entspricht, da in dieser
Stichprobe für den unterschiedlichen Einfluss der sozioökonomischen Variablen kontrolliert
wird. Dafür lassen sich die unterschiedlichen strukturierenden Bedingungen in den beiden
Stichproben/Ländern konstant halten und die zentralen Hypothesen ohne „Verzerrungen“
testen. Unsere Primärdaten erlauben somit zwar die Überprüfung der Hypothesen bezüglich der
postulierten Zusammenhänge, jedoch nur eingeschränkt Aussagen über die
Verteilungskennzahlen. Für diese Zwecke wurden dieselben Analyseschritte mit den
repräsentativen Daten des European Social Survey 2010 (5. Welle) auf der Basis derselben
Indikatoren wie in unserer Primärstudie bei den 40- bis 65-Jährigen und zusätzlich in der
Gesamtstichprobe (alle Altersgruppen) repliziert.
Mit diesem methodischen Ansatz wurden drei Ziele verfolgt:
Durchführung von Hypothesentests (mit den Primärdaten) unter den konstanten
stratifizierenden Bedingungen (siehe Kap. 2.4.3).
Abgleich erzielter Stratifizierungsmodelle aus unseren Pilotstudien mit den
repräsentativen Stichproben für die untersuchte Altersgruppe (40-bis 65-Jährige, siehe
unten).
Russland: 14,369699 und für Deutschland 0,793542 [Einheiten inländischer Währung je Einheit US-$],
OECD.STAT, Eintrag „Purchasing Power Parities (PPP) Statistics“.
101
Durchführung eines Sozialstrukturvergleichs zwischen Russland und Deutschland,
unter der Prämisse deutscher Strukturierungsverhältnisse im Jahr 2010. Dabei ist es
sinnvoll, die Analysen auf die gesamte Gesellschaft zu richten, nicht nur auf die 40-bis
65-Jährigen (siehe Kap 3.1).
Die Standardisierungs-Vorgehensweise soll kurz skizziert werden:
1) Zunächst wurde für die Freiburger Stichprobe mit Hilfe einer exploratorischen
Faktorenanalyse mit drei Indikatoren (kaufkraftbereinigtes Nettoäquivalenzeinkommen
und den harmonisierten Variablen subjektiv gefühlter Wohlstand und höchster
Bildungsgrad) eine Skala „strukturelle Ressourcen“ gebildet, in dem die Faktorwerte
als vorhergesagte abhängige Variable abgespeichert wurden. Die Skalenwerte wurden
dann einer linearen Transformation unterzogen, um einen Mittelwert von 100 und eine
Standardabweichung von 50 zu erhalten.
2) Im nächsten Schritt wurden, ebenfalls für die Freiburger Stichprobe, mittels einer
linearen multiplen Regressionsanalyse relative Beiträge der jeweiligen Prädiktoren
(Bildung, Einkommen und subjektiver Wohlstand) zur Erklärung von den (im Schritt 1
ermittelten) Skalenwerten „strukturelle Ressourcen“ ermittelt.
3) Danach wurden die Werte an der Skala „strukturelle Ressourcen“ in der Samara
Stichprobe mittels der Regressionsgleichung geschätzt: Dafür wurden die
entsprechenden russischen sozioökonomischen Variablen mit den deutschen
Regressionskoeffizienten multipliziert und dadurch gewichtet268. Als Resultat der
vorgenommenen Standardisierung fiel in der Samara Stichprobe die Bildung etwas
stärker und die subjektiv gefühlte finanzielle Lage bei der Score-Berechnung auf der
Skala „sozialstrukturelle Ressourcen“ weniger ins Gewicht (siehe Anhang 7).
4) Schließlich erfolgte eine Ressourcenzuordnung der deutschen und russischen Befragten,
orientiert am deutschen sozialen Stratifikationsmodell. Dafür wurden die Skalenwerte
in den beiden Stichproben gleichermaßen gruppiert in “niedrige” (bis zum Skalenwert
von 67), “mittlere” (67-133) und “hohe” (Skalenwerte höher als 133) „strukturelle
Ressourcen”269. Die resultierte Ressourcenklassifikation entspricht in etwa der
Schichtung der bundesdeutschen Gesellschaft, wie sie sich auf der Grundlage
subjektiver Schichteinstufung mit den Daten der deutschen Allgemeinen
Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS 2010) ermitteln lässt
(anhand eigener Berechnungen). Auf diese Weise werden Kriterien der deutschen
Stratifizierung wie eine Schablone auf die russischen Verhältnisse angelegt.
5) Alle Analyseschritte wurden mit den Daten des European Social Survey 2010
wiederholt, siehe die entsprechende Regressionsgleichung270.
268 SamaraStudie: “Strukturelle Ressourcen”= −91.943 + 24.159 ∗ education + 0.017 ∗ income +
14.989 ∗ affluence. 269 Dieselbe Einteilung wurde in der Annaberg-Unna-Studie vorgeschlagen (Blinkert/Klie 2006). 270 ESS 2010: “Strukturelle Ressourcen”= 34.814 + 33.661 ∗ education + 0.034 ∗ income − 28.480 ∗
affluence.
102
Abb. 7: Sozialstrukturelle Ressourcen der 40-bis 65-Jährigen in den Samara und Freiburg
und repräsentativen ESS Stichproben
Wie man der Abb. 7 entnehmen kann entsprechen die strukturellen Ressourcenverteilungen in
unserer bilateralen Studie weitgehend den Verhältnissen in der repräsentativen Studie ESS 2010
für die s.g. „Sandwich-Generation“, zu der die 40-bis 65-Jährigen zählen. Dabei sind in der
Freiburger Stichprobe tendenziell die niedrigeren und höheren Ressourcenlagen etwas
überrepräsentiert und die mittleren etwas unterrepräsentiert im Vergleich zu den
entsprechenden Deutschland-Verteilungen. Für die Samara Stichprobe sind tendenziell
umgekehrte Muster beobachtbar, befragt wurden etwas häufiger Probanden der vorteilhafteren
und mittleren Ressourcenlagen (vor allem Personen mit hoher Bildung) und seltener Personen
mit „unterprivilegierter“ Ressourcenausstattung. Dieses war vermutlich das Resultat
unterschiedlicher Teilnahmebereitschaft in den beiden Ländern, die mit dem kontrastiven
Stichprobendesign nicht ganz konterkariert werden konnte. Auf die inhaltliche Interpretation
des Sozialstrukturvergleichs Russland - Deutschland wird im Kapitel 3.1.2 eingegangen.
2.3.3 Soziokulturelle Ressourcen (Lebensentwurf)
Die soziokulturelle Entwicklung im Zeichen des Wertewandels hin zur individualisierten
Lebensführung macht sich insbesondere auf der horizontalen Ebene der Sozialstruktur eines
Landes bemerkbar. Hier differenzieren sich Menschen typischerweise hinsichtlich ihrer
103
Werteorientierungen, Lebensstile, politischen Überzeugungen, Freizeitpräferenzen etc.
Besondere Aufmerksamkeit schenkt man in der internationalen Sozialforschung den
Veränderungen in den Werteorientierungen. Zu den prominentesten Konzepten der
internationalen Werteforschung, mit denen sich die Wertedynamik von traditionellen zu
modernen Werten messen lässt, gehören die Messvorschläge von Schwartz (1992), Klages
(1992, 1993) und Inglehart/Welzel (2005).
Schwartz‘ Wertemodell, das Eingang in das European Social Survey fand, unterscheidet zehn
„universelle“ menschliche Werte. Vergleiche zwischen europäischen Ländern werden meistens
entlang der vier Wertegegenpole auf zwei Achsen „Offenheit für Veränderungen“ (openness to
change) vs. „Bewahrung/Konservierung (der Vergangenheit/ Tradition)“ (conservation) und
„Selbstbehauptung“ (self-enhancement) vs. „Selbstlosigkeit, Universalism/Wohwohlen“ (self-
transcendence) durchgeführt271.
Dem World Value Survey liegt das umfassende Messinstrumentarium von Inglehart (1990,
1998) zugrunde, mit dem ein kultureller Wandel in über 80 Ländern gemessen werden kann.
Hier lässt sich insbesondere mit dem Begriffspaar „Überlebenswerte“ (survival values) vs.
„Selbstdarstellung/Selbstverwirklichung“ (self-expression values) der Wandel in Richtung zu
mehr individualer Autonomie beschreiben272.
Weiterhin beschreiben die Kategorisierungen von Klages Veränderungen der Präferenzen im
gesamtgesellschaftlichen Werte- und Normengefüge, die ab den 1965er Jahren in allen
hochentwickelten Gesellschaften der westlichen Hemisphäre deutlich zu beobachten sind. Die
Richtung des Wandels bringt er auf folgende Kurzformel: „Von Fügsamkeits- und
Unterordnungswerten zu Selbstentfaltungswerten (= zunehmender ‚Individualismus‘)“273.
Zentraler Indikator dieser Entwicklungen für den Speyrer Werteforscher sind die
Erziehungswerte, mit denen sich für Deutschland eine dramatische Scherenentwicklung
aufzeigen lässt: für die Bundesbürger verloren die Erziehungsziele „Gehorsam und
Unterordnung“ beständig an Bedeutung, zugleich wurden die Erziehungsziele „Selbständigkeit
und freier Wille“ immer wichtiger274.
271 Zu Russlands Wertedynamik in Vergleiche zu anderen europäischen Ländern siehe Magun/Rudnev 2010. 272 Siehe Inglehart/Welzel 2005. 273 Klages 2016. 274 EMNID (Hrsg.) (1998).
104
In unseren Pilotstudien in Samara und Freiburg lehnten wir uns weitgehend an die Terminologie
und Operationalisierung aus den früheren Freiburger Studien von Blinkert/Klie (2004, 2006)
an.
Für die Pflegebereitschaft sind unterschiedliche „symbolische Ressourcen“ von Bedeutung, die
die Autoren folgendermaßen definierten:
„Besitz von Überzeugungen, die von zentraler und weitgehend anerkannter Bedeutung für die
Vorstellung von einem den modernen Bedingungen optimal angepassten Lebensentwurf sind.
Diese Dimension beschreibt gewissermaßen das Ausmaß der Teilhabe am ‚legitimen
Modernitätsdiskurs‘, wozu auch die Ablehnung eines konservativen, auf die Familie zentrierten
Frauenbildes und die Befürwortung einer über Erwerbstätigkeit und beruflichem Erfolg
definierten Frauenrolle gehört“275.
In dieser Arbeit werden die Begriffe „soziokulturelle“, „symbolische Ressourcen“ bzw.
Lebensentwürfe als Synonyme verwendet. Die wichtigste Unterscheidung ist hier, ob sich
Lebensentwürfe entweder eher an „traditionellen“ oder eher „modernen“ Mustern
orientieren276.
Die „Vorstellungen von der Frauenrolle“ wurden als Indikatoren zur Operationalisierung
unterschiedlicher „soziokultureller Ressourcen“ bzw. Lebensentwürfen in unseren bilateralen
Studien gewählt. Diese Entscheidung wurde aus mehreren Gründen getroffen: Vordergründig
fiel die Wahl auf diese Statements wegen ihrer thematischen Nähe zum Thema ‚Beziehungen
zwischen den Familiengenerationen‘, da Pflegeverantwortung traditionell von Töchtern und
Ehepartner*innen zu tragen ist. Zum anderen konnte damit eine Replikation unserer Freiburg-
Studie zu den bisherigen deutschen Pflegestudien hergestellt werden. Auch ein Ländervergleich
mit den Daten internationaler Studien (z. B. Generations und Gender Survey, GGS) ist möglich,
da der GGS 2004 ein Set von ähnlichen Aussagen enthält.
275 Blinkert/Klie 2006: 22. 276 Im Original wird der Begriff „Lebensentwurf“, der zwischen den Polen „vor-modern“ und „modern“ variiert,
verwendet.
105
Funktionale Äquivalenz277 der Messinstrumente in interkulturell vergleichender
Umfrageforschung
Jede interkulturell vergleichende Umfrageforschung muss sich zusätzlich zu den allgemeinen
Problemen von standardisierter Erhebungsmethodik mit den spezifischen Problemen der
komparativen Umfrageforschung beschäftigen. Dabei geht es um die Verwendung funktional
äquivalenter Messinstrumente, die nationale Besonderheiten berücksichtigen.
In der Regel muss ein Kompromiss gefunden werden zwischen dem Bestreben nach der
Vergleichbarkeit von Ergebnissen (pragmatischen Überlegungen) und der Gefahr von
konzeptueller und operationaler Nicht-Äquivalenz bei Übertragung der nationalen Instrumente
auf einen anderen kulturellen Kontext. Auch unsere bilaterale Pilot-Studie musste sich im
russischen Kontext mit den Validitätsfragen der Statements zur Frauenrolle beschäftigen, die
aus der deutschen ALLBUS-Studie übernommen wurden. Man kann davon ausgehen, dass die
gleichen Antwortmuster (auf der Skala „Einstellungen zur Frauenrolle“) in Russland und
Deutschland zum Teil verschiedene Dinge bedeuten könnten. Die Befragten könnten
Statements in einer länderspezifischen Weise je nach unterschiedlichem Hintergrundwissen
interpretieren, das seinerseits durch verschiedene makrostrukturelle Bedingungen geprägt ist.
Nach Braun (2006) sind dabei ausschlaggebende Faktoren: a) Politikorientierung zu
Geschlechterdifferenz, nämlich Bemühungen für deren Abbau zu mehr Geschlechtergleichheit
vs. Verharrung auf traditionellen Familienwerten und der besonderen Rolle der Frauen, b)
institutionelle Voraussetzungen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, c) Wohlstandsniveau
und wirtschaftliche Notwendigkeit von Doppeleinkommen. Die Lebenswelt bestimmt die
Relevanz und Übereinstimmung zwischen dem Fragestimulus und dem Frageverständnis und
kann für landespezifisch "unterschiedliche" Interpretationen der Items bei gleichem
Skalenscore verantwortlich sein.
Einerseits stellt der typische Einwand gegen ein für alle Länder gleiches Messinstrument,
nämlich anstelle von persönlichen Einstellungen dominierende Meinungen, basierend auf
kulturspezifisch induzierten „Schemata“ zu messen278, keinen Widerspruch im Rahmen unseres
Operationalisierungskonzepts dar. Es geht eben nicht nur um die Einstellungen zur Frauenrolle
in Russland und Deutschland per se, sondern über die Skalenwerte gewinnt man Aufschluss
277 „Unter funktionaler Äquivalenz wird (…) verstanden, dass die zugrunde liegenden Dimensionen oder
theoretischen Konzepte in allen Ländern in vergleichbarer Weise gemessen werden.“, Braun 2006, 5. 278 Vgl. Braun 2006.
106
über Lebensentwürfe. Würden die russischen Befragten im Sinne der dominierenden
Geschlechterrollen-Ideologien (z.B. über die besondere Rolle der Mutter im Erziehungsprozess
bzw. der Frau in der Familie) antworten statt mit eigenen Einstellungen, dann wäre dies ein
wichtiger Hinweis auf eine Orientierung an einen "nicht" selbstbestimmten/ individualisierten
Lebensentwurf. Anderseits liegen aus früheren Forschungen Hinweise vor, dass der Grad der
Traditionalität der Lebensentwürfe in Russland eher unterschätzt und in Deutschland eher
überschätzt wird279. Folgende Argumente lassen sich zu dieser These nennen: das sowjetische
und post-sowjetische Russland war und ist erheblich geprägt durch Geschlechterstereotypen
bzw. traditionelle Geschlechterrollenverteilungen. Allerdings sorgte zu Sowjetzeiten die
ideologisch erzwungene Gleichheit in der Ganztagserwerbstätigkeit von Frauen, kombiniert mit
strukturellem De-Familialismus in Form eines umfassenden Netzes an staatlichen
Kinderbetreuungseinrichtungen dafür, dass das Überlassen der (Klein)Kinderbetreuung an den
Staat als völlig normal angesehen wurde. Diese Tatsache könnte noch zu den schematischen
Vorstellungen von den im Sozialismus sozialisierten 40-bis 65-jährigen Befragten gehören.
Weiterhin dürfte angesichts der niedrigen Löhne in Russland eine Zustimmung zu einer
Erwerbstätigkeit der Frau häufiger Konsequenz ökonomischer Notwendigkeit sein280 als
Ausdruck eines modernen selbstbestimmten Lebensentwurfs. Gleichzeitig dürfte der Wunsch
nach einem höheren Einkommen durchaus in Richtung eines modernen Lebensentwurfs gehen.
Im konservativ-korporatistischen Deutschland dagegen ist die Geschlechter-Rollenideologie
zwar weniger traditionell ausgeprägt als im postsozialistischen Russland, allerdings dürfte das
hiesige System eher stabilisierend auf die Geschlechterungleichheit einwirken, anstatt sie wie
in den skandinavischen Ländern universell abzubauen. Diverse strukturelle Bedingungen
könnten das Antwortverhalten im Sinne eines eher traditionellen Lebensentwurfs bewirken:
erhebliche Gehaltslücken zwischen gleichqualifizierten Männern und Frauen, ein überholtes
Ehemodell, das grundsätzlich von einem Hauptverdiener und einer Zuverdienerin ausgeht,
darauf ausgerichtete Kinderbetreuungsangebote und damit unzureichende institutionelle
Anpassung an die Vollzeitberufstätigkeit beider Eltern. Vor dem Hintergrund dieser
„objektiven“ Gründe lässt sich schnell vom Problem der Abwesenheit der Eltern ausgehen281
sowie eine Erwartungshaltung auch gegenüber gut qualifizierten Frauen rechtfertigen, dass sie
279 Ebd. 280 Braun 2006: 106. 281 Ebd. 160.
107
aufgrund ihres geringeren Einkommens für die unbezahlte Familienarbeit in die traditionelle
Frauenrolle schlüpfen sollen, unabhängig vom Lebensentwurf.
Die geäußerten Bedenken hinsichtlich der funktionalen Äquivalenz von den verwendeten
Messinstrumenten werden auch durch die durchgeführten Reliabilitätsanalysen in den beiden
Stichproben bestärkt282. In Freiburg beträgt Cronbachs Alpha 0,777 und liegt somit in einem
zufriedenstellenden Bereich. Der Wert für Samara liegt mit 0,655 knapp unterhalb des häufig
in der Literatur angegebenen Maßes von 0,7, den man für die Annahme einer konsistenten Skala
voraussetzt283. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass den verwendeten Messinstrumenten in
Russland und in geringerem Maße in Deutschland nur eine bedingte Validität bescheinigt
werden kann, zwischen modernen und traditionellen Lebensentwürfen zu unterscheiden.
Nach dem Pretest wurden 4 von 6 Aussagen zur Rolle der Frauen ausgewählt, um den
„Lebensentwurf“-Konstrukt zu bilden:
1. Für eine Frau ist es wichtiger, ihrem Mann bei seiner Karriere zu helfen, als selbst
Karriere zu machen
2. Ein Kleinkind wird sicherlich darunter leiden, wenn seine Mutter berufstätig ist.
3. Es ist für alle Beteiligten viel besser, wenn der Mann voll im Berufsleben steht und die
Frau zu Hause bleibt und sich um den Haushalt und die Kinder kümmert.
4. Eine verheiratete Frau sollte auf eine Berufstätigkeit verzichten, wenn es nur eine
begrenzte Anzahl von Arbeitsplätzen gibt und wenn ihr Mann in der Lage ist, für den
Unterhalt der Familie zu sorgen.
Die Antworten auf die Aussagen wurden in einer Skala zusammengefasst, dabei entsprechen
die niedrigen Skalenwerte eher einem " traditionellen" und die hohen Skalenwerte eher einem
"modernen" Lebensentwurf. Im nächsten Schritt wurden die Skalenwerte transformiert mit dem
Durchschnitt 100 und einer Standardabweichung von 50 und zu drei Kategorien „traditionell“
(Werte bis 83), „abwägend“ (von 83 bis 117) und „moderne Lebensentwürfe“ (größere Werte
als 117) zusammengefasst284.
282 Natürlich sind Reliabilität und Objektivität notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen für die
Validität. 283 Vgl. Kuckartz et al. 2010: 223. 284 Die Verfasserin der Arbeit orientierte sich an die Werteeinteilung in der Annaberg-Unna-Studie
(Blinkert/Klie 2006), wobei eine stärkere Gruppierung aufgrund von geringerem Stichprobenumfang
unerlässlich war.
108
Es ist deutlich eine (fast spiegelbildlich) umgekehrte Verteilung der Lebensentwürfe in den
beiden Stichproben/Ländern erkennbar. In der Freiburger Stichprobe liegt der Anteil der
Befragten mit "eher traditionellen" Lebensentwürfen deutlich unter dem entsprechenden Anteil
in der Samara Stichprobe (20 % vs. 51 %). Im Gegensatz dazu ist der Anteil der Befragten mit
"eher modernen" Lebensentwürfen in der Freiburger Stichprobe mehr als doppelt so hoch wie
in der Samara Stichprobe (59 % vs. 23 %, siehe Abb. 8). Man kann zusammenfassend sagen,
in Russland dominieren „traditionelle“ und in Deutschland - im Gegensatz - „moderne“ Muster
der Lebensführung.
Eine beinahe identische Verteilung der Lebensentwürfe (soziokulturelle Ressourcen) lassen
sich mit den Daten des Generations and Gender Survey 2004, 1. Welle replizieren. In unserer
Studie korrelieren die Skalenwerte “soziokulturelle Ressourcen” mit der Ländervariablen sehr
deutlich (Pearson’s r= 0,393***). In der repräsentativen GGS-Stichprobe ist diese Beziehung
noch stärker (Pearson’s r = 0,457***).
Abb. 8: Soziokulturelle Ressourcen (Lebensentwürfe) der 40-bis 65-Jährigen in den Samara
und Freiburg Stichproben und repräsentativen GGS Stichproben
Sozialstruktur und Sozialkultur sind in der Regel voneinander abhängig, wie der vorherige
deutsche Sozialstrukturdiskurs zeigt. In der Freiburger Stichprobe lässt sich zur Bekräftigung
109
dieser These ein starker Zusammenhang zwischen strukturellen und kulturellen Dimensionen
der Ressourcenausstattung nachweisen (Pearson´s r für Freiburg: 0,47***)285. Dies bedeutet, je
höher die sozioökonomische Positionierung ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass die Personen
sich an selbstbestimmten Lebensentwürfen orientieren. Für Samara ist diese Beziehung deutlich
schwächer 0,16*286, womöglich eine Besonderheit der neo-etakratischen Gesellschaftsordnung.
Eine Zusammenfassung der beiden Ressourcenlagen (sozialstrukturelle und soziokulturelle) zu
einer Ressourcentypologie, die eine Positionierung der Individuen im Ungleichheitsgefüge
entlang der vertikalen und horizontalen Dimensionen des jeweiligen Landes zum Ausdruck
bringt, wäre zwar wünschenswert, war allerdings angesichts des geringeren
Stichprobenumfangs nicht realisierbar.
2.3.4 “Pflegekulturelle Orientierungen”
Im Vordergrund unserer bilateralen Untersuchung stand die Frage nach der Bedeutung und den
Charakteristiken von familiärer Unterstützung und speziell den “pflegekulturellen
Orientierungen” in der russischen und deutschen Gesellschaft. Weiterhin erforschte die Studie
die Variationen konkurrierender Verpflichtungen, Motivationen und Begründungen, wie man
mit einem Pflegefall des (Schwieger-)Elternteils umgehen würde. Die
Motivationszusammenhänge sowie die bevorzugten Pflegearrangements wurden innerhalb der
Sozialstruktur eines Landes sowie in unterschiedlichen nationalen Kontexten analysiert. Die
gewonnenen Einblicke halfen, die Verteilung der pflegekulturellen Orientierungen in beiden
nationalen Kontexten und in verschiedenen sozialen Gruppen zu beschreiben und zu erklären.
Damit ergaben sich Aufschlüsse über die unterschiedlichen Präferenzen für
Anerkennungsbedürfnisse und erlaubten, die Beziehung zwischen
Individualisierungstendenzen und dem Wandel in der Pflege zu beleuchten.
Der Begriff „pflegekulturelle Orientierungen”, wie er von Blinkert & Klie (2006: 1) definiert
wird, umfasst die Gesamtheit aller Präferenzen und Absichten, die die Bereitstellung und
Organisation von Pflege betreffen, vor allem in dem Fall, dass eine nahestehende ältere Person
(typischerweise ein Elternteil) Langzeitpflege benötigen wird. Mit dem Begriff „Pflegekultur“
285 Ähnlich starke Zusammenhänge wurden in den früheren Pflegestudien für Deutschland festgestellt, siehe
Blinkert/Klie 2004, 2006. 286 Der Korrelationskoeffizient mit der standardisierten Skala „strukturelle Ressourcen“ verändert sich bis auf
die 3. Kommastelle nicht. Diese Ergebnisse konnten mit dem GGS 2004 nicht repliziert werden, da
(russische) Daten es nicht ermöglichen, analoge Indikatoren des sozialen Status zu bilden.
110
soll sowohl auf die mit dem Pflegen zusammenhängende, ganz persönliche
Bedeutungskonstellation, aber auch auf den gesellschaftlichen Umgang mit der
Pflegebedürftigkeit älterer Familienmitglieder hingedeutet werden, wie dieser (mehr oder
weniger) im Einklang mit den kulturellen Grundlagen einer Gesellschaft steht287.
Die folgenden Fragen adressieren das theoretische Konzept „pflegekulturelle Orientierungen”:
- Wo soll die gebrechliche bzw. pflegebedürftige (Schwieger-)Mutter/ der (Schwieger-)
Vater gepflegt werden? Zu Hause oder sollte er/sie in ein Pflegeheim gehen? Welchen
Stellenwert soll der familialen im Vergleich zur professionellen Pflege beigemessen
werden?
- Wie wird die Option “Pflegeheim“ z.B. für die eigene Mutter bewertet?
- Mit welchen Begründungen gehen die Präferenzen und Entscheidungen für ein
bestimmtes Pflegearrangement einher? Welcher Motivationstypus (Moral, Kosten,
pragmatische Überlegungen oder ihre Kombination dominiert bei welcher
Pflegeentscheidung?
Das Konzept der pflegekulturellen Orientierungen wird in dieser Arbeit in Anlehnung an das
Freiburger Messverfahren mittels verschiedener Indikatoren mit direkten und indirekten
Messtechniken operationalisiert288:
Indirekt über eine Dilemma-Situation289.
Die interviewte Person wurde gebeten, die Entscheidung der Tochter (fiktive Person), für ihre
Mutter das Altenpflegeheim vorzuziehen, anstatt sie zu Hause zu pflegen, auf einer Skala von
-3 “falsch” bis +3 “richtig” zu bewerten. Folgende Situation wurde vorgelesen und die Liste
mit der Antwortskala der befragten Person vorgelegt:
287 Vgl. zum Zusammenhang zwischen den wohlfahrtsstaatliche Politiken und ihren kulturellen Grundlagen
insbesondere Pfau-Effinger (2009). 288 Siehe den verwendeten Fragebogen im Anhang 13. 289 Die Dilemma-Methode geht auf Lawrence Kohlbergs (1984) Methodik zur Messung der Stufen von
moralischen Entwicklungen zurück. Sie besteht aus einer Konfliktsituation und der Entscheidung einer
fiktiven Person in diesem Dilemma, das bewertet werden soll.
111
und via Begründungsmuster der Pflegeentscheidung (offene Frage):
Nach dem Abwägen der methodischen Grenzen der offenen vs. geschlossenen Frageform zur
Begründungsabfrage im persönlich-mündlichen Interview fiel die Entscheidung in unserer
Studie auf ein offenes Frageformat290. Die interviewte Person wurde gebeten, Argumente für
ihre Beurteilung zu nennen.
In Anschluss an die Bewertung der Dilemma-Situation wurde nachgefragt:
„Wie würden Sie Ihre Entscheidung begründen? Welche Gesichtspunkte waren dabei für Sie
wichtig?“.
Nur wenige frühere ländervergleichende Studien, z.B. das pan-EUROFAMCARE-Projekt,
befassten sich mit der Motivation zur Altenpflege, ohne jedoch ein methodisch angemessenes
Messkonzept vorzuschlagen. Die Gründe, warum Angehörige Familienpflege ablehnen,
wurden aufgrund von Studiendesign291 gar nicht untersucht. Das in EUROFAMCARE
angewendete, geschlossene Frageformat des Messinstrumentariums barg in sich zumindest
zwei methodologische Probleme: die Konstruktion sozialer Artefakte, offenbar in hohen
Akquieszenzraten unter allen sechs teilnehmenden Ländern, und ein sozialer Erwünschtheit-
Bias, nämlich das Dominieren von intrinsischen über extrinsische Motive, dass nur mittels
Ländervergleichen konstant gehalten werden konnte.
290 Offenes Frageformat bedeutet, dass die Antworten den Befragten nicht, wie in einer standardisierten
Befragung, vorgegeben werden, sondern von Befragten selbst in eigenen Worten formuliert werden müssen.
Zu den wesentlichen Vorteilen gegenüber dem geschlossenen Frageformat gehört das Aufzeigen der
tatsächlichen Sinnzusammenhänge bzw. des Einstellungsrahmens der befragten Person, womit die
Erzeugung sozialer Artefakte vermieden wird, siehe Schnell et al. 2008. 291 EUROFAMCARE untersuchte persönliche Merkmale und Lebenssituationen nur von Pflegehaushalten, und
zwar der Familienmitglieder und ihren älteren pflegebedürftigen Angehörigen.
Eine ältere Dame wird in nächster Zeit aus dem Krankenhaus entlassen. Sie erlitt vor einigen
Wochen einen Schlaganfall. Ihr geht es den Umständen entsprechend wieder besser. Sie
kann aber aufgrund der bleibenden Behinderung nicht mehr allein leben. Das heißt, sie
braucht allgemein Unterstützung im Alltag und teilweise bei der Körperpflege.
Ihr Wunsch ist es, im Hause ihrer einzigen Tochter versorgt zu werden. Ihre Tochter ist
verheiratet, hat zwei Kinder, die zur Schule gehen, und ist halbtags berufstätig. Für die
Pflege der Mutter müsste sie ihre Berufstätigkeit aufgeben. Die Tochter entscheidet sich
gegen den Wunsch der Mutter und bemüht sich um einen Platz in einem gut geführten
Pflegeheim.
112
Das in den früheren Freiburger Pflegestudien elaborierte Instrumentarium von Dilemma-
Situation (inkl. offener Begründungsabfragen) diente zur Eruierung der unterschiedlichen
Motivationsstrukturen und Bedeutungen, wie Langzeitpflege von Angehörigen interpretiert
wird. Durch die Bewertung der Entscheidung in einer fremden Situation (Tochter aus der
Dilemma-Situation entscheidet sich für die Heimunterbringung ihrer Mutter gegen deren
Willen) und die Angabe der Gründe, wird eine tiefe Einsicht zu der Angelegenheit gewährt, in
welche Bedeutungszusammenhänge Probanden das Thema Pflegebedürftigkeit eigener Eltern
einordnen. Antworten auf diese Frage wurden nach dem von Blinkert/Klie (2004) entwickelten
Codeschema verschlüsselt, das drei wesentliche Motivationstypen umfasst: Moral, Kosten und
pragmatisch-instrumentelle Überlegungen. Bei den Überlegungen zur Moral und zu den Kosten
wurden weitere verschiedene Aspekte unterschieden.
Da man sich bei diesem Fragebogenitem entscheiden und positionieren musste, wurde der
mittlere Skalenwert von „0“ und somit „keine Meinung“ auf der Skala (von -3 ”falsche
Entscheidung” bis +3 “richtige Entscheidung”) nicht angeboten. Falls die Befragten sich wegen
fehlender Informationen/Gesichtspunkte nicht spontan entscheiden konnten, wurde die
Interviewperson angehalten nachzuhaken: „Versuchen Sie das einmal nach Ihrer persönlichen
Einschätzung zu beurteilen - ist die Entscheidung eher richtig oder eher falsch? Sie können mir
dann gleich anschließend sagen, welche Gesichtspunkte für Sie wichtig waren“. Somit konnten
immerhin 88 % der Befragten (gültige Fälle = 393 von allen Fällen = 445) ein eigenes Urteil
zur Entscheidung der Tochter abgeben. Auch bei den Begründungen, bei denen die interviewte
Person spontan Schwierigkeiten zeigte, die Situation zu beurteilen, wurde „nachgehakt“:
„Welche Gesichtspunkte wären für Sie wichtig? Was müssten Sie noch wissen, damit Sie das
Verhalten der Tochter beurteilen könnten?“
direkt als Wahrscheinlichkeit für die Wahl eines spezifischen Pflegearrangements
Im Falle, wenn ein eigener Angehöriger Langzeitpflege braucht. Folgende angebotenen
Alternativen könnten auf einer Skala 0 “auf jeden Fall” 1” eventuell” 2 “auf keinen Fall”
eingeschätzt werden:
113
Insbesondere die Präferenz für häusliche oder stationäre Pflege sollte dabei weiter eruiert und
mit den vorhandenen Informationen über die Befragten in Verbindung gebracht werden.
In unserer Studie kombinierten wir direkte und indirekte Messtechniken, um den erwähnten
methodologischen Problemen, vor allem der sozialen Erwünschtheit292, vorzubeugen oder diese
zumindest zu minimieren. Für diese Zwecke begann die Messung der pflegekulturellen
Orientierungen - die verständlicherweise ein sehr persönliches Thema darstellt - mit den
indirekten Fragetechniken. Und erst im mittleren Teil des Fragebogens stellte man den
Befragten die direkten Fragen zu der prospektiven Pflegebereitschaft der eigenen Eltern.
Man müsste in der russischen Stichprobe im Vergleich zur deutschen trotz indirekter
Messtechnik evtl. mit einem stärkeren Effekt der sozialen Erwünschtheit rechnen. Ihr
mögliches Auftreten diente dann als Hinweis auf internalisierte allgemeine kulturspezifische
Verhaltenserwartungen (z. B. aufgrund traditioneller Geschlechterrollen).
Verschiedene Indikatoren der pflegekulturellen Orientierungen korrelieren in beiden Ländern
in erheblichem Maße miteinander, daher kann man sie in einer gemeinsamen Skala
„Bereitschaft zur Selbstversorgung pflegebedürftiger Angehörigen“ (kurz „Pflegebereitschaft“)
zusammenfassen. Die Skalenwerte zeigen den Grad auf, zu dem die Person bereit ist, die
häusliche Pflege Angehöriger mit großem, persönlichem Einsatz zu wählen und nicht das
292 Soziale Erwünschtheit tritt häufig in der empirischen Sozialforschung bei heiklen, sensiblen oder peinlichen
Fragen auf. Vor allem dann, wenn die Befragten sich genötigt fühlen, ihre Antworten auf die gesellschaftlichen Erwartungen anpassen zu müssen, weil sie für eine „unpopuläre“ Antwort soziale
Missbilligung antizipieren. So tritt anstelle der „wahren“ Einstellung die Reproduktion der für das
Selbstwertgefühl bedeutsamen Einstellung, die den Messwert der Befragungsdaten systematisch verzerrt. Die
systematischen Antwortverzerrungen (inhaltlich nicht-valide, aber adäquate Antworten) sind schwer
identifizierbar. Sie korrelieren häufig mit bestimmten sozio-demographischen und kulturellen
Besonderheiten. der Befragten.
- Den Verwandten/ die Verwandte alleine und ohne fremde Hilfe zuhause pflegen
- Die Pflege zuhause übernehmen, aber Unterstützung durch einen Pflegedienst,
z.B. eine Sozialstation suchen
- Für den Verwandten/ die Verwandte einen Platz in einem gut geführten Pflegeheim in
der Nachbarschaft suchen
- Den Verwandten/ die Verwandte zuhause mit Hilfe von Freunden und Bekannten
pflegen.
114
Pflegeheim. Die Variante „Betreuung durch ambulante Pflegedienste“ wird in dieser
Messtechnik nicht berücksichtigt.
Die Skala wurde gebildet mittels einer exploratorischen Hauptkomponentenanalyse aus den
Indikatoren gemäß Tab. 3. Das Ergebnis war ein Faktor und 61 % erklärter Varianten für beide
Länder. Die hohen Werte in der Skala bedeuten hohe Bereitschaft, die niedrigen Werte
keine/geringe Bereitschaft zur häuslichen Pflege von Angehörigen.
Tab. 3: Skala “Pflegebereitschaft”
Indikatoren Werteausprägungen Faktorladungen
Skala „Pflegebereitschaft”
Bewertung der Dilemma-
Situation
Skala 1 = “falsch” bis 6
=”richtig”
,813
Selberpflegen zuhause je skaliert mit
0 “nie”
1 “wahrscheinlich”
2 “sicher”
-,770
Versorgung in einem
nahliegenden Pflegeheim
,817
Häusliche Pflege mit Hilfe
von Familie und Freunden
-,728
Erklärte Varianz
61 %
Quelle: Bilaterale Pilot-Studie 2010/11; Eigene Darstellung
Die Skalenwerte wurden standardisiert mit einem Durchschnitt von 100 und einer
Standardabweichung von 50. Sie wurden weiterhin in 3 Kategorien aufgeteilt: „schwach“ (bis
83), „mittel (83 bis 117) und „stark“ (>117). Man musste diese Gruppierung wählen, damit
extreme Gruppen genug Fälle hatten, um 3-dimensionale deskriptive Analysen zu ermöglichen.
Sicherlich macht es Sinn, kategorisierte Skalenwerte nur zum Zwecke von Gruppenvergleichen
zu nutzen, um z.B. die Frage beantworten zu können, ob Personen mit vorteilhaften
strukturellen Ressourcen weniger geneigt sind, ihre familialen Verpflichtungen gegenüber
einem pflegebedürftigen Elternteil zu erfüllen als Personen mit geringen soziostrukturellen
Ressourcen. Weiterhin ist es so möglich, die Häufigkeitsverteilungen zwischen den beiden
Stichproben und mit den repräsentativen Studien zu vergleichen. Vorausgesetzt, unsere
Stichproben sind ein gutes Abbild der Population, aus der sie gezogen sind, unter Verwendung
derselben Messinstrumente und Wertegruppierungen. Man muss sich aber bewusst sein, dass
115
die Ergebnisse des Pilotprojekts nur für die resultierten russischen und deutschen Stichproben
zutreffen. Sie können daher weder für Russland noch für Deutschland verallgemeinert werden.
2.4 Ergebnisse
2.4.1 Verteilungen pflegekultureller Orientierungen in einer ländervergleichenden
Perspektive
Mit den Daten unserer bilateralen Pilot-Studie wollte man zwei zentrale Forschungsfragen
adressieren:
Ähneln oder unterscheiden sich russische Befragte in verschiedenen Aspekten der
pflegekulturellen Orientierungen von den deutschen? Gibt es Hinweise für die Bestätigung der
postulierten Annahmen in Russland? Kann also im russischen Kontext von ähnlichen sozialen
Verteilungen der pflegekulturellen Orientierungen entlang vertikaler und horizontaler
Ungleichheitsdimensionen der Sozialstruktur ausgegangen werden, wie sie für Deutschland
gelten?
Darüber hinaus war es das Ziel, mit unserer Freiburger Studie die für Deutschland typischen
Verteilungen und Zusammenhänge wie in der Annaberg-Unna-Studie zu rekonstruieren.
Die Überprüfung der zentralen Annahmen dieser Arbeit soll anhand verschiedener einzelner
Indikatoren pflegekultureller Orientierungen als auch mit dem zusammengefassten Index
„Bereitschaft zur selbstgeleisteten Pflege Angehöriger" erfolgen. Die länderspezifischen
Analysen dieser Indikatoren unterstützen die Schlussfolgerung, dass, obwohl pflegekulturelle
Orientierungen auf die häusliche Selbstversorgung bei den 40- bis 65-Jährigen in beiden
Ländern dominieren, sie in Russland viel stärker ausgeprägt sind als in Deutschland. Anbei
einige Ergebnisse im Detail.
Präferenz für eine häusliche oder stationäre Versorgung
Gibt es ländertypische Präferenzen für Pflegearrangements?
Wenn es um die Präferenzen für die Versorgung einer nahestehenden pflegebedürftigen Person
geht, heißt die grundsätzliche Frage: Ist eine häusliche Pflege möglich und wünschenswert oder
kommt eine stationäre Versorgung in Frage? Bei der häuslichen Pflege könnte im Prinzip
zwischen unterschiedlichen Pflegearrangements ausgewählt werden „mit“ oder „ohne“
116
professionelle Hilfe (beide Pflegesysteme, das deutsche und das russische, haben ein System
der ambulanten Pflegedienste, deren Besonderheiten im Kap. 3.3 vertieft werden).
Die vier im Face-to-Face-Interview vorgegebenen Pflegemöglichkeiten wurden so
zusammengefasst, dass deutlich wird, welches der Arrangements voranging in Frage käme.
Hierzu wurden die folgenden vier Arrangement-Typen gebildet293:
1) Häusliche Pflege ohne professionelle Hilfe: wenn der Versorgungstyp „zuhause selber
pflegen“ und/oder „zuhause mit Hilfe von Freunden und Bekannten pflegen“ “auf jeden
Fall” bevorzugt wird und andere Möglichkeiten überhaupt nicht oder nur „eventuell“ in
Frage kämen.
2) Häusliche Pflege mit professioneller Unterstützung: wenn „Die Pflege zuhause
übernehmen, aber Unterstützung durch einen Pflegedienst, z.B. eine Sozialstation
suchen“ „auf jeden Fall“ in Frage käme und alle anderen Möglichkeiten deutlich
abgelehnt werden.
3) Eher stationäre Pflege: Wenn die Arrangements der häuslichen Pflege nicht in Frage
kommen und eine Heimpflege „eventuell“ in Betracht gezogen wird.
4) Stationäre Pflege: wenn häusliche Pflege „definitiv abgelehnt“ wird und der
Lösungsansatz „Für den Verwandten einen Platz in einem gut geführten Pflegeheim in
der Nachbarschaft suchen“ „auf jeden Fall“ in Frage kommt.
Das Ergebnis dieser Typologisierung verdeutlicht, welche Arrangements in welchem
Länderkontext bevorzugt werden. Eine Präferenz für häusliche Pflege älterer Angehörigen steht
eindeutig an erster Stelle für fast alle Befragten in Samara und für eine deutliche Mehrheit der
befragten Freiburger Einwohner*innen. Über 66 % der Interviewten in der Freiburger
Befragung294 sind bereit, Pflege zu Hause mit oder ohne professionelle Unterstützung zu leisten,
während in der Samara Stichprobe fast jede(r) Befragte das häusliche Pflegearrangement im
Pflegefall in der Familie wählen würde, nämlich 94 %. 83 % von ihnen wünschten sich nicht
einmal professionelle Unterstützung (siehe Abb. 9). Während ein Drittel (34 %) der deutschen
Probanden stationäre Pflege in Erwägung oder definitiv (vor)ziehen würde, zeigen nur 6 % der
russischen Interviewten Präferenz für diese Pflegeoption. Warum so wenige russische
293 Die Indexbildung orientiert sich an den Berechnungen in der Annaberg-Unna-Studie (siehe Blinkert/Klie
2006: 50f.). 294 Vgl. mit 71 % in der Annaberg-Unna Studie (Blinkert/Klie 2006: 51, Abb. 35).
117
Befragten im Unterschied zu den deutschen auf die ambulante oder stationäre
Pflegeunterstützung setzten, bedarf weiterer Erklärung.
Abb. 9: Präferenz für ein spezifisches Pflegearrangement
2.4.2 Bewertung der Dilemma-Situation und Motivationszusammenhänge „für“ oder
„gegen“ Pflegeübernahme
Was verbindet man mit Pflegeverpflichtungen in den beiden Ländern? Gibt es ländertypische
Begründungsmuster „Pro“ bzw. „Contra“ häuslicher Pflege?
Frühere Pflegestudien haben eruiert, dass a) Pflege typischerweise unter moralischen, Kosten-
Nutzen-Erwägungen oder pragmatischen Überlegungen295 betrachtet wird; b) diese
Auffassungen in einem engen Zusammenhang zu dem bevorzugten Pflegearrangement stehen
und c) mit strukturellen und symbolischen Ressourcen variieren296. Diesen drei Annahmen wird
in einer ländervergleichenden Perspektive nachgegangen.
Die Entscheidung der Tochter, die eigene Mutter in einem Pflegeheim versorgen zu lassen unter
der skizzierten Lebenssituation, wird in der russischen Stichprobe deutlich negativer bewertet
295 Die Motivationen eines präferierten Pflegearrangements sind nicht eindimensional oder dichotom, sondern
sehr komplex. Sie lassen sich daher nur sehr vereinfacht mit dem Konzept „Kosten vs. moralische vs.
pragmatische“ Begründungen darstellen. 296 „Kassler“- und „Annaberg-Unna“-Studien von Blinkert/Klie (2004, 2006)
118
als in der deutschen (Samara: M= 2,4; SD=1,8 vs. Freiburg: M = 4,2; SD=1,4 auf der 6-er Skala
1” falsche Entscheidung” bis zu 6 “richtige Entscheidung”297), siehe Abb. 10. Fast jede(r) zweite
(48 %) russische, aber nur 7 % der deutschen Befragten haben diese Entscheidung kategorisch
abgelehnt (Skalenwert -3). Während die missbilligenden Beurteilungen (Skalenwerte -3 bis -1)
in der russischen Stichprobe dominieren (73 %), ist der Anteil der Ablehnungen in der
deutschen Stichprobe um fast das Dreifache geringer (26 %).
Abb. 10: Dilemma-Bewertung: Ist die Entscheidung der Tochter zur Heimversorgung falsch
oder richtig?
Welche Rolle spielen Erwägungen bei der Bewertung der in der Dilemma-Situation
geschilderten Entscheidung?
In der angewandten Dilemma-Situation-Methode hatte man besonderes Interesse an den
Begründungen der Entscheidungen. Um diese Frage zu beantworten, wurde im Anschluss an
die abgegebene Bewertung im offenen Fragenformat nach den Gründen für diese Bewertung
nachgefragt. Die befragten Personen konnten mit eigenen Worten zum Ausdruck bringen,
welche Gründe für ihre Bewertungen wichtig und maßgeblich waren. Im Wesentlichen wurden
von den deutschen und russischen Befragten drei Bedeutungsaspekte thematisiert: Moral,
Zweckmäßigkeit und Kosten. Das gab uns die Grundlage, die Antworten auf diese Frage nach
297 Den Befragten wurde allerdings eine bipolare endpunktbeschriftete Skala ohne mittlere Kategorie vorgelegt.
119
dem von Blinkert/Klie (2004) entwickelten Klassifikationsschema zu verschlüsseln, das sich
nun auch im Ländervergleich bewährte. Dieses umfasst die oben genannten drei relevanten
Motivationstypen (Moral, Kosten und pragmatisch-instrumentelle Überlegungen), die in
weitere Kategorien unterteilt sind. Im Kontexte der Elternpflege ließen sich zwei Typen
moralischer Prinzipien unterscheiden a) „konventionelle“ und b) „postkonventionelle“
Moralvorstellungen298.
Die Begründungsmuster für die "Dilemma-Situation" sind in Russland und Deutschland
auffällig unterschiedlich. Entgegen unseren Erwartungen sind pragmatisch-instrumentelle
Begründungen (wie das Fehlen von Angeboten gut-geführter Alten(pflege)heime in Russland,
Vorteile der häuslichen Pflege gegenüber der stationären oder umgekehrt Vorteile der
298 Dabei lehnte sich die Autorin an eine abgewandelte Form von Kohlbergs (1984) Konzept von „Stufen des
moralischen Urteils“ an, wie dieses von Blinkert/Klie (2006) vorgeschlagen wurde.
1. Kostenerwägungen
Das sind Gründe, die auf ökonomische, psychische, physische und soziale Belastungen
hindeuten. Des Weiteren sind es „Opportunitätskosten“, „d.h. Hinweise, auf entgangene
Chancen zur Selbstverwirklichung oder in beruflicher Hinsicht“.
2. Moralische Erwägungen
„Konventionelle moralische Erwägungen“ sind ein Verweis auf Traditionen und
Gewohnheiten, traditionelle (geschlechtsspezifische) Rollenvorstellungen oder die
Aussagen wie „das gehört sich so“, „so hat man es immer gemacht“, „Kinder sind
verpflichtet“, etc.
„Postkonventionelle moralische Erwägungen“ setzen sich aus einem
Reziprozitätsgedanken („die Mutter hat ja einem/ einer viel gegeben, nun kann man
ihr etwas zurück geben“) oder Orientierungen an universell-ethische, humanitäre
Prinzipien zusammen.
3. Pragmatisch-technische Erwägungen
Das sind Verweise auf bessere Versorgungsmöglichkeiten durch die professionellen
Pflegekräfte (z.B. in einem Heim), oder auch auf die schlechte Qualität von
Altenpflegeheimen; auf die mangelnde Eignung der Wohnung für eine pflegegerechte
Versorgung; auf unzureichende pflegerische Kompetenz oder umgekehrt Zusicherung, dass
man Pflege besser selber verrichten kann etc.
120
professionellen Pflege) weder in der russischen (16 %) noch in den deutschen Stichprobe
(27 %) von primärer Bedeutung (siehe Abb.11).
In den Samara und Freiburg Studien lässt sich ein umgekehrtes Begründungsmuster für die
„Dilemma-Situation“ erkennen. Nach der Häufigkeitsauszählung ergab sich für Freiburg
folgende Rangordnung: verschiedene Kostenaspekte (70 %) und speziell Opportunitätskosten
(50 %) überwiegen bei der Bewertung von Pflegearrangements gegenüber den moralischen
Gesichtspunkten (52 %). An letzter Stelle steht die Zweckmäßigkeit (27 %)299. Für Samara
verläuft die Verteilung gerade umgekehrt: am häufigsten wurden moralische Gründe (60 %)
und nur ganz selten Kostenaspekte (12 %) genannt, wobei Opportunitätskosten nur in 3 % der
Antworten als solche erkennbar waren. Entgegen den Erwartungen sind pragmatisch-
instrumentelle Begründungen wie der Mangel an gut geführten Pflegeheimen oder Vorteile der
professionellen Pflege für russische Befragte (16 %) nicht ausschlaggebend. Auch für die
Deutschen scheinen diese Begründungen nicht von primärer Bedeutung zu sein (27 %).
Die Ergebnisse unserer Pilot-Studie zeigen, dass sich die moralischen Vorstellungen zwischen
beiden kulturellen Kontexten qualitativ unterscheiden. Die russischen Probanden bringen mit
ihren Begründungen hauptsächlich ihre subjektiven Pflichtgefühle zum Ausdruck. Dabei ist das
moralische Urteil der Russen im Unterschied zu den Deutschen (Samara: 50 % vs. Freiburg:
5 %) häufiger von konventioneller Art. Es spiegelt traditionelle, oft nicht hinterfragte
Familienwerte wieder. „Es gehört sich so“, „es ist Verpflichtung der Kinder gegenüber ihren
Eltern“, „man behandelt seine Angehörigen/seine Mutter nicht auf dieser Weise“ (d.h. „man
gibt sie nicht ins Heim ab“) waren häufig geäußerte Begründungen.
299 Mehrfachnennungen waren möglich, deshalb addieren sich Gründe nicht auf 100 %.
121
Abb. 11: Begründungen für die Bewertung der Dilemma-Entscheidung – offene Nennungen
Auch von den Deutschen werden die Entscheidungen für oder gegen Pflege häufig mit
moralischen Aspekten begründet. Allerdings sind es moralische Begründungen anderer Art.
Die häufigsten Argumente, mit denen sich die Zustimmung zur Heimpflege rechtfertigen lässt,
beziehen sich auf Verpflichtungen gegenüber der eigenen (Kern)familie, besonders gegenüber
den Kindern (Freiburg: 26 % vs. Samara: 7 %). Am zweithäufigsten betonen die deutschen
Probanden Bedürfnisse der (potentiellen) Pflegeperson, also eigene Bedürfnisse (Freiburg:
15 % vs. Samara: 0,4 %). Ein gleicher Anteil der Antworten in beiden Studien (4 %) ließ sich
im Sinne der Reziprozitätsnorm bei einer Ablehnung der stationären Pflege verschlüsseln,
sinngemäß mit Aussagen wie „die Mutter hat ja die Tochter auch als Kind versorgt, deshalb
muss sie es der Mutter zurückgegeben“. Dagegen werden berechtigte Bedürfnisse und
Ansprüche der alten Mutter in der Freiburger Studie häufiger als in Samara erwähnt (Freiburg:
8 % vs. Samara: 1 %). Somit unterscheiden sich die beiden Stichproben auch geringfügig
hinsichtlich der postkonventionellen Moralvorstellungen (die beiden letzten Kategorien
zusammengefasst) mit ihrer höheren Relevanz für den deutschen Kulturkreis (Freiburg: 10 %
vs. Samara: 5 %).
122
Beim Vergleich der Freiburger Befunde mit den Ergebnissen der Annaberg-Unna-Studie, die
für Deutschland ein repräsentatives Bild liefert, fällt Folgendes auf: 1) Zwar fallen die
Häufigkeitsverteilungen von sowohl Kosten- als auch Moralbegründungen in Freiburg etwas
höher aus als sonst in Deutschland. Allerdings stimmen die Verhältnisse zwischen den Kosten-
/Moralbegründungen überwiegend mit den repräsentativen Befunden überein300. Die
Abweichungen von den deutschlandweiten Werten sind wahrscheinlich dadurch erklärbar, dass
unsere Befragungen in einem urbanen Raum in Südwestdeutschland und zu einem späteren
Zeitpunkt (2005 vs. 2011) durchgeführt wurden. Dabei sind Personen mit hohen
Bildungsabschlüssen sowohl in Freiburg als auch zusätzlich in unserer Stichprobe etwas
überrepräsentiert (vgl. Kap. 2.3.1). Mit steigender Bildung lässt sich eine höhere Reflexions-
und Kommunikationsfähigkeit unterstellen, die wiederum mit einer höheren Anzahl von
Begründungen im Hinblick auf das offene Frageformat einhergeht, bei Konstanthaltung
sämtlicher anderer Kriterien (Messinstrument, Erhebungsmethode).
Erstaunlicherweise werden Bedenken bzgl. möglicher Belastungen (psychischer oder
physischer Art) durch die Pflegeübernahme von den russischen Befragten kaum (1 %)
thematisiert! Für jede/n dritten von uns befragten Freiburgerin/ Freiburger sind es dagegen
nennenswerte Belastungen (32 %). Ganz sicher ist die häusliche Pflege in Russland genauso
belastend wie in Deutschland. Man kann sogar davon ausgehen, dass Angehörigenpflege in
Russland aus vielen objektiven Gründen deutlich schwieriger ist (mangels benötigter
(Pflege)Hilfsmittel, beengtem Lebensraum, fehlender öffentlicher Pflegeinfrastrukturen und
bedarfsgerechter Pflegeangeboten sowie Entlastung für pflegende Familien (siehe Kap. 3.3)
Dennoch werden Pflegebelastungen in Russland stoisch ertragen, die Situation wird weder
beklagt noch hinterfragt.
Dominierender Begründungstyp
Fasst man die verschiedenen Begründungen zum dominierenden Motivationstyp zusammen
und betrachtet dann die Verteilung (Abb. 12), so wird es noch deutlicher, welchen Stellenwert
moralische Erwägungen, Kostengesichtspunkte oder deren Kombination in den beiden
Länderkontexten haben. Die Russen begegnen den Pflegeverpflichtungen vorwiegend rein
300 Die Freiburger Begründungsmuster ähneln sehr jenen aus der „Kassler-Studie“, einer ebenso mittelgroßen
westdeutschen Stadt: 74 % Kostenerwägungen, 37 % moralische Erwägungen; 28 % pragmatisch-technische
Erwägungen und 5 % mit Hinweisen auf eigene Erfahrungen, siehe Blinkert/Klie 2004: 100.
123
unter moralischen (normativen) Gesichtspunkten. Für die Deutschen sind gemischte
Beweggründe kennzeichnend, mit dem Schwerpunkt auf Kostenüberlegungen.
Abb. 12: Bedeutung von Moral und Kosten in der Pflegeentscheidung
Des Weiteren stellt sich sowohl in Freiburg als auch in Samara in Übereinstimmung mit den
vorherigen Ergebnissen von Blinkert/Klie (2006: 41) eine hohe Korrelation zwischen der Art
und Weise, wie Versorgungsverpflichtungen im Falle von Pflegebedürftigkeit erlebt werden –
ob unter Kosten- oder unter Moralgesichtspunkten – und der Entscheidung zu einem
Pflegearrangement. Die Zustimmung zu einer stationären Pflege geht häufiger mit
Kostenerwägungen (Freiburg: 49 % vs. Samara: 46 %) einher als ihre Ablehnung (Freiburg:
21 % vs. Samara: 7 %). Und die Ablehnungen der stationären Unterbringung werden ganz
überwiegend durch moralische Überlegungen motiviert (Freiburg: 61 % und Samara: 93 %)
(siehe Abb. 13).
124
Abb. 13: Bewertung der Heimentscheidung und Begründungsmuster
Zwei Trends stechen bei der Bilanzierung der Auffassungen von Pflegeverpflichtungen in der
interkulturell vergleichenden Perspektive besonders heraus, die im Kontext unterschiedlicher
Involvierungen in den sozialen Wandel thematisiert werden können:
1) Die deutlich geringer verbreiteten „konventionellen“ Pflichtgefühle gegenüber
pflegebedürftigen Familienmitgliedern in der Freiburger im Vergleich zur Samara Studie dürfte
ein Hinweis sein auf die Wandlungsprozesse der Moralvorstellungen von „konventionellen“ zu
„postkonventionellen“ bzw. auf ihre Resultate: normative Pluralität in Deutschland vs.
normative Einheit in Russland. Man deutet das Phänomen des zunehmenden
Bedeutungsverlustes der „normativen Solidarität“ als ein „‚normales‘ Resultat des
gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses“301.
2) Insgesamt ergibt sich in der deutschen Stichprobe ein Vorrang der (Opportunitäts-)Kosten-
Überlegungen gegenüber den (konventionellen) moralischen Beweggründen. Viele Befragte
aus Freiburg und kaum welche aus Samara zeigten eine verstärkte Wahrnehmung der
Opportunitätskosten der Pflege, die mit anderen Verpflichtungen und wahrgenommenen
Chancen auf ein selbstbestimmtes und erfüllendes Leben (z.B. Selbstverwirklichung im Beruf,
in der Partnerschaft und bei der Kindererziehung und vieles andere) in Konkurrenz steht302.
301 Blinkert/Klie 2006: 39. 302 Vgl. auch Jung 2002 - Generationenstudie 2001: 69.
125
Weiterhin gab es Hinweise auf die damit entgehenden Chancen der Selbstverwirklichung wie
das Führen eines „eigenen Lebens“. In unserer Freiburger Studie begründeten die deutschen
Probanden in vielen Fällen ihre Präferenz gegen Selberpflegen mit dem Hinweis darauf, dass
ein Verzicht bzw. die Einschränkung der Berufstätigkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen
des Arbeitsmarktes nicht zumutbar sei. Ähnlich findet eine Generationsstudie der Hanns-
Seidel-Stiftung, dass die Belastungen im Beruf einer der wichtigsten Gründe für den Trend zur
Pflege und Betreuung alter Menschen außerhalb der Familie sei303.
Die Ergebnisse des Ländervergleichs weisen generell auf unterschiedlich stark fortgeschrittene
Individualisierungsprozesse sowie insgesamt auf einen unterschiedlichen Verlauf der
gesellschaftlichen Entwicklungen hin. Die Individualisierungstendenzen lassen sich
insbesondere in der zunehmenden Bedeutung der selbstbestimmten Lebensführung ausdrücken.
Darüber hinaus kann die Relevanz bzw. Irrelevanz der Opportunitätskosten der Pflege
überhaupt als Hinweis auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gedeutet werden, die
verschiedene Ausgestaltungsmöglichkeiten der Lebensführung und Pflegearrangements
ermöglichen oder diese einschränken. Diese Diskussion wird in Kap. 3 fortgesetzt.
2.4.3 Index „Bereitschaft zur häuslichen Pflege von Angehörigen“
Analysen mit dem zusammengefassten Index der Pflegebereitschaft haben folgende Ergebnisse
erbracht: Zwar ergab sich für die Freiburger Stichprobe eine von dem deutschlandweiten
Muster (anhand der Annaberg-Unna-Studie) abweichende Verteilung des Gesamtindizes
„Pflegebereitschaft“, doch widerspricht sie der Deutschland-Verteilung grundsätzlich nicht.
Die geringere Pflegebereitschaft der befragten Freiburger*innen ist erklärbar durch die Wahl
des Befragungsortes. Die Befragung fand in einer Universitätsstadt statt mit einem doppelt so
hohen Anteil an hochgebildeten Menschen wie sonst in der Bundesrepublik.
Der Vergleich der Pflegebereitschaft zwischen Freiburg und Samara bringt einen beachtlichen
Länderunterschied zum Ausdruck: Die Deutschen zeigen viel weniger Bereitschaft für die
intergenerationale Pflege als die Russen. Während fast Dreiviertel (73 %) der Befragten in der
Samara Stichprobe sich als „stark pflegebereit“ klassifizieren lassen, sind es in der Freiburger
Stichprobe nur jede(r) siebte Befragte (15 %) und deutschlandweit etwa jede(r) Dritte (31 %)
303 Vgl. Ebd., S. 70.
126
(Abb. 14). Dieser Befund ist überraschend, da das Bildungsniveau der Befragten in den beiden
Stichproben ähnlich hoch ist, in der Samara Stichprobe sogar noch etwas höher.
Abb. 14: Bereitschaft zur häuslichen Pflege Angehöriger –zusammengefasster Index
Fassen wir die bisherigen Befunde zusammen: Mit unseren Ergebnissen spiegeln sich die
gegenwärtige gesellschaftliche Pflegepraxis und die sozialpolitischen Rahmenbedingungen der
Pflege in beiden Ländern wider mit dem Vorrang der Familienpflege vor der professionellen
Pflege (insb. Versorgung in einem Pflegeheim) als Leitbild. Gleichzeitig verdeutlichen sie
einen bedeutenden Unterschied zwischen den beiden Gesellschaften: Im Ausmaß der
„bedingungslosen“ Bereitschaft zur Angehörigenpflege liegen zwischen den beiden Ländern
„Welten“.
Die Deutschen sehen die Elternpflege nicht nur häufiger unter den Gesichtspunkten der
Opportunitätskosten, sondern schwanken auch häufiger zwischen den Kosten und den Moral-
Aspekten. Darin spiegelt sich das Dilemma zwischen den Anforderungen einer spätmodernen
Individualisierungsgesellschaft und den traditionellen Verpflichtungen gegenüber
Familienmitgliedern wider. Wenn die Deutschen die häusliche Pflege bevorzugen, dann
deutlich häufiger in Kombination mit professioneller Unterstützung. Auch kann sich ein Drittel
von ihnen eine Unterbringung von Angehörigen im Pflegeheim vorstellen.
127
Die Russen scheinen dagegen in ihrem kulturell verankerten Pflichtgefühl gegenüber der
Elterngeneration weitgehend unerschüttert zu sein. Fast alle von ihnen setzen nur auf die
häusliche Pflege und Selbstpflege, dabei wird keine fremde Hilfe erwartet. Die Präferenz für
eine stationäre Versorgung stellt die große Ausnahme dar. Sie scheint nur dann die Lösung zu
sein, wenn Familienpflege nicht möglich ist.
2.4.4 Determinanten der pflegekulturellen Orientierungen
Nun sollen die zentralen Forschungsfragen dieser Arbeit beantwortet werden:
Können die postulierten Annahmen über die Variation von pflegekulturellen
Orientierungen bei den Angehörigen verschiedener sozialer Ressourcenlagen und nach
verschiedenen sozio-demographischen Merkmalen mit den Daten unserer bilateralen
Studie bestätigt werden?
Haben sozialstrukturelle und soziokulturelle Ressourcen einen ähnlichen Einfluss auf
die Bereitschaft zur Angehörigenpflege in der russischen Studie wie es für die deutschen
Verhältnisse zu erwarten ist? Und sind die Begründungsmotive „für“ oder „gegen“
häusliche Pflege ressourcenspezifisch verteilt?
Pflegekulturelle Orientierungen dürften einerseits in einem spezifischen, biographischen
Kontext entstehen. Andererseits sind sie auch verankert in der Sozialstruktur. Dies bedeutet,
dass die Erklärungen für eine Pflegebereitschaft sowohl in persönlichen Merkmalen wie Alter,
Familiensituation, Geschlecht und bereits gemachten Pflegeerfahrungen gesucht werden
sollten, aber auch in Verbindung mit spezifischen Präferenzen und Motivationen. Es wird
weiterhin argumentiert, dass sich diese Präferenzen und Motivationen je nach
sozialstruktureller Positionierung und kulturellen Wertorientierungen (Lebensentwurf) der
Person unterscheiden.
128
Biographischer bzw. soziodemographischer Kontext:
In der russischen Stichprobe sind keine Zusammenhänge zwischen Geschlecht, Alter,
bisherigen Pflegeerfahrungen und verschiedenen Indikatoren der pflegekulturellen
Orientierungen feststellbar.
In der deutschen Stichprobe konnten jedoch folgende Befunde verzeichnet werden:
Die Älteren bewerten tendenziell häufiger als die Jüngeren die Pflegeentscheidung unter
pragmatischen Gesichtspunkten (Pearsons r= 0,15(*)). Es sind 19 % der 40- bis 45-
Jährigen vs. 33 % der 55- bis 65-Jährigen.
Außerdem korreliert eine gemachte Pflegeerfahrung der Probanden erwartungsgemäß
mit einer höheren Pflegebereitschaft (Pearsons r= 0,18*). Dagegen würden sich
Befragte, die zwar mit der Pflegebedürftigkeit von Angehörigen Erfahrungen gemacht
haben, aber bisher persönlich in der Pflege nicht involviert waren, bei einem neuen
Pflegefall in der Familie eher für eine stationäre Versorgung entscheiden (Cramers V=
0,21**).
Es sind geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Pflegebeteiligung304 in unserer
Freiburg-Studie feststellbar. Frauen pflegen häufiger als Männer (Phi= 0,15*).
Männliche Probanden (31 %) nennen praktisch doppelt so oft wie die weiblichen (17 %)
moralische Gesichtspunkte in unserer Dilemma-Situation. Umgekehrt bringt jede zweite
befragte Frau (50 %) die Pflegesituation mit den potentiellen Kosten des Selberpflegens in
Verbindung. Nur etwas mehr als ein Drittel der befragten Männer (36 %) argumentieren
ausschließlich unter Kostenaspekten (siehe Abb. 15).
304 Größtenteils wird häusliche Pflege in Deutschland von nicht erwerbstätigen Frauen mit starker kirchlicher
Bindung in der Altersgruppe 55 bis 65 Jahre getätigt (Blinkert/Klie 2006: 33).
129
Abb. 15: Bedeutung von Moral und Kosten nach Geschlecht
Sozialstrukturelle und -kulturelle Verankerung der Pflegebereitschaft und der
Motivationszusammenhänge der Pflege
Es lässt sich Folgendes bilanzieren: Die Zentralhypothesen dieser Arbeit über die
sozialstrukturelle und soziokulturelle Verankerung der Pflegebereitschaft konnte nur in der
deutschen Studie nachgewiesen werden. Dies ist das Ergebnis der bivariaten, deskriptiven
Analysen mit dem Gesamtindex „Pflegebereitschaft“, die für die beiden Länder separat
durchgeführt wurden (vgl. Abb. 16). Personen mit eher niedrigen strukturellen Ressourcen
(21 %) bzw. eher traditionellen „Lebenskonzepten“ (32 %) sind häufiger bereit, Familienpflege
für ihre pflegebedürftigen Angehörigen zu übernehmen als Personen mit günstigen
strukturellen Ressourcen (4 %) bzw. modernen Lebensentwürfen (9 %). Damit bestätigen die
Freiburger Daten die Befunde früherer deutscher Pflegestudien305.
305 Blinkert/Klie 2004, 2006.
130
Abb. 16: Pflegebereitschaft (Index) nach sozialstrukturellen und soziokulturellen
Ressourcen, % der Pflegebereiten
Konträr zu den Erwartungen sind in der Samara Studie die postulierten statistischen
Beziehungen nicht auffindbar. Ca. drei Viertel der russischen Befragten sind bereit,
Pflegeaufgaben zu übernehmen, unabhängig vom sozialen Status oder Lebensentwurf. Die
leichte Tendenz der oben skizzierten sozialstrukturellen Verankerung der Pflegebereitschaften
hatte sich nach der Standardisierung der Samara -Stichprobe auf die deutschen strukturierenden
Verhältnisse zwar angedeutet, allerdings ist sie aufgrund der geringen Fallzahl der Probanden
mit hohem sozialem Status (n=8) nicht belastbar, um hier von einer deutlichen Tendenz zu
sprechen. Es ist anzunehmen, dass in der russischen Studie die Bereitschaft zur
Angehörigenpflege nicht mit sozialstrukturellen oder soziokulturellen Ressourcen
zusammenhängt.
131
Verteilung der Begründungsmuster in der Sozialstruktur
Frühere Forschungen fanden heraus, dass die Begründungsmuster „Kosten und Moral“ nicht
zufällig verteilt sind, sondern mit verschiedenen strukturellen und symbolischen Ressourcen
variieren 306.
Weil das Geschlecht eine bedeutende soziale Kategorie in Bezug auf Angehörigenpflege
darstellt, sollen ressourcenspezifische Analysen der pflegekulturellen Orientierungen noch
zusätzlich durch das Prisma der Geschlechterunterschiede betrachtet werden.
In einer multivariaten, deskriptiven Darstellung, die allerdings aufgrund der hohen
Analysetiefe307 und der daraus resultierenden geringeren Zellenbesetzung nur tendenziell zu
betrachten ist, zeigt sich folgendes Bild:
Am seltensten betrachten Freiburgerinnen mit modernen (individualisierten) Lebensentwürfen
Elternpflege nur unter moralischen Überlegungen (10 %), am häufigsten Freiburger mit
traditionellen (familienzentrierten) Lebensvorstellungen (38 %). Stattdessen assoziieren die
emanzipierten Freiburgerinnen an sie adressierte Pflegeerwartungen am ehesten mit den
Kostenaspekten: 52 % nannten nur Kosten, weitere 38 % Kosten- und moralische
Begründungen gleichzeitig. Bei den männlichen Befragten deutet sich auf den ersten Blick ein
atypischer Verlauf mit entgegengesetzter Richtung an. Hier zieht die mittlere Kategorie den
Blick auf sich: je moderner der Lebensentwurf, desto öfter werden die beiden Motive (Kosten
und Moral) dilemmatisch von den Freiburger Männern zur Sprache gebracht mit der
Konsequenz zur abnehmenden Tendenz rein moralischer oder rein kostenbasierter Gründe
(siehe Abb. 17).
306 Blinkert/Klie 2004, 2006. 307 Bei der vierdimensionalen Analyse ergeben sich 18 Tabellenteilzellen pro Stichprobe = 2 Geschlechter * 3
Motivationstypen * 3 Lebensentwurfstypen.
132
Abb. 17: Bedeutung von Moral und Kosten nach Lebensentwurf und Geschlecht
Für Frauen wiederholt sich dieselbe Verteilung der dominierenden Begründungsmuster je nach
strukturellen Ressourcen (siehe Abb. 18). Von den weiblichen Probandinnen mit hohen
strukturellen Ressourcen werden tendenziell die Kosten der Pflege häufiger genannt (56 %) als
von Frauen in sozial ungünstigen strukturellen Ressourcenlagen (40 %). Demensprechend
äußern die ersteren auch seltener moralische Erwägungen als die letzteren (7 % vs. 20 %).
Entgegen den Annahmen erwähnen befragte Männer mit hohem sozialen Status häufiger als
diejenigen mit niedrigem sozialem Status moralische Begründungen (42 % vs. 26 %). Und
umkehrt, je niedriger der Status, desto häufiger werden Doppelmotive (Kosten und Moral)
(43 % - 33 % - 25 %) von den Männern thematisiert. In der Antwortkategorie „Kosten der
Pflege“ ist dagegen keine deutliche Variation nach strukturellen Ressourcen auffindbar.
133
Abb. 18: Bedeutung von Moral und Kosten nach struktureller Ressourcen bei Männern und
Frauen, Freiburger Studie
Zusammenfassung zu den Begründungsmustern nach Ressourcen und Geschlecht:
Aus den früheren deutschen Pflegestudien haben sich zwei Hauptmotive (Kosten und Moral)
herauskristallisiert, die bei der Entscheidung „für“ oder „gegen“ die Pflege ausschlaggebend
sind. Diese sind in der Bevölkerung nicht zufällig verteilt, sondern variieren in den sozialen
Milieus308. In den privilegierten sozialen Milieus überwiegen die (Opportunitäts-)Kosten den
Nutzen des Selberpflegens (siehe dazu die Diskussion im Kap. 2.2.4), während in den
unterprivilegierten Milieus die moralischen Motive Oberhand gewinnen.
Ähnliche Befunde konnten in der Freiburger Studie bestätigt werden, allerdings nur für die
Teilstichprobe der Frauen. Somit scheinen diese Annahmen hauptsächlich die
Pflegeentscheidungen der deutschen Frauen zu erklären und stellen eine wichtige Präzisierung
der theoretischen Begründungen der milieuspezifischen Verankerung von Pflegebereitschaften
für Deutschland dar. Bei den weiblichen Befragten mit einer privilegierten
„Ressourcenausstattung“ (bei Blinkert und Klie wären es „Gewinner-Milieus“) ist am
wenigsten wahrscheinlich, dass die Pflege unter moralischen Gesichtspunkten betrachtet wird,
308 Blinkert/Klie 2006: 43.
134
verglichen mit den Frauen in einer ungünstigen Ressourcenkonstellation und besonders mit den
Männern in jeglicher Ressourcenlage. Die ökonomisch erfolgreichen und traditionell gesinnten
Männer zeigen sich dabei als größte Hüter der moralischen Prinzipien der Angehörigenpflege.
Sie halten sich vermutlich an den gegenwärtig dominierenden gesellschaftlichen
Pflegearrangements der Selbstversorgung fest und sehen kein Bedarf, etwas zu verändern. Denn
die Pflegeaufgaben fallen selten auf sie zurück, sie werden an die Ehefrauen und Schwestern
delegiert. Aufstiegsorientierte aus der gesellschaftlichen Mitte und bereits statuserfolgreiche
Frauen mit modernen Lebensentwürfen neigen eher dazu, die (Pflege)Verpflichtungen in
Beziehung zu den Konsequenzen für ihre Lebenszeit-Bilanz zu setzen. Hier müssten für die
Zielerreichung, ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben zu führen (das in einer
postindustriellen berufsständischen Gesellschaft vor allem durch die Berufstätigkeit realisierbar
ist), finanzielle, zeitliche und räumliche Einschränkungen, die diesem Ziel im Wege stehen,
minimiert werden. Erfolgsorientierte moderne Frauen sind auch diejenigen, die in einem
doppelten Dilemma stecken! Zum einen müssen sie den konkurrierenden Beanspruchungen
einer typisch weiblichen „Sandwich-Position“ konterkarieren: im Spagat zwischen den
Bedürfnissen eines pflegebedürftigen Elternteils und der eigenen Kernfamilie. Denn heutzutage
gehören mehr denn je eine erfüllende und glückliche Partnerschaft und bewusst erlebte
Elternschaft zum Konzept einer „modernen Familie“. Andererseits sind die „modernen“ Frauen
noch stärker als die „modernen“ Männer eingekesselt zwischen dem Sorgepflichtgefühl
gegenüber ihren nahen Angehörigen (Eltern, Partner und Kindern) und den an sie, als moderne
Individuen gestellten Anforderungen der individualisierten, subjektivierten und flexibilisierten
postindustriellen (Arbeits-)Gesellschaft. Dabei sind nicht nur “Trade-offs“ rein ökonomischer
Natur ausschlaggebend wie jene zwischen bezahlter Beschäftigung und unbezahlter
Pflegearbeit309. Die ökonomischen Zwänge und Chancen der Erwerbstätigkeit für Frauen sind
nicht unwichtig, denn durch das eigene Einkommen können sie ihre Unabhängigkeit und
Selbstbestimmung erhalten. Vielmehr spielen vermutlich „Trade-offs“ symbolischer Natur eine
Rolle bei der Pflegeentscheidung. Damit ist gemeint das Ausbalancieren eigener Interessen
bezüglich eines selbstbestimmten Lebensplans sowie Bestrebungen zur Selbstgestaltung und
Selbstverwirklichung einerseits und die Erfüllung der Verpflichtungen und Erwartungen aus
dem nahen sozialen Raum (gegenüber Ehemann, Kindern und pflegebedürftigem Elternteil)
anderseits. Kurzum, es geht um die “Opportunitätskosten einer modernen Lebensweise“ und
309 Untersuchungen bestätigen, dass die Familien genaue Effizienzabwägungen anstellen, indem sie die Kosten
für Selberpflegen mit den Preisen für Alters- und Pflegeheime vergleichen, wenn sie langfristige
Pflegearrangements treffen, vgl. Johnson 2008: 41.
135
wie sie mit der Pflege in Einklang gebracht werden können. Die Pflegeübernahme könnte im
schlimmsten Fall den Verlust des Arbeitsplatzes bzw. ungewolltes „Karriere-Downsizing“ nach
sich ziehen, aber auch Verzicht auf Freizeit, Hobbies, Reisen, soziale und bürgerschaftliche
Aktivitäten und anderweitige Selbstverwirklichungschancen bedeuten. Dies ist für jede zweite
befragte Freiburgerin mit günstiger Ressourcenausstattung für eine selbstbestimmte
Lebensführung im Prinzip praktisch unvorstellbar, was sich in den Kostenbegründungen
überaus deutlich manifestiert. Vermutlich würden sie sich im Pflegefall auch wie die „Tochter
in der fiktiven Dilemma-Situation“ entscheiden, d.h. gegen Selberpflegen und für eine
stationäre Unterbringung des eigenen Elternteils.
Die wenigsten dieser „modernen“ Frauen (nur jede Zehnte) würden die Pflegeentscheidung aus
rein moralischen Gründen hinnehmen. Der Rest (ca. 40 %) würde sich bei einem Pflegefall in
der Familie in einem wahren Dilemma befinden, wo Kosten und moralische Argumente sich
gleichwertig gegenüberstehen. Die meisten von ihnen würden vermutlich eigene Belange
weitestgehend zurückstellen und sich den mehrfachen Belastungen einer typischen „Sandwich-
Position“ (Elternpflege, eigener Familie und Arbeit) aussetzen.
Wenn (bei den Frauen) selbstbestimmte Lebensentwürfe nicht vordergründig sind, steht auch
das Argument der entgangenen Chancen nicht gegen eine Pflegeübernahme. Die
Familienpflege erweist sich nicht nur als die kostengünstige Pflegevariante, sie korrespondiert
auch mit den traditionellen Erwartungen der Familienmitglieder an die (Schwieger-)Töchter
und (Ehe)Frauen. Indem sie diesem Erwartungsdruck nachkommen, erfahren pflegende Frauen
die Anerkennung vom nahen sozialen Raum. Damit reproduziert sich die gesellschaftliche
Pflegepraxis. Insgesamt trifft diese Erklärung auch auf pflegende Männer zu, wenngleich der
Normendruck auf Männer zwecks Pflegeübernahme in beiden untersuchten Gesellschaften
deutlich geringer sein dürfte.
In der russischen Studie ist die erwartete Beziehung zwischen Begründungsmotiven und
sozialstrukturellen Ressourcen310 erst gar nicht nachweisbar (Tab. 4). Moralische Vorstellungen
sind unabhängig vom Sozialstatus der Person. Die Verteilung der dominierenden Motivmuster
nach soziokulturellen Ressourcen verläuft sogar tendenziell in die entgegengesetzte Richtung
zu den postulierten Annahmen (Tab. 5). Hier wird das Selberpflegen als Norm von den
Personen mit modernen Lebensentwürfen (die alle hoch gebildete Menschen sind) etwas
310 Aufgrund von geringeren Fallzahlen als in der deutschen Stichprobe wird auf geschlechtsspezifische
Analysen verzichtet.
136
häufiger beteuert als von den anderen Personengruppen. Dieses Phänomen könnte durchaus der
Effekt des sozial erwünschten Antwortverhaltens gewesen sein, in Anwesenheit von jungen
Interviewpersonen der gesellschaftsweit gültigen Norm nicht zu widersprechen.
Anderseits könnte die tendenziell etwas häufiger genannten Kostenbegründungen (die für den
gesamten russischen Kontext jedoch eine Randerscheinung darstellen) von den Personen mit
weniger begünstigten Ressourcenausstattung Folgendes bedeuten: Bei den
„Transformationsverlierern“ (und dazu zählen mindestens zwei Drittel bis drei Viertel der
russischen Gesellschaft) ist von Kosten ökonomischer Natur auszugehen. Einerseits kommt es
für sie nicht in Frage, wenn ein*e der Eheleute die Erwerbsarbeit wegen der Elternpflege
aufgeben oder einschränken müsste. Für die überwiegende Mehrheit der russischen Familien
sind ein zweites Einkommen sowie Renteneinkünfte älterer Familienmitglieder zum
(Über)Leben unter unvorhersehbaren krisenreichen Wirtschaftsbedingungen unerlässlich.
Anderseits sind für die meisten pflegenden Familien die Kosten der privaten Pflegedienstleister
für eine Dauerpflege unerschwinglich. Somit entstehen bei den „Verlierern“ der
Transformationsprozesse in Russland nicht die „Opportunitätskosten der modernen
Lebensweise“, vielmehr kollidiert Elternpflege mit der schieren (Über)Lebensnotwenigkeit,
den Lebensunterhalt für sich selbst und die abhängigen Familienangehörigen zu sichern. Unter
diesen Umständen fühlen sich traditionelle Subjekte, zumindest im urbanen Raum, mit den
zusätzlichen Belastungen der Elternpflege überfordert311. Diese sozialen Milieus dürften die
Verantwortungsübertragung für die Pflege auf den Staat (Versorgung der Angehörigen in den
staatlichen Pflegeheimen) begrüßen.
311 Tkatch 2015.
137
Tab. 4: Bedeutung von Moral und Kosten nach strukturellen Ressourcen, Samara Studie
Quelle: Bilaterale Pilot-Studie 2010/11; Eigene Darstellung
Tab. 5: Bedeutung von Moral und Kosten nach Lebensentwurf, Samara Studie
Quelle: Bilaterale Pilot-Studie 2010/11; Eigene Darstellung
Fazit zu den zentralen Ergebnissen der Pilot-Studie und weitere Fragen
In unserer Freiburger Stichprobe wurden die für Deutschland typischen systematischen
Verteilungen unterschiedlicher Vorstellungen zur Pflege mit verschiedenen strukturellen und
soziokulturellen Ressourcen erneut bestätigt. Danach verringerte sich die Pflegebereitschaft der
Menschen, wenn sie sich an modernen Lebensentwürfen orientierten und einen hohen sozialen
Status genossen. Entgegen den Erwartungen konnten diese Verhältnisse in der Samara
Stichprobe nicht repliziert werden. Was auffällig und überraschend war, ist die Tatsache einer
fehlenden ressourcenspezifischen Verankerung pflegekultureller Orientierungen der russischen
Befragten. Denn es zeigte sich kein Unterschied bezüglich der Pflegebereitschaft zwischen den
Befragten mit „modernen“ (individualisierten) und „traditionellen“ (wenig selbstbestimmten)
Lebensentwürfen, den besser und schlechter situierten Personen. Ein weiteres recht diametrales
138
Ergebnis stellt der Vorrang konventioneller moralischer Begründungen gegenüber
Opportunitätskostenerwägungen dar, wobei die Hauptmotivationsgründe nicht in der
vorhergesagten Weise zwischen den unterschiedlichen Ressourcenlagen variierten.
Gleichzeitig konnten erhebliche nationale Unterschiede in allen untersuchten Subdimensionen
pflegekultureller Orientierungen und der Ressourcenverteilungen festgestellt werden.
Diese Befunde führen zu folgenden Fragen: Warum thematisieren die Russen
Opportunitätskosten der Pflege kaum? Warum zeigen sich die s.g. russischen „Performers“
wenig beeinflusst von Abwägungen der Unvereinbarkeit von Pflege und eigenem
Lebensentwurf in ihrer Entscheidungsfindung? Zwingt sie eine gesellschaftliche Norm zur
Familienpflege oder haben Russen keine andere Wahl als selber zu pflegen, weil der Staat die
Familien zu wenig unterstützt? Entgehen möglicherweise den Russen gar keine Chancen z.B.
auf berufliche Selbstverwirklichung, gepaart mit „respektablem“ Verdienst durch die
Pflegeübernahme, weil dies in Russland für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung
kaum existiert? Wie sehen die sozioökonomischen Lebensbedingungen für die Bevölkerung in
den beiden Ländern aus? Wie haben sich bislang die Individualisierungstendenzen auf die
Familiennormen in Russland im Vergleich zu Deutschland ausgewirkt? Wie schneidet das
russische Pflegesystem im Vergleich zum deutschen ab, wie ließe sich so ein Vergleich
bewerkstelligen?
Die handlungstheoretischen Annahmen, verknüpft mit dem theoretischen Habitus-Ansatz, die
die Basis des mikrotheoretischen Erklärungsversuchs der Variation von Pflegebereitschaften
bei Personen mit unterschiedlichen Ressourcenlagen bilden, scheinen unter den Bedingungen
eines Transformationslandes wie Russland nicht zu greifen und müssen deshalb näher präzisiert
werden. Das angewandte Erklärungsmodell impliziert „nominal“ eine freie Wahl des
Pflegearrangements (Selber-Pflegen oder Pflegen lassen). Es unterstellt eine „relative“
Handlungsfreiheit der persönlichen Entscheidungen von äußeren Faktoren bei der Abwägung
zwischen den Handlungsanforderungen der Pflege und dem eigenen Lebensentwurf. Die
Prämissen „Kosten-Nutzen-Bilanzierung“ der Pflege bzw. Abwägung der
(Opportunitäts)Kosten gegenüber den für den eigenen Habitus konstitutiven Präferenzen
(Werteorientierungen, soziale Anerkennungsbedürfnisse und berufsbezogene Ansprüche)
scheinen nur unter bestimmten Makrobedingungen zu gelten. Diese Handlungsfreiheit beim
Pflegefall in der Familie könnte in dreierlei Sinne verstanden werden: Restriktionsfreiheit im
ökonomischen und normativen Sinne und als Folge eines wirksamen wohlfahrtsstaatlichen
Unterstützungs- bzw. Entlastungsangebots.
139
Um die Länderunterschiede deutlich herauszuarbeiten, sind deshalb die mikrotheoretischen
Erklärungen durch einen makrotheoretischen Systemvergleich zwingend zu ergänzen. Die
erzielten Ergebnisse führen zu der Frage: „Was macht die Länderunterschiede aus?“ Im
nachfolgenden Kapitel wird argumentiert, dass strukturelle, kulturelle und institutionelle
Opportunitätsstrukturen, die die Gestaltungsmöglichkeiten in der Angehörigenpflege und
generell in der individuellen Lebensgestaltung entweder begünstigen oder hemmen, sich in den
beiden Ländern beträchtlich unterscheiden. Auf die unterschiedlichen Systembedingungen
lassen sich die festgestellten Unterschiede zwischen den beiden Studien zurückführen.
141
3. Systemvergleich – Opportunitätsstrukturen moderner Lebensführung
in einer Gesellschaft und Folgen für die Angehörigenpflege
Bei der Bilanzierung der gewonnenen Ergebnisse unserer bilateralen Pilot-Studie stehen
makrotheoretische Erklärungen zweier zentraler Befunde im Vordergrund:
Erstens, durch welche Merkmale des Landeskontextes lässt sich eine größere
Bereitschaft zum Selberpflegen in Samara im Vergleich zu Freiburg erklären?
Zweitens, wie können die sehr unterschiedlichen Verteilungen der pflegekulturellen
Orientierungen innerhalb der deutschen und russischen Sozialstruktur erklärt werden?
Es sollte ein Systemvergleich hinsichtlich der Frage durchgeführt werden, inwieweit
strukturelle, kulturelle und institutionelle Gegebenheiten Menschen dazu befähigen oder daran
hindern, auf Basis von eigenen Fähigkeiten und Orientierungen, eigene Potentiale und Ideen zu
verwirklichen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Hierzu zählen auch die
Entscheidungen, wie pflegebedürftige Angehörige versorgt werden. Dabei schaffen ein höherer
gesellschaftlicher Wohlstand und eine „faire“ Ressourcen- und Chancenverteilung für den
gesellschaftlichen Aufstieg ein Werteklima, das den Freiraum und die Emanzipation von
„traditionellen“ normativen Vorgaben und Erwartungen ermöglicht. Hinzu kommen eine
effektive wohlfahrtstaatliche Absicherung und Unterstützung bei unvorhersehbaren Risiken
und Belastungen (wie im Pflegefall), die günstige Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben
schaffen. Umgekehrt verhindert Mangel an Wohlstand, unzureichender sozialer Ausgleich und
mangelnde soziale Sicherheit (z.B. das Pflegerisiko) die Realisierung von Lebensplänen. Eine
gedrosselte gesellschaftliche Dynamik, wenn Gesellschaft wenig entwickelt, kaum durchlässig
und/ oder sozial ungerecht ist, verringert die Selbstverwirklichungschancen der Menschen.
Unter solchen Lebensbedingungen ist das Wohlergehen des Individuums zwangsläufig vom
familiären Zusammenhalt abhängig.
Dabei wird die Diskussion über das Pflegepotential innerhalb der Familie und dessen soziale
Verteilungen in den beiden Ländern im Kontext des sozialen Wandels geführt. Sie befasst sich
mit den strukturellen Möglichkeiten (also den verfügbaren sozioökonomischen Ressourcen, der
Chancengleichheit und somit strukturbedingten Chancen auf selbstbestimmte Lebensführung),
soziokulturellen Entwicklungen (Verbreitung von individualisierten Lebensentwürfen,
Geschlechterordnungen), normativen Grundlagen (unterschiedlicher Auffassungen über die
filiale Verantwortlichkeit) und versorgungsstrukturellen Rahmenbedingungen der
142
Langzeitpflege befassen, die zusammen für das Konzept der „Opportunitätsstrukturen der
modernen Lebensführung“ stehen. Der Fokus liegt hierbei primär auf dem zur Verfügung
stehenden Handlungsspielraum, den Pflegefall in der Familie zu bewältigen.
Unter den „Opportunitätsstrukturen der modernen Lebensführung“ lassen sich jene
strukturellen Möglichkeiten subsumieren, die es dem Individuum auf der Basis seiner
objektiven Ressourcen, gepaart mit seiner subjektiven Grundbereitschaft ermöglichen, Subjekt
des eigenen Handelns zu sein bzw. sein Leben nach einem selbstbestimmten Entwurf frei zu
gestalten312. Es versteht sich, dass auch Pflegeentscheidungen (insbesondere, wenn es auf die
Wahl der zwei Extreme „Selberpflegen vs. Pflegen lassen“ ankommt) selbstbestimmt getroffen
werden können je nach eigenen Lebensentwürfen und Bestrebungen, und nicht normativ als
ökonomische oder versorgungsstrukturelle Notwendigkeit induziert werden. Das bedeutet, dass
dem Subjekt Handlungs- und Wahlmöglichkeiten sowohl tatsächlich zur Verfügung stehen, sie
von ihm aber auch als solche wahrgenommen werden (können).
Im Hinblick auf den angestrebten Ländervergleich wird folgende Vorgehensweise gewählt:
Zunächst werden Kernaussagen zur idealtypischen Gesellschaft formuliert, die
Opportunitätsstrukturen bzw. Möglichkeiten der „modernen Lebensführung“ bieten, und
daraus Implikationen für die Pflege gezogen. Diese orientieren sich an den verschiedenen
Kriterien der drei Teilsysteme der Sozialstruktur, die zu erfüllen wären:
Strukturelle Möglichkeiten und ökonomische Lebensbedingungen,
Etablierte kulturelle Werteorientierungen,
Versorgungsstrukturelle Rahmenbedingungen
Danach werden diese theoretischen Annahmen den empirischen Beobachtungen in beiden
Ländern gegenübergestellt, je nach ihrer jeweiligen Ausprägung und dem Entwicklungspfad
einer Gesellschaft313. Entlang dieses Analyseschemas (siehe Abb. 19), das im Übrigen einer
typischen Sozialstrukturanalyse entlang der „objektiven“ und „subjektiven“ Dimensionen,
ergänzt um wohlfahrtstaatliche Regelungen im Bereich der Langzeitpflege, entspricht, kann der
jeweilige Freiheitsgrad einer Gesellschaft veranschaulicht werden für die individuellen
Lebensweisen und Gestaltungsmöglichkeiten in der Pflege.
312 Vgl. mit Verwirklichungschancen“ (Capability-Ansatz) von Sen (1992). 313 In Anlehnung an die Vorschläge von Hradil (2006) und Holtmann et al. (2012), deren Forschungsarbeiten
sich der Untersuchung der Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich widmeten.
143
Abb. 19: Theoretisches Modell für den Systemvergleich
Annahmen
Opportunitätsstrukturen für die „moderne“ (selbstbestimmte) Lebensgestaltung sind in einer
(idealtypischen) Gesellschaft vorhanden, wenn diese folgenden Bedingungen genügt:
1) Hohe wirtschaftliche Entwicklung, strukturelle Chancengleichheit und gute
Lebensbedingungen für die Bevölkerung zusammen mit ausreichenden (beruflichen)
Verwirklichungschancen sind ohne Zweifel Kennzeichen einer offenen bzw.
durchlässigen Wohlstandsgesellschaft. Dabei gilt, dass eine günstige
gesamtwirtschaftliche Entwicklung die Basis für gute berufliche Möglichkeiten für
einen Großteil der Bevölkerung schafft. Größere Bevölkerungsanteile nehmen deshalb
am gesellschaftlichen Wohlstand teil und das Ausmaß der Armut314 und der sozialen
Ungleichheit ist dadurch geringer. Die Möglichkeiten eines sozialen Aufstiegs einer
leistungsgerechten und offenen Gesellschaft sind weder strukturell verstellt, z.B. durch
314 In Anlehnung an Sen (2011: 110ff.) kann Armut als ein umfassender Mangel an Verwirklichungschancen
interpretiert werden, der dazu führt, dass das soziokulturelle Existenzminimum nicht erreicht werden kann.
144
wirtschaftliche Entwicklungsdefizite, noch direkt sozial vererbbar. Chancengleichheit
bedeutet keine Beseitigung aller Unterschiede in Bildungsqualifikationen,
Einkommensniveaus oder Chancen auf einen guten Job. In einer Gesellschaft der
„fairen“ bzw. gleichen Chancen sollten die attraktiven Teilhabechancen jedoch nicht
von "askriptiven" Merkmalen (wie Geschlecht, Ethnizität, Geburtsort oder
(Bildungshintergrund des Elternhauses) abhängen. Vielmehr sollten der berufliche
Erfolg (gemessen am erreichten Einkommen) und somit die Chancen auf
selbstbestimmte Leben weitgehend vom Leistungsvermögen und den Wünschen des
Einzelnen bestimmt sein. Unter diesen Gegebenheiten müssen Pflegeentscheidungen
nicht auf ökonomischen Zwängen basieren, sondern können frei mit dem eigenen
Lebensentwurf abgestimmt werden.
Zunächst sollen mit den Steckbriefen wirtschaftliche Systeme bzw. Entwicklungen in
beiden Ländern skizziert werden. Als quantitative Messkriterien dienen einerseits
volkswirtschaftliche Indikatoren (Bruttoinlandsprodukt (BIP) und BIP pro Kopf,
korrigierter Human Development Index (IHDI), der GINI-Index, Sozialausgaben pro
Einwohner). Weiterhin werden anhand der Sozialstrukturverteilungen, die mit den
Daten des European Social Surveys 2010 ermittelt wurden, das Ausmaß des
Wohlstandes, der Ungleichheit und Armut in Deutschland und Russland verglichen.
2) Nicht nur wirtschaftliche Entwicklungen und sozioökonomische Lebensbedingungen
sind verantwortlich für die ungleichen Möglichkeiten der modernen Lebensführung.
Ferner sorgen landestypische Werteorientierungen, kulturell gültige Kodes und
Geschlechterordnungen für unterschiedliche Opportunitätsstrukturen der
Pflegeentscheidungen. Die Chancen auf eine selbstbestimmte Lebensweise steigen,
wenn individualisierte Lebensentwürfe in der Bevölkerung deutlich an Bedeutung
gewinnen und sich auch eine normative Offenheit in den Generationenbeziehungen
durchsetzt. Ferner würden die Chancen auf Selbstbestimmung der Frauen und
Aufteilung der Pflegeaufgaben mit dem (Ehe-)Partner dann spürbar ansteigen, wenn
nach einer „verbalen Aufgeschlossenheit“ eine „weitgehende Verhaltensstarre“315
überwunden wird, und Frauen gleichwertige wirtschaftliche Beteiligung und politische
Mitwirkung genießen wie Männer. Die angedeuteten Entwicklungen können mit den
Skalen der „Individualisierten Lebensentwürfe“ und der „Filial Responsibilities“ und
315 Beck 1986: 169.
145
anhand des Gender Gap-Indizes in beiden Ländern empirisch erfasst und verglichen
werden.
3) Für Entscheidungen über die Art und Weise, wie altersgebrechliche bzw.
pflegebedürftige Angehörige versorgt und betreut werden können, sind die Reichweite,
Qualität und Quantität wohlfahrtsstaatlicher Versorgungsleistungen außerordentlich
wichtig. Öffentliche Pflegeunterstützungsangebote sollten in ausreichendem Maß
vorhanden, bezahlbar bzw. öffentlich dotiert und allen Personen mit Bedarf an
Langzeitpflege zugänglich sein. Weiterhin sollten sie qualitativ auf die jeweiligen
Bedürfnisse pflegender Familien abgestimmt sein, diese wirksam entlasten und eigenes
Leben, Beruf und Pflege miteinander vereinbaren lassen. Denn bekanntlicherweise zeigt
sich die Humanität und Ethik einer Gesellscahft daran, wie sie mit ihren Schwachen,
z.B. Kranken, Behinderten und Sterbenden, umgeht.
Die drei Bereiche Struktur, Kultur und Institutionen (Pflegeversorgungssysteme) beeinflussen
sich gegenseitig und stellen wichtige Rahmenbedingungen für Pflegentscheidungen dar.
Besondere Bedeutung für die intergenerationale Unterstützungspraxis dürften sowohl kulturelle
Familiennormen als auch die Versorgungssysteme haben. Von beiden Systemen werden von
der Verfasserin dieser Arbeit - im Gegensatz zur kulturvergleichenden Forschung316 - staatliche
soziale Sicherungsmechanismen für den Pflegefall als einschlägigster Makrofaktor angesehen.
Wohlfahrtstaatliche Regelungen prägen entscheidend die intergenerationale
Pflegeunterstützung in Familien. Daraus entstehen landestypische Pflegearrangements, indem
sie den Familien ergänzende oder gar ersetzende Versorgungs- und Betreuungsmöglichkeiten
anbieten. Bereits in der sowjetischen Gesellschaft galt bei einem ausgeprägten kulturellen
Familialismus ein struktureller De-Familialismus317 in der Kinderbetreuung und
Behindertenhilfe318. Daher wird in dieser Arbeit der ausführlichen Analyse von
versorgungsstrukturellen Regelungen, sprich Pflegesystemen, beider Länder größere
Aufmerksamkeit gewidmet.
316 Nauck/Trommsdorff 2009. 317 Vgl. Huinink 2002. 318 Der Staat baute massiv die vorschulische Betreuungsinfrastruktur aus. Er drängte die Eltern, ihre geistig und
schwer behinderten Kinder in diese Heime abzugeben. Dies diente dem Zweck, die Arbeitskraft der Mütter
und Väter dem sowjetischen Staat zur Verfügung zu stellen.
146
3.1 Strukturelle Bedingungen
3.1.1 Volkswirtschaftliche Performanzkriterien
Vor dem Vergleich quantitativer Indikatoren soll ein kurzer Exkurs zu den wirtschaftlichen
Systemen beider Länder gemacht werden.
Deutschland
Nach der OECD-Klassifikation gehört Deutschland zu den am weitesten entwickelten Industrieländern der Welt.
Zwar beträgt in Deutschland der Anteil der industriellen Produktion nur etwa 1/3 des BIP (2016: 30,5 %). Aus
dem hohen Entwicklungstand schöpft das Land jedoch überwiegend seine Wirtschaftskraft. Vor allem der deutsche
Maschinenbau und die Elektroindustrie verbuchen Jahr für Jahr immense Exportrekorde. Diese solide materiell-
technische und technologische Basis verleiht dem postindustriellen Sektor beträchtliche Wachstumsimpulse.
Durch den technischen Fortschritt werden im industriellen Produktionssektor immer weniger Arbeitskräfte
benötigt, im Dienstleistungssektor dagegen steigt die Nachfrage. Es entstehen viele hochqualifizierte Jobs in den
neuen Wirtschaftszweigen zum Beispiel in Bereichen der technischen Problemlösungen, der Informations- und
Kommunikationstechnologien, der Medien etc. Die Digitalisierung und eine Bildungsexpansion haben zu diesem
Strukturwandel maßgeblich beigetragen. So entstand eine postindustrielle „Wissensgesellschaft“. Die
Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit basieren vornehmlich auf theoretischem Wissen und Humankapital,
nicht auf extensivem Einsatz von Arbeit, Rohstoffen und Kapital, wie es in der Industriegesellschaft der Fall
war319.
Der Strukturwandel in Wirtschaft, Politik oder Institutionen ist nicht selbsttragend, sondern setzt Veränderungen
von Individuen, Sozialstruktur und Kultur voraus320. Den soziokulturellen Aspekten des gesellschaftlichen
Wandels wird die „Trigger“-Rolle zugeschrieben für den Wandel in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Auf der Mentalitätenebene tragen fortgeschrittene Individualisierungstendenzen zur Herausbildung eines neuen
Persönlichkeitstypus bei, der zugleich eine Bedingung wie auch das Ergebnis der „modernen“ Gesellschaft
darstellt. Der postindustrielle Arbeitsmarkt benötigt gut ausgebildete, mobile, flexible und leistungsbewusste Persönlichkeiten und Fachkräfte, die diesen mitgestalten321. Aber nicht nur die Arbeit, sondern fast alle
Lebensbereiche erfordern in einer modernen Informations- und Wissensgesellschaft zunehmend Spontaneität,
Kreativität und Eigenverantwortung, Wissen und Handlungskompetenz als autonom handelnde Persönlichkeit.
Deutschlands vergleichsweise gutes Bildungssystem, insbesondere das duale Berufsbildungssystem und die an
Markterfordernisse und aktuellen Erkenntnissen aus der Wissenschaft orientierte Hochschulbildung fördern diese
Fähigkeiten bei den zukünftigen Arbeitnehmer*innen. Viele gute Arbeitsplätze, gute Infrastruktur und attraktive
Wohnbedingungen deutschlandweit schaffen Anreize zur geographischen Mobilität und gute
Ausgangsbedingungen für selbstbestimmte Lebensführungen.
Russland
Die OECD bezeichnet Russland als ein Transformationsland, das sich im Übergang von einer
Zentralverwaltungswirtschaft zu einem marktwirtschaftlichen System mit Einbindung an die globale Wirtschaft
und Etablierung der als notwendig erachteten demokratischen und ordnungspolitischen Strukturen befindet322. Das
eingeschlagene Wirtschaftsmodel lässt sich am treffendsten mit Staatskapitalismus beschreiben, weil der Staat das
wirtschaftliche und soziale Leben regelt und das Unternehmertun durch staatlich-bürokratische Strukturen eher
319 Bell 1975. 320 Zapf 2016: 307. 321 Vgl. Zapf 2016: 307. 322 Vgl. Pankov 2011: 625.
147
hemmt323. Anstelle der Wertschöpfung aus Know-how, Innovationspotential und Investitionen in
hochtechnologische Güter (mit Ausnahme des Militärsektors) setzt man nach wie vor auf die extraktive Industrie
und Rohstoffexporte. Zwar hat die „Rohstoffrente“ den gesellschaftlichen Wohlstand zu einem gewissen Grad
vermehrt324, solange zum Beispiel der Ölpreis sehr hoch war. Die Banken und der Handelssektor florieren
durchaus, die Russen leben heutzutage besser als zu Beginn der 1990er Jahre. Insgesamt mangelt es Russland aber
an Wirtschaftskraft und internationaler Konkurrenzfähigkeit325.
Der Entwicklungsstand Russlands wird sehr unterschiedlich eingeschätzt. Einerseits wird behauptet, Russland
habe seine Chancen verspielt, seinen Platz in der Reihe der entwickelten Industriegesellschaften
wiedereinzunehmen, den es durchaus hatte und nun fehlen die Voraussetzungen für einen schnellen Eintritt in den
Kreis postindustrieller Mächte326. Anderseits diagnostiziert man mit dem „Zentrum-Peripherie“-Modell327 eine
hohe und andauernde wirtschaftliche und soziale Aufspaltung des soziogeographischen Raumes in „vier
Russlands“. Die vier Gesellschaftstypen, als Kombination der dominierenden Produktionsweise, des Siedlungstyps und der Werteorientierungen existieren nebeneinander, jeder auf eigenem Niveau und mit eigener
Geschwindigkeit der sozioökonomischen und soziokulturellen Veränderungen. Neben großer regionaler
Ungleichheit in der Wirtschaftsentwicklung bestehen Unterschiede in der Höhe des Lebensstandards, in der Art
und Weise der Lebensführung und im Wertesystem der Bevölkerung von großen, mittleren und kleinen Städten
sowie der ländlichen Peripherie Russlands. 1) Das Zentrum (Metropolregionen wie Moskau und St. Petersburg)
und „reform- und wachstumsorientierte“ Großstädte mit mehr als einer Million Einwohnern zeichnen sich durch
einen hohen Migrationszustrom, eine dominierende (postindustrielle) Dienstleistungsökonomie, einen hohen
Anteil der Mittelklasse (30-40 %), eine überdurchschnittlich gebildete Bevölkerung (mehr als 40 % haben einen
Hochschulabschluss) mit postmaterialistischen Werteorientierungen (sichtbar am Protestpotential bei Wahlen)
aus. In den modernen Metropolen lebt jeweils ein Drittel der Bevölkerung. 2) Die Halb-Peripherie umfasst mittlere
und kleinere mit staatlichen Geldern subventionierte Monoindustriestädte mit geringen Einkommensverhältnissen
und „sowjetischen Werten“; 3) Die peripheren Gebiete befinden sich vornehmlich im Süden, im Nordkaukasus und im Norden Russlands. Hier ist die Infrastruktur schlecht, es herrscht extraktiver Ressourcenabbau. Die
Bevölkerung neigt zu traditionalen, passiven Werten und Paternalismus. 4) Islamisch geprägte Republiken im
Nordkaukasus, stark patriarchalisch gar archaisch orientiert, mit ethnischen und religiösen Konflikten und starker
Abhängigkeit von föderalen Transferleistungen328.
Im postsowjetischen Russland dominiert zwar der tertiäre Sektor mit 62,8 % des BIP (2016)329 Dies kann aber
nicht als Zeichen der Konkurrenzfähigkeit in der globalen Ökonomie verstanden werden. Sein starkes Wachstum
hing von binnenwirtschaftlichen Faktoren ab: der Preisfreigabe, dem Ruin des industriellen Maschinenbaus und
der agrarwirtschaftlichen Krise in den 1990er Jahren. Gleichzeitig breiteten sich der Handel und die finanziellen
Dienstleistungen aus. Daher hat die gegenwärtige russische „Postindustrialisierung“ eher wenig Ähnlichkeit mit
der westlichen330. Charakteristisch für den russischen Arbeitsmarkt ist ein geringer Anteil an qualifizierten und gut
bezahlten Arbeitsplätzen in den Informations- und Wissenszweigen331, ein hoher Anteil an „schlechten“
Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen332 und ein hoher Anteil von Beschäftigungen in der Schattenwirtschaft.
Im Zeitraum 1999-2013 wurde der durchschnittliche Anteil der Schattenwirtschaft am BIP Russlands auf 42,33 %
geschätzt (in Vgl. DE 1999/2000: 15,79 %)333.
Um am globalen Weltmarkt konkurrenzfähig zu werden, benötigt Russland den Ausbau des postindustriellen
produktionsbezogenen Sektors (technische Beratungsdienste), der Informations- und hochtechnologischer
Dienstleistungen etc. Noch gewichtiger wäre eine „Reindustrialisierung“ (vor allem im Maschinenbau) auf einem
323 Shkaratan et al. 2003; Shkaratan (2012) bezeichnet es als „nomenklatura-bürokratischer Quasi-
Kapitalismus“. 324 Das föderale Budget besteht mehr als zur Hälfte aus der „Rohstoffrente“ und nur zur Hälfte aus der
Mehrwertsteuer des Binnenmarktes. 325 Pankov 2011. 326 Inozemtsev 2000, Inozemzev zit. n. Senchin 2016. Vladislav Inozemtsev ist ein bedeutender russischer und
international renommierter Wirtschaftsökonom, Soziologe und Politologe. 327 Zubarevich 2013 (interviewt von Zhirizkaja 2013); Natalia Zubarevich ist eine herausragende russische
Sozialgeographin und Ökonomin, bekannt für ihr Konzept „Vier Russlands“. 328 Ebd. 329 World Bank DataBank, Eintrag “Services, etc., value added (% of GDP)”. 330 Pankov 2011: 627. 331 Shkaratan 2012. 332 Zubarevich 2009. 333 Hassan /Schneider 2016.
148
neuen (hoch)technologischen Stand334. Das faktisch vom Arbeitsmarkt losgelöste Berufsschulsystem deckt nicht
den wachsenden Bedarf an qualifizierten Fachkräften. Hier bedarf es einer sozialen Partnerschaft zwischen
Arbeitgebern, Arbeitsämtern und Gewerkschaften etc., um eine Neuausrichtung der Berufsbildung nach den
Erfordernissen der Marktwirtschaft bzw. des Arbeitsmarktes voranzubringen335. Um dieses zu gewährleisten,
bedarf es vor allem der Investitionen in die eigene Bevölkerung: ihre Bildung, Gesundheit und ihren sozialen
Schutz. All die Wohlfahrtsressourcen, an denen Russland enorm fehlt.
Situation in der Oblast Samara336:
Obwohl die Oblast Samara zu den wichtigsten wirtschaftlichen Standorten Russlands zählt, ist sie bisher (genauso
wie die meisten anderen regionalen Wirtschaftszentren) weder zu einem Leuchtturm des neuen Wachstums
geworden noch konnte sie genügend Wachstumsimpulse in die Regionen ausstrahlen. Trotz stärkster industrieller
und technologischer Basis, einer guten Infrastruktur und einer hohen Humankapitalkonzentration gelingt es
Samara (wie anderen großstädtischen Ballungszentren) nicht, seine vorhandenen Potentiale auszubauen und die (post)industrielle Entwicklung in der Region vorantreiben. Die Oblast Samara zieht trotz seiner Attraktivität im
Kampf um Investitionen und Arbeitskräfte (insb. um Humankapitalpotential) gegen das postindustrielle Zentrum
den Kürzeren. Dies sind die Folgen der institutionellen Hindernisse für die Entwicklung der meisten föderalen
Regionen: eine Binnenposition in einem weiten geographischen Raum, geringe Binnenintegration und starke
Zentralisierung der Verwaltung, gepaart mit übermäßigem Abzug finanzieller Ressourcen. Der Wettbewerb um
Humanpotential und wirtschaftliche Entwicklung ist für die Oblast Samara nicht zu gewinnen, denn die eigenen
finanziellen Ressourcen für die benötigten Investitionen in Infrastruktur, Humankapital und attraktive
Lebensbedingungen bleiben begrenzt. Und unter den Bedingungen von knappen finanziellen und menschlichen
Ressourcen, mangelnder Selbstverwaltungsmöglichkeit und Aufrechterhaltung von strukturellen Barrieren lässt
sich der Teufelskreis - wachsende räumliche Polarisierung des Humankapitals und der Lebensqualität - schwer
durchbrechen. Im Vergleich zu 2000 hat sich die Region Samara im HDI-Ranking 2013 von 11 auf 26 Platz (von
insgesamt 73 Regionen Russlands) verschlechtert337.
Bruttoinlandsprodukt und Bruttoinlandsprodukt pro Kopf
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gilt als wichtiger Indikator für die Wirtschaftskraft eines
Landes. Das BPI bezeichnet den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die im
betreffenden Jahr innerhalb der Landesgrenzen hergestellt wurden und dem Endverbrauch
dienen.
Um die Vergleichbarkeit zwischen den beiden Ländern zu gewährleisten, werden sämtliche
Indikatoren vor der Wirtschaftskrise (2013/14) auf das Jahr 2013 bezogen338. Im Jahr 2013
betrug das Bruttoinlandsprodukt Russlands rund 2,2 Billionen US-$ und nahm Platz 12 im
Ranking der Länder ein. Im selben Zeitraum erwirtschafte Deutschland ein BIP von rund 3,7
334 Pankov 2011: 628. 335 Höhns 2004. 336 Zusammenfassung nach Zubarevitch 2009: 260f. 337 Analiticheskiy tsentr pri Pravitel'stve RF (Hg.) (2015c) - [Bericht über die Humanpotentialentwicklung in
der Russischen Föderation für 2015] 338 Seit Ende 2013/Anfang 2014 wurde in Russland eine strukturelle Krise bemerkbar, die sich durch den
Ölpreisverfall bzw. Wirtschaftssanktionen gegen Russland verschärft hat. Gleichzeitig wurde die
Rubelbindung an den US-$ aufgehoben. Das führte zu einem Wechselkurseinbruch, der das
Bruttoinlandsprodukt um 2/3 sinken ließ. Das BIP wird in US-$ gemessen.
149
Billionen US-$ mit Platz 4339. Rein rechnerisch beträgt daher in Deutschland pro Kopf das
nominale BIP 46.475 (US-$) bzw. 45.055 (international $) das kaufkraftbereinigte. In Russland
beträgt es pro Kopf 15.559 US-$ / 26.046 (international $)340 (siehe Tab. 6). Damit ist das
kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner*in in Deutschland um das 1,7fache
höher als in Russland.
IHDI (Human Development Index, korrigiert um soziale und ökonomische Ungleichheiten)
Wohlstand wird nicht nur durch ökonomische Performanz eines Landes definiert, sondern auch
das Wohlergehen der Bevölkerung. Daher bildet der herkömmliche „Human Development
Index“ (HDI) drei grundlegende Dimensionen der menschlichen Entwicklung ab: ein langes,
gesundes Leben, Zugang zu Wissen und einen angemessenen materiellen Lebensstandard341.
Bestehen allerdings soziale und ökonomische Ungleichheiten bei diesen Dimensionen
innerhalb eines Landes (selbst bei höheren HDI- Werten), bekommen dort lebende Menschen
nicht immer die gleichen Chancen für ein selbstbestimmtes, lebenswertes Leben. Für das Land
bedeutet dies, dass es sein Humanpotential nicht ausschöpft und Entwicklungschancen für
Menschen strukturell behindert. Daher wurde der HDI durch den „Inequality-adjusted Human
Development Index“ (IHDI) erweitert. Er verschafft ein genaueres Bild des
Entwicklungsgrades eines Landes, in dem die durchschnittliche Performanz des Landes in den
Bereichen Gesundheit, Bildung und Einkommen um deren ungleiche Verteilung bereinigt wird.
Der IHDI liegt damit zwangsläufig unter dem HDI-Wert und zwar in Deutschland um 7,2 %
und in Russland um 9,8 %, was auf bestehende Ungleichheiten in den beiden Ländern schließen
lässt. So rangiert Deutschland laut IHDI mit 0,859 auf Platz 5 der am besten entwickelten
Länder der Welt. Russland ist platziert auf Platz 48 mit einem IHDI von 0,725 von 151
verzeichneten Ländern dieser Welt342, siehe auch Tab. 6. Es ist zwar niedriger, jedoch in
derselben Ländergruppe wie Deutschland mit einer „sehr hohen menschlichen Entwicklung“.
339 Der Wert gibt die nominalen Bruttoinlandsprodukte in Billionen US-$ zu historischen Wechselkursen an.
Siehe International Monetary Fund (2016) - World Economic Outlook Database, Eintrag “Gross Domestic
Product (GDP)”. 340 Die Daten zu historischen Wechselkursen werden sowohl in US-$ als auch kaufkraftbereinigt (PPP) in
internationalen $ angegeben. 341 Der HDI-Index geht auf die Ökonomen Mahbub ul Haq, Amartya Sen und Meghnad Desai zurück und
umfasst neben dem Bruttonationaleinkommen pro Kopf noch einen Lebenserwartungs- und Bildungsindex.
Siehe UNDP (Hg.) (2016) - Human Development Report 2016, S. 52f., 204ff. 342 Ebd. Tab. 3, S. 206.
150
GINI-Index (absolute) und „unfaire“ Einkommensungleichheit
Was schafft Russland aus seinem mittleren ökonomischen Wohlstand und dem vergleichsweise
hohen Humanpotential? Bestehen dafür gute Verwertungschancen für alle dort lebenden
Menschen oder ist der Zugang zu den wesentlichen ökonomischen Teilhaberessourcen
beschränkt und somit das Wohlergehen vieler Bevölkerungsschichten beeinträchtigt?
Zunächst hilft der GINI-Index, der sich als Richtwert für das Ausmaß der
Ungleichheitsverhältnisse im jeweiligen Land versteht343. Im Transformationsland Russland, in
dem die Einkommensverhältnisse sehr unterschiedlich sind, stieg der GINI-Index seit 1988 von
23,8 Punkten auf 41 Punkte 2011, was eine Verschlechterung der Lage bedeutet. Auch in
Deutschland hat die Einkommensungleichheit seit den ersten Messdaten 2000 von 24,6 Punkten
auf 30,1 Punkte344 zugenommen345. Insgesamt lässt sich jedoch in Russland eine größere
gesellschaftliche Polarisierung des Wohlstandes konstatieren als in Deutschland. Länder mit
einem GINI-Index zwischen 50 und 70 werden als stark einkommensungleich, die mit einem
GINI-Index zwischen 20 und 35 als relativ einkommensgleich angesehen346.
Nicht nur die gesamte Einkommensungleichheit in Russland ist wesentlich höher als in
Deutschland, sondern auch der „unfaire“ Anteil. Die „unfaire“ Chancenungleichheit (hier in
Bezug auf das Einkommen) gibt an, wieviel Prozent von der Gesamteinkommensungleichheit
in einem Land auf die von Person unabhängigen Umstände zurückzuführen sind, dabei werden
„angeborene“ Merkmale wie Geschlecht, Ethnizität, Geburtsort oder (Bildungs-)Hintergrund
der Eltern berücksichtigt. In Russland sind es mehr als ein Drittel (34,5 %). Auch in
Deutschland ist der Anteil der „unfairen“ Einkommensungleichheit mit 23 % vergleichsweise
hoch347.
In welchem Ausmaß tragen die o.g. von der individuellen Leistung unabhängigen Merkmale
im jeweiligen Land zu ungleichen Einkommenschancen bei? In Russland ist zum Beispiel die
soziale Herkunft (Bildungsniveau der Eltern) für 36 % der gesamten Einkommensungleichheit
343 Je höher der GINI-Index, desto polarisierter ist die Einkommensverteilung eines Landes oder von Regionen.
Die Werte für die beiden Länder stammen dabei aus unterschiedlichen Zeiträumen und teilweise
unterschiedlichen Quellen (bedingte Vergleichbarkeit). 344 Quelle: World Bank DataBank, Eintrag „GINI index (World Bank estimate)”. 345 Freie Universität Berlin (Hg.) (o.J.) - VWL Basiswissen für Nicht-Ökonom_innen, Eintrag „Gini-
Koeffizient“. 346 Willis 2005: 9 zit. n. Freie Universität Berlin (Hg.). 347 Für Details der Shapley Decompositions von „total inquality of chances“ und Ermittlung des „unfären“
Anteils der Chancenungleichheit siehe EBRD (Hg.) (2016) - Transition Report 2016-17, S. 54, sowie Chart
3.2 und 3.4.
151
verantwortlich, das Geschlecht und der Geburtsort (städtisch vs. ländlich) je für ein Viertel
(25 %) die ethnische Herkunft 10,5 % und Mitgliedschaft des Elternteils in der
kommunistischen Partei 3 %. In Deutschland trägt das Geschlecht am meisten (57,5 %) zur
gesamten Einkommensungleichheit bei, gefolgt vom Bildungsniveau der Eltern (20 %),
Ethnizität (15 %) und dem Geburtsort (lediglich 6 %). Der höhere Betrag des
Geschlechterfaktors erklärt sich vermutlich durch eine größere Verbreitung von
Teilzeitbeschäftigungen bei den Frauen in Deutschland in Vergleich zu Russland.
Das Ausmaß der Ungleichheit, bedingt durch die Tatsache, dass Menschen lediglich dank ihrer
Geburt und nicht durch eigene Leistung entsprechende Einkommen erzielen, ist in Russland
nachweislich höher. Vetternwirtschaft und Korruption sind in Russland im Vergleich zu
Deutschland weiter verbreitet348. Diese tragen sicherlich wesentlich dazu bei, dass Menschen
dort stärker daran gehindert sind, das Bestmögliche aus ihren Fähigkeiten und Talenten zu
machen bzw. ihre Lebenspläne zu verwirklichen. Das kann wiederum das langfristige
Prosperität des Landes negativ beeinflussen und zur Ungleichheit des Einkommens und
Vermögens beitragen. Dies wiederum kann zu einem Vertrauensverlust gegenüber den
wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Institutionen führen349.
348 Entsprechend dem Corruption Perceptions Index 2016 gehört Russland zu den Ländern mit der höchsten
Korruption im öffentlichen Bereich. Von 176 Ländern nimmt Russland den Platz 131 (Wert 29) und
Deutschland den Platz 10 (Wert 81), auf einer Skala 0 (sehr korrupt) to 100 (sehr transparent) ein.
Transparency International (Hg) (2017) - Corruption Perceptions Index 2016. 349 Vgl. EBRD (Hg.) (2016) - Transition Report 2016-17: 6.
152
Tab. 6 Ausgewählte Indikatoren der ökonomischen Lebensbedingungen (Ungleichheit und
Wohlstand)
Sozioökonomische
Kennzahlen
Deutschland
Russland Weltweite
Durchschnittswerte
GINI-Index 2011 1) 30,1 Punkte
(17. Rang)
41,6 Punkte
(49. Rang)
36,9 Punkte
(71 Länder)
Inequality-adjusted
IHDI 2016 2)
0,859 Punkte
(5. Rang)
0,725 Punkte
(48. Rang)
0,557 Punkte
(151 Länder)
BIP 2013 (nominal) 3) 3753,687 Mio. US-$
(4. Platz)
2230,624 Mio.
US-$ (12. Platz)
399,501 Mio. US-$
(190 Länder)
BIP pro Kopf 2013
(nominal /
kaufkraftbereinigt) 3)
46.475 US-$ /
45.055 international $
15.559 US-$ /
26.046 international $
13.696,6 US-$/
15.130 international $
(186 Länder)
Quelle: 1) World Bank DataBank 2011.
2) UNDP (Hg.) (2016) - Human Development Report 2016
3) IMF (2016) - World Economic Outlook Databank; Eigene Darstellung
Sozialausgaben
Wie viel von dem gesellschaftlichen Wohlstand wird an die Bevölkerung in Form von sozialen
Ausgaben zurückgegeben?
Zwischen den OECD- (34 Länder) und Nicht-OECD-Ländern gibt es erhebliche Unterschiede
bezüglich des sozialen Schutzes der Bevölkerung. Diese lassen sich an den Sozialausgaben
messen.
Sozialausgaben (Englisch: social expenditures) zeigen an, in welchem Umfang der Staat
Verantwortung für benachteiligte oder vulnerable Bevölkerungsgruppen übernimmt350.
Deutschland hat 2012/13 überdurchschnittlich hohe soziale Transfers getätigt, nämlich 26 %
des BIPs. Die übrigen OECD-Länder haben dagegen durchschnittlich nur 21,9 % des BIPs für
Sozialausgaben zur Verfügung gestellt. Russlands Sozialausgaben lagen im selben Zeitraum
nur bei 15,7 % des BIPs (siehe Tab. 7). Unberücksichtigt sind dabei die absoluten Beträge der
350 Die Sozialausgaben umfassen Geldleistungen, direkte "Sachleistungen" von Waren und Dienstleistungen
sowie Steuererleichterungen. Sie können einkommensschwachen Haushalten, älteren Menschen,
Behinderten, Kranken, Arbeitslosen und Jugendlichen zugutekommen..Vgl. OECD (Hg.) (2016) - OECD
Factbook 2015-2016.
153
sozialen Transfers und die Bevölkerungszahl. Durch die Sozialausgaben pro Einwohner*in
könnten die Indikatoren auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden:
Tab. 7 Kaufkraftbereinigte Sozialausgaben 2013, in international $
Sozioökonomische Kennzahlen Deutschland Russland
Bruttoinlandsprodukt per Einwohner,
kaufkraftbereinigt, international $
(2013) 1)
45.055 26.046
Sozialausgaben als % von BIP
(in 2012-13) 2)
26 % 15,7 %
Sozialausgaben je Einwohner,
international $ (2013)
12.131 4.094
Quelle: 1) IMF (2016) - World Economic Outlook Databank.
2) OECD (Hg.) (2014) - Society at a Glance 2014; Eigene Darstellung
Damit gibt Deutschland mit 12.131 (international $) dreimal so viel für Sozialleistungen pro
Einwohner*in aus wie Russland (4.094 international $).
Gäbe es keine Transferleistungen, würden in beiden Ländern deutlich mehr Menschen unter die
Armutsgrenze351 fallen. Schätzungen zufolge könnten es in Deutschland sogar ca. 40 % der
Bevölkerung sein352. 2010 betrug die Armutsgefährdungsquote353 in Deutschland vor
Sozialtransfers (außer Pensions- und Rentenzahlungen) 24,2 %, nach Sozialtransfer 15,6 %. In
Russland sind, je nach methodischem Zugang zur Definition von Armut (nach absoluten,
relativen oder subjektiven Kriterien), teilweise beträchtliche Variationen bezüglich der
Armutsquoten feststellbar. Nach absoluten Kriterien354 waren 2011 19,8 % der russischen
Haushalte arm. Relative Armut traf auf 21 % der Haushalte zu. Subjektiv fühlten sich 38,2 %
arm. Die höchsten Armutsrisiken tragen arbeitende Familien mit Kindern355. Die gefährdeten
351 Generell unterscheidet man drei Arten der Armut: absolute, relative und subjektiv gefühlte Armut. 352 Hradil 2016: 259. 353 Die Armutsgefährdungsschwelle wird nach EUROSTAT auf 60 % des nationalen verfügbaren medianen
Äquivalenzeinkommens festgesetzt. Dies entspricht dem Verständnis der relationalen Armut, EUROSTAT
(2013) - Statistics Explained Archive, S. 364. 354 Objektive Armutsgrenze wird als „Leben unterhalb des national festgelegten Existenzminimums“
(ausgedrückt als der monetäre Wert des minimalen Grundbedarfs für den Lebensunterhalt) aufgefasst. 355 Ovcharova et al. 2014.
154
Gruppen unterscheiden sich nicht wesentlich von denen in Deutschland. Spezifisch ist jedoch,
dass ungefähr die Hälfte der russischen Armen einer Beschäftigung nachgeht356. Trotz der
Tatsache, dass sehr viele Haushalte in Russland (67 % inklusive bzw. 37,8 % ohne
Rentenzahlungen) soziale Transfers erhalten, verbessert sich der materielle Wohlstand der von
Armut betroffenen Bevölkerung nicht effektiv357. „Eine vertikale Umverteilung, eigentlich
eines der Hauptargumente für soziale Unterstützung, findet somit nicht statt“358. Auch der
konservativ-korporatistischer Wohnfahrtsstaat Deutschlands bewirkt die Erhaltung von Status-
und Gruppenunterschieden.
3.1.2 Vertikale Stratifikation der russischen und deutschen Gesellschaft in 2010 (unter den
deutschen strukturellen Bedingungen)
Eine moderne Wohlstandsgesellschaft der „gleichen Chancen“ weist in der Regel eine
möglichst gleichmäßige Verteilung der strukturellen Ressourcen und eine solide Mittelschicht
auf, die ein Leben mit einem „respektablen“ Lebensstandard führen kann. Die Möglichkeit
eines sozialen Aufstiegs gilt als zentrales Kriterium für Leistungsgerechtigkeit und Offenheit
einer Gesellschaft. Diese kann indirekt in der Verteilung der Sozialstrukturen als auch durch
die Zusammenhänge zwischen Bildungs- und Einkommensvariablen betrachtet werden.
Zur Einschätzung der Partizipation der russischen und der deutschen Bevölkerung am
gesellschaftlichen Wohlstand und des Ausmaßes der Ungleichheit der Verhältnisse in dem
jeweiligen Land werden vertikale Schichtungsstrukturen in den beiden Ländern verglichen.
Wegen der teilweise sehr unterschiedlichen stratifizierenden Prinzipien in den beiden Ländern
(siehe Kap. 2.3.2), ist es außerordentlich schwierig, Vergleiche der Sozialstrukturen
durchzuführen. Als Lösung dieses Problems wurden die russischen sozialstrukturellen
Indikatoren auf die deutschen Indikatoren standardisiert359, um so die Frage zu beantworten:
Wie sieht die soziale Schichtung in der russischen Gesellschaft im Jahr 2010 unter deutschen
Strukturierungsverhältnissen aus?
Es handelt sich hierbei um ein hypothetisches Schichtungsmodell360.
356 Schwethelm 2005: 4. 357 Malkova 2009. 358 Schwethelm 2005: 5. 359 Zu Details siehe Kap. 3.2.3. 360 Die Einteilung der Skalenwerte erfolgte in folgende Gruppen: „Unterschicht“ (Skalenwerte bis 68),
„Mittelschicht“ (68-150), „Oberschicht“ (Skalenwerte höher als 150). Ermittelt man die Mittelschicht allein
155
Abb. 20: Soziale Stratifikation Russland – Deutschland, 2010
Auch durch das Prisma der deutschen sozioökonomischen Verhältnisse (d.h., wenn sich höhere
Investitionen in die Bildung mit ähnlichem sozioökonomischem Status in Russland auszahlen
würden wie in Deutschland, der Einfluss unterschiedlicher Preisniveaus und
Lebenshaltungskosten bereinigt und die Schichtgrenzen nach dem deutschen Muster gezogen
werden) zeigt sich in Russlands Sozialstruktur eine stark ausgeprägte Ungleichverteilung
(siehe Abb. 20):
Während nur jede(r) vierte Deutsche (24 %), was selbstverständlich ein zu bekalgender
gesellschaftlicher Zustand für ein reiches Land ist, eine benachteiligende
Ressourcenlage aufweist, sind es in Russland 66 % der Bevölkerung!
Der Hauptteil der deutschen Bevölkerung (60 %) wird aufgrund einer mittleren
strukturellen Ressourcenlage als "Mittelschicht" klassifiziert, in Russland ergibt sich in
meiner hypothetischen Stratifizierung im Vergleich nur 34 %.
Eine “privilegierte” soziale Position nehmen 16 % der Deutschen ein. In der russischen
Stichprobe erreichen nur 0,4 % der Befragten die entsprechenden Skalenwerte, um der
Oberschicht zugeordnet werden zu können. Aufgrund der hohen Verweigerungsquote
anhand des Äquivalenzeinkommens, werden die Grenzen nach oben und unten von verschiedenen
Institutionen (OECD; WHO, EU) unterschiedlich festgelegt. Für Deutschland setzt beispielsweise das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) als untere Grenze 70 %, als obere Grenze 150 % des
gemittelten Äquivalenzeinkommens an, siehe Goebel et al. 2010: 3.
156
zu Einkommensangaben (20 %) dürfte der Anteil der wohlhabenden Menschen in
Russland aus den mittleren und oberen sozialen Strata eher untertrieben sein361.
Im Folgenden wurden die Ergebnisse der deutschen sozioökonomischen Stratifikation mit den
anderen Schichtungsanalysen überprüft und dabei hohe Plausibilität festgestellt. Zunächst
entspricht die gewonnene sozialstrukturelle Verteilung für die deutsche Stichprobe der
Schichtung der deutschen Bevölkerung im Jahr 2010 mit den Daten der Allgemeinen
Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus 2010). Eigene Analysen mit dem
Allbus 2010 zeigen folgende soziale Stratifizierung der gesamtdeutschen Gesellschaft anhand
der perzipierten Schichtzugehörigkeit: ca. 11 % der Deutschen ordnen sich der "oberen
Mittelschicht", ca. 60 % der "Mittelschicht“, 26 % der "Arbeiterklasse " und 3 % der
"Unterschicht" zu362.
Die deutsche Sozialstruktur bleibt, trotz leichter "Re-gruppierung" unterer und oberer Schichten
in den letzten drei Jahrzehnten (1980-2010) eine "bürgerliche" Gesellschaft mit einem hohen
Anteil der Mittelschicht (durchschnittlich 58,5 % und einer Standardabweichung +/-2,6 %)363.
Des Weiteren gibt die hier vorgenommene Verteilung (durch den Anteil der unteren Schichten)
korrekt das offizielle Armutsniveau in Deutschland wieder. Die Armutsgefährdungsquote
betrug im Jahr 2010 in Deutschland vor Sozialtransfers (außer Pensions- und Rentenzahlungen)
24,2 %, nach Sozialtransfer 15,6 %364.
Was das Ergebnis der durchgeführten hypothetischen Stratifikation für Russland angeht, ist
dieses, aufgrund von Normierung auf die deutschen Verhältnisse, nicht ohne weiteres mit den
anderen Studien vergleichbar. Umso erstaunlicher ist es, dass die hypothetische Stratifikation
durchaus eine realistische Schätzung der Sozialstruktur Russlands abbildet. Wie im Kapitel
2.3.2 dargestellt wurde, kommen etliche russische Sozialstrukturanalysen (Varianten des
Ressourcenansatzes, als auch neo-weberianische und neo-marxistische Modelle) zu einem
ähnlichen Befund. Sie weisen eine Unterschicht von ca. 60 % nach365. Strittig ist dagegen die
Frage, ob es in Russland wirklich eine Mittelschicht gibt und welchen Umfang sie hat. Je nach
theoretischem Zugang (funktionalistischer oder struktureller), Konzeptspezifikation, gewählten
361 Vgl. Beljaeva 2009: 89. 362 Die Verteilungszahlen beziehen sich auf gültige Fälle (eine Schichtzuordnung vorgenommen) und ergeben
sich nach der Gewichtung des Datensatzes Allbus 2010 mit dem Personenbezogenen OST-West Gewicht.
Für Westdeutschland betragen die entsprechenden Anteile: Unter-/Arbeiterschicht 26 %, Mittelschicht 62 %
und Oberste Mittelschicht/Oberschicht 13 %. 363 Noll/Weick 2011: 3. 364 Destatis (2010): Zahlen und Fakten, Eintrag „Lebensbedingungen, Armutsgefährdung“. 365 Entsprechend den Ergebnissen von Tikhonova (2006); Skaratan et al. 2012; Beljaeva 2009.
157
Indikatoren und Berechnungsmethoden liegen die Ergebnisse im Bereich zwischen 4 %366 bis
max. 22 %367. Diese Schicht hat sich in den letzten 15 Jahren nicht verändert und wird infolge
der jetzigen Wirtschaftskrise (Stand 2017) auf 15 % schrumpfen, so die Prognosen368. Damit
dürfte die Annahme einer Mittelschicht mit 34 % ein euphemistisches Ergebnis darstellen, der
Anteil der Oberschicht mit 0,4 % dagegen etwas untertrieben sein. Nach Schätzungen von
Forbes 2013 besaß 93,7 % der erwachsenen Bevölkerung Russlands weniger als 10.000 $ pro
Person. 5,6 % der Bevölkerung hatten zwischen 10.000 und 100.000 $, 0,6 Prozent zwischen
100.000 und einer Million $. 0,1 % (ungefähr 84.000 Menschen) verfügt über eine Million $
und mehr369.
Vergleicht man die Zusammensetzung der Strata nach dem durchschnittlichen Einkommen, der
Bildungsverteilung und der subjektiven materiellen Lage in den beiden repräsentativen
Stichproben, ergibt sich folgendes Bild:
Tab: 10: Beschreibung der Schichtungsmodelle in Deutschland und Russland durch
konstitutive Faktoren (Prozentanteile gerundet), ESS 2010
Strata Kriterien
% d
es S
trat
um
s (g
ült
ige
Pro
zen
te)
Nettoäquivalenz-
Einkommen, korrigiert um
Kaufkraftparität
(durchschnittl-
Einkommens-
klassenmitte
in US $)
Bildungsniveau370 in % Selbsteinschätzung
eigener materieller Lage,
in %
nie
dri
ges
mit
tler
es
ho
hes
1-„Living
comfortably
on present income” &
2-“Coping on
present
income”
3-“Difficult
on present
income & 4-“Very
difficult on
present
income”
Obere
Schicht DE 2.490,4 - 27 73 100 - 16
RU 1.579,1 - - 100 100 - 0,4
Mittlere
Schicht DE 1.427,7 5 85 10 97 3 60
RU 876,1 0,4 42 57 84 16 34
Untere
Schicht DE 848,4 50 49 1 41 59 24
RU 432,5 18 72 9 23 77 66
Quelle: eigene Berechnungen
366 Shkaratan /Yastrebov 2008. 367 Maleva et al. 2015. 368 Ebd. 369 Zit. n. Alpert 2013. 370 Bildungsniveaus sind folgend gruppiert: niedriges = (niedrige Allgemeinbildung ohne Berufsausbildung),
mittleres = (niedrige Allgemeinbildung mit Berufsausbildung bzw. höhere Allgemeinbildung mit oder ohne
Berufsausbildung), hohes = (Hochschulabschluss).
158
Selbst unter den deutschen Sozialstrukturverhältnissen sind deutliche Abweichungen in allen
drei Parametern feststellbar. Aufgrund des niedrigeren Einkommensniveaus in Russland, auch
nach Kaufkraftbereinigung, leben dort deutlich mehr Menschen materiell unter prekären
Verhältnissen, selbst in der Mittelschicht (RU: 16 % vs. DE 3 %) und ohnehin in den unteren
Schichten (RU: 77 % vs. DE: 59 %). Auffallend ist, dass, selbst nach der Gewichtung, sich der
Bildungsfaktor in Russland nicht in dem Maße auszahlt wie in Deutschland. Besonders in den
unteren Milieus finden sich vergleichsweise viele gut gebildete Menschen (RU: 9 % vs. DE:
1 %). Die Investition in die Bildung in einer entwickelten Marktwirtschaft wie Deutschland
lohnt sich (fast) immer.
Fazit
In der Verfassung der Russländischen Föderation vom 12. Dezember 1993 (Kap. 1, Art. 7, Abs.
1) definiert sich der russische Staat als Sozialstaat: „Die Russländische Föderation ist ein
Sozialstaat, dessen Politik darauf gerichtet ist, Bedingungen zu schaffen, die ein würdiges
Leben und die freie Entwicklung des Menschen gewährleisten.“371
Über alle berücksichtigten sozioökonomischen Kriterien zeigt sich, dass der russische Staat
diese Aufgabe nicht bzw. nur mangelhaft erfüllt. Russland ist vom Ideal einer „modernen
Gesellschaft“ und den selbstverpflichtenden Prinzipien eines Sozialstaates weit entfernt.
Russland setzt weiter auf Extraktivismus als wirtschaftliches Modell, anstatt die
„Rohstoffrente“ in den Aufbau einer nationalen Industriebasis zu stecken372. Damit schafft es
das Land nur bis zu einem „mittleren Entwicklungsniveau“373. Es wirtschaftet nicht nachhaltig,
sondern „involutionär“, indem es auf Kosten der Umwelt und seiner zukünftigen Generationen
lebt374.
Hemmend auf die Erweiterung der Möglichkeiten zur selbstbestimmten Lebensführungen
wirken sich folgende Faktoren aus:
371 Übersetzung der Autorin. 372 Vgl. Inozemtsev zit. n. Senchin 2016. 373 Pankov 2011: 625. 374 Burawoy 2001.
159
Ein extraktives Wirtschaftsmodell, eine geringe/stagnierende Entwicklung der
industriellen und hochtechnologischen Wirtschaftszweige, dadurch geringe
Konkurrenzfähigkeit des Landes auf globalen Märkten, häufige Wirtschaftskrisen;
Eine neo-etakratische gesellschaftliche Ordnung mit Korruption, Steuerhinterziehung,
Seilschaften, „Mediokratie-“ statt Meritokratie-Prinzipien bei der Besetzung
gesellschaftlich attraktiver Posten;
Eine nicht abgeschlossene Systemtransformation - schlecht funktionierende Arbeits-
und Wohnungsmärkte, ein geringer Anteil qualifizierter und gut bezahlter Arbeitsplätze
in den Informations- und Wissenszweigen, hoher Anteil an „schlechten“ Arbeitsplätzen
und hoher Arbeitsplatzunsicherheit, weit verbreitete Schattenwirtschaft;
Ein nach wie vor zentralistischer und ineffizienter Staat, mangelnde lokale
Selbstverwaltung, defizitäre Haushalte, Abhängigkeit der staatlichen Einnahmen und
der Lebensverhältnisse der Bevölkerung von den internationalen Rohstoff- und
Devisenmärkten.
Insgesamt schafft Russland nicht nur weniger ökonomische Möglichkeiten der
selbstbestimmten Lebensführung für seine Bevölkerung, sondern diese Chancen sind in
Russland noch deutlich ungleicher und ungerechter verteilt als in Deutschland. Man kann
Russland als das Land der ungleichen bzw. unfairen Chancen und begrenzten Möglichkeiten
bezeichnen.
Dagegen erscheint Deutschland, im Vergleich zu Russland, dem oben definierten
idealtypischen Gesellschaftstypus näher zu kommen. Es stellt für seine Bevölkerung
offensichtlich mehr objektive Möglichkeiten für die freie Entfaltung des Individuums zur
Verfügung als Russland. Auch das deutsche Grundgesetz garantiert jedem „freie Entfaltung
seiner Persönlichkeit“ (Kap. 1, Art. 2, Abs 1) sowie das Recht auf Gleichbehandlung und
Gleichberechtigung für jedermann ungeachtet „seines Geschlechtes, seiner Abstammung,
seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, (…)“ (Kap. 1, Artikel 3, Abs. 3).
Genau dieses „Gleichbehandlungs-Credo“ ist jedoch unwirksam, gar kontraproduktiv für die
Förderung der Chancengerechtigkeit. Wie der konservativ-korporatistischer Wohlfahrtsstaat
die sozialen Ungleichheiten konserviert, anstatt diese abzubauen, verdeutlichen ein Paar
Beispiele: Das Kindergeld von derzeit 192 EUR/ 1ste Kind wird in Deutschland einem
Elternhaushalt ausgezahlt, ungeachtet dessen Einkommensverhältnisse (prekär oder
160
wohlhabend). Dem Hartz-IV Empfänger wird das Kindergeld dagegen auf seine anderen
Leistungen angerechnet. Ähnlich unfäir, weil „gleichmachend“, verhält es sich mit den
einkommensunabhängigen „Pflegegeld/ Pflegesachleistungen“. Einkommensschwächere
Pflegehaushalte dürften durch den Pflegefall wesentlich stärker in ihrer Existenz bedroht sein
und bedürften mehr Unterstützung in der Pflege. Der Staat entlastet diese Betroffenen aber
nicht, wie er es an einer anderen Stelle z.B. mit dem Spitzensteuersatz für Oberschichten tut.
Wie angedeutet beschneiden auch hierzulande diverse strukturelle und institutionelle
Hindernisse aber auch kulturelle Erwartungen insbesondere den Frauen375 und unteren sozialen
Schichten eine selbstbestimmte Lebensführung.
3.2 Kulturelle Faktoren
3.2.1 Orientierungen an individualisierten Lebensführungen
Eine Gesellschaft der „modernen Lebensführung“ entsteht nicht zuletzt, sondern vielleicht
gerade aufgrund des soziokulturellen Wertewandels. Es herrscht weitgehende
Übereinstimmung, dass Deutschland im Zuge des mit der Modernisierung einhergehenden
Individualisierungsschubs seit Mitte der 1960er Jahre einen tiefgreifenden Wertewandel
durchläuft. Als übergreifender Trend der letzten Jahrzehnte erwies sich dabei eine
Verschiebung von Werten der Autoritätsgehorsamkeit und Konformität zu solchen der
Selbstbestimmung und Gleichberechtigung376. Dabei führt der konstatierte, aber konzeptuell
unterschiedlich ausgelegte “Wertewandel“377 nicht zu einer Auflösung von “Pflicht- und
Akzeptanzwerten”, sondern vielmehr zu deren Relativierung und einer Erweiterung um die
Dimension der “Selbstentfaltung” bzw. weitergehend zu einer „Wertesynthese“378. Auch ist die
Bedeutungszunahme von Selbstbestimmungs- und Selbstverwirklichungswerten im Kontext
des Wandels der Arbeitswelt, der zur selben Zeit mit dem Übergang zur postindustriellen
Produktion in Deutschland eingesetzt hat, gut dokumentiert und wurde bereits erörtert (siehe
Kap. 2.2). Im Allgemeinen wird Deutschland als eher individualistisch orientierte Kultur
bezeichnet379. Im europäischen Vergleich nimmt das Land allerdings nur eine mittlere Position
375 Für Diskussion zur Genderordnung in der Pflege siehe Kap. 3.2.3. 376 Welzel 2009: 103. 377 Siehe die Zusammenfassung z.B. bei Roßteutscher 2013: 937, oder bei Welzel 2009. 378 Vgl. Klages 1993: 3-5. 379 Hofstede 2001.
161
zwischen dem stark familienorientierten Süden und dem stark individualisierten Norden ein380.
Dabei haben sich die traditionellen Familienwerte nicht ganz aufgelöst, sondern bekamen den
Wert der freien Wahl, darüber mehr im nächsten Abschnitt.
Trotz der eigenen Spezifik und Schwierigkeiten der Analyse der Werteorientierungen stellte
man auch für das ex-sozialistische Russland noch zu Sowjetzeiten und mit Rückschlägen nach
dem Systemwechsel eine Tendenz in dieselbe Richtung des Wertewandels wie in den
westlichen Gesellschaften fest381. Befunde der sowjetischen Betriebssoziologie der 1970/80er
Jahren, deren Glaubwürdigkeit jedoch kritisch hinterfragt wurde, dokumentierten die erhöhten
Ansprüche der Beschäftigten an ihren Beruf und den Arbeitsprozess. Sie könnten als Hinweis
auf das Einsetzen von Individualisierungs- und Selbstentfaltungstendenzen gedeutet werden382.
Nach einer neueren qualitativen Forschungsstudie stellen russische High-Professional-Milieus
ebenso „subjektivierte Ansprüche“ an ihre Arbeit. Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung
und Kreativität sind für sie dominierende Arbeitsmotivation383. Unter dem verharrenden
normativen Druck „gute Mutter zu sein“, der in Konkurenz zu den Anforderungen der
Berufswelt steht, tendieren gut qualifizierte Frauen in heutigen Russland ihrer Karriere zuliebe
den Kinderwunsch hinauszuschieben384. Auf der normativen Ebene führten fortschreitende
Enttraditionalisierungstendenzen zur Veränderung der Generationenbeziehungen. Diese
zeichnete sich z.B. ab in den Generationsunterschieden ähnlich dem Trend in den westlichen
Industrieländern, der sich im Wandel von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu
Selbstentfaltungswerten äußert. Während die älteren Generationen in den ehemaligen
sowjetischen Ländern sich noch an den Verpflichtungen in sozialen Bindungen und normativen
Verhaltensregelungen orientierten, war die Jugend bereits von Autonomiebestrebungen und
Neigung zu geselligen Kontakten auf der Basis emotionaler Verbundenheit ergriffen385.
Die Wertedynamik in Richtung Individualisierungstendenzen in der Sowjetunion ging vor
allem aus der Strukturentwicklung hervor (Differenzierung der Wirtschafts- Berufs-, und
Siedlungsstruktur sowie Ausbau eines Sozialstaates). Gleichzeitig bremste das politisch-
ideologische System die Fortsetzung der Individualisierungsprozesse, was in der Sowjetunion
380 Katz et. al 2003. 381 Schabanowa 1995: 8. 382 Degtjar 1984; Zintschenko/ Kowalenko/ Munipow 1986, zit. n. Schabanowa 1995: 7. 383 Shkaratan 2012. 384 Laut einer Meinungsumfrage, die russlandweit in 214 Siedlungen unter Erwerbstätigen ab 18 Jahren
durchgeführt wurde (Befragungszeit: 10. Juli - 1. August 2013), Stichprobengröße: 1600 Befragte, siehe
Forschungszentrum des Portals Superjob.ru 2013. 385 Levada 1993a; Gensicke 1992b zit. n. Schabanowa 1995: 8.
162
mit der häufig verwendeten Redewendung „Iniziativa nakasuema“ (auf Deutsch
„Eigeninitiative wird bestraft“) ihren Ausdruck findet386. Durch das ideologische Monopol, den
administrativen Zentralismus und den Versuch des Systems, andere Meinungen zu
unterdrücken, war der „Sowjetmensch“ de-individualisiert, mit einer angepassten Mentalität,
anspruchslos, leicht lenkbar etc.. Es galten Phänomene wie „doppelte Moral“,
„Wertemaskierung“ etc. So bestand öffentliche Konformität mit den sowjetischen Werten,
innerlich distanzierten sich die Menschen von diesen387. Der rasante Systemwechsel ab 1990
brachte wachsende Verunsicherung und widersprüchliche Tendenzen im Massenbewusstsein.
Ein explosionsartiger „Werterevanchismus“ und stürmische „Befreiung von der sozialistischen
Lebensweise und Bewusstsein“, insbesondere in den jungen Generationen388, kann als Zeichen
der Vielfalt der existierenden Werte und als Individualisierungsschub gesehen werden. Im
Laufe der Geschichte wurde die russische Gesellschaft mehrmals durch die Umkehrungen der
Wertesysteme heimgesucht und erschüttert, was das Tempo und den Charakter der
soziokulturellen Entwicklungen in Russland sicherlich maßgeblich beeinflusst hat389. Der
Wertehaushalt „Übergangsgesellschaft“ orientiert sich eher an konventionellen als
selbstbestimmten Lebensführungen, was historische Ursachen hat. Auf der Basis der
Sekundärdatenanalysen von GGS 2004 in der Altersgruppe der 40-65 Jährigen bestätigt sich
die These des geringeren Individualisierungsgrades der russischen Gesellschaft im Vergleich
zu Deutschland. Bei den russischen Middle-Agers überwiegen „traditionelle“, bei den
deutschen „individualisierte“ Lebensentwürfe (siehe Abb. 8). Ergebnisse anderer
internationaler Surveys (ESS 2006) bescheinigen eine „Mehrdeutigkeit der Position Russlands
im soziokulturellen Raum Europas“390.
386 „Eigeninitiative, Selbstbetätigung“, auf Russisch ‚samodeyatelnost‘ bekommt in der Sowjetunion seit der
Mitte des 20 Jh. eine negative evaluative Konnotation, siehe Vorkachev 2012. 387 Levada (Hg.) (1993). 388 Rasche Abkehr von den Werten des Sozialismus zu jenen, die unter dem sozialistischen System als
inakzeptable galten: Verfolgung von Privatinteresse statt kollektivem Interesse, Wertdominanz von Geld und
Privateigentum, siehe Schabanowa 1995: 14. 389 Nach Alexander Achiezer (1997), sowjetisch-russischem Philosophen, war die soziokulturelle
Transformation Russlands schon immer durch epochal wiederkehrende Traditionalisierungs- und
Liberalisierungsschübe gekennzeichnet. Sie ähnelten jenen Pendelbewegungen, die alles kurzfristig
Errungene wieder rückgängig machten, nur in einer veränderten Form. Solche komplexe und höchst
widersprüchliche soziokulturelle Prozesse waren stets mit dem abrupten Wechsel des gesamten Systems
verbunden und haben sich zuletzt mit den neo-liberalen Reformen in den 1990er in Gang gesetzt. 390 Lapin 2009: 51.
163
3.2.2 Familienwerte und Normative Grundlagen der Generationenbeziehungen
Für die gegenwärtigen Veränderungen in Familienbeziehungen generell und konkret in der
Bereitschaft erwachsener Kinder, ihre Eltern gegebenenfalls zu pflegen, zeichnen sich in
Russland und Deutschland ähnliche soziokulturelle Entwicklungen ab, auch wenn diese unter
unterschiedlichen gesellschaftlichen (Ausgangs-)Bedingungen stattfinden. Zu den allgemeinen
Freisetzungsprozessen und gestiegenen Anforderungen an Autonomie und
Selbstverantwortung gesellen sich in Russland der besondere Stellenwert der Familie noch zu
Sowjetzeiten und die spezifische Erfahrung des politischen Zusammenbruchs der Sowjetunion
1989.
Unter dem Einfluss der kommunistischen Ideologie welche, die russische Gesellschaft 70 Jahre
lang prägte, wurde versucht, dem Kollektiv Individualität sowie persönliche und familiale
Beziehungen unterzuordnen. Am schwersten traf die Familienbeziehungen die Zeit von Stalins
Repressionen, als Familienmitglieder sich denunzieren mussten, was zu interpersonalem
Misstrauen führte391. Nichtsdestotrotz blieb die Familie ein wichtiger Rückzugsort und Quelle
der moralischen Bindung, wie die Forschungen aus der ehemaligen DDR zeigen, wo Menschen
ähnliche politisch motivierte Eingriffe in ihr Leben erfuhren392.
Auch in Zeiten der verheerenden ökonomischen und sozialen Umwälzungen unter den
Bedingungen der Erosion staatlicher Institutionen und „torn safety nets“, wie zuletzt unter den
rasanten Systemwechsel mit den neoliberalen Reformen Anfang der 90er, oder der darauf
folgenden zwei Wirtschaftskrisen 1998 und 2008, blieb die Familie ein „sicherer Zufluchtsort“
und war Quelle finanzieller, instrumenteller und emotionaler Hilfe. Die gemeinsamen
Entbehrungs- und Unsicherheitserfahrungen vor und während der Systemtransformation
prägten den starken Zusammenhalt und die Unterstützung zwischen den Generationen in der
Familie. Empirische Untersuchungen in Russland aus jener Zeit bestätigen hohe informelle
Unterstützungstransfers zwischen den Generationen393. Sie seien so natürlich „wie die [Atem]luft.
Diese ist unsichtbar, aber ohne sie kann man nicht mal eine Minute überleben“394. Die darauf
folgenden verheerenden ökonomischen Krisen und der Abbau sozialer Sicherungssysteme
könnten den Familienzusammenhalt und die Pflege sowohl gestärkt als auch geschwächt
391 Varlamova et al. 2006 392 Szydlik 2000. 393 Fadeeva 1999; Lylova 2002; Barsukova 2005, zit. n. Mironova 2014. 394 Vinogradskij 1999, zit. n. Mironowa 2014 (Übersetzung der Autorin).
164
haben395. Die bisherige Pflegesituation in Russland (siehe Abb. 3) spricht allerdings eher für
eine weitgehend ungebrochene gegenseitige Hilfe innerhalb der Familie und Verwandtschaft.
Die familialistische Kultur, in der 40-65 Jährigen sozialisiert wurden, sieht den Menschen als
Teil eines kleinen Netzwerkes enger, interdependenter Beziehungen. Sie kultiviert das Glauben,
als auch speist sich aus Erfahrungen der gegenseitigen Abhängigkeit und Hilfe zwischen
Familienmitgliedern, ohne die man als Einzelindividuum nicht „überleben“, den
Lebensstandard erhalten bzw. diesen verbessern kann. Weiterhin prägt sie normative
Werteüberzeugungen des „relationalen Selbst“, nach denen man die Verantwortung für das
Wohlergehen jener Personen trägt, die einem nah stehen (meistens Familienmitglieder). Im
Krisenfall (wie z.B. Pflegefall eines Familienmitglieds) müsste dessen Bedürfnissen Priorität
eingeräumt werden und nicht wie bei einem „individuellen Selbst“ den eigenen Interessen, z.B.
Verfolgung eigener Selbstverwirklichungsziele396 oder nur dem Interesse der eigenen
Kernfamilie.
Intergenerationale Unterstützungsbeziehungen bzw. Angehörigenpflege stehen in
unmittelbarem Bezug zum Grad der Individualisierung einer Gesellschaft. In einer
individualisierten Gesellschaft, in der bisherige Normen keine selbstverständliche
Orientierungsfunktion mehr haben, stellen kulturell anerkannte verwandtschaftliche Normen
keinen Konsens mehr dar. Sie müssen nicht von allen Mitgliedern einer Gesellschaft und nicht
vollständig verinnerlicht bzw. in ein konformes Verhalten umgesetzt werden. Vielmehr
entstehen Regeln für die Hilfebereitschaft in der Familie innerhalb eines bestimmten
Spielraums. Sie sind offen für Diskussion und Interpretation. Ihre Erfüllung wird nach Bedarf
eingefordert, situations- und personenabhängig bzw. nach geltenden Familienprinzipien
ausgelegt und eingelöst397. In eher traditionellen Gesellschaften dagegen wäre es weniger
selbstverständlich, dass Normen verhandelbar oder individuell interpretierbar sind.
Erwartungsgemäß werden traditionelle filiale Verpflichtungen gegenüber Eltern als Teil des
allgemeinen Wertewandels qualitative und quantitative Veränderungen erfahren. Ihr normativ
gefärbter (obligatorischer) Charakter dürfte sich lockern. Der Freiwilligkeitsaspekt der
Elternpflege wird an Bedeutung gewinnen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die herkömmlichen
Normen komplett verschwinden. Doch die Variationsbreite der Einstellungen bezüglich
395 Vgl. mit der Diskussion der Belastungs-Stärkungs-Hypothesen des Familienzusammenhalts in der
ehemaligen DDR bei Schupp/Szydlik 1997. 396 In Anlehnung an das Konzept des „relationalen Kollektivismus“ von Brewer/Chen 2007. 397 Vgl. Diskussion bei Dallinger 1997: 88ff.
165
traditioneller intergenerationaler Pflegeerwartungen in der Gesellschaft wird zunehmen. Sie
wird, Hand in Hand mit den in den sozialen Strukturen verankerten Chancen und Restriktionen,
in die Entscheidungen über die präferierten Versorgungsarrangements eingehen. Die Vielfalt
der Entscheidungsmöglichkeiten im Hinblick auf konkrete Pflegearrangements dürfte sich
deutlich steigern, je geringer die normative Starrheit bzgl. eines für alle Gesellschaftsmitglieder
verbindlichen „traditionellen“ Elternpflegearrangements ist, das von erwachsenen Kindern
verlangt, das eigene Leben den Bedürfnissen pflegebedürftiger Eltern um jeden Preis
unterzuordnen. Ebenso wird die gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen in Familie,
Wirtschaft und Politik eine wichtige Rolle für die Zuständigkeiten in der intergenerationalen
Pflege spielen.
Belege für länderspezifisch unterschiedliche Auswirkungen der Individualisierungsprozesse
auf die normativen Grundlagen der Elternpflege lassen sich sowohl durch die Analysen unserer
primären Daten als auch repräsentativer sekundärer Datenquellen bzw. weiterer
Forschungserkenntnisse finden. Der Samara-Freiburg-Vergleich liefert den Anhaltspunkt für
kulturspezifisch unterschiedliche „Stufen der Moralvorstellungen“398 am Beispiel
Pflegeentscheidungen: für die 40-65-jährigen russischen Befragten scheinen die
grundlegenderen („konventionellen“) Moralvorstellungen viel typischer zu sein als für die
deutschen Middle-Agers. Bei den letzteren überwiegen sowohl fortgeschrittene
(„postkonventionelle“) als auch auf das Individuum bezogene Moralkonzepte, oder solche, die
den Interessen der eigenen Familie Vorrang vor jenen der älteren Familienangehörigen geben
(siehe Abb. 11). Andererseits spiegeln sie sich in unterschiedlichen Sinnzusammenhängen der
Pflegeentscheidungen: Vorrang der „(Opportunitäts)Kosten“ bzw. gemischte Erwägungen im
deutschen Kulturkreis vs. Dominanz von Moral-Erwägungen im russischen Kulturkreis. Solch
normativ unterschiedlich gelagerte pflegekulturelle Orientierungen gehen Hand in Hand mit
einer deutlich höheren Bereitschaft zum Selberpflegen in Samara im Unterschied zu Freiburg.
Sie sind einer der möglichen Erklärungsfaktoren der unterschiedlichen gesellschaftlichen
Pflegepraktiken in den beiden Ländern. Dies bestätigt auch eine andere russisch-deutsche
Studie aus der vergleichenden Kulturforschung. Sie hält höhere Normativität (Familienwerte
und normorientierte Motivation) ausschlaggebender für höhere Unterstützung sowie
Unterstützungsbereitschaft in Russland im Unterschied zu Deutschland als unterschiedliche
Pflegesysteme399. Eine wichtige Rolle der kulturellen Sozialisation bezeugt eine weitere Studie
398 Vgl. Kohlberg 1984. 399 Klug 2008.
166
über die Familiensorge bei Russlanddeutschen. Die Spätaussiedler zeigten noch 10 Jahre nach
ihrer Umsiedlung nach Deutschland eine ablehnende Haltung gegenüber staatlichen
Pflegeangeboten und wählten Selberpflegen400.
Auch mit den Daten verschiedener internationaler Studien (European Value Survey,
Eurobarometer, Generations and Gender Survey) lassen sich bedeutende Länderunterschiede in
subjektiv empfundener Verantwortlichkeit der Kinder für ihre Eltern (auf Englisch „filial
responsibilities“) aufspüren. So zeigen zum Beispiel die Daten der ersten Welle des Generations
and Gender Surveys (2004), dass deutliche Unterschiede in den filialen Verpflichtungen
zwischen Deutschland und Russland bestehen. Diese sollen kurz skizziert werden.
Ein Set von fünf Aussagen401, die Wertehaltungen bzgl. der Verantwortung der Kinder
(gegenüber ihren Eltern) zum Ausdruck bringen, wurde zu einer Skala zusammengefasst. Deren
Werte wurden für die länderkulturellen Vergleiche gruppiert402. Dies ergab, dass die normative
Verpflichtung der Kinder für ihre Eltern in Russland deutlich stärker ausgeprägt ist (54 %) als
in Deutschland (17 %). Demensprechend wird die normativ unverbindliche Verpflichtung
gegenüber Eltern in Russland deutlich seltener (6 %) vertreten als in Deutschland (38 %), siehe
Abb. 21.
400 Schnepp 2002. 401 a. Children should take responsibility for caring for their parents when parents are in need;
b. Children should adjust their working lives to the needs of their parents;
c. When parents are in need, daughters should take more caring responsibility than sons;
d. Children ought to provide financial help for their parents when their parents are having financial
difficulties;
e. Children should have their parents to live with them when parents can no longer look after themselves. 402 Ursprünglich wurden alle fünf Statements auf einer bipolaren 5er- Skala von 1 „stimme voll und ganz zu“
bis 5 „lehne völlig ab“ gemessen. In der zusammengefassten Skalenvariablen „Grad des filialen
Verpflichtungsgefühls“ wurde gezählt, wie häufig die befragte Person die vorgestellten Aussagen mit
„stimme voll und ganz“ oder „stimme eher zu“ beantwortet hat. Je häufiger die Zustimmung gegeben wurde,
desto stärker vertritt die Person traditionelle Normen intergenerationaler Unterstützung. Die Anzahl
zustimmender Antworten wurde zu drei Kategorien zusammengefasst (0,1=‘schwache‘,
2,3=‘durchschnittliche‘, 4,5=‘starke‘).
167
Abb. 21: Filiales Verantwortungsgefühl bei 40-65 Jährigen
Bei der Interpretation der Ergebnisse sind neben den Verteilungskennzahlen auch die
Streuungen der Antwortverteilungen in den jeweiligen Ländern zu beachten. Je geringer die
Streuung ist, desto eher werden die Aussagen „zu den filialen Verpflichtungen“ von den
Befragten als gesellschaftliche Norm aufgefasst und wiedergegeben. Je mehr die Antworten
streuen, desto eher dürfte es um die Mitteilung persönlicher Einstellungen gehen, die differieren
können403.
Der Unterschied zwischen den beiden Aussagen besteht darin, dass Normen ein
Gruppenphänomen darstellen, das gesellschaftlichen Konsens beinhaltet und soziale Kontrolle
erfordert. Einstellungen beziehen sich dagegen auf bestimmte individuelle wertende
Orientierungen bzw. Prädispositionen, in einer bestimmten Art und Weise zu denken, affektiv
zu reagieren und/oder sich hinsichtlich einer bestimmten Sache zu verhalten, z.B. bezüglich der
Pflegebedürftigkeit der Eltern.
Beide statistischen Kennwerte (ein niedrigerer Mittelwert und eine höhere
Standardabweichung) in der deutschen im Vergleich zur russischen Stichprobe (DE: M=2,04
403 Siehe Herlofson et al. 2011: 23f..
168
SD=1,41 vs. RU: M=3,51 SD=1,21, t=54,96***, Eta-Quadrat = 0,239404) und die
unterschiedlichen Antwortverteilungen scheinen die oben skizzierte Annahme zu stützen: 40-
65 jährige Deutsche setzen durchaus - im Gegensatz zu gleichaltrigen Russen - die Frage nach
der intergenerationalen Verantwortlichkeit zur eigenen sozialen Identität und persönlichen
Präferenzen in Bezug. In Russland scheint dagegen mehrheitlich die gesellschaftliche Norm
wiedergegeben zu sein.
Diese Befunde lassen sich im Kontext der Individualisierungsthese folgendermaßen deuten: In
stärker individualisierten westlichen Gesellschaften mit größerer Autonomie, abgeschwächten
traditionellen Orientierungsmustern sowie elaborierten öffentlichen Sicherheitsnetzen gegen
soziale Risiken (inkl. der Altenpflege), gut ausgebauter Infrastruktur sowie größerer Auswahl
der Anbieter formeller sozialer Dienstleistungen gilt zunehmend die normativ weniger
festgelegte Art405 der intergenerationalen Beziehungen. In Deutschland sind die
Individualisierungsprozesse weiter vorangeschritten, deshalb wurden vermutlich eher
persönliche Werthaltungen von Familiennormen gemessen, weil die größere Variation für die
Pluralisierung von Familiennormen spricht. In weniger individualisierten Gesellschaften wie
Russland dürften dagegen die Befragten auf die Statements eher mit Bezug auf gemeinsame
soziale Normen reagiert haben. Der höhere Konsens hinsichtlich der Pflichten erwachsener
Kinder gegenüber ihren gebrechlichen Eltern innerhalb der russischen Gesellschaft ist
ersichtlich sowohl in den höheren Skalenmittelwerten als auch der geringeren Variation im
Antwortverhalten.
Diese Argumentation steht im Einklang mit den Befunden aus internationaler Forschungen.
Britische Forscher fanden keinen Konsens in der Bevölkerung über die einzuhaltenden Regeln
bezüglich des Unterstützungsverhaltens in der Familie406. Dabei kann nicht nur vom
unterschiedlichen Umgang der erwachsenen Kindern mit den an sie gerichteten Erwartungen407
ausgegangen werden, sondern der Umfang der Verpflichtungen kann das Ergebnis von
Aushandlungen innerhalb der Familie sein408. Nach dem Modell von Finch und Mason (1993)
begründen sich familiäre Verpflichtungen nicht hauptsächlich aus allgemeingültigen Normen,
404 Eta-Quadrat (η2) ist ein Maß für die Effektgröße: Es setzt die Variation, die durch einen Faktor erklärt wird,
in Bezug zu jener Variation, die durch Modell nicht erklärt wird. Für das Land beträgt das Eta-Quadrat 0,239.
Das heißt, das Land erklärt 24 % derjenigen Fehlervariation, die das Modell hätte, wäre nicht für das Land im Modell kontrolliert. η2 von 0,239 entspricht einem eher kleinen Effekt.
405 Vgl. mit dem Konzept „gebrochener normativer Handeln“ von Schütze und Wagner 1991, zit. n. Dallinger
1997: 91. 406 Finch/Mason 1991. 407 Dallinger 1997. 408 Finch/Mason 1993.
169
sie entstehen vielmehr aus Interaktionen zwischen den beteiligten Personen. Die konkreten
Unterstützungsleistungen werden dann in expliziten oder impliziten Aushandlungsprozessen
fall- und situationsspezifisch ausgehandelt.
Was nicht übersehen werden darf, ist die Tatsache, dass die unterschiedlichen Auslegungen der
gesellschaftlichen Normen mit persönlichen sozioökonomischen und soziokulturellen
Ressourcen variieren dürften. Ebenso stellen gesamtgesellschaftliche Strukturen und die darin
verankerten Chancen und Restriktionen Rahmenbedingungen für die erwähnten Auslegungs-
und Handlungsmöglichkeiten bzgl. der Pflegenormen und –arrangements entsprechend des
eigenen Lebensentwurfs dar.
Es wird argumentiert, dass starker familialer Zusammenhalt kein (rein) kulturelles Phänomen
ist, sondern das Produkt der sozioökonomischen Lebensbedingungen. In der postsozialistischen
„Überlebensgesellschaft“ Russlands, mit der Mehrheit von unterpriviliergierten
Lebensverhältnissen, ist der Familienzusammenhalt für das Wohlergehen jedes einzelnen
Mitglieds notwendig. Daraus resultiert eine gegensätzliche Verpflichtung. In einem
„rudimentär-staatspaternalistischen“ Wohlfahrtsstaat409, der kaum (wirksame) Entlastung für
die pflegenden Familien bietet, gibt es für die Mehrheit der Bevölkerung keinen Freiraum für
eine alternative Auslegung der verbindlichen filialen Unterstützungsnormen und folglich keine
Alternativen zur Familienpflege. Auf diese Weise lässt sich erklären, warum für die russische
Bevölkerung (deutlich mehr als für die deutsche Bevölkerung) die Fürsorge und Pflege der
eigenen Eltern eine unbestreitbare Familiennorm bleibt. Unter den geschilderten strukturellen
und kulturellen Rahmenbedingungen Russlands müssen auch Personen mit vergleichsweise
guten strukturellen Ressourcen und individualisierten Lebensentwürfen in der Regel selber
pflegen.
Obwohl in unserer Samara Studie der Einfluss des selbstbestimmten Lebensentwurfs auf die
Pflegebereitschaft nicht bestätigt werden konnte, ist der durch die Individualisierungsprozesse
in Gang gesetzte Wandel in den normativen Dimensionen der Generationenbeziehungen in der
repräsentativen Studie auch für Russland bereits messbar (siehe Abb. 21). Stärkere Orientierung
an einem selbstbestimmten Lebensentwurf schwächt die normative Verbindlichkeit der filialen
Unterstützung in Deutschland sehr deutlich, deutlich schwächer, jedoch in dieselbe Richtung,
auch in Russland! In Deutschland wuchs der Anteil der Personen mit einem schwach
ausgeprägten Verpflichtungsgefühl von 26 % bei traditioneller Lebensführung auf 43 % bei
409 Kollmorgen 2009.
170
einer hohen Bedeutung des selbstbestimmten Lebensentwurfs. In Russland zeigt sich
diesbezüglich nur eine schwache Tendenz410.
Die Prägung der Gesellschaft durch traditionelle Pflegewerte411 und Solidaritätsnormen, in
denen der gegenseitigen Unterstützung von Ehegatten und zwischen Eltern und Kindern die
erste Priorität eingeräumt wird, hat direkte Auswirkungen sowohl auf politische
Entscheidungen als auch auf die unmittelbaren Praktiken in der Bewältigung der
Pflegeaufgaben. In Russland sehr ausgeprägt, in Deutschland moderater, orientieren sich die
Erwartungen und das Verhalten der älteren Menschen und ihrer Familien an traditionellen
normativen Leitbildern der Familienpflege als angemessenen Umgang mit der Pflege.
Nachfolgend wird erläutert, wie sich die bisherige Priorität der Familienpflege in den beiden
Ländern dank der bestehenden traditionellen Geschlechterarrangements in den Familien und
der Gesellschaft aufrechterhalten lässt.
3.2.3 Genderordnung in der Pflege und in der Gesellschaft
In zahlreichen internationalen Studien, die die Situationen pflegender Familienmitglieder
untersucht haben412, wurde bewiesen, dass Frauen in Deutschland wie auch in Russland die
Hauptlast der Angehörigenpflege tragen.
Frauen pflegen häufiger, intensiver und umfassender und, trotz Unterstützung, bewältigen sie
den Großteil der Pflegearbeit selbst. Pflegende (Ehe)Frauen und (Schwieger-)Töchter
verrichten häufiger körperliche Pflege und Haushaltstätigkeiten. Sie spenden eher emotionalen
Beistand als pflegende Männer. Sie sind praktisch „Pflegemanagerinnen“. Männliche
Pflegepersonen sind selten. Wenn Männer Pflege übernehmen, dann nutzen sie häufig
professionelle Dienste und greifen auf ein informelles Netzwerk zu413. Sie leisten eher
finanzielle Transfers an die Familienangehörigen414. Außerdem engagieren sie sich in Bring-
/Abholdiensten. Die mühsame und zeitaufwendige Rundumsorgung überlassen sie den Frauen.
410 DE: Pearsons R = - 0,21***; RU: Pearsons R = -0,14***. 411 Vgl. dazu z.B. Diskussion über die „gute Pflege“ in Deutschland von Eichler/Pfau-Effinger (2009: 623ff.)
und Verständnis der „Pflege als Teil existentiellen familialen Sorge“ bei den Russlanddeutschen (Schnepp
2002) oder als Selbstständigkeit der Pflege und Überzeugung, selbst besser versorgen zu können (Antonjan
2016). 412 Z. B. EUROFAMCARE; OIA-HSBC Insurance Studie „Future of Retirement”, etc.
413 Lüdecke/Mnich 2009..
414. Harper/Leeson (2007) - OIA-HSBC Insurance (Hg.).
171
Die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Pflegearrangements bezüglich Qualität, Intensität,
Arbeitsteilung und Organisationsform der Pflege wirken sich nicht nur auf das persönliche
Empfinden der Belastung, sondern auch auf die Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und
Pflege aus. Pflegende Frauen geben wesentlich häufiger an, ihre Erwerbstätigkeit zugunsten
der Pflege aufgegeben zu haben415. Eine Besonderheit des Pflegeverhältnisses in Russland
besteht allerdings darin, dass angesichts einer häufigeren Co-Residenz mit dem
pflegebedürftigen Elternteil, bei Vollzeitbeschäftigung von Frauen, alle Familienmitglieder in
der Pflege mitwirken müssen416.
Frauen haben schon immer einen erheblichen gesellschaftlichen Beitrag geleistet, sei es in der
Familie, Wirtschaft und insbesondere in der Pflege. Ein Höchstmaß an wirtschaftlicher
Teilhabe (gemessen an Verdienstchancen) in Form gesellschaftspolitischer Repräsentation in
den wichtig(st)en politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsgremien der Gesellschaft
konnte bislang weder in Deutschland noch in Russland erreicht werden, in Russland noch
wesentlich weniger als in Deutschland. Was die partnerschaftliche Aufteilung familialer
Reproduktionsarbeit betrifft, konnte dies bislang zwischen den beiden Geschlechtern in keiner
der beiden Gesellschaften zufriedenstellend gelöst werden, in Russland noch wesentlich
weniger als in Deutschland.
Mit dem Global Gender Gap Index 2016 des Weltwirtschaftsforums417 lässt sich die
Geschlechterkluft (auf Englisch: Gender Gap) im Ländervergleich in den Bereichen Wirtschaft,
Bildung, Politik und Gesundheit messen. Insbesondere zwei Teilindizes sind hier einschlägig.
Sie zeigen in wie weit die 144 untersuchten Länder eine tatsächliche Geschlechterkluft
bezüglich politischer und ökonomischer Partizipation und Machtgleichstellung von Frauen im
Vergleich zu Männern geschlossen haben. Dabei reichen die Indexwerte von 1,000 (höchste)
bis 0,000 (keine) Geschlechtergleichheit.
415 Lüdecke/Mnich 2009; vgl. auch Dallinger 1997. 416 Vgl. Tkach 2015. 417 World Economic Forum (Hg.) (2016) - The Global Gender Gap Report 2016.
172
Abb. 22: Geschlechterkluft in Deutschland und Russland, 2016
Quelle: Eigene Zusammenstellung nach dem Global Gender Gap Report 2016, Bildnachweis S. 180, 302.
In der wirtschaftlichen Partizipation418 rangiert Russland mit 0,722 Punkten auf dem 41. Platz,
Deutschland dagegen mit einem Wert von 0,691 Punkte nur auf Platz 57. Allerdings stehen den
überwiegend vollzeitbeschäftigten russischen Frauen weder öffentliche Entlastungs- noch
Pflegeergänzungsangebote zur Verfügung. Die bestehenden traditionellen Pflegearrangements
werden in der russischen Gesellschaft (noch) nicht grundsätzlich in Frage gestellt oder
thematisiert, vielleicht weil politische Interessen von russischen Frauen bislang kaum artikuliert
werden. Die politische Repräsentanz419 russischer Frauen ist mit 0,066 Punkten (129. Platz) im
Vergleich in Deutschland mit 0,428 Punkten (10. Platz) kaum wahrnehmbar.
418 So misst der Subindex „Wirtschaftliche Partizipation und Chancen(gleichheit)“ drei Gaps in der
Erwerbsbeteiligung, Vergütung und Karrierechancen von Frauen (als Gesetzgeberinnen, höhere Beamtinnen
und Managerinnen, Fachspezialistinnen und in technischen Berufen). 419 Der Subindex „politische empowerment“ misst die Lücke zwischen Männern und Frauen auf der höchsten
Ebene der politischen Entscheidungsfindung mittels folgender Indikatoren: das Verhältnis von Frauen zu
Männern in Minister-Positionen und parlamentarischen Positionen, Verhältnis von Frauen zu Männern in
Bezug auf die Jahre in Führungspositionen (als Premierministerin oder Präsidentin/Kanzlerin) für die letzten
173
Russland wird nur noch von 15 Ländern wie Syrien, Thailand, Ungarn und diversen arabische
und afrikanischen Ländern bezüglich der politischen Ohnmachtsstellung von Frauen
untertoppt. Als ein Schlussstrich unter der sowjetischen Planwirtschaft und damit dem
Vollbeschäftigungsanspruch von Frauen und Männern gezogen und 1990 zu
marktwirtschaftlichen Verhältnissen übergegangen wurde, entstand daraus eine paradoxale
Mixtur aus dem Erbe der sowjetischen Geschlechterordnung, der neuen Diskriminierung von
Frauen auf dem Arbeitsmarkt420 und neu eröffneten Möglichkeiten selbstständigerer
Lebensführung und mehr Selbstverwirklichung in der Arbeit für russische Frauen.
Als Reaktion auf die immer wiederkehrenden wirtschaftlichen Krisen in Russland breiteten sich
- quer durch alle Bevölkerungsschichten - zunehmend Xenophobie421, anti-westliche
Stimmungen422 sowie Tendenzen zur Retraditionalisierung des Frauenbildes aus423. Diese
Welle eines klassischen Postimperialismus-Syndroms wird von der Zentralmacht bewusst
geschürt424. Auch Frauen in Deutschland sind trotz eines hohen Rankingplatzes noch weit
entfernt von einer gleichwertigen wirtschaftlichen Beteiligung und politischen Mitwirkung.
Solange die Kluft in den wirtschaftlichen Einkommensverhältnissen zwischen Mann und Frau
besteht, wird sich vermutlich nur wenig an den geschlechtsspezifischen Erwartungen bezüglich
der Pflege ändern.
Fazit
Die Befunde der durchgeführten Sekundäranalysen stimmen mit den Einschätzungen früherer
Forschungen überein: Trotz der durch die Transformation in Gang gesetzten Tendenzen zum
Individualismus und Egalitarismus (steigende Popularität des Models einer egalitären Familie),
bleibt Russland in seinem Wesen weiterhin eine eher traditionelle und familienorientierte
Gesellschaft425. Die komplexe Verflechtung der widersprüchlichen Elemente „Rückständigkeit
und Entwicklung, Traditionalismus und Modernisierung, Dynamik und Stagnation“ schafft eine
„ambivalente soziokulturelle Umgebung“426. Die Dominanz der Orientierungen an den
50 Jahre. Daten über die Beteiligung von Frauen und Männern auf lokaler Regierungsebene sind mangels
vergleichbarer Daten nicht inbegriffen. 420 Vgl. Godel 2002: 225. 421 Glathe 2015. 422 Zubarevich 2014. 423 Godel 2002: 221. 424 Scherrer 2014. 425 Gavrov 2009; Karzeva 2003. 426 Gavrov 2009: 98 (Übersetzung der Autorin).
174
traditionellen Lebensweisen und Normvorstellungen muss als Russlands Syndrom
wirtschaftlicher Rückständigkeit sowie struktureller Hindernissen für die Verbreitung von
selbstbestimmten Lebensführungen interpretiert werden.
3.3 Versorgungsstrukturelle Rahmenbedingungen der Altenpflege
In diesem Kapitel soll aufgezeigt werden, welche sozialstaatlichen Regelungen es für den
Pflegefall (aufgrund von Alter, Krankheit und Behinderung) gibt und welche öffentlichen
Pflegeinfrastrukturen in beiden Ländern existieren. Deren Reichweite und Qualität bei der
Deckung des Pflegebedarfs soll bewertet werden. In meiner Dissertation fokussiere ich mich
hauptsächlich auf das öffentliche Unterstützungssystem für Pflegebedürftige in Russland, da
dieses im deutschsprachigen Raum bislang wenig Rezeption fand. Das deutsche Pflegesystem
wurde bereits häufiger mit anderen Pflegesystemen verglichen427 und ausführlich erforscht.
Deshalb gebe ich diesbezüglich nur einen kurzen Überblick und vertiefe es, wenn es zum
Pflegesystem Russlands kontrastieren soll. Die Unterschiede zwischen dem russischen und dem
deutschen Pflegesystem wurden bislang auch in Russland wenig thematisiert. Systematische
komparative Analysen der Pflegesysteme zwischen den beiden Ländern gibt es bislang
überhaupt nicht. Der Untersuchungszeitraum konzentriert sich vor allem auf die Jahre 2011 –
2016. Um das aktuelle russische Pflegesystem besser zu verstehen, wird die soziale
Absicherung fürs Alter vor 1995 kurz skizziert. Zuvor jedoch ein kurzer Abriss des
Forschungsdiskurses zum russischen Pflegesystem.
Russisches Pflegesystem – Forschungsstand (Referenz im internationalen bzw.
deutschsprachigen Raum)
Das russische Pflegesystem im internationalen beziehungsweise deutschsprachigen Raum ist
wenig bekannt. Erwähnungswert sind die Beiträge von Katchalova (1999), Krasnova/ Fred
(2001), Erdmann-Kutnevic (2006), Grigorieva (2005a,b, 2006), Krasnova (2010) und
Ovcharova (2010). Einen guten Überblick über die sozialen Sicherungssysteme in Russland
während und nach dem Systemumbruch verschaffen Beiträge von Kempe (1997), Field/ Twigg
(2000) und Schwethelm (2005). Hier eine kurze Zusammenfassung:
427 Z.B. Lowenstein/Ogg 2003; Blome et al. 2008; Haberkern 2009, etc.
175
Krasnova/ Fred beschreiben vor allem die schwierigen Lebensbedingungen von Russlands
älterer Bevölkerung in Zeiten des Systemumbruchs 1990. Das Älterwerden ist begleitet von
materieller Armut und dem abrupten psychosozialen Wertverlust von „Alter und Altern“ und
„zwischenmenschlicher Solidarität und Moral“. Katchalova schildert die Anfänge der sozialen
ambulanten Dienste seit Mitte der 1980er Jahre. Erdmann-Kutnevic beleuchtet u.a. die
Entwicklung des russischen Sozialsystems seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem
Schwerpunkt auf die Versorgungssituation von ehemaligen Zwangsarbeitern und anderen
Opfern des Nationalsozialismus im Dritten Reich. Grigorieva (2005a) diskutiert die
Möglichkeiten der Reformierung der sozialen Sicherungssysteme in Russland nach dem
Vorbild Deutschlands. Ihrer Meinung nach ist Russland noch nicht bereit für die „geteilte
soziale Verantwortung“ bzw. soziale Partnerschaft, da die Reformen der wichtigsten Pfeiler –
Sozialversicherung und Rentensystem – unbefriedigend blieben. Krasnova zeigt Wissenslücken
und Forschungsmangel in der russischen Altenforschung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts
auf und weist auf die verkürzte Darstellung der späten Lebensphase aus der bislang
dominierenden medizinisch-biologischen Gerontologie hin. Nach Ovcharovas Einschätzung
leiden russische Rentner*innen nicht voranging unter Armutsproblemen, sondern unter
gravierenden Lücken in der Altenpflege und im Gesundheitssystem. Zu erwähnen ist noch das
Sammelwerk russisch-amerikanischer Beiträge von Field/Twigg (2000), das u.a. die Folgen des
kollabierten sozialistischen Wohlfahrtssystems für die Gesundheit, Behinderungen und das
Älterwerden beschreibt. Mit der Sozialpolitik Russlands während der Transformationszeit
beschäftigte sich auch Kempe (1997). Sie stellt vor allem die Machtkämpfe zwischen der
Zentralmacht und den Regionen um die Finanzierung des russischen Sozialsystems und
regional unterschiedliche sozialpolitische Lösungen dar. Schwethelm (2005) analysiert zentrale
Probleme der Entwicklung des Sozialsystems Russlands.
Etablierte Wohlfahrtssystem-Typologien konzentrierten sich ursprünglich nur auf
Westeuropa428, bezogen später standardmäßig Südeuropa429 mit ein und ignorierten dabei
Osteuropa. Inzwischen gibt es einige Versuche, postsozialistische Wohlfahrtsregime (darunter
das von Russland) entlang des Analysegerüstes des „Drei Welten“-Ansatzes von Esping-
Andersen (1990) zu charakterisieren und zu typologisieren430.
428 Esping-Andersen unterschied „The Three Worlds of Welfare Capitalism” (1990) zwischen liberal-
angelsächsisch, konservativ-kontinentaleuropäisch und sozialdemokratisch-skandinavisch
Wohlfahrtsmodellen. 429 Siehe z.B. Ferrera (1996) zu dem mediterranen Wohlfahrtstyp. 430 Zur Übersicht dieser Klassifikationen siehe Kollmorgen 2009.
176
Seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Regimes 1990 sei ein klarer Regimetyp nicht
erkennbar. Russland versuche, sozialistische Elemente zu erhalten und kombiniere sie mit
korporativen und liberalen Modellen431. In einem substantiellen
„Rekonzeptualisierungsversuch“ kommt Kollmorgen (2009) zur Erkenntnis, dass es zwischen
den ost- und mitteleuropäischen Wohlfahrtssystemen entscheidende Unterschiede gäbe. Er
bezeichnet Russland als „rudimentären staatspaternalistischen“ Subtyp des postsozialistischen
Wohlfahrtstypus. Um diesen Typ zu klassifizieren, berücksichtigte er transitorische Prozesse
politökonomischer Entwicklungen, Leitideen der Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft
und untersuchte deren Wirkung auf die Sozialstruktur- und Ungleichheitseffekte, die politische
und gesellschaftliche Machtverteilung und historisch gewachsene und vererbte Institutionen
(Pfadabhängigkeiten).
Das russische Sozialsicherungssystem zu analysieren, ist nicht leicht. Denn in Russland besteht
traditionsgemäß noch immer eine tiefe Kluft zwischen dem ideologischen Anspruch des
Staates, Versprechungen der Zentralregierung und der bitteren Wirklichkeit432. Im Zuge der
übereilten Dezentralisierung (2004) wurde die Verantwortung für die Finanzierung von
Sozialdienstleistungen auf die 78 Föderationssubjekte übertragen433. Dabei wurden die
Kompetenzen zwischen Zentrum und Regionen nicht eindeutig definiert. Die Sicherstellung
und Kontrolle der Qualität der angebotenen Dienstleistungen wurde nicht gewährleistet. Die
Sozialprogramme der Regionen wurden zwar zunächst aus dem Pensionsfond der Russischen
Föderation subventioniert. Mit der Wirtschaftskrise 2008 wurden die Subventionen für die
regionalen Sozialprogramme der Föderationssubjekte innerhalb eines Jahres von ca. 1,2
Milliarden RUB (2009) auf 564 Millionen RUB (2010) halbiert434. Inzwischen zwingt die
Zentralregierung die Regionen, ihre Sozialprogramme immer mehr selbst zu finanzieren, auch
den Bereich der sozialen Dienstleistungen für pflegebedürftige Menschen. Dies hatte negativen
Einfluss auf die Qualität und den Umfang der garantierten sozialen Dienstleistungen.
Die Regionen sind im Unterschied zur Zentralregierung mit realen gesellschaftlichen
Problemlagen konfrontiert435. Regional hängt die Umsetzung der Gesetze und
Reformprogramme im Bereich der Sozialpolitik vom ökonomischen Wohlstand, dem Willen
431 Ferge 2001. 432 Vgl. Slay 2009; Kempe 1997. 433 Kempe 1997. 434 Kaznačejstvo Rosii (Hg.): [Kassenvollzug des konsolidierten Haushaltes der RF und der Haushalte staatlicher
außerbudgetierter Fonds in den entsprechenden Jahren. Ausgaben des Föderalen Schatzamtes]. 435 Kempe 1997: 183.
177
und Legitimationsdruck der administrativen Regionaleliten, der Verfügbarkeit von
Fachpersonal und den Ausbildungseinrichtungen ab. Das gesamtföderale
Sozialsicherungssystem im Bereich der Pflege und die Situation der Pflegebedürftigen lassen
sich anhand gesetzlicher Grundlagen und amtlicher Statistiken nur grob beschreiben. Daher
wird die Versorgungssituation der Pflegebedürftigen in dieser Studie auf der regionalen Ebene
eines Föderationssubjekts, nämlich die Oblast Samara, vertieft.
Historischer Überblick zum Sozialsicherungssystem in der Sowjetunion und zu den Anfängen
des heutigen (ambulanten) Systems der sozialen Versorgung der Älteren im postsowjetischen
Russland
Zunächst soll ein Überblick über das sowjetische Sozialsicherungssystem bis zu seinem
Zusammenbruch Anfang 1990er kurz skizziert werden. Die Russländische Föderation als ex-
sozialistisches Land sowjetischer Prägung lässt auch heute noch Spuren der 70-jährigen
kommunistischen Herrschaft erkennen. Sie sind sichtbar in den institutionellen
Charakteristiken und in der Sozialpolitik und erklären die Besonderheiten der heutigen
öffentlichen Alten- und Langzeitpflege. Die Sozialsicherung im Sowjetsystem beruhte auf drei
Pfeilern: Rentensystem, allgemeine Gesundheitsversorgung und Transferleistungen für
Familien plus betrieblicher sozialer Leistungen für die Beschäftigten und ihre Familien. Die
wichtigste Form der sozialen Absicherung während der Sowjetzeit waren die Renten auf Grund
von Alter, Arbeitsjahren oder Behinderung. Zusätzlich gab es Transferleistungen
(Vergünstigungen bzw. Zuzahlungen zu Wohnungs- und Wohnnebenkosten, öffentlichem
Verkehr, Telefon, Medikamenten und medizinischen Dienstleistungen). Außerdem existierten
Regionalbeihilfen und finanzielle Sozialhilfeleistungen (auf Russisch: sozial´naja
podderezhka). Das alte System des sozialen Schutzes im Pflegefall basierte in der Sowjetunion
voll auf der legalen Verantwortung der Familie. Daher bot es nur spärlich Plätze für
alleinstehende gebrechliche, pflegebedürftige ältere und behinderte Menschen in Alten- oder
Pflegeheimen an.
Dagegen gewährte der sowjetische Sozialstaat eine kostenlose medizinische Grundversorgung
und soziale Versorgung (auf Russisch: sozial´noje obsluzhivanie) in Form von subventionierter
Reha bzw. Kurbehandlung, kostenlosem Krankenhausaufenthalt etc. Dennoch waren ältere
Menschen von der Unterstützung und der materiellen Hilfe ihrer Angehörigen abhängig, da die
Renten extrem niedrig waren. Trotz aller Mängel wie personeller Einschränkungen, zensierter
178
Medien und Mangelwirtschaft stellte das sozialistische System durchaus lebensnotwendige
soziale Leistungen zur Verfügung und bot Schutz für die Bevölkerung gegen Armut und
Krankheit. Der Zusammenbruch der Sowjetunion stürzte den Sozialstaat und insbesondere das
Gesundheitssystem in seine tiefste Krise, die bis heute tiefe Spuren in der Gesellschaft
hinterlassen haben436.
Unter den Bedingungen der politischen und sozial-wirtschaftlichen Instabilität, kontinuierlicher
Inflation mit enormen Preissteigerungen und leeren Staatskassen konnten Ende der 1980er
Jahre benachteiligte und prekäre Bevölkerungsschichten kaum noch überleben (siehe Anhang
2 mit drastisch abgesunkenen Lebenserwartungskurven Anfang der 90er Jahren). Dank Michail
Gorbatschows Politik von „Glasnost‘“, das auf eine größere Transparenz und Offenheit der
Staatsführung gegenüber der Bevölkerung setzte, kam das Ausmaß der verheerenden Situation
der älteren, kranken, hilfebedürftigen und behinderten Menschen zum ersten Mal öffentlich ans
Tageslicht. Während die Anzahl der stationären Einrichtungen seit den sowjetischen Zeiten nur
geringfügig angestiegen waren, wuchs gleichzeitig die Nachfrage nach Altenpflege
kontinuierlich und überstieg bei weitem das Angebot an neuen Einrichtungen. Dringend
mussten die sozialen Verpflichtungen des Staates und die Mechanismen sozialer Protektion
überdacht werden. Um das fehlende Angebot an stationärer Unterbringung abzumildern, wurde
das System der ambulanten Sozialdienste sukzessiv ausgebaut und ist seitdem zur wichtigsten
Form sozialer Versorgung in Russland geworden437. Dieser ambulante soziale Hilfedienst sollte
vor allem die Lebensqualität von alleinlebenden Senior*innen verbessern, die sich infolge
hohen Alters oder Krankheit nicht mehr selbst versorgen konnten. Waren die Familien nicht in
der Lage, ihre Alten zu pflegen, weil sie nicht vor Ort waren oder war eine Familie nicht
vorhanden, dann sprang der Staat ein. Außerdem sollte durch die neue ambulante Betreuung
die Zahl der wartenden Antragsteller*innen auf einen Heimplatz deutlich gesenkt werden438.
Die 7-mal geringeren Kosten der ambulanten Betreuung im Vergleich zur stationären
Versorgung439 dürfte ein weiterer, wichtiger Beweggrund für deren zunehmenden Ausbau
gewesen sein. Ebenso spielte das humanistische Ziel eine Rolle, ältere oder behinderte Personen
möglichst lang in ihrer vertrauten sozialen Umgebung zu lassen.
436 Field /Twiggs 2000: 8f. 437 Vgl. Katchalova 1999; Krasnova 2010. 438 Katchalova 1999. 439 Dem Staat kostet ambulante Versorgung durchschnittlich 26 Tausend RUB und die stationäre mit 193,5
Tausend RUB pro Leistungsempfänger im Jahr 7,4-mal mehr, siehe Schetnaya palata RF, Pressemitteilung
des Rechnungshofs, 22. 3.2016.
179
Forschungsfragen
Bei der Beschreibung der Besonderheiten des Altenpflegesysteme in Bezug auf gesetzlichen
Grundlagen, Verfügbarkeit, Verbreitung und Zugänglichkeit öffentlicher Dienstleistungen zur
Betreuung und Pflege orientiere ich mich im Wesentlichen am Analyseinstrumentarium von
Blome/ Keck/ Alber (2008).
Wie regelt das Gesetz Versorgungsverpflichtungen gegenüber älteren pflegebedürftigen
Menschen? Von wem soll die Pflege und Unterstützung erbracht und finanziert werden? Wer
gilt in Russland und in Deutschland als dauerhaft „pflegebedürftig“ (recht liche
Begriffsdefinition, Bestimmungsverfahren)? Wer, in welcher Form und in welchem Ausmaß
erhält pflegerische Unterstützung und Betreuungsleistungen in den beiden Ländern
(Anspruchsberechtigung, Inanspruchnahme/ Deckungsraten)? Welcher Anteil an Pflegebedarf
wird von den erwachsenen Kindern abgedeckt? Wie wird das gesetzlich garantierte
Pflegeangebot in der Praxis realisiert (Zugänglichkeit) und wie wird dadurch die familiale
Pflege beeinflusst? Ist das öffentliche Pflegeangebot im Vergleich zum Pflegebedarf
ausreichend? Zu welchen Konditionen werden Pflegeleistungen gewährt (Erschwinglichkeit)
und wie gut ist die Qualität der Pflege? Gibt es eine staatliche Honorierung von
Familienmitglieder für Pflege- und Betreuungsleistungen? Alle diese Faktoren prägen die
Pflegebereitschaft der Familienangehörigen und sind entscheidend für landestypische
Pflegearrangements.
3.3.1 Definition und Bestimmungsverfahren der (Pflege)-Bedürftigkeit
Wer gilt in Russland und in Deutschland als „pflegebedürftig“? Wie wird die
Pflegebedürftigkeit in den beiden Ländern festgestellt, um eine Pflegeleistung beanspruchen zu
können?
Jeder Ländervergleich bzgl. des Umfangs der staatlichen Pflegeleistungen sollte die
institutionelle Definition der Pflegebedürftigkeit und das Verständnis der Pflege
berücksichtigen. Ein grundsätzliches Problem ist, dass das Konzept der „Pflegebedürftigkeit“
in Russland und Deutschland nicht einheitlich definiert ist. Es hängt im Wesentlichen
zusammen mit der sozialrechtlichen Definition im Sinne von Leistungsansprüchen und
Interventionsmöglichkeiten. Es ist als sozialpolitisch vereinbarter Rahmen zwischen dem
Gesundheits- und Sozial(ver)sicherungssystem zu begreifen. Wann die Person als
180
pflegebedürftig gilt, wird definiert auf der Basis eines soziokulturellen Verständnisses: „‘Need
for care‘ is also a social construct, in which the cultural concepts of normality play a role. What
is considered ‘normal abilities’ to deal with everyday problems is subject to social and cultural
ideas and traditions“440.
So kann der Umfang der öffentlichen Pflegeleistungen nur relativ zum geltenden Pflegekonzept
gemessen werden. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass Pflegeleistungen, die eine
Familie tätigt, nur dann von der amtlichen Statistik erfasst werden, wenn sie staatlicherseits
anerkannt und mitfinanziert sind. Sollten die Feststellungsverfahren zur Pflegebedürftigkeit
und letztendlich der Anspruch auf öffentlich gewährte Pflegeleistungen regional und national
nach unterschiedlichen Bewertungsstandards und Kriterien (z.B. Gesundheitszustand,
Familiensituation, ökonomische Lage, etc.) geregelt werden, wird dies ebenfalls Auswirkungen
auf die Zahlen der Pflegebedürftigen in beiden Ländern haben441.
Laut dem deutschen Pflegeversicherungsgesetz (am 01.01.1995 in Kraft getreten in der Fassung
vom 04. April 2017) handelt es sich bei „pflegebedürftigen Menschen“ um Personen, „die
gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten
aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln,
die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte
Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. Die
Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, und mit
mindestens der in § 15 festgelegten Schwere bestehen“ (§14 Abs. 1 SGB XI). Da zum Zeitpunkt
der Studiendurchführung (2011) noch der „alte“ Pflegebedürftigkeitsbegriff und das „alte“
Bestimmungsverfahren zur Pflegeeinstufung galten, orientiert sich der Ländervergleich
grundsätzlich an den vor 2017 geltenden Konzepten. Da sich seitdem in beiden Ländern
gesetzliche Änderungen ergeben haben, sollen die neuen Regelungen ebenso kurz dargestellt
und bewertet werden.
So erkannte das deutsche Pflegeversicherungsgesetz den Leistungsanspruch ab einer
„erheblichen“ Pflegebedürftigkeit an, d.h. die Person musste mindestens in zwei Bereichen der
Aktivitäten des täglichen Lebens für mindestens 45 Minuten am Tag und zusätzlich in der
hauswirtschaftlichen Versorgung Hilfe benötigen (insgesamt mindestens 90 Minuten am Tag,
was der Pflegestufe 1 entsprach). Seit 2005 gab es in Deutschland zahlreiche
440 Blinkert et al. 2013. 441 Vgl. Blome et al. 2008: 175ff.
181
Reformbestrebungen zur Erweiterung des sozialrechtlichen Pflegebedürftigkeitsbegriffes. Zum
1. Januar 2017 trat ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff442 in Kraft. Das bisherige System der
drei Pflegestufen und die Feststellung einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz sind
durch fünf neue Pflegegrade ersetzt worden. Die aktuelle Definition berücksichtigt neben den
körperlichen Krankheitsbildern gleichermaßen kognitive und psychische Beeinträchtigungen
wie etwa Demenz. Die Einbeziehung der eingeschränkten Alltagskompetenz in die neuen
Pflegegrade bedeutet eine erhebliche sozialpolitische Errungenschaft. Diese Änderung wird
den Kreis der Leistungsberechtigten deutlich erweitern. Mit dem neuen
Begutachtungsassessment (NBA) wird der Grad der Selbstständigkeit einer Person bei
Aktivitäten in sechs verschiedenen Lebensbereichen mit unterschiedlicher Gewichtung
ermittelt und zu einer Gesamtbewertung zusammengeführt (§ 15 SGB XI, Ermittlung des
Grades der Pflegebedürftigkeit, Begutachtungsinstrument). Daraus ergibt sich die Einstufung
in einen Pflegegrad. Bei den neuen 5 Pflegegraden liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf der
Zeitaufwendung bezüglich der pflegerischen Leistung, sondern darauf, was der/die Betroffene
noch allein bewerkstelligen kann, wo seine/ihre Fähigkeiten eingeschränkt sind, i.e. die gesamte
Lebenssituation eines Menschen. Dabei werden Personen mit rein somatischen
Beeinträchtigungen von ihrer bisherigen Pflegestufe in den jeweils nächsten Pflegegrad
eingestuft, also Pflegestufe 1 wird zum Pflegegrad 2. Liegen zusätzlich noch Einschränkungen
in der Alltagskompetenz vor, dann erfolgt die Eingruppierung zwei Grade höher, also
Pflegestufe 1 wird zum Pflegegrad 3.
Russland hat dagegen keine Pflegeversicherung wie Deutschland. Deshalb existierten weder
eine spezielle Gesetzgebung für den Pflegefall noch eine eindeutige Definition der
„Pflegebedürftigkeit“. Seit 1995 besteht jedoch ein rechtlicher Anspruch aller hilfs- und
pflegebedürftigen Personen (unterschiedliche Sozialhilfefälle) auf staatliche soziale
Versorgung und Unterstützung. Ebenso seit 1995 und zum Zeitpunkt der Untersuchung (2011)
regelten zwei Föderale Gesetze443 die Zielgruppen, die Formen und Arten sowie die
Anspruchsvoraussetzungen für verschiedene soziale Versorgungsleistungen und verschiedene
Typen von Betreuungsangeboten. Darin wurden die zugelassenen Anbieter (staatliche,
kommunale und nichtkommerzielle) sowie erstmals der Status des Sozialarbeiters definiert. Am
1. Januar 2015 trat das neue Föderale Gesetz № 442-ФЗ vom 28.12.2013 "Über die Grundsätze
442 Zweites Pflegestärkungsgesetz – PSG II vom 21. Dezember 2015 443 Föderales Gesetz vom 10.12.1995 №195-ФЗ „Über die Grundlagen der sozialen Versorgung der
Bevölkerung in Russländischer Föderation“; Föderales Gesetz vom 2.8.1995 №122-ФЗ „Über die soziale
Versorgung von älteren Menschen und Behinderten“, derzeit beide außer Kraft.
182
der sozialen Versorgung der Bürger in der Russländischen Föderation“ in Kraft, womit die alten
Gesetze abgelöst wurden.
Außerdem sind Rechte und Verpflichtungen des Staates, die für alte Menschen und Behinderte
besonders wichtig sind, in der Verfassung der RF wie folgt garantiert: Gewährleistung der
Sozialhilfe im Alter, bei Krankheit, Behinderung und in anderen Fällen (Art. 39 Abs. 1), sowie
der Schutz der Gesundheit und das Recht auf kostenlose medizinische Hilfe in staatlichen und
städtischen Einrichtungen (Art. 41 Abs. 1). Die Versorgungsverpflichtungen wurden außerdem
durch weitere Gesetze und zahlreiche Verordnungen der Regierung ergänzt. Hier sind
insbesondere der Erhalt von Alters- und Invaliditätsrenten, Sozialhilfe,
Beschäftigungsmöglichkeiten, kostenlose Versorgung mit technischen
Rehabilitationsmitteln444, diverse Vergünstigungen oder kostenloser Zugang zu Sach- und
Dienstleistungen (wie öffentlicher Transport, Medikamente), Steuerermäßigungen etc.
rechtlich garantiert. Dabei berücksichtigen mehrere Gesetze spezielle Kategorien alter
Menschen „Über die Veteranen“, „Über Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen“
etc.
In der alten Fassung des Gesetzes war der Kreis der Leistungsempfänger durch die Definition
„schwierige Lebenslage, die man selber nicht bewältigen kann“ deutlich weiter gefasst und
nicht klar definiert. So galten alle Personen im Rentenalter als solche, die sich an die neuen
Bedingungen der transformierenden Gesellschaft nicht anpassen konnten und deshalb Hilfe
benötigten. In der aktuellen russischen Gesetzgebung werden zwar die Zugangsbedingungen
deutlicher von der Pflegebedürftigkeit, d.h. „den vollen oder teilweisen Verlust der Fähigkeit
zur Selbstversorgung, selbständigen Mobilität und Verrichtung der grundsätzlichen
Lebensbedürfnisse in Folge von Erkrankung, Unfall, Alter oder Behinderung“ und
Behinderung abhängig gemacht. Eine umfassendere Definition der „dauerhaften
Pflegebedürftigkeit“ oder ein Hinweis auf das Verfahren zu deren Feststellung findet sich im
Gesetz jedoch nicht. Die Föderationssubjekte müssen für ihre territorial-administrative Einheit
die normativen Grundlagen der sozialen Hilfe, den Ausbau der Sozialen Dienste und die soziale
Versorgung sowie die Bestimmungsverfahren eigenständig schaffen.
Das genaue Verfahren zur Bestimmung der Pflegebedürftigkeit (im russischen Verständnis:
„des Grades der Bedürftigkeit der Bürger in der sozialen Versorgung“) konnte nur für die Oblast
444 [Dekret der Regierung RF vom 07.04.2008 №240 „Über die Versorgung der Invaliden mit den technischen
Rehabilitationsmitteln“].
183
Samara445 ermittelt werden. Wie im übrigen Russland verfahren wurde, ließ sich leider nicht
feststellen. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass es in Russland bis 2015 keine
einheitlichen Bewertungsstandards zur Feststellung der Bedürftigkeit in der sozialen
Versorgung gab, da diese in die Verantwortlichkeit der Regionen fielen. Dem Fehlen klarer
Kriterien zur Bestimmung der Pflegebedürftigkeit begegnet auch die neue Gesetzgebung
(2015) nicht angemessen und schafft keine einheitliche, widerspruchsfreie und kohärente
Regelung für den Pflegefall. Die Regionen müssen das Föderale Gesetz durch 27 normative
Grundlagen ergänzen.
Das Assessmentverfahren aus der Samara Region soll an dieser Stelle kurz vorgestellt werden,
da es dem deutschen Bestimmungsverfahren sehr ähnelt und zwischen den beiden
Bewertungssystemen deutliche Parallelen erkennbar sind. Laut Expertenauskunft verwendet
die Region seit 2010 im Rahmen eines Pilot-Projekts zwei internationale Skalen. Der Bartel-
ADL-Index446 ist ein Bewertungsverfahren für die alltäglichen Fähigkeiten eines Patienten. Er
dient dem systematischen Erfassen von Selbständigkeit bzw. Pflegebedürftigkeit. Er umfasst
10 „Aktivitäten des täglichen Lebens“: Essen und Trinken, Baden/Duschen, Körperpflege, An-
und Ausziehen, Stuhlkontrolle, Harnkontrolle, Benutzung der Toilette, Bett-/Stuhltransfer,
Mobilität (selbständiges Gehen/Fahren mit Rollstuhl), Treppen steigen. Diese können
unterschiedlich gewichtet werden, so dass minimal 0 Punkte (komplette Pflegebedürftigkeit)
und maximal 100 Punkte (absolute Selbständigkeit) auf dem Index erreicht werden können. Da
dieser Index keine Aussagen darüber zulässt, ob die Person alleine leben kann, wird zu dieser
Methodik noch die IADL-Skala nach Lawton und Brody447 komplementär angewendet. Ein auf
dem IADL-Score basierendes Verfahren zur Erfassung der Alltagskompetenz erfasst 8 zentrale,
instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (Telefonieren, Einkaufen, Kochen,
Haushaltsführung, Wäschewaschen, Benutzung von Verkehrsmitteln, Einnahme von
Medikamenten und Regelung der Geldgeschäfte). Der maximal erreichbare Punktewert beträgt
8 Punkte.
Samaras 10-stufiges Bewertungsverfahren zur Bestimmung des „individuellen
Bedürftigkeitsgrades in der sozialen Versorgung“ basiert auf der Gesamtpunktezahl der beiden
445 [Dekret der Regierung von Oblast Samara vom 29.12. 2014 № 848 „Über die Genehmigung des Verfahrens
zur Anerkennung der Bürger als bedürftig in der sozialen Versorgung auf dem Territorium der Oblast
Samara“]; [Decret der Regierung der Samara Region von 07.09.2011 №447 „Das Verzeichnis der staatlich
gewährten Dienstleistungen auf dem Territorium der Samara Region“ (in Änderung vom 4.8.2015)]. 446 Vgl. DocCheck Flexikon, Stichwort „Bartel-Index“. 447 Vgl. DocCheck Flexikon, Stichwort „IADL-Skala nach Lawton und Brody“.
184
o.g. Skalen (min. 0 und max. 127 Punkte). Dabei bedeutet die Stufe 0 (mit 127 Punkten)
vollständige Selbständigkeit und Stufe 10 (0-11 Punkte) vollständige (Pflege)bedürftigkeit. Ab
der Stufe 1 hat die Person einen sehr geringen Pflegebedarf (ca. 10 %) und benötigt lediglich
Unterstützung im Alltag (z.B. beim Einkaufen gehen). Dagegen kann die Person in der Stufe 6
den Haushalt nicht mehr selber führen (wie Wäschewaschen oder Putzen), sich jedoch in der
Wohnung bewegen und sich mit Fremdhilfe selbst versorgen. Die Person mit der
Schwerstpflegebedürftigkeit Stufe 10 dagegen ist bettlägerig und kann sich nicht mehr selbst
versorgen (für Details siehe Anhang 8). Ein Anspruch auf soziale Versorgung (ambulant oder
stationär) haben Personen nach der russischen Gesetzgebung bereits ab der ersten Stufe. In der
Praxis werden mangels Kapazitäten eher die erheblich „Pflegebedürftigen“ (in den Pflegestufen
6 bis 10) in die staatliche Versorgung aufgenommen.
In Deutschland lehnten sich die früheren Verfahren (bis Ende 2016) zur Ermittlung der
Pflegebedürftigkeitsstufen ebenso an die ADL/IADL Screening-Verfahren an. Auf dieser Basis
lassen sich deutliche Parallelen zwischen dem deutschen Pflegeeingruppierungssystem und
dem von der Oblast Samara feststellen. Dabei entspricht etwa die russische Pflegestufe 6 der
deutschen Pflegestufe 1 (erhebliche Pflegebedürftigkeit) und die Stufe 10 der deutschen Stufe
3 (Schwerstpflegebedürftigkeit) (siehe Tab. 8). So galt die erste Pflegestufe nach deutschem
Recht für Menschen, die aufgrund ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten noch alleine in
ihren vier Wänden leben konnten, aber Hilfe bei der persönlichen Pflege oder Ernährung
benötigten. Dies wird nicht nur durch die ähnliche Beschreibung der Einschränkungen an
alltäglichen Fähigkeiten und instrumentellen Funktionen deutlich, sondern auch durch die
Äquivalenz durchschnittlicher Richtzeiten für die Erbringung dieser Leistung (wöchentlich
bzw. monatlich). Das Leistungspaket der angebotenen Dienstleistungen richtet sich in seinem
Umfang und seiner Art nach der anerkannten Stufe des Hilfs- und Pflegebedarfs.
185
Tab. 8 Exemplarischer Vergleich zweier Pflege(bedürftigkeits)Stufen in Deutschland und die Oblast Samara (Stand 2015)
Deutschland Oblast Samara
Pflegestufe 1 – Erhebliche
Pflegebedürftigkeit
Erhebliche Pflegebedürftigkeit liegt vor,
wenn mindestens einmal täglich
Hilfebedarf bei mindestens zwei
Verrichtungen aus einem oder mehreren
Bereichen der Grundpflege
(Körperpflege, Ernährung oder Mobilität)
vorliegt. Zusätzlich wird mehrfach in der
Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen
Versorgung benötigt werden.
Benötige Dienstleistungen nach
Leistungskatalog:
Der wöchentliche Zeitaufwand muss im
Tagesdurchschnitt mindestens 90
Minuten betragen, wobei auf die
Grundpflege mehr als 45 Minuten
entfallen müssen.
Monatlicher Zeitaufwand: 90*30 =2700
Min. (45 Std.)
Pflegestufe III –
Schwerstpflegebedürftigkeit
Schwerstpflegebedürftigkeit liegt vor,
wenn der Hilfebedarf bei der Grundpflege
so groß ist, dass er jederzeit gegeben ist
und Tag und Nacht (rund um die Uhr)
anfällt. Zusätzlich muss die
pflegebedürftige Person mehrfach in der
Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen
Versorgung benötigen.
Benötige Dienstleistungen nach
Leistungskatalog:
Der wöchentliche Zeitaufwand muss im
Tagesdurchschnitt mindestens 5 Stunden
betragen, wobei auf die Grundpflege
(Körperpflege, Ernährung oder Mobilität)
mindestens 4 Stunden entfallen müssen.
Monatlicher Aufwand: 300*30
=9000Min. (150 Std.)
Bedürftigkeitsstufe 6
Die tägliche Nahrungsaufnahme,
Körperpflege, An- und Auskleiden bedarf
teilw. Fremdhilfe. Der Toilettengang kann
von der Person teilw. kontrolliert werden.
Die Fortbewegungsmöglichkeit be-
schränkt sich hauptsächlich aufs Zimmer.
Die Person ist nicht in der Lage den
Haushalt zu führen, außer leichten
Tätigkeiten. Die pflegebedürftige Person
kann selbständig oder mit Unterstützung
telefonieren und Medikamente einnehmen
und Geldfragen regeln. Von allen
einfachen und komplexen Tätigkeiten ist
die Person in 60 % der Fälle auf teilweise
Unterstützung angewiesen.
Empfehlung zu staatlich garantierten
Leistungen nach Leistungskatalog:
Max. empfohlene Richtzeit für die
benötigten Unterstützungs- und
Pflegeleistungen pro Woche: 600 min. (10
Std.), pro Monat bis zu 2500 min. (41,6
Std.), Das entspricht durchschnittlich: 38
Dienstleistungen / Monat
Bedürftigkeitsstufe 10 (höchste)
Die Person ist bettlägerig, alle
Fortbewegungen bedürfen Fremdhilfe,
ebenso wie Ernährung, das Waschen, das
Baden, das An- und Auskleiden. Die
Person kann sich nicht selbständig
aufsetzten und kann nicht sitzen. Die
Person kann physiologische Aktionen wie
Wasserlassen, etc. nicht kontrollieren. Es
ist tägliche Dauerpflege notwendig. Es
wird völlige Abhängigkeit von der
Fremdenhilfe attestiert.
Empfehlung zu staatlich garantierten
Leistungen nach Leistungskatalog:
Max. empfohlene Richtzeit für die
benötigte Unterstützungs- und
Pflegeleistungen pro Woche: 2100 min,
(35 Std.), pro Monat bis zu 8736 min.
(145,6 Std.).
Das entspricht durchschnittlich: 85
Dienstleistungen und mehr /Monat
Quelle: Bundesministerium für Gesundheit, Eintrag Pflegestufen, Stand 2.3.2015; Verordnung № 22 vom 23.01.2015 des Ministeriums für Soziales, Demographie und
Familienpolitik der Oblast Samara; siehe auch Anhang 8 und 9; Eigene Darstellung
186
3.3.2 Legislative Verantwortlichkeit und Anspruchsberechtigung auf öffentlichen Leistungen
Wie regelt das Gesetz Versorgungsverpflichtungen gegenüber älteren pflegebedürftigen
Menschen? Von wem soll die Pflege und Unterstützung erbracht und finanziert werden? Wer
sind die Leistungsempfänger der staatlichen sozialen Versorgung? Welche
Anspruchsvoraussetzungen müssen erfüllt werden, damit öffentliche Pflege gewährt wird?
Der legislative Rahmen nimmt großen Einfluss auf das landesspezifische Pflegearrangement,
indem er die Verantwortlichkeit der Familienangehörigen zueinander festlegt und bestimmt,
wem und unter welchen Bedingungen der Zugang zur staatlichen Pflegeunterstützung gewährt
wird448. Im Wesentlichen regelt jeder Staat die Zuständigkeiten für die
Versorgungsverpflichtung und welche Personen oder Institutionen für die Organisation,
Erbringung und Finanzierung verantwortlich sind.
In Deutschland haben mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 pflegebedürftige Personen
Ansprüche auf die pflegerische Grundversorgung erhalten. Pflegeversichert sind alle
Bürger*innen, die gesetzlich oder privat krankenversichert sind. Übersteigen die Pflegekosten
die Leistungen der Pflegeversicherung, muss die pflegebedürftige Person mit ihrem Vermögen,
sofern vorhanden, für die Begleichung dieser Mehrkosten aufkommen. Fehlen eigene
finanzielle Mittel müssen gegebenenfalls die Familienangehörigen (erwachsene Kinder mit
eigenem Einkommen) bzw. subsidiär die Sozialhilfe in Anspruch genommen werden. Das ist
oft der Fall, wenn ein Elternteil im Heim untergebracht werden muss. Allerdings sind Kinder
gesetzlich nur verpflichtet, im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten für den Unterhalt der
Eltern aufzukommen. Es bleibt ihnen auf jeden Fall ein angemessener Selbstbehalt, den man
zum eigenen Lebensbedarf benötigt (derzeit 1.800 EUR des Nettoeinkommens für
Einzelpersonen, 3.240 Euro für die Familie) und das Schonvermögen. Für den Elternunterhalt
hat sich der Selbstbehalt im Vergleich zu den 1990er Jahren erheblich erhöht, insbesondere
muss ein angemessenes, selbstgenütztes Familienheim nicht für die Elternpflege geopfert
werden449.
Da in Russland keine spezifische Pflegegesetzgebung existiert, werden
Versorgungsverpflichtungen zivilrechtlich geregelt. Pflege und Unterstützung der Angehörigen
liegt (fast) ausschließlich in der Verantwortung der Familie. Entsprechend der Verfassung der
RF (Art. 38 Abs. 3) und dem Familiengesetz der Russländischen Föderation (Artikel 87 und
448 Vgl. Blome et al. 2008: 175. 449 Vgl. Schön 2017.
187
88) sind erwachsene, erwerbsfähige Kinder mit eigenem Einkommen gesetzlich verpflichtet,
für den Elternunterhalt zu sorgen, wenn diese arbeitsunfähig bzw. bedürftig sind. Allerdings
sind keine weiteren Modalitäten über die Höhe und Regelmäßigkeit der finanziellen
Unterstützung definiert. In wenigen Ausnahmefällen können Eltern ihre Kinder bezüglich des
Elternunterhalts verklagen.
Der russische Staat gewährt Menschen ab dem Rentenalter (i.e. Frauen ab 55 und Männer ab
60 Jahren) und Personen mit Behinderung, die sich selbst teilweise oder vollständig nicht
versorgen können, einen Anspruch auf öffentlich-geförderte Versorgungsleistungen in Form
ambulanter, teilstationärer oder vollstationärer Basis. Der Staat löste diesen Anspruch aber nur
dann ein, wenn die Familienangehörigen dazu nicht in der Lage waren (nicht vorhanden, selbst
Invalide oder psychisch krank) oder anderweitig ihren Verpflichtungen nicht nachkommen
konnten oder wollten (Entfernung, fühlten sich nicht verpflichtet, haben Alkohol- oder
Drogenproblem etc.). So beschränkte sich der Kreis der Leistungsberechtigten in der Regel
einerseits auf 1) alleinstehende, pflegebedürftige Personen ohne Angehörige sowie andererseits
2) auf einige begünstigte Kategorien von Bürgern wie z.B. Veteran*innen des Weltkrieges II
oder ihnen gleichgestellte Personen (z.B. in Afghanistan oder Tschetschenien schwer
verwundete ehemalige Armeeangehörige, Helfer*innen bei der Bewältigung der
Atomkatastrophe von Tschernobyl, Veteran*innen der Arbeit, Nationalheld*innen usw.). Die
letzten zählen zu einem begünstigten Personenkreis, denen neben dem Anspruch auf kostenlose
staatliche soziale Versorgung hohe Renten, vergünstigter Zugang zu Medikamenten,
Sanatorienaufenthalte, Kuren, Wohnraum etc. zusteht.
In der Vergangenheit ließ sich der gesetzliche Anspruch auf Elternunterhalt oft nicht
durchsetzen. Darunter litten in erster Linie die alleinlebenden hilfs-/pflegebedürftigen alten
Menschen. Sie bekamen womöglich keine Unterstützung von den getrennt lebenden Kindern,
ebenfalls kam es oft vor, dass sie in die staatliche soziale Versorgung (lange) oder gar nicht
aufgenommen wurden. Das Gesetz sieht formell keine Einschränkungen bezüglich der beiden
Gruppen für die Gewährung sozialer Dienstleistungen vor, so dass Ältere mit vorhandenen
Angehörigen ebenso Ansprüche auf diese Leistungen hätten. Sie wurden mangels Kapazitäten
dennoch nicht oder nur nach erheblichen bürokratischen Hürden und Wartezeiten versorgt.
188
3.3.3 Art und Umfang der Versorgungsleistungen und deren Finanzierung
Welche öffentlichen Versorgungsleistungen, in welchem Umfang und zu welchen Konditionen
werden gewährt bzw. wie finanziert?
Im Rahmen der deutschen Pflegeversicherung gelten Ansprüche auf Grundversorgung
einkommensunabhängig und unabhängig vom Vorhandensein pflegefähiger Angehörigen. Hier
werden nur kurz die wichtigsten Eckpunkte der deutschen Pflegeversicherung dargestellt, ohne
Bezug auf einzelne Paragraphen, da es sonst den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Die
interessierte Leserschaft wird hierzu auf die einschlägigen Gesetzeskommentare verwiesen450.
Es werden Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung bzw. deren
Kostenerstattung gewährt. Die deutsche Langzeitpflege im häuslichen Bereich orientiert sich
zum einen an der Verrichtung der Grundpflege (durch ambulante Pflegedienste als Leistung
der Pflegeversicherung). Im Bereich der Körperpflege sind dies Waschen, Duschen, Baden,
Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- oder Blasenentleerung etc.; bezüglich Ernährung sind
dies das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung; im Bereich der Mobilität
das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, das An- und Auskleiden, das Gehen, Stehen,
Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung. Zum anderen wird
hauswirtschaftliche Versorgung geboten, hierzu zählen das Einkaufen, Kochen, Reinigen der
Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung, heizen etc. Die
medizinische Behandlungspflege wird als Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung
erbracht.
In der deutschen Pflegeversicherung können Pflegeleistungen entweder als Sachleistungen,
Pflegegeld oder Kombination von beiden gewährt werden. Die Pflegeleistungen sind
grundsätzlich auf einen monatlichen Höchstbetrag begrenzt, abhängig von der Schwere der
Pflegebedürftigkeit und der Versorgungsform (häusliche, teilstationäre oder vollstationäre
Pflege), die in Anspruch genommen wird. Der maximale Pflegesatz für die stationäre Pflege im
höchsten Pflegegrad 5 beträgt derzeit (Stand 2017) 2.005 EUR451, siehe Tab. 9.
Zusätzlich gibt es einen monatlichen Entlastungsbetrag für niederschwellige
Betreuungsangebote (Spaziergänge, Gespräche, Besuch von Veranstaltungen etc.) zur
Entlastung von Pflegenden im Alltag. Diese werden häufig von den
nachbarschaftlichen/kirchlichen sozialen Hilfsnetzwerken angeboten, wo sich auch
450 Siehe z.B. Dalichau 2017. 451 BMG (2017b): Alle Leistungen seit 2017 im Überblick.
189
Ehrenamtliche engagieren. Im Pflegegrad 1 kann dieser Betrag auch für die Selbstversorgung
eingesetzt werden. Weiterhin kann Tages-/Nachtpflege ohne Anrechnung auf
Sachleistung/Pflegegeld in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus bietet der
Gesetzgeber für sporadische Auszeiten die Möglichkeiten der Verhinderungs- oder
Kurzzeitpflege z. B. für die Zeiten eines Urlaubs oder Krankenhausaufenthaltes der pflegenden
Angehörigen usw.452.
Die Pflegeversicherung stellt dabei keine Vollversorgung der Pflegebedürftigen sicher, sondern
sichert nur die Grundversorgung, ca. 50 % der Pflegekosten453. Man spricht daher auch von
einer „Teilkaskoversicherung“454. Den Mehraufwand (z.B. für Pflege, Betreuung oder
Unterhaltskosten im Pflegeheim) müssen die Pflegebedürftigen oder ihre Angehörigen selbst
tragen, wenn sie sich nicht noch privat abgesichert haben. Vergleichsweise niedrig angesetzte
Pflegesätze decken nur einen Teil des Pflegebedarfs finanziell ab und setzen damit starke
Anreize zur Pflege in der Familie bzw. sind lediglich als Ergänzung zur nachbarschaftlichen,
ehrenamtlichen oder privaten Pflege und Betreuung gedacht. So wurde der frühere finanzielle
Vorteil der stationären im Vergleich zur ambulanten Versorgung bei geringerer
Pflegebedürftigkeit vom Gesetzgeber in der neuen Regelung beseitigt.
Im russischen Pflegesystem können entweder soziale Dienstleistungen in Anspruch genommen
werden, ergänzt durch Invaliditätsrenten und Vergünstigungen für einen bestimmten Kreis von
Berechtigten. Alternativ gibt es einen geringen monatlichen Kompensationsbetrag für die
informelle Pflege. Dieser ist aber mit einer Reihe von Einschränkungen verbunden (mehr dazu
im Kap. 3.3.6). Die Geld- und Sachleistungen können nicht, wie in Deutschland, kombiniert
werden.
In Russland werden soziale Dienstleistungen in der (Alten)Pflege in häuslicher Umgebung oder
stationärer Form angeboten. Es existieren noch teilstationäre Angebote für den Tagesaufenthalt,
auf welche später eingegangen wird. (Diese stellen Rehabilitationsmaßnahmen zur
Unterstützung der aktiven Lebensweise dar und sind auf eine Zielgruppe „aktiver und mobiler
Rentner“ gerichtet und nicht auf die unmittelbaren Bedürfnisse pflegebedürftiger Menschen
oder deren pflegenden Angehörigen). Gleichzeitig sind in Russland Angebote der Tages-,
Kurzzeit- oder Verhinderungspflege, damit pflegende Familienangehörige ihren Beruf mit der
Pflege besser vereinbaren können, kaum vorhanden. Ein verbessertes öffentliches Angebot in
diesem Bereich ist in dem neuen Gesetz nicht enthalten. Die Allokation der sozialen
452 BMG (2017b): Alle Leistungen seit 2017 im Überblick 453 Leisering 1997; Rothgang 1995 zit. n. Blome et al. 2008: 179. 454 Vgl. Klie et al. 2014.
190
Unterstützung wird als falsch betrachtet, weil die Altenpflege kaum auf die realen Bedürfnisse
der alten Menschen abgestimmt war455.
Das öffentliche Dienstleistungspaket ist für die überwältigende Mehrheit der
Leistungsberechtigten bedarfsgeprüft und einkommensabhängig. Liegt das Einkommen unter
dem staatlich definierten Existenzminimumniveau oder gehört man zur sozial begünstigten
Personengruppe, werden soziale Dienstleistungen kostenfrei gewährt. Für alle anderen Gruppen
von pflegebedürftigen Personen bietet der Staat zwar soziale Dienste sowohl für häusliche als
auch für institutionelle Betreuung an, aber nicht gebührenfrei.
Zwar wurde der Kreis der Begünstigten für die kostenlosen ambulanten/teilstationären sozialen
Dienstleistungen nominal erweitert. Ab 2015 sollen diese auch jenen Leistungsberechtigten
kostenlos zur Verfügung stehen, deren Pro-Kopf-Einkommen das 1,5 fache der minimalen
Lebenshaltungskosten nicht übersteigt. Effektiv dürften diese Neuregelungen kaum die
bisherige Anzahl der Anspruchsberechtigten erweitern. Bisherige Rentenerhöhungen können
mit der Inflation der Lebenshaltungskosten nicht mithalten. Bei der stationären Versorgung
müssen die öffentlich anerkannten Leistungsempfänger nur teilweise für die
Heimunterbringung aufkommen. Die monatliche Zuzahlung zur stationären Unterbringung
beträgt derzeit 75 % aller Einkünfte des Leistungsempfängers. Andere Personenkreise zahlen
in den staatlichen Alten-/Pflegeheimen den Selbstkostenpreis.
Die Analyse gesetzlicher bzw. normativer Grundlagen ergab, dass es, trotz sozialrechtlich
unterschiedlicher Definition des „(Pflege)bedürftigkeit“-Begriffs, bei dem
Feststellungsverfahren der Pflegebedürftigkeit einen gemeinsamen Nenner in beiden Ländern
gab, zumindest 2011, als in Deutschland Personen mit Demenz noch nicht zu den
Leistungsempfängern gehörten. Deutliche Unterschiede bestanden dagegen beim Zugang zu
öffentlichen Pflegeleistungen (Berechtigungsvoraussetzungen, Konditionen, zu denen diese
angeboten werden sowie bezüglich des Inanspruchsnahmeverhaltens der Betroffenen), was die
Vergleichbarkeit der Deckungsraten erschwert.
455 Grigorieva 2014.
191
Tab. 9: Pflegeversorgungssysteme in Russland und Deutschland
Pflegezuständigkeit und Finanzierung
DEUTSCHLAND RUSSLAND
Pflegebedürftigkeits-
begriff und
Bestimmungs-verfahren
Klar definierter Pflegebedürftigkeitsbegriff
im Rahmen des Pflegeversicherungs-
gesetzes.
Seit 2017 Paradigmenwechsel bei der
Feststellung des Pflegegrades: statt
Zeitaufwand der pflegerischen Leistungen
dient die Feststellung der Einschränkungen der Fähigkeiten der Betroffenen in sechs
Lebensbereichen (Mobilität, Selbst-
versorgung, etc.), als Grundlage.
Körperliche und geistig-psychische
Einschränkungen werden gleichermaßen
berücksichtigt.
1995: Gesetzlich sehr weit gefasster Begriff
„Bedürftigkeit in der sozialen Versorgung“
aufgrund einer schwierigen Lebenslage456. Keine eindeutige gesetzliche Definition der
„Pflegebedürftigkeit“.
2015: Versuch der Konkretisierung der
Fälle, die den Anspruch auf soziale Versorgung begründen, nach wie vor aber
undurchsichtige Terminologie.
Legislativer Rahmen
der Versorgungs-
verpflichtungen und
Anspruchsberech-
tigung
Kinder sind verpflichtet, für den
Mehraufwand der Pflegekosten
aufzukommen, wenn das Einkommen des
Pflegebedürftigen nicht ausreicht, es gilt
allerdings ein Selbstbehalt für Kinder, der
sich zum 1. Januar 2015 von 1.600 auf
1.800 Euro erhöht hat.
Seit 1995 Pflegegesetzgebung mit
staatlicher oder privater
Pflegepflichtversicherung für alle Sozialpflichtversicherten.
Einkommensunabhängiger Anspruch des
Pflegebedürftigen auf pflegerische
Grundleistungen (in Form von Pflegegeld
Dienstleistungen oder deren Kombination),
unabhängig vom Vorhandensein
potentieller Pflegeangehörigen.
Unterstützung durch Sozialhilfe gibt es
weiterhin, wenn der Beitrag der Kinder zur
Deckung der Kosten nicht ausreicht.
Festgelegte Leistungssätze sichern nur die
Grundversorgung (ca. 50 % der
Pflegekosten), nicht den Mehraufwand.
Seit 2017: Pflegebedarf der
Demenzkranken wird mittels höherem
Pflegegrad stärker berücksichtigt und
dadurch finanziell entlastet.
Erwachsene Kinder tragen Verantwortung
(Unterhalt und Versorgung) gegenüber
(pflege)bedürftigen arbeitsunfähigen
Eltern.
Derzeit gibt es keine spezifische
Pflegegesetzgebung oder Pflege-
pflichtversicherung. Die Verfassung, das
Familiengesetz und ein Föderales Gesetz
regeln die Versorgungsverpflichtungen
zwischen der Familie und dem Staat.
Zugangskriterien zu öffentlich-dotierten
Pflegeleistungen: bedarfsgeprüft,
einkommensabhängig und alleinstehend.
Anspruch auf öffentliche
(Pflege)Versorgung wurde primär gewährt
sozial begünstigen Personengruppen z.B.
Veteranen des zweiten Weltkrieges oder ihnen gleichgestellte Personen sowie
alleinstehenden pflegebedürftigen Personen
ohne Angehörige oder mit Angehörigen, die
aber nicht in der Lage waren, ihren
Verpflichtungen nachzukommen.
Die erste Kategorie erhält Versorgung stets
kostenfrei. Der letzte Personenkreis ebenso,
wenn das Einkommen das 1,5 fache des
Existenzminimums nicht übersteigt, sonst
zum staatlich subventionierten Preiskatalog
(50% der Differenz zwischen dem Prokopf-
Nettoeinkommen des Leistungsempfängers
/der Leistungsempfängerin und dem 1,5-
fachen Satz des regionalen
Existenzminimums) oder marktüblichen
456 Darunter subsumierten sich diverse Lebensumstände wie Behinderung, Unfähigkeit, sich selbst zu versorgen
wegen Alter, Krankheit, Verweisung, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Mangel an festem Wohnsitz,
Konflikte und Missbrauch in der Familie, fehlende Pflegeperson etc.
192
Preisen (seit 2015 russlandweit einheitliche
Regelung)
Kein Anspruch der Personen mit Demenz
auf soziale Versorgung. Die demente
Person kann lediglich per Gerichtsbeschluss
für geschäftsunfähig erklärt werden mit
nachfolgender Einweisung in eine
psychiatrische Anstalt.
Feststellungs-
verfahren der
Pflegebedürftigkeit
Einheitliches Begutachtungsinstrument
durch Medizinischen Dienst der
Krankenversicherung (MDK)
1995: Keine landesweit einheitliche,
sondern regional unterschiedliche
Bewertungskriterien/-Verfahren
2015: Bemühungen die Bewertungs-
kriterien/-Verfahren zu vereinheitlichen.
Bis 2017: Hohe Vergleichbarkeit zwischen dem Bewertungsverfahren in der Oblast
Samara (basierend auf dem Bartel-ADL-Index der alltäglichen Fähigkeiten und dem
IADL-Skala der instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens nach Lawton und
Brody) und dem alten Begutachtungsassessment im deutschen Pflegesystem, das sich bei
der Pflegestufenbestimmung an der Zeitaufwendung orientierte.
z.B. Stufe 6 (Samara) = Stufe 1 (DE); Stufe 10 (Samara) = Stufe 3 (DE), (Stand 2016)457.
Quelle: Eigene Darstellung
3.3.4 Pflegeinfrastruktur
Stationäre Pflege in Russland – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Wie war die Situation der institutionellen Altenpflege zu Sowjetzeiten? Wie steht es mit dem
Angebot und der Nachfrage nach vollstationärer Pflege im heutigen Russland? Welche Qualität
hat die stationäre Pflege in Russland?
Bisher: Zum 1. Januar 1999 gab es in Russland nur 1.156 Alten-, Pflegeheime und Internate
für Menschen mit physischen und psychischen Behinderungen, nur 278 mehr als 1975458.
Dementsprechend schätzte man den Anteil stationär versorgter Älteren/Pflegebedürftigen als
sehr niedrig ein459. Seit Anfang der 1990er Jahre stieg die Nachfrage nach stationärer
Altenpflege jedoch kontinuierlich an. 17.500 Pflegebedürftige standen damals auf der
Warteliste460. Bis heute haben sich die Wartelisten auf einen Platz in Pflege-/Altersheime nicht
wesentlich verringert. Zu Zeiten der Sowjetunion konnten 95 % der konventionellen Pflege-
/Altersheime mit Ausnahme der "Elite"-Einrichtungen für die hochrangigen Staatsbediensteten
457 Seit 2017 änderte sich in Deutschland das Begutachtungsverfahren. Änderungen konnten in dieser Arbeit
nicht mehr berücksichtigt werden. 458 Katchalova 1999. 459 Erdmann-Kutnevic 2006: 11. 460 Katchalova 1999.
193
Bedingungen für ein würdiges Altern nicht bieten und waren – zu Recht – in der Bevölkerung
sehr unbeliebt461. Die teilweise unmenschlichen Zustände in diesen staatlichen
Pflegeeinrichtungen sind in zahlreichen Reportagen der interregional tätigen
Freiwilligeninitiative „Starost v radost“ [auf Deutsch: Alter in Freude]462 dokumentiert.
Aufgrund mangelnder Grundausstattung und des unqualifizierten, unmotivierten
Pflegepersonals beschränkte sich die Pflege „auf die Erhaltung der lebensnotwendigen
Funktionen“463. Insgesamt war die Altenhilfe zu Sowjetzeiten trotz des deklarativen Anspruchs
„Menschen in Würde altern zu lassen“, eine humanitäre Katastrophe.
Heute: Seitdem hat sich nur wenig verändert, wie kritische Stimmen in den Diskussionsrunden
der Nationalen Konferenzen zum Altern 2013-2014 verlauten ließen. Einer ihrer Teilnehmer,
Aleksej Sidnev, Generaldirektor der Senior Group, dem führenden Anbieter von privaten
Seniorenresidenzen, schildert die Lage in den staatlichen Alten- und Pflegeheimen wie folgt:
Bislang gehören alle stationären Einrichtungen dem Staat und werden aus dem Bundeshaushalt
[unter-]finanziert. Die meisten Bauten stammen aus den 1960-70er Jahren und sind
modernisierungsbedürftig. Oft sind es umfunktionierte öffentliche Gebäude mit einer
Ausstattung aus Sowjetzeiten. Die Pflegebedürftigen sind in Drei- bis Fünfbettzimmern
untergebracht, Waschmöglichkeiten bestehen typischerweise nur auf den Etagenfluren. Bis
2009 gab es sogar noch Altenheime mit Sanitäranlagen im Freien und ohne
Heißwasserversorgung. Die stationäre Pflege wird zurecht kritisiert, da es in vielen staatlichen
Heimen an Personal, Hygienemitteln und vielem anderen mangelt. In den großen Einrichtungen
gehe der Faktor Mensch völlig unter, wenn der Pfleger/die Pflegerin sich um 25-30
Bewohner*innen kümmern muss. Nicht umsonst gilt es daher in der russischen Bevölkerung
als unsozial, Eltern ins Altenheim zu stecken. Dennoch warten viele auf einen Platz in den
Altersheimen464.
Zugangskriterien und Platzkapazitäten: Genauso wie die häusliche Betreuung stellt auch die
stationäre Versorgung in Russland bis heute ein äußerst knappes staatliches Angebot dar. Die
wenigen Plätze waren und sind nach wie vor vorrangig alleinstehenden alten pflegebedürftigen
bzw. schwerbehinderten Menschen vorbehalten. Betrachtet man die Entwicklung auf dem
staatlichen Sektor der vollstationären Pflege in Russland, so stellt man zwei Tendenzen fest: In
den letzten 15 Jahren stieg zunächst die Anzahl der stationären Einrichtungen von 1.132
461 Erdmann-Kutnevic 2006. 462 Daraus ist inzwischen eine Caritative Stiftung „Hilfe für ältere Menschen und Behinderten“ entstanden,
http://www.starikam.org/. 463 Erdmann-Kutnevic 2006: 11. 464 Sidnev 2014.
194
Einrichtungen (2000) auf 1.475 (2010). Seitdem ist jedoch diese Zahl wieder rückläufig: 2015
waren es 1.293 Einrichtungen bei etwa gleichbleibender Gesamtkapazität von ca. 246.000
Bewohnern (21.000 in den Einrichtungen für behinderte Kinder). Insgesamt waren 2015 in
Russland 267.000 behinderte und ältere Menschen in 1.437 staatlichen Pflegeeinrichtungen
untergebracht. 2014 war jeder vierte Erwachsene und jedes vierte Kind, die in einer stationären
Einrichtung untergebracht waren, bettlägerig. Zusätzlich gab es 2014 neun
Rehabilitationszentren für junge Erwachsene mit Behinderung bei einer Kapazität von 1.600
Menschen. In den 28 gerontologischen Zentren wohnten russlandweit 6.900 ältere Menschen
(siehe Anhang 10).
In Deutschland lag 2015 die Zahl der voll- bzw. teilstationär Versorgten fast dreimal so hoch:
783.000 Personen. Diese waren in insgesamt 13.600 Pflege- und Altenheimen untergebracht.
Davon boten 11.200 Pflegeheime vollstationäre Dauerpflege, die restlichen - Kurzzeit-, Tages-
und/oder Nachtpflege an. Somit waren in Deutschland ca. 3,5 % und in Russland 0,9 % der ab
60-Jährigen in stationärer Pflege465.
Die Mehrzahl der deutschen Heime (53 %) befindet sich nicht in öffentlicher Hand, sondern in
gemeinnütziger Trägerschaft (z. B. DIAKONIE, CARITAS etc.). Dabei ist der Anteil der
privaten Heime mit 42 % recht hoch. Öffentliche Träger haben wie im ambulanten Bereich den
geringsten Anteil (5 %). Bei jedem fünften Heim (19 %) ist neben dem Pflegebereich auch ein
Altenheim oder betreutes Wohnen organisatorisch angeschlossen. In 94 % der Heime werden
überwiegend ältere Menschen versorgt; in 2 % vor allem behinderte Menschen. Bei 2 % der
Heime steht die geronto-psychiatrische bzw. die Versorgung psychisch Kranker im
Mittelpunkt. Bei weiteren 2 % der Heime handelt es sich um Hospize zur Versorgung von
Schwerstkranken oder Sterbenden. Russische Altenheime dagegen sind durchschnittlich 3-mal
so groß wie deutsche. Eine russische stationäre Einrichtung betreut im Schnitt 182 Personen,
wogegen deutsche Einrichtungen eine durchschnittliche Kapazität von 63 Pflegebedürftigen
haben466. In Russland sind stationäre Einrichtungen mehrheitlich in Trägerschaft föderaler
Subjekte, sie gehören letztlich dem Staat. Die Anzahl der privaten Heime in Russland ist (noch)
äußerst gering und in den offiziellen Statistiken bisher nicht aufgeführt.
Die Nachfrage nach öffentlicher stationärer Pflege übersteigt in Russland bei weitem das
Angebot. Hierbei ist nur die Rede von offiziellen Leistungsberechtigten. Die Anzahl der
465 Eigene Berechnungen. Die Zahlen sind etwas erhöht, da Leistungsempfänger aller Altersgruppen
berücksichtigt sind. EGGE-Expertennetzwerk kommt zu ähnlicher Einschätzung für Deutschland (für die
Altersgruppe 65+) und für Russland zu einem etwas höheren Anteil 1,8%, siehe Bettio/Verashchagina 2010:
71ff.. 466 Destatis 2015 - Pflegestatistik 2015.
195
Personen ohne Anspruch auf staatliche Versorgung (z.B. weil sie Angehörige haben, die sie
pflegen müssten, die bürokratische Hürden nicht überwinden können, in geographisch
entfernten Gegenden wohnen oder über ihren Anspruch nicht informiert sind etc.) gelangen erst
gar nicht in die amtlichen Statistiken. 2014 warteten russlandweit 16.000 erwachsene
Leistungsberechtigte sowie 330 Kinder auf einen Platz in einer stationären Pflegeeinrichtung.
Die Wartezeiten für den Erhalt von Dienstleistungen sowohl im häuslichen als auch im
stationären Bereich variieren interregional beträchtlich. Ebenso geht man von regional starken
Qualitätsschwankungen in der stationären Pflege aus, verursacht durch die unterschiedliche
finanzielle Ausstattung der Regionen. In 44 % der Fälle betragen die Wartezeiten auf einen
Platz länger als ein Jahr. Besonders akut ist das Problem für die Menschen mit Verlust der
Mobilität und der Fähigkeit zur Selbstversorgung. Nicht selten sind die Fälle, in denen ein
Mensch verstirbt, bevor er/sie einen Platz in der Betreuungseinrichtung bekommt467.
Dem Rechnungshof zufolge müsste man, um die Wartezeiten zu verringern, die Zahl der Plätze
in den stationären Pflegeeinrichtungen um 8-10 % erhöhen. Gleichzeitig rechnet man bis 2018
mit einer Steigerung des Bedarfs nach stationärer Hilfe aufgrund der Bevölkerungsalterung um
ein Viertel (24 %) im Vergleich zu 2014. Zur selben Zeit wurden 53.000 Stellen im Bereich der
öffentlichen sozialen Versorgung eingespart einschließlich 9.000, die soziale Dienstleistungen
(Hilfe und Pflege) unmittelbar leisteten468. Unter diesen Umständen wird der Staat die Situation
nur in den Griff bekommen, wenn die ambulante Hilfe verbessert sowie der private und
gemeinnützige Sektor bei der Lösung dieser gesellschaftlichen Aufgabe miteinbezogen wird.
Ambulante soziale Dienste
Wie sieht das öffentliche Pflegeangebot an häuslicher Versorgung der Pflegebedürftigen in den
beiden Ländern aus?
Das Netzwerk der ambulanten Einrichtungen in Russland besteht aus den sogenannten
kommunalen Zentren der sozialen Dienstleistungen. Diese haben mehrere Abteilungen der
allgemeinen ambulanten sozialen Betreuungsdienste für die häusliche Versorgung und einige
spezialisierte Abteilungen der sozial-medizinischen Dienste. Diese Komplexzentren sind die
zentralen Ansprechpartner zu Fragen der sozialen Versorgung. Darüber hinaus bieten sie
Rehabilitations- bzw. Erholungsmaßnahmen für nicht erwerbstätige Personen im gesetzlichen
467 Nach Aussage von Wladimir Katrenko, Wirtschaftsprüfer des Rechnungshofs der Russländischen
Föderation, zit. n. DoctorPiter 2016a. 468 Ebd.
196
Rentenalter (die sich selbst versorgen können) als 3-wöchige ambulante Kur an. Den
Kurpatienten werden warme Mahlzeiten und ein vielfältiges Angebot an kulturellen
Freizeitaktivitäten, Räume für Fitness und psychologische Entspannung und anderes
angeboten, aber vor allem wird Raum für Geselligkeit geschaffen, um der Vereinsamung
vorzubeugen. Die Rehabilitationsmaßnahmen sind staatlich subventioniert. Diese durchaus
gelungene, wenn auch eher paternalistische Vorsorgeform des Staates für seine älteren
Menschen, stößt bei den russischen Rentner*innen auf große Nachfrage469. Denn die
überwiegende Mehrheit der älteren Menschen in Russland kann sich keinen Urlaub oder keine
Kur leisten. Im Übrigen hat die Finanzierung des staatlich organisierten Vereinslebens für
gesellschaftliche Aktivitäten unter der postsowjetischen Liberalisierung sehr gelitten. Auch
diese Versorgungsangebote wurden in den letzten Jahren sukzessive abgebaut (siehe Anhang
11). Weiterhin verfügen diese Komplexzentren über Abteilungen für eine Notfallversorgung,
die sofortige Hilfsmaßnahmen wie Versorgung mit Essen und Kleidung erbringen können.
Ebenso stehen Beratungsdienste (z.B. psychosoziale bzw. Rechtsberatung) für Menschen zur
Verfügung, die sich in einer akut schwierigen Lage befinden.
Gemäß der offiziellen Statistik 2015 gab es 1.988 Zentren und 9.784 Abteilungen der
ambulanten Sozialdienste, die Unterstützungsleistungen in der häuslichen Umgebung
erbrachten470. Während der letzten 5 Jahre erhöhte sich die Zahl der häuslich betreuten älteren
Menschen leicht um 4,5 %-Punkte von 1.100.828 (2010) auf 1.151.243 (2015). Nach
Experteneinschätzung haben mehr als die Hälfte der ambulant betreuten Personen einen
Invaliditätsgrad, davon mehrheitlich ältere Personen471. Dem Staat gelang es inzwischen, die
Wartelisten zur Aufnahme in die häusliche Versorgung deutlich zu senken. Warteten 2010 noch
45.812 Leistungsberechtigte auf die Inanspruchnahme der ambulanten Dienstleistungen, so
waren es 2015 nur noch 7.155, also sechsmal weniger472. Die Existenz der Wartelisten zeigt
jedoch, dass das staatliche Versorgungssystem den bestehenden Bedarf nicht decken konnte.
Es schaffte es nicht, allen Bedürftigen sofortige Unterstützung zur Verfügung zu stellen. Auch
der (gesetzliche) Anspruch, dass in jedem Landkreis bzw. städtischen Gebiet ein
Komplexzentrum sozialer Versorgung zur Verfügung stehen müsste, scheiterte bislang an den
Realitäten. In Russland gibt es viele Regionen, die nicht über ein ausreichend ausgebautes
Netzwerk solcher Einrichtungen verfügen. Die gesamten vorhandenen staatlichen Kapazitäten
(zu Beginn 2015 waren es 3.800 stationäre und ambulante Versorgungseinrichtungen mit ca.
469 Experteninterview 1. 470 Siehe Anhang 11. 471 Experteninterview 4. 472 Siehe Anhang 11.
197
555.000 Beschäftigten473) dürften derzeit kaum in der Lage sein, die Bedürfnisse der
Bevölkerung nach sozialer Versorgung in mehr als 22.000 Gemeindeformationen russlandweit
zu erfüllen474. Auch sind die ambulanten sozialen Dienste durch Stellenabbau und finanzielle
Kürzungen betroffen. Während die Anzahl der Beschäftigten in den ambulanten sozialen
Diensten zwischen 2010 und 2015 um 22.000 sank (von 176.363 auf 154.118), wurde der
Betreuungsschlüssel (Anzahl Leistungsempfänger pro Sozialarbeiter/in) im selben Zeitraum
vom 6,6 auf 7,5 zu betreuenden Personen erhöht475. Laut Expertenaussage476 liegt der
Betreuungsschlüssel bereits seit längerem um ca. das Zweifache höher. D. h. ein*e
Sozialarbeiter/in muss mindestens 11 Leistungsempfänger*innen unterschiedlicher
Bedürftigkeitsstufen betreuen. Das ist ein Hinweis darauf, dass die offiziellen Statistiken in
Russland eher „Wunschvorstellungen“ abbilden und daher die amtlichen Zahlen kritisch
hinterfragt werden müssen.
Der Ländervergleich hilft, den Umfang des häuslichen Pflegeangebots in Russland und
Deutschland besser einzuschätzen (siehe Tab. 10). Während in Deutschland das Angebot an
häuslichen Pflegediensten in den letzten Jahren deutlich ausgebaut wurde477, stagniert dieses in
Russland auf niedrigem Niveau und ist von sukzessiven Kürzungstendenzen betroffen. Laut
den offiziellen Statistiken in Russland zeichnete sich sogar ein leichter Rückgang (um 0,2 %-
Punkte) im Anteil der Leistungsempfänger ab (gemessen als %-Anteil der Bevölkerung im
gesetzlichen Rentenalter) von 3,7 % (2011) auf 3,5 % (2015) (siehe Anhang 12). Dieser
Rückgang erklärt sich vor allem aus dem mangelnden politischen Willen zum Ausbau und zur
Finanzierung weiterer öffentlicher Infrastrukturen als auch aus einem mangelnden
Anreizsystem für staatlich organisierte Träger. Im Vergleich sind die entsprechenden
Deckungsraten der über 65-Jährigen mit der professionellen häuslichen Pflege in Deutschland
beinahe doppelt so hoch (6,6 %) wie in Russland. Europäischer Spitzenreiter sind die
Niederlande mit einem Deckungsgrad von 21 %478. In absoluten Zahlen sind es 692.000
Pflegebedürftige in Deutschland, die zusammen oder ausschließlich durch Pflegedienste
versorgt werden.
473 Schetnaya Palata Rossijskoj Federtsii (Hg.) (2016): Pressemitteilung vom 22.3.2016. 474 Ähnliche Einschätzungen galten noch vor 15 Jahren, siehe Katchalova 1999. 475 Siehe Anhang 11. 476 Experteninterview 4. 477 Laut Pflegestatistikbericht 2015 hat die Bedeutung der Versorgung durch die ambulanten Dienste 2015
gegenüber 2013 zugenommen: In diesem Zeitraum stieg die Zahl der ambulanten Dienste um 600
Einrichtungen (4,5 %); die Zahl der ambulant versorgten Pflegebedürftigen nahm um 76 000 (12,4 %) zu.
Auch das Personal ambulanter Pflegediensten erhöhte sich im gleichen Zeitraum um 36 000 Beschäftigte
(11,1 %), siehe Destatis 2015: 11. 478 Bettio/Verashchagina 2010: 153, Tab. A1: Coverage rates, 65+.
198
Insgesamt zeichnet sich in Russlands Pflegesystem während der letzten 5 Jahre – wie gesagt -
ein Trend zu infrastrukturellen und personellen Kürzungen ab. Zunehmend verringert sich die
Zahl der staatlichen Zentren für die soziale Versorgung, der Stationen ambulanter sozialer
Dienste sowie des dort beschäftigten Personals. Diese Entwicklung beeinflusst natürlich die
Qualität der Versorgung negativ, wenn immer knapper werdenden Ressourcen ein steigender
Bedarf gegenüber steht. Diesen Prozessen und dem ungedeckten Pflegebedarf hofft der Staat
mit dem o.g. neuen Gesetz entgegenzuwirken.
199
Tab. 10: Stationäre und ambulante Versorgungsinfrastrukturen in Russland und Deutschland
Anzahl Einrichtun-
gen, Pflegepersonal,
Leistungsempfänger
und Deckungsraten
DEUTSCHLAND 2015
(Stand 15.12.2015)
RUSSLAND 2015
(Stand 1. 1.2015)
STATIONÄRE PFLEGE
Stationäre
Einrichtungen, nach
Trägerschaft
13.600 (davon 53 % in
freigemeinnütziger, 5 % in öffentlicher
Trägerschaft, 42 % private Heime).
Davon 19 % haben zusätzlich zum
Pflegebereich ein Altenheim oder
betreutes Wohnen, hauptsächlich für
Menschen ohne Pflegestufe.
1.293 (davon 98 % staatliche, die meisten
in der Trägerschaft von föderalen
Subjekten, ca. 2 % - in privater Hand
Kapazität
(durchschn.)
63 Heimbewohner 182 Heimbewohner
Beschäftigte 730.000 (einschl. teilstationäre
Pflegeheime)
unbekannt, (geschätzt 300.000)
Heimbewohner
(60 Jährigen Plus)
783.000 (ca. 3,5 %) 267.000 (ca. 0,9 %)
AMBULANTE PFLEGEDIENSTE
Anzahl ambulanter
Pflegedienste (insg.)
13.300 9.784 Sozialstationen und 1998 Komplexe
Zentren
Beschäftigte 355.600 154.118
Ambulant Versorgte
(65 Jährigen Plus) 692.000 (6,6 %) 1.151.243 (3,5 %)
Reichweite Infra-
strukturen/ Angebote
öffentlich-dotierter
ambulanter Pflegedienste
(häusliche Betreuung)
Gut ausgebautes Netz von ambulanten
Pflegediensten aus gemeinnützigen,
privat-gewerblichen und öffentlichen
Anbietern.
Schwerpunkt der Dienstleistungen liegt
auf der Grundpflege (bis zu 2/3 der
Dienstleistungen sind pflegerischer Art)
Bis 2015: Ein staatlich organisiertes
Angebot an häuslichen Betreuungsdiensten
auf einem niedrigen Niveau mit Tendenz zu
infrastrukturellen und personellen
Kürzungen.
Überhang an wenig arbeitsintensiven
(Besuche, Gespräche, Besorgungen) und
Mangel an eigentlichen pflegerischen und haushaltsintensiven Hilfen (Grund-
pflegerische Leistungen machen max. 10-
15 % aller Dienstleistungen aus). Nur für
die Gruppe der Kriegsveteranen u.
absoluten Sozialhilfefällen ist die (sozial-)
medizinische (Pflege)Versorgung im
angemessen Umfang gewährleistet.
Besuchsrhythmus: meistens 2 mal
wöchentlich
Bis 2015 war die Zugänglichkeit zur
sozialen Versorgung durch hohe
Wartezeiten deutlich eingeschränkt
Quelle: Destatis (2017): Pflegestatistik 2015; Goskomstat (2015a,b,c): Tab. Ur 2-1-1 zur ambulanten Versorgung, Tab. Ur: 2-1-3 zum Anteil Versorgten durch häuslichen Pflegedienste, Tab. 2.8 zur stationären
Versorgung; siehe auch Anhänge 10, 11 und 12; eigene Darstellung.
200
Qualität, Zugänglichkeit und Erschwinglichkeit der Leistungen in Russland (am Beispiel
Samara) und weitere Entwicklungen
Nun bleibt die Frage zu beantworten, ob sich die nach dem deutschen
Pflegeversicherungsgesetz (ambulant) gewährten Pflegeleistungen mit der häuslichen sozialen
Versorgung Pflegebedürftiger in Russland überhaupt qualitativ vergleichen lassen? Bei der
Beurteilung der Qualität des öffentlichen Angebots an Versorgungsleistungen für die älteren
pflegebedürftigen Menschen sollen sämtliche Aspekte wie Umfang und Art von Leistungen
sowie ihre Zugänglichkeit und Erschwinglichkeit berücksichtigt werden. Dabei geht es primär
nicht um das festgestellte Ausmaß der benötigten Hilfeleistungen je nach Pflegestufe, sondern
um die tatsächlich erhaltenen Versorgungsleistungen durch die Betroffenen.
Die nachfolgenden Bewertungen der ambulanten und stationären Pflegeversorgung betreffen
primär die Stadt Samara und die Oblast Samara. Bei Verallgemeinerung dieser Situation in der
Altenpflege russlandweit müsste Folgendes berücksichtigt werden: 1) Die Oblast Samara
gehört zu einer der sozio-ökonomisch stärksten Industrieregionen Russlands; 2) Die regionale
Sozialpolitik hat seit längerem einen Vorbildcharakter479; 3) Seit 2010 hat die Oblast Samara
im Rahmen eines Pilotprojekts die soziale Versorgung der älteren und pflegebedürftigen
Personen verstärkt ausgebaut. Aus diesen Tatsachen lässt sich schließen, dass die
Versorgungssituation in Samara bezüglich der öffentlichen (Alten)Pflege wahrscheinlich
besser ist. Sie kann auf Gesamtrussland nur bedingt übertragen werden. Landesweit dürfte die
öffentliche Unterstützung für Pflegebedürftige wesentlich ungünstiger (gewesen) sein.
Bis 2015 wurden mangels Kapazitäten älteren, grundsätzlich anspruchsberechtigten Personen
öfters eine Versorgung abgelehnt, weil sie Angehörige hatten, die gesetzlich verpflichtet waren,
diese zu pflegen und zu versorgen, es aber nicht taten. Seit 2015 wurden die Fristen der
(Pflege)Bedürftigkeitsfeststellung (innerhalb von 5 Arbeitstagen) als auch der Aufnahme in die
soziale Versorgung deutlich gesenkt. Offiziell standen/stehen in der Oblast Samara Personen
ab der Pflegestufe 1 eine häusliche soziale Versorgung zu. Diese Zusage zu halten, ist der Staat
praktisch aber nicht in der Lage. Angesichts des Mangels an staatlichen Angeboten und zur
Reduzierung der Wartezeiten werden in der Regel nur Personen ab Pflegestufe 6 in die
staatliche (ambulante oder stationäre) Versorgung aufgenommen480. In Ausnahmefällen (bei
479 Bereits im Zuge der Umsetzung von Krankenversicherungsreformen Mitte der 1990er Jahren galt Oblast
Samara als sehr progressiv. Andere Regionen Russlands baten Samara um die Erfahrungsweiterhabe (Kempe
1997: 123-124). 480 Im Prinzip entsprach das genau der erheblichen Pflegebedürftigkeit nach der alten Pflegestufe 1 im deutschen
Pflegesystem.
201
Obdachlosigkeit, fehlender Betreuung und Pflege, oder angesichts von Umständen, die eine
Ko-Residenz mit Familienangehörigen unmöglich machen) kann eine stationäre Unterbringung
auch bei Pflegestufen 1-5 beansprucht werden481. In prioritärer Reigenfolge, d. h. ohne
Wartezeiten und kostenlos werden nach wie vor die Leistungsberechtigten aus dem bisherigen
typischen Leistungsempfängerkreis (Invalide, Veteranen, Opfer politischer Repressionen,
interethnischer Konflikten oder Nuklearverstrahlungen, alleinstehende bzw. alleinlebende
Ältere mit geringer Rente) versorgt, die übrigen je nach Kapazitäten.
Nachfolgende Tab. 11 gibt einen Überblick über die vorhandenen Versorgungsinfrastrukturen
in den beiden Städten zum Zeitpunkt der Untersuchung (2011). Es ist deutlich erkennbar, dass
insbesondere der stationäre Bereich als auch verschiedene Einrichtungen und Angebote im
Bereich der Altenhilfe und Seniorenarbeit in Freiburg im Vergleich zu Samara deutlich stärker
ausgebaut sind.
481 Siehe Ministerstvo Sotsial’no-Demograficheskoy i Semeynoy Politiki Samarskoy Oblasti - [Verordnung №
22 vom 23.1.2015 des Ministeriums für Soziales, Demographie und Familienpolitik der Oblast Samara].
202
Tab. 11: Versorgungsinfrastruktur für die ältere und pflegebedürftige Bevölkerung in
Freiburg und Samara, Stand November 2011
Freiburg Samara (Stadt)
Einwohnerzahl 2011 gesamt: 209628.
Zahl der Einwohner 65 Jahre und älter: 34379 (16,4 %
der Bevölkerung)
Einwohnerzahl 2011 gesamt: 1164685
Zahl der Einwohner 65 Jahre und älter: 173538 (14,9 %
der Bevölkerung)
Seniorenbüro Stadt Freiburg mit
Pflegestützpunkt (Zentrale Information –
Beratung – Vermittlung – Altenplanung)
3 dezentrale Beratungsstellen für ältere
Menschen
3 Wohnraumberatungsstellen
Stadtseniorenrat Freiburg e.V.
Zahlreiche ehrenamtliche Gruppen, Clubs,
Vereine und Initiativen
19 Begegnungsstätten
Seniorenstudium an der PH
29 Ambulante Pflegedienste
7 Mobile Soziale Dienste/
Nachbarschaftshilfen
3 Anbieter von Essen auf Rädern
8 Hausnotrufdienste
Zentrum für Geriatrie und Gerontologie
(ZGGF): (Neurogeriatrie und Memory-
Ambulanz, Ambulante Geriatrische
Rehabilitation)
11 Betreuungsgruppen für Menschen mit
Demenz
1 Integratives Hirnleistungstrainingsangebot
„Grips“
3 ambulante Wohngruppen für Menschen mit
Demenz
Ambulante Hospizgruppen
60 Tagespflegeplätze in 5 Einrichtungen
15 Kurzzeitpflegeplätze in 5 Einrichtungen
1.932 Pflegeheimplätze in 21
Altenpflegeheimen
27 Seniorenwohnanlagen (Betreutes Wohnen) mit 1.788 Wohnungen
3 Wohnstifte mit 432 Wohnungen
1 Altenwohnheim mit 52 Wohneinheiten
2 Altenheime mit 37 Plätzen
1 Stationäres Hospiz
8 Wohnprojektgruppen bzw. Initiativen
9 Komplexzentren der sozialen Betreuung der
Senioren/Seniorinnen und Menschen mit
Behinderung, darin:
81 Abteilungen ambulanter häuslicher
Versorgungsdienste
3 spezialisierte Abteilungen sozial-
medizinischer Betreuung zu Hause
9 Abteilungen der ambulanten
Rehabilitationsmaßnahmen für
Senioren/Seniorinnen/ Menschen mit
Behinderung, mit der Fähigkeit zur
Selbstversorgung
3 Abteilungen psychologischer Hilfe
9 Not-Dienst-Abteilungen
1 medizinisch-soziale Rehabilitationsklinik;
3 Zentren medizinisch-sozialer Rehabilitation
für Menschen mit Behinderung
1 soziales Heim für Kurzzeitaufenthalt
Weitere soziale Einrichtungen
Beratungsstelle
Friseursalon
Änderungsschneiderei
Apotheke
14 soziale Geschäfte
2 Heime für die Veteranen und Personen mit Behinderung (insg. 390 Plätze);
ein spezielles Heim für ehemalige Häftlinge
(180 Plätze)
2 Heime für Kinder und Menschen mit
Behinderung (insg. 340 Plätze)
Quelle: Stadt Freiburg – Seniorenbüro mit Pflegestützpunkt (Hg.) (2011): Altenarbeit und Altenhilfe; Goskomstat (2011): [Indikatoren der sozialökonomischen und sozialen Sphären der Samara für 2011],
teilweise mit den Recherchen und Zusammenstellung von Nataliya Khoma, studentische Mitarbeiterin im
bilateralen Studienprojekt in Freiburg.
203
2011 gab es in Samara in jedem der 9 administrativen Stadtteile jeweils ein Komplexzentrum
der sozialen Versorgung mit insgesamt 81 allgemeinen und 3 spezialisierten Sozialdienst-
Abteilungen für medizinische Hilfe und Pflege im häuslichen Bereich. Der Prozentsatz an
älteren Menschen, die stationär versorgt wurden, lag – geschätzt – über 1 %. Die Anzahl derer,
die ambulante Hilfe erhielten, wurde auf 5 bis 10 % geschätzt482.
Die Recherchen und Experteninterviews in Samara lieferten Hinweise, dass bedeutende
Unterschiede in qualitativer und quantitativer Hinsicht bezüglich der professionellen häuslichen
Pflegepraxis in beiden Ländern bestehen. Die Mehrheit der russischen
Leistungsempfänger*innen erhält im Rahmen der häuslichen Versorgung nicht dieselbe Art
von Unterstützung und nicht im vergleichbaren Leistungsumfang.
In Deutschland mussten laut Pflegestufe I (bis 31.12.2016, ab 01.01.2017 gelten Pflegegrade
und andere Regelungen) grundpflegerische (Körperpflege, Ernährung oder Mobilität) und
hauswirtschaftliche Leistungen zum gleichen Teil vertreten sein. Der Anteil der
grundpflegerischen Versorgung stieg dann auf 2/3 bzw. 4/5 des zeitlichen Aufwands in der
Pflegestufe II und III entsprechend483. Unter der Annahme der Deckung des offiziell geltenden
Pflegebedarfs durch die Pflegeversicherung ca. zur Hälfte folgt, dass reine Pflegetätigkeiten in
der Pflegestufe 1 täglich ca. 20 min., in der Pflegestufe 2 eine Stunde und in der Pflegestufe 3
zwei Stunden bei häuslicher Betreuung ausmachen müssten. (In der stationären Versorgung
sind die Zeiten/Aufgaben dagegen nicht so eng getaktet).
In der russischen häuslichen Versorgung durch die staatlichen sozialen Dienste stehen
grundpflegerische Leistungen nicht im Vordergrund. Das hat vermutlich mit der mangelnden
fachlichen Ausbildung des Personals sowie der Unterfinanzierung des Pflegesektors zu tun.
Stattdessen dominieren psychosoziale Betreuung („Nachsehen nach der alleinlebenden älteren
Person“, d.h. Besuch und kurzes Gespräch, Wohlbefindungscheck, Arztverständigung etc.),
organisatorische Unterstützungen (Behördengänge, Besorgungen und Erledigungen bei der
Post, Bank, Apotheke, beim Arzt etc.), sowie leichte hauswirtschaftliche Hilfen484. Der Anteil
der grundpflegerischen Versorgungsleistungen an allen anderen Leistungen ist mit 10-15 %
vergleichsweise sehr gering485.
Entsprechend dem Leistungskatalog ist in der Oblast Samara die Häufigkeit sämtlicher staatlich
garantierter sozialer Hilfeleistungen auf achtmal/pro Monat begrenzt. D.h. in der Praxis finden
482 Experteninterview 3. 483 BFG, Eintrag „Pflegestufen“, Stand 2015. 484 Vgl. Krasnova 2010: 201. 485 Experteninterview 4.
204
zwei Besuche pro Woche bei der pflegebedürftigen Person statt. Dies führt zu dem berechtigten
Zweifel, ob dieser geringe Umfang an Unterstützungsmaßnahmen ausreicht, um gerade den
alleinstehenden gebrechlichen älteren Personen mit eingeschränkten Fähigkeiten zur
Selbstversorgung (das Hauptklientel der russischen ambulanten Dienste) die nötige
Pflegeunterstützung zu gewähren, geschweige denn die Versorgung der schwereren Pflegefälle
sicherzustellen. Hier bieten die staatlichen ambulanten Sozialdienste praktisch keine wirksame
(Pflege)Versorgung. Die Pflegebedürftigen müssen entweder ins Heim oder benötigen eine
private 24-Stunden-Pflegekraft. Um dies zu finanzieren, werden z.B. Wohnungen an die
Pflegeanbieter verschenkt, was in den letzten Jahren zu einer recht verbreiteten Praxis
geworden ist.
Die eingeschränkte Zugänglichkeit zu den öffentlichen Leistungen in Russland steht im
Widerspruch zu dem staatlicherseits deklarierten Anspruch einer umfassenden sozialen
Versorgung der Bevölkerung. Die Deckung des bestehenden Bedarfs an Pflegeversorgung
erfolgt mit den zur Verfügung stehenden personellen, finanziellen und infrastrukturellen
Kapazitäten nur sehr eingeschränkt. Sie scheitert aber auch an dem Verhalten der Betroffenen
bzw. ihrer Angehörigen bezüglich der Inanspruchnahme der Leistungen486. Eine (in Worten des
russischen Gesetzestextes) Feststellung der „Bedürftigkeit in der sozialen Versorgung“
bedeutet nicht automatisch, dass eine Person diese Leistungen auch (in vollem Umfang) abrufen
würde. Erst recht dann nicht, wenn kein Anspruch auf kostenlose Leistungen besteht. Der
Umfang der tatsächlich vereinbarten Leistungen von dem nach der Pflegestufe empfohlenen
Minimum kann deutlich nach unten abweichen.
Im Bereich der häuslichen und teilstationären Versorgung (z.B. für Reha-Maßnahmen) ist der
Preissockel der staatlich garantierten Leistungen nach oben begrenzt. Die Obergrenze der
Zuzahlungen für den Erhalt sozialer Dienstleistungen wurde aber ab 2015 nach oben korrigiert.
Die Gesamtsumme der Kosten darf 50 % (vorher waren es 25 %) der Differenz zwischen dem
Prokopf-Nettoeinkommen des Leistungsempfängers/der Leistungsempfängerin und dem 1,5-
fachen Satz des Existenzminimums nicht übersteigen. So zahlte man nach einem
durchschnittlichen Versorgungsvertrag 2016 in der Stufe 6 für häusliche
Versorgungsleistungen 120-130 RUB (2 EUR) pro Monat, in der Stufe 10 von 600-700 RUB
(10 EUR) pro Monat487 (siehe auch die Preisliste, Tab. 12).
486 Vgl. Krasnova 2010: 202. 487 Experteninterview 4.
205
Gerade für Leistungsempfänger*innen häuslicher sozialer Dienste dürfte es jedoch eine
erhebliche Rolle spielen, ob sie diese Leistungen auf kostenfreier oder gebührenpflichtiger
Basis erhalten. Die „Veteranen“ könnten sich mit einer für russische Verhältnisse sehr hohen
Rente von 30.000 RUB pro Monat488 (ca. 400 EUR 2015) ambulante Pflege durchaus leisten.
Allerdings wird diese Personengruppe ohnehin kostenlos versorgt. Die übrigen Rentner*innen
müssen sich mit ihrer Rente, die oft nur knapp über dem Existenzminimum-Niveau für
Rentner*innen von 8.803 RUB (ca. 117 EUR)489 liegt, zunächst selbst über die Runden retten.
Denn auch die gesetzlich subventionierten Versorgungsleistungen mit sozialverträglichen
Preisen können eine erhebliche Belastung für pflegebedürftige Personen darstellen490.
In den meisten Fällen übersteigen die Renten der Leistungsberechtigten das gesetzlich fixierte
Limit491, unter denen die Leistungen kostenlos bezogen werden können (für die Oblast Samara
lag dieses 2016 bei 11.000 RUB ca. 146 EUR). Allerdings sind die Renten insgesamt so niedrig
und die Lebenshaltungskosten so hoch, dass die Leistungsberechtigten dazu tendieren, die a
priori stark rationierten Leistungen nur in geringem Umfang in Anspruch zu nehmen. Ein Zitat
aus einem Expertengespräch verdeutlicht die Versorgungssituation: „Wenn eine bettlägerige
Oma will, dass man für sie nur das Brot besorgt, dann kriegt sie nur das Brot [als vertraglich
geregelte Leistung]“492. Der Staat wird solchen Personen, trotz des offensichtlichen Bedarfs,
keine weitere Versorgung anbieten, hier herrschen Angebot und Nachfrage.
488 Dies entspricht einem durchschnittlichen Gehalt. Sonst liegt das durchschnittliche Rentenniveau bei etwa
einem Drittel des Gehalts. 489 Pensionnyy fond Rossiyskoy Federatsii (Hg.) (2016): [Soziale Zuzahlungen zum Existenzminimum der
Rentner]. 490 Die Situation der Pflegebedürftigen war auch vor 5 Jahren nicht wesentlich anders. 2011 betrugen die
monatlichen Lebenshaltungskosten der Rentner*innen 4.730 RUB (ca. 118 EUR). Die Sozialrente lag bei
4.288,96 RUB (ca. 107 EUR), eine monatliche Invaliditätsrente bei 5.385,71 RUB (ca. 134 EUR) und
durchschnittliche Rente bei 8.002,35 RUB (ca. 200 EUR). Auch damals war die Zuzahlung von 2-5 EUR
eine Schmerzensgrenze. 491 2011 lagen 12,5% der Renten unter dem gesetzlichen Existenzminimum, siehe Ministerstvo
ekonomicheskogo razvitiya, investitsiy i torgovli Samarskoy oblasti (Hg.) (2011): [Oblast Samara in Zahlen]. 492 Experteninterview 4.
206
Tab. 12: Beispiel der Tarife der ausgewählten Versorgungsleistungen in der Oblast Samara,
Stand 2016
Typ der sozialen
Dienstleistung
Umfang Staatlich garantierter
Preis, in RUB
Marktpreis,
in RUB
Haarescheiden 30 Min. 27,35 157,50
Bettwäschewechsel 15 Min. 13,68 78,75
An-/Ausziehen 30 Min. 9,12 157,50
Zubereitung der warmen
Mahlzeit
1 Gericht 41,03 315,00
Quelle: Auszug aus der Anlage zur Verordnung des Ministeriums für Soziodemographische und Familienpolitik der Region Samara vom 14.01.2015 № 4 ["Tarife für eine Sozialdienstleitung (Preisliste) in den
staatlichen Zentren sozialer Dienste in der Oblast Samara ab 1.3.2016], Übersetzung der Autorin;Eigene
Darstellung
Der selektive Zugang für verschiedene Gruppen von Pflegebedürftigen lässt sich aus der
Klientel eines Stadteilzentrums Samaras der ambulanten Versorgung herleiten: Darunter
befanden sich 25 % alleinstehende ältere Personen (ohne Angehörige), 55 % alleinlebende
Ältere und nur 20 % Ältere, die im Haushalt lebende Angehörige hatten. Praktisch alle
Leistungen waren nur gegen Gebühr angeboten. Von ca. 2.000 Leistungsempfänger*innen
erhielten nur 20-25 Personen (also ca. 1 %) diese Dienste kostenlos. Für einen sehr engen Kreis
der Leistungsempfänger*innen werden die Dienste zum „reduzierten Preis“ und nur für einen
begrenzten Zeitraum (von max. 1 Monat) angeboten. Die restlichen „Klienten“ erhielten
Dienstleistungen entweder zu staatlich garantierten Preisen oder zum Selbstpreis493. In der
Oblast Samara waren 2012 von insgesamt 56.600 Leistungsempfänger*innen der häuslichen
Betreuungsdienste 40.100 (71 %) alleinstehende bzw. alleinlebende Ältere und Behinderte,
10.200 (18 %) Veteran*innen des Zweiten Weltkriegs, 24.700 (43 %) Veteran*innen der
Arbeit, 839 Personen mit Krebserkrankungen und 502 Personen mit psychischen
Erkrankungen. Von den erbrachten Dienstleistungen waren 71 % hauswirtschaftlicher und
16 % sozial-medizinischer Art494.
Bei unserem Besuch in Samara (Herbst 2011) besichtigte unser deutsch-russisches
Projektleitungsteam eine Reihe von Pflegeeinrichtungen. Darunter waren ein städtisches
Komplexzentrum für soziale Versorgung (mit Abteilungen für häusliche soziale Dienste und
einem ambulanten Zentrum für Rehabilitation und Erholung für aktive Rentner*innen) sowie
493 Laut dem Experteninterwiew 4. 494 Mehrfachnennungen, Quelle: Statistik des Ministeriums für Soziales, Demographie und Familienpolitik der
Oblast Samara für 2012.
207
ein stationäres Heim für die Kriegs- und Arbeitsveteran*innen. Bei beiden Besuchen hatte man
den Eindruck, dass die Verwaltung von Samara viel getan hat, um der hilfs- und
pflegebedürftigen älteren Bevölkerung unter den gegebenen Rahmenbedingungen die
bestmögliche Versorgung zu gewährleisten. Anzumerken bleibt, dass es sich bei diesem
Veteran*innen-Altersheim vermutlich um eine besser ausgestattete „Modelleinrichtung“
handelte, auf die die dort arbeitende Leitung und Mitarbeiter*innen zurecht stolz sein können.
Denn nicht in jedem Altenheim gab es Räume und technische Vorrichtungen zur
psychologischen Relaxation, umfassende zahnärztliche und medizinische
Versorgungsabteilungen und großzügige Freizeitbereiche für geselliges Beisammensein
(Bibliothek, Nähstube etc.).
In der Oblast Samara wurde stationäre Pflege in erheblichem Maße nachgefragt. Die Qualität
sei besser als in anderen Gebieten Russlands. 2011 gab es 336 Personen auf der Warteliste für
einen Platz in einem der 41 staatlich geführten Altenheime. Die Wartezeit betrug nur 3-4
Monate und wurde vom Grad der Pflegebedürftigkeit abhängig gemacht. Entgegen den
Erwartungen stellte sich jedoch heraus: Je höher der Grad der Pflegebedürftigkeit war, desto
schwieriger war es, einen Platz zu bekommen. Das Problem der steigenden Zahlen psychisch
kranker Personen war bis dahin (2011) nicht gelöst, obwohl die Wartezeit auf Unterbringung
in einem psychoneurologischen Internat bis dahin von 4 Jahren auf 1 - 1,5 Jahre verkürzt
worden war495. Der Direktor des gerontologischen Zentrums in Samara monierte die auffällige
Tendenz, dass Neubewohner*innen in den letzten Jahren nicht mehr alleinstehende ältere
Personen waren. Des Öfteren kommen sie aus „ungünstigen familiären Verhältnissen“, wenn
Kinder ihre Alten ins Heim „abschieben wollen“. Das sei früher in Russland unbekannt und
unerhört gewesen496.
Angesichts der beginnenden Wirtschaftskrise wurden den Regionen föderale Budgetmittel
reduziert. So bekam Samaras Sozialministerium 2014 vom Bundesetat nur 46 % des jährlich
benötigten Finanzetats für die Versorgung der Pflegebedürftigen mit technischen Mitteln zur
Rehabilitation (ТMR). Darunter litten die auf diese Sachleistungen angewiesenen Behinderten
und ihre Familien enorm, wovon eine hohe Anzahl von Beschwerden auf dem
Sozialministeriumsblog zeugt. Wirtschaftskrise, Wechselkursverfall, die gegen Russland von
der westlichen Welt verhängten Sanktionen (aufgrund der Krim-Annexion und der
kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine) traf die Ärmsten der Armen. Die Preise
für die importierten Pflegeartikel stiegen rapide. Die Renten reichten nicht aus, um
495 Experteninterview 3. 496 Experteninterview 2.
208
Pflegehilfsmittel (z.B. Pampers, spezielle Unterlagen für bettlägerigen Patient*innen) aus
eigener Tasche zu bezahlen. Dafür mussten die Betroffenen sogar Kredite aufnehmen und
Zinsen zahlen!
3.3.5 Pflegeberufe und Pflegemarkt
Sowohl in Russland als auch in Deutschland besteht ein akuter Fachkräftemangel in pflegenden
Berufen. Dazu kommen relativ niedrige und regional stark variierende Gehälter sowie eine
mangelnde Attraktivität der Pflegeberufe, wodurch die professionelle Pflege faktisch zur
Frauendomäne wird. Unterschiedlich sind sowohl die berufliche Situation in der
professionellen Pflege als auch der Ansatz, den steigenden Bedarf an fachlich qualifizierter
Pflege zukünftig zu sichern.
In Deutschland erhalten 6 Millionen vorübergehend oder dauerhaft pflegebedürftige Patienten
eine medizinische Homecare-Versorgung als Leistung der Krankenversicherung497. Etwa der
Hälfte der Betroffenen stehen dabei die Dienste der Pflegefachkräfte im Rahmen der
Pflegeversicherung zur Verfügung. Einer deutschen Expertise zufolge muss man im Zeitraum
von ca. 2000 bis 2050 mit der Verdopplung des bisherigen Personalbedarfs in Pflegeberufen
rechnen498.
Für die deutsche Pflegebranche ist eine deutliche funktionale Differenzierung in
Aufgabengebieten und Kompetenzen zwischen den pflegenden Berufsgruppen charakteristisch
(Pflegefachkräfte, Pflegefachhelfer, Alltagsbegleiterinnen oder Betreuungskraft, Case
Management in der Pflege etc.). Der Haupteinsatzbereich des ambulanten Pflegepersonals
besteht in der Grundpflege: Hier haben 67 % der Beschäftigten ihren Arbeitsschwerpunkt499.
Deutschland setzt inzwischen massiv auf die Ausbildung zusätzlicher Pflegekräfte. Das neue
Pflegeberufsgesetz fördert den Trend zur „Akademisierung der Pflegeberufe“500, bei dem neben
einer Berufszulassung auch die akademischen Grade (Bachelor oder Master) erworben werden
können. In einer postindustriellen, hochentwickelten Dienstleistungsgesellschaft soll diese
Qualifizierungsmaßnahme die Attraktivität des Berufsbildes erhöhen und den Transfer von
wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Pflegepraxis fördern. Zusätzlich soll durch die
Einführung einer neuen generalistischen Pflegeausbildung der Einsatz von Pflegepersonal in
allen Arbeitsfeldern der Pflege (Alten- Kranken- und Kinderpflege) gewährleistet und somit
497 BVMed-Portal vom Homecare – ambulante Perspektiven, Stand Mai 2016. 498 Blinkert/Klie 2001: 75. 499 Destatis (2015): Pflegestatistik 2015: 10. 500 Kälble/Pundt 2016.
209
ein Beitrag zur Arbeitsplatzsicherung und Aufwertung des Berufsprestiges geleistet werden. Es
fehlt noch eine dringend bessere Entlohnung.
Staatliche ambulante Versorgung
Wer versorgt und unterstützt 5,5 Millionen vorübergehend oder dauerhaft Pflegebedürftige und
ihre 20 Millionen Angehörigen in Russland501?
Hausbesuche durch medizinisches Personal (z.B. Arzt u. Krankenschwester) dienen auch in
Russland nur der medizinischen Versorgung. Die grundpflegerische Versorgung (Umbetten,
Waschen, Nahrungsgabe etc.) ist dagegen Aufgabe der Angehörigen, ohne dass diese
ausreichend fachliche Anleitung oder Begleitung hätten. In Russland existierte bislang offiziell
kein Beruf des*r Altenpfleger*in. Laut Aussage der Ausbilderin eines Moskauers
Bildungsprojekts „Entlastungspflege“ gab es in Russland zumindest bis 2015 keine qualitativen
Pflegeausbildungsprogramme502. Nur vereinzelt werden Krankenschwestern zusätzlich auf
diesem Gebiet fortgebildet.
Stattdessen etablierte man seit Ende der 1980er Jahre den Beruf des Sozialarbeiters bzw. der
Sozialarbeiterin in den staatlichen Versorgungseinrichtungen. Bis heute ist deren beruflicher
Status weitgehend ungeklärt. Ebenso fehlt es an Ausbildungseinrichtungen und Lehrgängen für
Betreuungskräfte in der Altenpflege, medizinische Berufe mit geriatrischer Ausrichtung oder
Fachkräfte für Sozialarbeit. Angestellte von sozialen Dienstleistungszentren, ambulanten
Diensten und stationären Einrichtungen besitzen in der Regel keine medizinische, pflegerische
oder sozialpädagogische Berufsausbildung. Den Beruf eines Sozialarbeiters/einer
Sozialarbeiterin in ambulanten sozialen Diensten können alle ausüben, die mindestens eine
beliebige berufliche Ausbildung und einen Erste Hilfe-Kurs nachweisen können.
Dementsprechend mangelt es dem Personal an den erforderlichen Qualifikationen und am
Fachwissen503. Es fehlt an positiven Vorbildern, um negative Stereotypen und
Diskriminierungspraktiken in der Sozialarbeit auszumerzen bzw. gar nicht erst aufkommen zu
lassen504.
Der Schwerpunkt der Tätigkeit liegt in einer Mittlerrolle zwischen den alleinlebenden betreuten
Senior*innen und den Behörden. Sozialarbeiter*innen übernehmen auch leichte
501 Dichter 2015. 502 Dichter 2015. 503 Ivanova 2005. 504 Krasnova 2010: 193ff.
210
Alltagsassistenzaufgaben, Haushaltshilfen und die Basispflege nicht bettlägeriger Menschen, z.
B. die Hilfe beim An- und Auskleiden, der Nahrungsaufnahme und der Körperpflege. Die
eigentlichen pflegerischen Aufgaben werden angesichts geringer Bezahlung, fehlender
Qualifizierung und schwierigen Arbeitsbedingungen nur ungern und nur selten geleistet. Es
mangelt an der funktionalen Differenzierung der pflegenden Berufe, die Sozialarbeiter*innen
müssen eben „Hansdampf in allen Gassen sein“505.
Heutzutage wird diese harte und schlecht bezahlte Arbeit hauptsächlich von Frauen (wie
übrigens auch in Deutschland506) verrichtet. Der geringe Verdienst wird mittels riesiger
ideologischer Anreicherung des Berufsbildes kompensiert. Zwar versuchen einzelne Regionen,
wie die Oblast Samara, den Berufsstatus durch Weiterqualifizierung aufzuwerten, in dem eine
Attestierungsmöglichkeit geschaffen wurde, deren erfolgreiches Bestehen das Gehalt
verdoppeln lässt507. Allerdings gibt es noch keine speziellen, staatlich organisierten
Ausbildungsgänge. Daher ist es unklar, wie die erforderlichen Qualifikationen erworben
werden können. Dementsprechend bleiben die Verdienstmöglichkeiten schlecht. Das bestätigen
Experten508 und die staatlichen Gehaltsstatistiken. Der Verdienst von Sozialarbeiter*innen in
den staatlichen und kommunalen Einrichtungen betrug von Januar bis Dezember 2013 lediglich
die Hälfte (49 %) eines durchschnittlichen Gehalts landesweit509. Beträchtliche
Lohnschwankungen gab es regional und nach Trägerschaft. So verdienten Sozialarbeiter*innen
in föderalen Einrichtungen am meisten (76 %) und in Einrichtungen kommunaler Zuständigkeit
am wenigsten, nämlich 40 % des durchschnittlichen Gehalts. Daher ist der Ausspruch “little
could be demanded of social workers, and their situation is even more vulnerable than that of
their retired clients” durchaus verständlich510.
Die russische Regierung sagte zwar zu, ab 2016 die Gehälter aller Beschäftigten im sozialen
Bereich (inkl. der Altenpflege) mindestens auf 100% des durchschnittlichen
Einkommensniveaus in der jeweiligen Region zu erhöhen511. Die Umsetzung des Auftrages ist
allerdings durch die Wirtschaftskrise und Kürzung der Subsidien in den Budgets der föderalen
Regionen kaum zu erreichen. Um die Präsidentenverordnung kostenneutral zu erfüllen, entließ
505 Kupriyanova 2009. 506 In Deutschland waren in 2015 in den ambulanten Pflegediensten 87 % weibliche, 38 % 50 Jahre und ältere
Personen beschäftigt, siehe Destatis (2015): Pflegestatistik 2015: 10. 507 Siehe [Gesetz der Samara Region № 35-ГД "Über den Status des Sozialarbeiters” (mit Änderungen vom
06.12.2011 №131-GD)]. 508 Pflegerinnen auch im Altenheim müssen für einen sehr geringen Lohn eine schwere Arbeit verrichten.
Angesichts der Wirtschaftskrise sind oft Menschen dazu gezwungen, sich mit solchen Arbeitskonditionen
abzufinden (Experteninterview 5). 509 Goskomstat (2014):[Gehälter der Sozialarbeiter]. 510 Katchalova 1999. 511 Pressemitteilung der TASS-Informationsagentur Russlands vom 27.3.2015.
211
man einen Teil des Personals, um den verbliebenen Beschäftigten den geforderten Lohn zu
zahlen. Dies führte automatisch zur Verdopplung des Betreuungsschlüssels in den ambulanten
und stationären Einrichtungen. Die bisherigen und geplanten weiteren finanziellen Anreize für
die Aufwertung der Arbeit mittels Erbringung zusätzlicher ambulanter Dienstleistungen512 zum
Selbstpreis über den staatlichen Auftrag hinaus reichen keineswegs aus. Das Zubrot fällt so
wenig ins Gewicht, dass die zusätzliche Anstrengung sich kaum lohnt513. Die offizielle
Nachfrage nach gebührenpflichtigen sozialen Dienstleistungen (aus denen teilweise die
Gehaltserhöhungen der Beschäftigten finanziert werden sollen) ist ausgesprochen gering und
die Situation wird sich mittelfristig nicht wesentlich verändern, so die Prognosen des
Wirtschaftsministeriums514. Für die Zahlung der (zusätzlichen) Dienste sind die Renten der
Leistungsempfänger*innen in der Regel zu gering. Beide Seiten (Empfänger/in und
Sozialarbeiter/in) ziehen es vor, die Angelegenheit informell zu regeln oder darauf zu
verzichten.
Pflege-Graumarkt
Da die Arbeit der "Pflegekraft“ als wenig qualifiziert, aber als schwer gilt und obendrein
schlecht bezahlt ist, wollen in Russland die meisten einheimischen, ausgebildeten
Krankenschwerstern nicht als Pflegekraft arbeiten. Stattdessen floriert der Pflege-Graumarkt
(99 % des russischen Pflegemarktes)515, vor allem in Moskau und anderen Großstädten, wo
Menschen deutlich mehr als im Landesdurchschnitt verdienen und sich moderne
Lebensentwürfe stärker durchgesetzt haben. Die 24-Std.-Patronagepflege wird oft von
inoffiziellen, unqualifizierten Pflegekräften übernommen. Die meisten der auf dem russischen
informellen Pflegesektor Beschäftigten sind weibliche „Schwarzarbeiterinnen“ aus den GUS-
Ländern. Pflegefrauen verdienen meistens für eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung des/der
Pflegebedürftigen mit etwa 1.400-1.500 Rub/Tag (etwa 20 EUR/Tag) bzw. 42.000 Rub/Monat
(600 EUR) nicht wirklich viel. Nach Abzug von Unterkunft und Verpflegung beläuft sich die
Entschädigung auf 25.000 RUB/Monat (ca. 333 EUR). Allerdings lohnt sich der schwere Job
für die Migrantinnen meistens aufgrund der Unterschiede zwischen den Ländern
(Währungskurs, Lebenshaltungskosten). Die privat beschäftigten Betreuungskräfte haben
512 Es handelt sich hierbei nicht um staatlich subventionierte Preise, sondern um die Dienstleistungen zum
Selbstkostenpreis. 513 Der Lohnzuwachs durch eine Prämie von derzeit 2 % auf ca. 2,9 % fällt sehr minimal aus, vgl. auch
Kupriyanova 2009. 514 Ministerstvo ekonomicheskogo razvitiya RF (2013): [Prognosen für sozio-ökonomische Entwicklung der RF
für 2014 und für den Planungszeitraum 2015 und 2016]. 515 Dichter 2015.
212
selbst keine Kranken- oder Unfallversicherung. Beide Seiten sind mit dieser Situation
unzufrieden: die Angehörigen befürchten Vernachlässigung und Missbrauch des
Pflegebedürftigen durch die Pflegerin. Die letztere sorgt sich um ihre Bezahlung. Selbst bei
optimaler Anstrengung, den Job gut zu erledigen, entspricht die Qualität der erbrachten
Pflegeleistungen in vielen Fällen nicht den fachmännischen Erfordernissen. Auch eine
ausgebildete Krankenschwester müsste bezüglich der besonderen Pflegemaßnahmen und
Verrichtungen weitergebildet und geschult werden, was auf Menschen ohne medizinische
Ausbildung vermehrt zutrifft. Pflegemigrantinnen haben in der Regel keine medizinische
Ausbildung und sprechen vielfach ein sehr schlechtes Russisch. Deren Aufenthaltsstatus ist
halblegal, sie haben keine geregelte Wohnmöglichkeit und müssen jederzeit bereit sein, alles
hinter sich zu lassen und zu „verschwinden“516. Parallelen zum deutschen Pflege-Graumarkt
dürften gegeben sein. Da hierauf aber nicht näher eingegangen werden kann, um den Umfang
der Dissertation nicht zu sprengen, wird auf einschlägige Literatur verwiesen517.
Um die Ausbreitung des Graumarktes einzudämmen und die leeren Staatskassen zu füllen, hat
die Regierung den Graumarkt legalisiert. Aber anstatt das Berufsbild der Altenpflegekraft zu
definieren, schaffte das Gesetz von 2015 sämtliche fachliche Anforderungen an das Personal
der sozialen Dienstanbieter ab. Das dürfte für die Qualität der angebotenen Pflegeleistungen
nicht gerade förderlich sein.
Dritter Sektor in der Altenpflege
Obwohl seit 1995 die nichtstaatlichen Pflegedienstleister in § 4 des Föderalen Gesetzes
verankert sind, hat die Regierung faktisch nichts getan, um den privaten oder dritten
Pflegesektor zu fördern. Ursache dürfte ein Vertrauensmangel und der fehlende politische Wille
sein, das System grundsätzlich zu verändern518. Wenige nichtstaatliche/gemeinnützige soziale
Dienste für Senioren und Behinderte, die in den 1990er Jahren entstanden waren, überlebten
nur vereinzelt. Die Arbeit von NGOs war unter den Betroffenen sehr geschätzt, da sie auf die
Bedürfnisse ausgerichtete Dienstleistungen anboten. Um eine qualifizierte und effiziente Arbeit
zu leisten, engagierten sich hier auch Freiwillige. Doch mussten einige von ihnen ihre Arbeit
aufgrund fehlender Finanzierung, die vor allem von internationalen gemeinnützigen
Organisationen und Stiftungen wie Caritas oder dem Fond "Erinnerung und Zukunft"
516 Siehe Zdravomyslova 2015; Dichter 2015. 517 Z.B. Thiebold 2010; Isfort 2017. 518 Field/Twiggs 2004.
213
gekommen war, wieder aufgeben519. Das Staatsmisstrauen gegenüber ausländischen Investoren
führte zur umstrittenen Politik gegen NGOs. Auch Massenmedien produzierten eher ein
schlechtes als gutes Bild von ihnen. So musste 2005 die erste und damals einzige
Altenpflegeschule in Russland schließen, da die finanzielle Unterstützung aus Deutschland
wegfiel520. Da der Staat die Abdeckung des Pflegebedarfs nicht in ausreichendem Ausmaß
sicherstellt, entstehen inzwischen in den Regionen Russlands heimische wohltätige Initiativen.
Erwähnt werden soll die 2006 von Lisa Oleskina gegründete Studierendenbewegung „Starost
v radost“521. Junge Menschen engagieren sich für eine bessere Lebensqualität für Ältere in
staatlichen Heimen durch Spendenaktionen, Briefpatenschaften („Unsichtbare Enkel“),
Besuche mit Freizeitaktionen, Festen und Konzerten in den Heimen. Inzwischen ist daraus eine
wohltätige Stiftung geworden, die derzeit 150 Altersheime in 25 Regionen Russlands betreut.
Sie finanziert die Arbeit von über 100 zusätzlichen Arbeitskräften in den Einrichtungen,
Medikamente, Pflegemittelartikel etc.
Andere Initiativen orientieren sich am Ideal der „Barmherzigen Schwestern“ aus der
Vergangenheit. Es sei beispielsweise an die caritative Initiative des russisch-orthodoxen
Hilfediensts „Miloserdie, auf Deutsch: Barmherzigkeit“522 erinnert, die größte Vereinigung von
sozialen Projekten der Kirche für Menschen in Not. 24 Projekte des Sozialen Dienstes
(palliative Hilfe, ambulante Pflegedienste für ältere alleinstehende pflegebedürftige Menschen,
todkranke Kinder, HIV-Patienten etc.) sind aus Spenden finanziert und richten ihre Tätigkeit
hauptsächlich auf das Gebiet in und um Moskau. Deren Altenpflegdienst betreut zwar 2.000
alleinstehende Patient*innen in den Krankenhäusern, 56 Schwerstbehinderte zuhause oder im
„Armenhaus“. Die Hilfe ist aber ein „Tropfen im Ozean“ und kann das Leid und den nötigen
Pflegeberdarf bei Weitem nicht decken, räumt der caritative Sektor selber ein523. Ohne
finanzielle Unterstützung des Staates werden viele bürgerschaftlichen Initiativen in der
Altenhilfe nicht von Dauer sein können. Bürgerschaftliches Engagement braucht Förderung,
aber auch gesellschaftliche Anerkennung.
519 Erdmann-Kutnevic 2006: 15. 520 Ebd., S. 14. 521 Starost v radost Wohltätigkeitsfonds für ältere Menschen und Behinderte. 522 Miloserdie, Russisch-orthodoxer sozialer Hilfedienst. 523 Anna Ovsjannikova, Expertin vom russisch-orthodoxen Sozialen Hilfedienst „Barmherzigkeit“ und
Mitorganisatorin der ersten „Konferenz der (ambulanten) Pflege in XXI“ in Russland 2015.
214
Private professionelle Pflegebranche
Auch das Angebot im privaten (offiziellen) Pflegesektor blieb ausgesprochen gering, was sich
primär aus der mangelnden Zahlungsfähigkeit der potentiellen Kunden (Mittelschicht in
Russland) erklärte524. In den letzten 10 Jahren stieg jedoch die Nachfrage nach privaten
Angeboten. Das belegt die Geschäftsexpansion von Senior Group, dem größten kommerziellen
Anbieter für Seniorenresidenzen in Russland. Das Unternehmen ist seit 2007 auf dem
russischen Pflegemarkt tätig, vor allem in den Großregionen Moskau und St. Petersburg. Die
nach europäischen Standards eingerichteten Heime werden mit allen notwendigen technischen
Pflegevorrichtungen auch dementen und schwerstpflegebedürftigen Personen gerecht. Seit
Neuestem gibt es auch Angebote für betreutes Wohnen. Private Pflegeinrichtungen versichern
den Angehörigen eine sehr gute medizinische und pflegerische Versorgung und Betreuung für
ihre Eltern. Im Gegensatz zur Einsamkeit in den eigenen vier Wänden würden die alten
Menschen bei ihnen durch gute Pflege und gemeinsame Aktivitäten mit den anderen
Bewohnern richtig aufleben. Allerdings können nur wohlhabende Familien sich ein privates
Pflegeheim leisten. Die Preise variierten 2012 je nach Leistungsangebot und dem
Pflegebedürftigkeitsgrad zwischen 55-90.000 RUB monatlich525, was damals unter der
Berücksichtigung des historischen Währungskurses etwa 1.366 – 2.236 EUR entsprach,
während in Deutschland die Heimunterbringung mindestens doppelt so teuer ist, durch die
Pflegeversicherung aber immerhin in etwa zur Hälfte abgedeckt wird.
Ausländische Investoren zeigen nicht umsonst seit einigen Jahren Interesse am zu
erschließenden russischen Pflegemarkt526. Im Pflegebusiness wird damit gerechnet, dass sich
die Zahl von privaten Altenheimen in Moskau und St. Petersburg in den nächsten 2-3 Jahren
verdreifachen wird. In den Regionen war der private Pflegemarkt dagegen kaum existent. Mit
einer vergleichbaren Entwicklung war und ist nicht zu rechnen. Derzeit sind lediglich 2 % aller
Betten im stationären Pflegesektor in Russland in privater Hand527. Nur ein kleiner Bruchteil
der pflegebedürftigen Bevölkerung (weniger als 1 %) nutzen Dienste von privaten
Pflegeheimen528.
Zur Lösung des Platzkapazitätsproblems in den staatlichen Heimen fördert nun der Staat die
Teilnahme nichtstaatlicher Organisationen, um die Aufgaben in der sozialen Sphäre zu
524 Guslakova/Kalinina 2006. 525 Wikipedia-Eintrag „Senior Group“. 526 Russian Senior Housing and Care Market (RSHCM) Conference, 13.4.2017, St. Petersburg. 527 Kononov 2015. 528 Antonjan (2016) - НАФИ-Studie.
215
realisieren. Im Gesetz von 2015 ist den Leistungsberechtigten die freie Wahlmöglichkeit des
Anbieters eingeräumt (staatlich, gemeinnützig oder privat). Seitdem ist ein wachsender Markt
von privaten Anbietern stationärer Pflege russlandweit zu beobachten. Hier stellte sich die
Frage: „Wer soll die deutlich höheren Kosten des privaten Pflegeheims bezahlen? Und wie?“.
Private Anbieter sollen dank Steuerermäßigungen und der Co-Finanzierung durch den Bürger
die Versorgungskosten der staatlich-dotierten Plätze um 56 % senken können. Für die
Leistungsberechtigten soll auch in den privaten Heimen nur die staatlich garantierte Versorgung
gewährleistet werden, für mehr Qualität in der Pflege/Unterbringung müsste der
Leistungsberechtigte selbst aufkommen. Wiederum geht die staatlich-private Partnerschaft nur
soweit, um den gesetzlichen Auftrag zu erfüllen, d.h. nur für die „anspruchsberechtigten“
Personengruppen, denen der Staat soziale Versorgung garantiert. Alle übrigen Bürger müssen
sowohl in den staatlichen als auch privaten Einrichtungen die vollen Kosten selbst tragen. Vom
ökonomischen Gesichtspunkt sind die privaten Projekte in der sozialen Sphäre nicht immer
gewinnbringend und deshalb nicht attraktiv, bzw. ein Gewinn nur langfristig erreichbar ist. Die
Investitionskosten und dementsprechend auch die Unterbringungskosten sind relativ hoch. Im
Übrigen hat der private Pflegesektor nach wie vor mit einer durchaus negativen Einstellung
seitens der Bevölkerung zu kämpfen. Den Altenheimbetreibern wird vorgeworfen: "Ihr macht
Profit mit den Alten!"529.
Durch das neue Gesetz werden die Rechte der Empfänger von sozialen Leistungen in gewissem
Maß gestärkt: Informationen über die Anbieter, Leistungskataloge, Preise, verfügbare
Kapazitäten sind elektronisch zugänglich, „unabhängige“ Bewertung der Qualität der
angebotenen Leistungen ist möglich. Trotzdem bleibt der Kreis der Anbieter im Bereich
häuslicher Versorgung nach wie vor auf die staatlichen Einrichtungen beschränkt. In der ganzen
Oblast Samara gab es im 3. Quartal 2015 noch keinen einzigen nichtstaatlichen ambulanten
Pflegeanbieter.
3.3.6 Honorierung und Entlastung pflegender Angehörigen
Der Staat kann pflegebedürftige Personen oder deren pflegende Familienangehörige durch
verschiedene Maßnahmen unterstützen:.
1) rechtliche Gleichstellung der Familienarbeit mit der Erwerbsarbeit (z.B. durch
Anrechnung von Pflege- und Betreuungszeiten für die Rentenversicherung);
529 Sidnev 2014.
216
2) Zahlungen, die den Arbeitslohn quasi ersetzen, und somit Honorierungen informell
erbrachten Pflege- und Betreuungsleistungen darstellen;
3) arbeitspolitische Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.
4) Pflege zur öffentlichen Aufgabe machen und Angehörige weitgehend entlasten
In beiden Ländern ist es politisch gewollt, die Pflege hauptsächlich von den Familien erbringen
zu lassen. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass in Deutschland familiäre Pflege
durch zahlreiche Maßnahmen honoriert und unterstützt wird. In Russland wird die von Familien
geleistete Pflegearbeit vom Staat vorausgesetzt, wenig honoriert oder unterstützt.
In Deutschland war ein Großteil der Pflegeleistungen informell und unbezahlt. Jedoch hat der
deutsche Gesetzgeber die Leistungen pflegender Familienangehöriger inzwischen offiziell
anerkannt und formeller Arbeit nach und nach zum Teil gleichgestellt. Zumindest teilweise
werden sie auch entschädigt530. Zu nennen sind folgende zentrale pflegepolitische Instrumente:
a) das Pflegegeld, das an die pflegenden Angehörigen weiter gegeben werden kann, um deren
Einsatz zu honorieren, b) ein verbessertes Familienpflegezeitgesetz und Pflegezeitgesetz, die
zeitliche Flexibilität und Sicherheit der zu pflegenden Angehörigen gewähren und c)
Verhinderungspflege.
So bewegen sich seit 2017 die Pflegegeldleistungen zwischen 316 und 901 EUR pro Monat
(siehe Tab. 13). Außerdem werden die Pflegezeiten für die Rentenversicherung angerechnet.
Darüber hinaus wird die pflegeleistende Person zum Teil sozialversichert. „Die negative
Konsequenz ist, dass die finanziellen Leistungen deutlich unterhalb eines marktüblichen
Gehalts bleiben, so dass dadurch auch die ‚Minderwertigkeit‘ der Familienarbeit
institutionalisiert wird und auch keine Anreize gegeben werden, die ungleiche
Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen zu verringern“531.
Ab 01.01.2015 hat der deutsche Gesetzgeber neue Regelungen eingeführt, um den
Bürgern*innen mehr Flexibilität bei der Vereinbarung von Familie, Pflege und Beruf zu
ermöglichen. Das neue Gesetz betrifft drei Bereiche: das Pflegeunterstützungsgeld, die
Pflegezeit und die Familienpflegezeit. Bei einem akuten Pflegefall in der Familie haben die
Arbeitnehmer*innen die Möglichkeit, der Arbeit bis zu 10 Tage fernzubleiben und für diesen
Zeitraum das Pflegeunterstützungsgeld in Anspruch zu nehmen, das von der Pflegekasse
gezahlt wird, auch wenn die zu pflegende Person noch keine Pflegestufe hat. Der Anspruch gilt
530 Blome et al. 2008: 214ff. 531 Tronto 2001, zit. n. Blome et al. 2008: 215.
217
gegenüber allen Arbeitgebern unabhängig von der Größe des Unternehmens. Weiterhin hat man
die Möglichkeit, für bis zu 6 Monate ganz oder teilweise aus dem Job auszusteigen, um
Angehörige zu pflegen. Eine solche Pflegezeit gilt aber nur bei Unternehmen mit mehr als 15
Mitarbeitern*innen. Bei länger andauernder Pflege besteht ein Rechtsanspruch auf die
Familienpflegezeit. Bis zu 24 Monate lang kann die Arbeitszeit auf bis zu 15 Std./Woche
reduziert werden. In dieser Zeit genießen pflegende Angehörige Freistellungs- und
Kündigungsschutz bei Arbeitgebern mit mehr als 25 Beschäftigten. Für die Pflege- bzw.
Familienpflegezeit hat man einen Anspruch auf ein zinsloses Darlehen vom Staat für max. 24
Monate, um den Verdienstausfall abzufedern532.
Unzweifelhaft sind dies richtige Schritte zur Unterstützung der Familienpflege. Allerdings fand
eine ein Jahr später durchgeführte Studie vom Zentrum für Qualität in der Pflege heraus: „die
große Mehrheit der erwerbstätigen Deutschen [glaubt] nicht, dass sich Beruf und Pflege gut
vereinbaren lassen“. Die gesetzlichen vielfältigen Entlastungsmöglichkeiten bleiben zu oft
ungenutzt aufgrund mangelnder Informierung, finanziellen und organisatorischen Probleme als
auch Befürchtungen, berufliche Nachteile zu erleiden533. Auch kamen diese Verbesserungen in
der Pflegegesetzgebung erst unter einem erheblichen gesellschaftlichen Druck und viele Jahre
später. Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf unter den erwarteten Entwicklungen in der
Arbeitswelt 4.0 wurde darin nicht mitbedacht.
Der russische Staat gewährte seit 17.03.1994 ebenso eine indirekte finanzielle Unterstützung
für die informellen Pflegepersonen534. Es handelte sich damals um einen geringen Betrag von
120 RUB (27 EUR), der monatlich zusätzlich zur Rente der pflegebedürftigen Person
ausgezahlt wurde. Dieser sollte eine Kompensation des Lohnverlustes aufgrund der
Pflegeübernahme darstellen. Die Kompensationszahlung wurde 2007 auf 500 RUB und 2008
auf 1200 RUB erhöht. An der nominalen Höhe hat sich dabei nichts geändert (sie entspricht ca.
20 EUR in 2017). Ab 2008 wird zudem die Anzahl betreuter Personen berücksichtigt. Neben
der Tatsache, dass dieses Pflegegeld rein symbolischer Natur ist, ist es an eine Reihe von
Bedingungen geknüpft: Nur erwerbstätige Personen im erwerbsfähigen Alter, die kein
Einkommen, keine Rente oder kein Arbeitslosengeld beziehen, und entweder eine behinderte,
eine ältere pflegebedürftige oder hochbetagte Person (ab 80 Jahren) betreuen, haben Anspruch
auf eine monatliche Kompensationszahlung. Dies gilt unabhängig von einem Zusammenleben
oder Verwandtschaftsgrad. Den Eltern oder gesetzlichen Betreuern von nichtvolljährigen
532 BMFSFJ (2017): Stichwort „Die Familienpflegezeit“, Stand 6.2.2017. 533 Stiftung ZQP (2016). 534 Decret des Präsidenten Russländischer Föderation vom 17.3.1994 № 551.
218
behinderten Kindern oder den seit der Geburt Behinderten stehen 5.500 RUB (ca. 92 EUR) zu.
Die Betreuungszeit wird auf die Rente angerechnet in Höhe von 1,8 Rentenpunkte pro Jahr.
Diese Maßnahme bezweckt keineswegs eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und
Beruf, sondern dient nur dem Zweck, an und für sich staatliche Verpflichtungen auf die
Schultern der informell Pflegenden zu verlagern. Unter solchen Bedingungen ist diese
Entschädigung mit dem deutschen Pflegegeld nicht vergleichbar!
Andererseits wurde seit ca. 2008 die Adoptivfamilie für Pflegebedürftige eingeführt, ein
inzwischen recht verbreitetes Modell, dessen Modalitäten die Föderationssubjekte im Rahmen
der regionalen Gesetzgebung zu regulieren haben. Auch in der Oblast Samara gilt diese Re-
Familialisierungs-Praxis älterer alleinstehender, pflegebedürftiger oder behinderter Personen,
die temporär oder dauerhaft fremde Hilfe benötigen535. Das Gesetz regelt einen „Quasi-Lohn“
von 2.500 RUB (ca. 40 EUR) mit der Gründung einer Bedarfsgemeinschaft, bei der die
pflegebedürftige Person zu den Versorgungskosten und dem gemeinsamen Haushalt mit bis zu
75 % ihrer Rente beitragen muss. Einerseits verfolgt dieses pflegepolitische Instrument den
Zweck die Lebensqualität älterer Menschen und Behinderten zu verbessern, die Traditionen der
gegenseitigen Hilfe zu stärken und der sozialen Isolation vorzubeugen. Andererseits dient es
der Re-Traditionalisierung der Pflegeaufgaben und der Entlastung der öffentlichen Pflege. In
Russland beziehen sich die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen hauptsächlich auf die
pflegebedürftige Person, nicht auf die pflegende Person.
Tab. 13: Anerkennung und Unterstützung der familialen Pflege durch pflegepolitische
Maßnahmen
DEUTSCHLAND RUSSLAND
- Pflegegeld seit 2017: ab 316 EUR im Pflegegrad 2
(früher Pflegestufe I) bis 901 EUR im Pflegegrad 5
(früher Pflegestufe III mit Demenz), damit teilweise
Anerkennung von Pflegearbeit
- Pflegeunterstützungsgeld, Pflegezeit,
Familienpflegzeit;
- Entlastungsbetrag 125 EUR, einsetzbar für die
Selbstversorgung im Pflegegrad 1;
- Übernahme von Tages-/Nachtpflegeleistungen,
Verhinderungs-/Kurzzeitpflege ohne Reduzierung/
bei Halbierung des Pflegegeldes.
- Pflegekasse zahlt Rentenbeiträge.
- Kompensationszahlung, unabhängig von Pflegestufe,
rein „symbolischer Natur“ (1.200 RUB, ca. 20 EUR
2017). Ausgezahlt nur an nicht berufstätige
erwerbsfähige Pflegepersonen ohne sonstige
Einkünfte (Rente, Elterngeld, Selbstbeschäftigung
etc.). 5.500 RUB stehen behinderten
Nichtvolljährigen/ seit Geburt Behinderten zu
- Pflegezeit zählt für die Rente.
- „Quasi-Lohn“ von 2.500 RUB (ca. 40 EUR) + 75 %
der Rente bei Gründung einer Bedarfsgemeinschaft
und Versorgung der pflegebedürftigen Person.
Quelle: Eigene Darstellung
535 Gesetz der Oblast Samara vom 10.11.2008 №121-GD „Über die Organisation von Adoptivfamilien für ältere
und behinderte Menschen in der Oblast Samara“.
219
3.3.7 Zusammenfassung zur öffentlichen Pflege in Russland
Obwohl die Etablierung der ambulanten sozialen Dienste in den staatlichen
Versorgungszentren eine große Errungenschaft der Transformationszeit war, kamen
häusliche Betreuungsangebote nur wenigen älteren hilfe- und pflegebedürftigen
Menschen zugute. Kostenpflichtige Dienstleistungen stießen nur auf geringe Nachfrage.
Die Zugänglichkeit der öffentlichen Versorgung war schon immer auf einen engen Kreis
von Pflegebedürftigen beschränkt. Darüber hinaus scheiterte der Zugang zu den
staatlichen sozialen Versorgungsleistungen oft an mangelnder Informierung der
Bevölkerung bezüglich des Anspruchs auf öffentliche soziale Versorgungsleistungen,
an bürokratischen Hürden, Eignungskriterien und langen Wartezeiten536.
Aufgrund des sehr niedrigen Rentenniveaus und hoher Lebenshaltungskosten war die
Mehrheit der Pflegebedürftigen nicht in der Lage, staatliche Dienstleistungen in
benötigtem Umfang selbst zu sozialverträglichen Preisen in Anspruch zu nehmen.
Ferner sorgten die ausgeprägten paternalistischen Erwartungen der älteren Bevölkerung
an den Staat für eine geringe Akzeptanz der gebührenpflichtigen
Versorgungsleistungen537. Auch traditionelle Familiennormen wirkten sich prohibitiv
auf die Inanspruchnahme von staatlichen Versorgungsleistungen durch die betroffenen
Familien aus. Eine nicht geringe Rolle spielten auf dem Land die großen Entfernungen
zu den Versorgungszentren, die den Zugang für Ältere sehr erschwerten. Hier setzen
einige Regionen auf eine „Re-Familialisierung“ der alten und alleinstehenden hilfs- und
pflegebedürftigen Älteren mittels des populären Modells „Adoptivfamilie für Ältere“.
Seit 2015 gibt es die Erweiterung des Anbieterkreises auf private und gemeinnützige
Pflegeanbieter, die Bündelung der Anbieterinformationen im Netz bezüglich freier
Plätze, schnellere Begutachtungsprozesse und kürzere Wartezeiten. Damit sind
Hoffnungen auf eine Verbesserung der bisherigen Zugangsmöglichkeiten verbunden.
Die allgemeine „culture of distrust“ in der Gesellschaft538, die schlechten Erfahrungen
mit der russischen Behördenwillkür, das negative Meinungsbild über die Fremdpflege
infolge vieler Skandale, die in den Medien Schlagzeilen machten, insbesondere bei
Betrugsfällen zur „Wohnungsschenkung für Pflege und Lebensunterhalt“ dürften eine
536 Vgl. Krasnova 2010: 202. 537 Karl/Krasnova (Hg.) 2001; Grigorieva 2005b. 538 Reutov/Reutova 2013.
220
mangelnde Nachfrage nach häuslichen Versorgungsangeboten der nichtstaatlichen
Akteure bei den älteren Betroffenen bewirkt539 und die Entwicklung des Pflegemarktes
erheblich behindert haben.
Auf regionaler Ebene waren normative Grundlagen für die Regelung der Arbeit
verschiedener Einrichtungen der sozialen Dienste nicht vorhanden, veraltet oder
unbekannt. Weder die Qualitätsstandards der angebotenen Dienstleistungen noch eine
Vorstellung von „Effizienz“ wurde ausreichend durch den Gesetzgeber definiert540.
Zwischen den staatlichen Versorgungsdiensten gab es keine Konkurrenz. Die
Verantwortung zur Einhaltung von Effizienz und Qualitätskriterien wurde vollständig
auf die Beschäftigten in den staatlichen Versorgungsdiensten abgewälzt. Sie war von
deren beruflichen Qualifizierungen, Erfahrungen und persönlichen Eigenschaften
abhängig. Inzwischen wurden unterschiedliche nationale Standards für die
Bereitstellung sozialer Dienste eingeführt. Dennoch bleibt die Kontrolle der Qualität
und Effizienz der sozialen Dienste eher unergiebig, weil die Qualitätsbewertung nicht
unabhängig oder anonym erfolgt.
Im „starren“ russischen Altenpflegesystem gab es nur wenige Möglichkeiten, auf
individuelle Bedürfnisse eingehen zu können. Vor allem mangelte es an
grundpflegerischen Leistungsangeboten. Hinzu kam, dass sie nicht auf die Bedürfnisse
der Kunden541 ausgerichtet waren angesichts fehlender Konkurrenz und effizienter
Qualitätskontrolle. Vor allem aber fehlten finanzielle Anreize für die Beschäftigten der
staatlichen häuslichen Betreuungsdienste, ihre Dienstleistungen auf weitere Kunden
außerhalb des öffentlichen Auftrags auszudehnen.
Ein selbstbestimmtes Leben und Wohnen für alleinstehende pflegebedürftige Personen
ist unter den gegebenen russischen pflegeinfrastrukturellen Verhältnissen wohl kaum
ohne deren Angehörigen möglich. Alleinstehende Personen, die sich nicht selbst
versorgen können, landen nach erheblichen Wartezeiten in russischen Heimen, die
meistens dürftig ausgestattet sind. Zwecks Überbrückung nicht gelöster pflegerischer
und sozialer Probleme versuchen sich die Älteren aus den unteren sozialen Schichten
(und dazu gehört die große Mehrheit der Älteren in Russland) über
Krankenhausaufenthalte zu retten. Die Ursachen nicht sachgemäßer Inanspruchnahme
539 Experteninterview 3. 540 Guslakova/Kalinina 2006. 541 Vgl. Krasnova 2010: 202.
221
der medizinischen Versorgung liegen im Fehlen eines ausbalancierten
Versorgungsmixes häuslicher Pflegeanbieter. Weitere Ursachen ergeben sich aus einer
mangelnden Abstimmung des Gesundheitssystems mit dem System der sozialen
Versorgung zwecks Regelung der medizinischen und grundpflegerischen
Versorgung542.
Regionale Disparitäten in der Bedarfsdeckung, den Qualitätsstandards, im Umfang der
angebotenen Dienstleistungen aufgrund der unterschiedlichen Wirtschaftsstärke der
Regionen können durch die neuen Marktmechanismen (Einnahmen aus den
zusätzlichen, über den staatlichen Auftrag hinaus angebotenen Leistungen) entgegen
den Erwartungen nur sehr eingeschränkt behoben werden. Hier wären zusätzliche
öffentliche Investitionen und Ausgaben für die pflegerische Versorgung notwendig.
Insgesamt ist das Pflegesystem chronisch unterfinanziert. Dies gilt umso mehr in Zeiten
von Wirtschaftskrisen.
Das neue Gesetz würde, so die Erwartung, wichtige Korrekturen am bestehenden
System und Verfahren der sozialen Versorgung der Bevölkerung schaffen und die
Zugänglichkeit in der Pflegeversorgung erhöhen. Die Maßnahmen reichen bislang
jedoch nicht aus, um die Versorgung nachhaltig zu verbessern.
3.3.8 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Pflegeregime im Vergleich
Die Pflegesysteme in Russland und Deutschland unterscheiden sich in Art, Umfang und
Qualität der staatlichen Leistungen für pflegebedürftige Personen erheblich. Darin
liegen m.E. wichtige Ursachen für die in unserer Pilot-Studie festgestellten
Unterschiede zwischen Samara und Freiburg.
Beide Pflegesysteme können als familialistisch bezeichnet werden, weil sie der
familialen Pflege den gesetzlichen Vorrang vor der öffentlichen Pflege geben und dem
Staat nur eine subsidiäre Rolle zuweisen543. 2/3 der deutschen Familien pflegen selber
oder mit professioneller Unterstützung, in Russland pflegen fast alle Familien selber.
Gleichzeitig unterscheiden sich beide Pflegesysteme durch eine teilweise De-
Familialisierung in Deutschland544 und ungebrochene Familialisierung in Russland.
542 Solodukhina 2004; Maksimova 2006. 543 Vgl. Daatland/Lowenstein 2005. 544 Blome et al. 2008: 213.
222
Nach der Einführung der allgemeinen Pflegeversicherung in Deutschland 1995 hat eine
deutliche Verschiebung der Pflegelasten von den Familien zu den professionellen
Diensten stattgefunden. Danach stabilisierten sich die Verhältnisse. In Russland gibt es
bislang keine allgemeinverpflichtende Pflegeversicherung.
Deutschland ist geprägt durch einen „Mix aus informellen und formellen Elementen des
Pflegesystems“545, Russland dagegen durch ein stark familialistisches Pflegeregime, in
dem der Pflegebedarf fast ausschließlich durch die Familie gedeckt wird. Deutschlands
“Wohlfahrts-Mix” besteht aus vier verschiedenen Akteuren: 1) dem (Wohlfahrts)staat,
2) Pflegemarkt (offizielle Anbieter), 3) der Zivilgesellschaft (gemeinnützige Anbieter
und Ehrenamtliche) und 4) dem informellen Pflegesektor (Familie, Nachbarn und
Freunde). Der russische Staat übernimmt die Verantwortung nur für “Pflegenotfälle”.
Der offizielle Pflegemarkt ist unterentwickelt und wird dominiert durch die staatlich
organisierten Versorgungsleistungen. In beiden Ländern ist die Grauökonomie zur
Deckung des Pflegebedarfs (z.B. 24 Std. Pflegekraft) bedeutend, kann aber nicht genau
beziffert werden.
Im europäischen Vergleich nimmt Deutschland, was das Ausmaß der öffentlichen
(insbesondere kommunalen) Pflegeversorgung anbetrifft eine mittlere Position ein546.
Im Vergleich zu Nordeuropa liegen die Deckungsraten zwar auf einem eher niedrigeren,
im Vergleich zu Russland dagegen auf einem deutlich höheren Niveau.
In Deutschland ist die Professionalisierung der Pflegeberufe ein permanenter Prozess.
In Russland wurde der Pflegeberuf dagegen mit deutlicher Verzögerung eingeführt.
Zunächst fand eine völlige Deregulierung des Berufsstandes statt. Nötig wäre gewesen,
den Berufsstatus eines*r Sozialarbeiters*in zu stärken. Ein*e soziale*r Dienstleister*in
muss (auch weiterhin) nicht zwingend eine Fachausbildung haben. Zusätzlich entfällt
die (früher notwendige) Lizenz. Damit ist die soziale Versorgung praktisch für
jedermann erlaubt. Dies dürfte der Pflegequalität nicht förderlich sein.
Stationäre Pflege soll in Deutschland und Russland möglichst vermieden werden.
Priorität hat die häusliche Pflege, unter Umständen mit Hilfe von ambulanten
Pflegedienste. Die meisten Menschen, die pflegebedürftig sind, wollen „zu Hause“
gepflegt werden. Die individuelle Autonomie der pflegebedürftigen Person im
545 Schulz/Geyer 2016:19. 546 Bettio/Verashchagina 2010.
223
gewohnten sozialen Umfeld wird als Maßstab „guter Pflege“ angesehen. Die Forderung
„ambulant vor stationär“ wird zudem durch das Kalkül der Kostenersparnis getragen,
denn eine ambulante Pflege ist weitaus kostengünstiger als eine stationäre Pflege. In
Deutschland wird außerdem der öffentlichen Kritik an mangelnder Qualität der
stationären Betreuung Rechnung getragen und daher bewusst deren Ausbau nicht
vorangetrieben. Bedenken an der Überforderung pflegender Angehöriger, häusliche
Gewalt gegenüber alten Menschen und Isolierung in den eigenen vier Wänden werden
dabei in beiden Ländern zu wenig oder gar nicht thematisiert547. Für Russland ist ferner
kennzeichnend der Mangel an Kapazitäten in staatlichen Heimen und an politischem
Willen, marode stationäre Pflegeinfrastrukturen zu erneuern. Ebenso müsste das
Netzwerk der ambulanten sozialen Dienste viel stärker ausgebaut werden.
Während in Deutschland ein universeller Zugang aller Pflegebedürftigen zu den
Pflegeleistungen gewährleistet ist, ist in Russlands Pflegesystem die Klassifizierung von
Bürger*innen in verschiedene Kategorien bezüglich ihrer Rechte und Vergünstigungen
typisch und stellt somit eine Ungleichbehandlung der Pflegebedürftigen dar. Nur ein
kleiner Teil der Pflegebedürftigen bekommt eine kostenlose Pflegeversorgung. Für die
meisten Leistungsbezieher*innen wird häusliche Betreuung vom Staat gegen Gebühr
angeboten (zu staatlich subventionierten oder marktüblichen Konditionen). Daher kann
der existierenden Sozialgesetzgebung berechtigt vorgeworfen werden, sie trage zur
Benachteiligung der Massen und Privilegierung einiger wenigen Gruppen alter
Menschen und damit zur sozialen Ungleichheit im Alter bei548.
In Deutschland wird für die pflegenden Angehörigen spürbare Entlastung und
Unterstützung geboten. Tritt ein Pflegefall in der Familie ein, so kann sich die
potentielle Pflegeperson zwischen der professionellen Pflege(unterstützung) und
Familienpflege entscheiden. Informelle Pflege wird in Deutschland durch einen „Quasi-
Lohn“549 anerkannt. Die Leistungshöhe liegt jedoch deutlich unter dem im Pflegesektor
marktüblichen Niveau. In Russland ist Pflege traditionsgemäß eine
Familienangelegenheit. Die staatlichen Versorgungsleistungen in Russland sind nicht
als Unterstützung, sondern als Ersatz für fehlende Familienpflege intendiert. Die
finanzielle Anerkennung der informellen Pflege ist nur symbolischer Natur. So ist im
547 Vgl. Baumgartl 1997: 86. 548 Vgl. Krasnova 2010: 199. 549 Blome et al. 2008: 188.
224
russischen Altenpflegesystem „Hilfe für die Familien, die ältere Angehörige pflegen,
minimal, eine moralische Unterstützung umso weniger“550.
In den meisten westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten inkl. Deutschlands ist seit den
1990er Jahren ein Trend zu beobachten, den man als „einen schleichenden Übergang
vom konservativen zum wirtschaftsliberalen Model“ und von der „Solidar- zu
Selbstverantwortung“ ansehen kann551. Die wohlfahrtsstaatlichen und sozialen
Leistungen wurden zurückgefahren, Gesundheits- und Pflegeleistungen der
Krankenkassen gekürzt und sogar gestrichen. Dieser Sparkurs der Politik in
Deutschland führte 2013 zu Protestwellen bei den Beschäftigten der Pflegebranche.
Obwohl Pflege immer teurer wird, haben sich Pflegezeitvorgaben pro Patienten
drastisch verkürzt. Personalnotstand und geringe Entlohnung machen die ohnehin
schweren Arbeitsbedingungen in dem Beruf zur „(Power-)Pflege in Akkord“552.
Der post-sozialistische Wohlfahrtsstaat in Russland verzeichnet ebenso einen
Rationalisierungs- und Rationierungstrend in den sozialen Sicherungssystemen, weg
vom paternalistischen Staat (z.B. kostenlose Gesundheitsversorgung) hin zur
Eigenverantwortung der Bevölkerung, nur mit einem gewaltigen Unterschied zu
Deutschland: die gesundheitliche und pflegerische Versorgung ist a priori minimal,
dazu auch noch größtenteils kostenpflichtig und damit sozial selektiv. Seit 2013 findet
ein Stellen- und infrastruktureller Abbau in den Versorgungseinrichtungen im Zuge des
„Optimierungskurses der sozialen Sphäre“ statt. Sämtliche zentral verordneten
Maßnahmen (z.B. Gehaltsanhebungen für die Sozialarbeiter*innen bis zum
durchschnittlichen Verdienst) sollen ohne zusätzliche Mittelzuweisungen an die
Regionen erfolgen. Durch den Zwang zur Sparpolitik wird auch das Angebot
„kostenloser“ oder stark vergünstigter Leistungen immer stärker reduziert. Leistungen
wie z.B. der Anspruch auf (einmalige) finanzielle Hilfe, spezielle Transportmittel oder
Rehabilitationsleistungen sind im Gesetzestext nicht mehr enthalten.
550 Grigorieva 2014, Übersetzung der Autorin. 551 Bauer/Büscher 2008: 17. 552 Siehe z.B. Korfmann (2014): „Pfleger protestieren gegen den Sparkurs der Krankenkassen“, SWR Fernsehen
(2017): „Krankes System. Experten kritisieren Pflege im Akkord“.
225
4. Zusammenfassung, Diskussion und Ausblick
4.1 Kontext der Fragestellung, Hypothesen und Begründungen
Wie der Titel dieser Dissertation „Pflege im gesellschaftlichen Wandel – Ein Vergleich
zwischen Russland und Deutschland“ verdeutlicht, ist Pflegebereitschaft im Familienverband
kein „Status Quo“, sondern wie jedes soziale Phänomen dem demographischen und
soziokulturellen Wandel unterworfen. Eines der Forschungsziele dieser Arbeit war es, die
Auswirkungen der demographischen Prozesse auf den zukünftigen Pflegebedarf und das
familiäre Pflegepotential in Russland und Deutschland zu vergleichen. Welchen Stellenwert die
Gesellschaften dem Thema Alter und Pflege wirklich widmen, spiegelt sich in der öffentlichen
Aufmerksamkeit, verbreiteten Altersbildern und vor allem im Forschungsstand wider. Ferner
sind die Anstrengungen des Wohlfahrtsstaates, Risiken des Alters und Pflegefalls abzusichern,
kennzeichnend für die Bedeutung des Themas Pflege. Der Forschungsfokus lag dabei auf
Russland, da dort noch erhebliche Forschungslücken bestanden. Es fehlte vor allem an
verlässlichen Zahlen über den heutigen und künftigen Versorgungsbedarf. Forschungen über
die Bedeutung der Familienpflege und die Bedingungen, unter denen sie stattfindet oder
stattfinden wird, waren so gut wie nicht vorhanden. Außerdem konnte eine unzureichende
Problemwahrnehmung konstatiert werden. Demographische und soziokulturelle
Entwicklungen, die mit Veränderungen im heutigen und zukünftigen familialen Pflegepotential
einhergehen, wurden im russischen Kontext bislang weder herausgearbeitet noch Rückschlüsse
für die Sicherung der Pflege von Morgen gezogen.
Die Arbeit versuchte mittels Ländervergleichs, einen Beitrag zur Klärung folgender Fragen zu
leisten: Wie wird sich zukünftig das Verhältnis von familiärer zur professionellen Pflege
angesichts des demographischen und sozialen Wandels in der russischen Gesellschaft ändern?
Wie können bestimmte strukturelle, normative und versorgungsstrukturelle Bedingungen die
Entwicklungspotentiale einer Gesellschaft beeinflussen? Können diese den Wandel in der
Pflege möglicherweise verzögern, ihn jedoch letztlich nicht verhindern? Wie weitreichend sind
die bisherigen pflegepolitischen Regelungen und Infrastrukturangebote angesichts der
mittelfristigen gesellschaftlichen Veränderungen? Über welche Gestaltungsoptionen muss
nachgedacht werden?
(1) Da sich Aussagen über das Staat-Familien-Verhältnis bezüglich einer Pflegeverantwortung
nur aufgrund von Pflegeprävalenzen machen lassen, wurde zunächst der aktuelle und künftige
Pflegebedarf (inkl. offiziell registrierter Pflegefälle nebst einer Dunkelziffer) in Russland
226
mittels eines Schätzungsverfahrens ermittelt. Unter der Prämisse konstant bleibender
Prävalenzraten, basierend auf jetzigen und zukünftigen Bevölkerungszahlen und für
Deutschland bekannten altersspezifischen Pflegewahrscheinlichkeiten, ließ sich der
Pflegebedarf für Russland 2015 auf 3,4 Mio. Langzeitpflegefälle schätzen. Auf der Grundlage
eines Basis-Szenarios konnte bis 2050 ein Anstieg der Pflegefälle um ca. 24 % auf knapp 4,2
Mio. prognostiziert werden. Die öffentlichen Pflegestatistiken registrieren dagegen lediglich
ca. 1,5 Mio. Pflegefälle. Informell dauerhaft versorgte Pflegefälle sind in dieser Zahl nicht
erfasst und auch nicht bekannt. Erst dank dieser Berechnung und mit Hilfe des Ländervergleichs
konnte für Russland das Auseinanderklaffen von tatsächlichem Pflegebedarf und gewährter
Pflegeunterstützung ans Tageslicht gebracht werden, ebenso die Verteilung der verschiedenen
Pflegeformen. Die Ergebnisse beweisen, dass die Pflege in Russland massiv zu Lasten der
Familie organisiert ist (78%). Lediglich 7 % der Pflegebedürftigen werden stationär versorgt.
Weitere 15 % werden ambulant versorgt mit Pflegeleistungen im „engeren Sinne“.
Diese Ergebnisse zeigen auf, dass das Pflegesystem allein aufgrund des demographisch
bedingten Anstiegs an Pflegebedarf zukünftig mindestens um ein Viertel seiner Kapazitäten
ausgeweitet werden müsste. Unter dem Gesichtspunkt eines „Kostensenkungsszenarios“ und
unter Berücksichtigung weiterer Faktoren müssten nach Aussage der OECD bis 2060 die
öffentlichen Mittel für die Pflege in Russland um ca. 250 % gesteigert werden (für Deutschland
rechnet man mit einem Anstieg um 78 %)553.
(2) Weiterhin wurde gezeigt, dass auch in Russland die Menschen immer älter werden, und
zwar in dreierlei Hinsicht: absolut, relativ und durch die Zunahme der Hochbetagten. Obwohl
in Russland die Alterung der Bevölkerung erst viel später einsetzte und bislang längst nicht das
Maß einer erheblich „gealterten“ Wohlstandsgesellschaft erreicht, wird die Alterung für
Russland gravierender sein als für Deutschland. Mittelfristig wird Russland durch die
systemumbruchbedingte Reduktion des „informellen Pflegepotentials“ eingeholt werden, was
die Chancen für die Familienpflege erheblich senken wird. Somit kann die These, dass
fortschreitende gesellschaftliche Alterungsprozesse zu steigendem Pflegebedarf bei
gleichzeitig abnehmendem Pflegepotential führen werden, für Russland bestätigt werden.
Folgenschwer ist diese Entwicklung besonders deshalb, weil der russische Staat die
Herausforderungen ignoriert und deshalb nicht rechtzeitig die Weichen stellt, z.B. durch den
Ausbau eines universal zugänglichen und bedarfsgerechten Pflege- und Betreuungssystems,
553 Maisonneuve de la/ Martins 2013 – OECD.
227
das gleichermaßen gute Dienstleistungsqualitäten, Arbeitsbedingungen sowie effektive
Entlastung der Familien bietet.
Während die Folgen der demographischen Veränderungen (weniger Jüngere, mehr Ältere,
unterschiedliche Lebenserwartungen von Männern und Frauen etc.) für die zukünftigen
Engpässe in der Pflege unmittelbar nachvollziehbar sind, sind die Auswirkungen des sozialen
Wandels auf den ersten Blick nicht erkennbar. Typischerweise wird die Tendenz des
abnehmenden Pflegepotentials der Kinder mit dem familienstrukturellen Wandel
(Veränderungen im Zusammenleben der Menschen als Trend zu Single-Haushalten und
fehlenden Hilfsnetzwerken im Alter) in Verbindung gebracht. Es zeichnet sich ab, dass sich das
Zusammenleben von Menschen in Russland verändert. Familien- und Lebensformen haben sich
vervielfältigt554. Ältere leben selten in Mehrgenerationenhaushalten555 und häufig allein556.
Ferner werden das Hinausschieben von Kinderwünschen der russischen Frauen mit
Karriereaspirationen557, generell abnehmendes reproduktives Verhalten, späteres Heiraten558
etc. empirisch beobachtet. Offensichtlich machen individuelle Lebensentwürfe dem
traditionellen Familienbild Konkurrenz, vor allem bei den jüngeren Generationen, Großstädtern
und Besserverdienern559. Solche soziokulturellen Veränderungen in Russland wurden bislang
aber nicht im Kontext mit Fragen nach Veränderungen in der familialen Pflegebereitschaft
gesehen.
Eine Möglichkeit, Folgen des soziokulturellen Wandels aufzuspüren, demonstrierte ein
Freiburger Forscherteam. Blinkert und Klie haben in ihren Pflegestudien die soziale Verteilung
von pflegekulturellen Orientierungen in verschiedenen Milieus analysiert. Sie haben dabei
nachgewiesen, dass sich die Milieus mit hoher Pflegebereitschaft in Deutschland erheblich
verringert haben. Könnten in Russland möglicherweise ähnliche Befunde erzielt werden?
Hierzu gab es bislang weder nationale Untersuchungen noch ländervergleichende Daten.
Das primäre Ziel meiner Dissertation war daher, den Freiburger Forschungsansatz unter den
historischen, ökonomischen und sozial-kulturellen Gegebenheiten Russlands zu überprüfen und
ggf. weiterzuentwickeln. Im Zentrum der vergleichenden empirischen Untersuchung standen
die Analyse von Bereitschaft zur Pflege älterer Angehöriger, Motivationsstrukturen und ihre
554 Rabzhayeva 2004; Gavrov 2009. 555 Lediglich 26% der Menschen ab 75 lebten in Russland 2008 zusammen mit ihren Kindern (in DE: 12%),
entsprechend den Auswertungen des European Social Surveys 2008 von Meil 2011: 56, Abb. 2.5. 556 Laut Ergebnissen der All-russländischen Volkszählungen waren 2010 38,4 % der Menschen ab 65
alleinlebend. 557 Laut einer Meinungsumfrage des Forschungszentrums des Portals Superjob.ru 2013. 558 Gurko 2012. 559 Ebd.
228
sozialen Verankerungen in Russland. Die zentrale Forschungsaufgabe bestand darin, erwartete
negative Zusammenhänge zwischen einem höheren sozialen Status, „modernen“
Lebensentwürfen und Pflegebereitschaft in Russland zu replizieren und mit den deutschen
Ergebnissen zu vergleichen. Die Forschung sollte dazu beitragen, Unterschiede und
Gemeinsamkeiten von Prozessen des sozialen Wandels in den beiden Ländern und ihre
Auswirkung auf Strategien zur Bewältigung der Pflegeaufgaben herauszuarbeiten.
Datengrundlage für diese empirische Untersuchung waren die Befragungen von 40-65 Jährigen
in Freiburg und Samara, die im Rahmen des DFG-geförderten russisch-deutschen
Lehrforschungsprojekts „SOLIDERU“ 2010-2012 durchgeführt wurden (siehe Vorwort und
Kap. 2.1). Es handelte sich dabei um persönlich-mündliche (teils)strukturierte Interviews mit
potentiellen Pflegepersonen. Das Erhebungsinstrument enthielt neben standardisierten
Abfragen eine Dilemma-Situation und offene Nachfragen, um die Sinnzusammenhänge der
Entscheidungen zwischen zwei extremen Optionen „häusliche Pflege“ vs. „Pflegen lassen“
genau zu ergründen.
Theoretische Grundlage für die Forschung bildeten Annahmen zu soziokulturellen
Wandlungstendenzen wie ein allgemeiner Wertewandel, die Veränderung der „sozialen
Subjektivität“560 und zunehmende Selbstverwirklichungstendenzen in der Arbeit. Je mehr die
Gesellschaft von den Individualisierungstendenzen und der Diversifizierung von Lebenslagen
und Lebensstilen erfasst wird, desto mehr gewinnen „moderne“ Lebensführungen an
Bedeutung. Diese orientieren sich an den Spielregeln einer ausdifferenzierten „modernen“
Arbeitsgesellschaft, in der beruflicher Erfolg, Selbstoptimierung, Anpassung des eigenen
Arbeitshandelns und sogar der ganzen Lebensbiographie an die entgrenzte bzw.
flexibilitätsfordernde Arbeitswelt erwartet werden. Diesen Erfordernissen zu entsprechen,
eröffnet die Chancen auf gesellschaftliche Anerkennung, Selbstverwirklichung und Erfolg. Es
wurde dargestellt, wie Handlungsstrukturen des Selberpflegens (insb. ohne professionelle
Hilfe) mit ihren Belastungen und Einschränkungen erheblich in eine „moderne“ Lebensweise
eingreifen. Pflege hat einerseits eine flexibilitätseinschränkende Auswirkung auf alle
Lebensbereiche der Pflegeperson, andererseits führt Pflegeübername kaum zu öffentlicher
Anerkennung. Demzufolge verursachen „traditionelle Pflegearrangements“ gerade bei
„modernen Subjekten“, also Personen mit hohem sozioökonomischem Status und
„individualisierten Lebensentwürfen“ besonders hohe „Opportunitätskosten“. Bei einer
günstigen strukturellen Ressourcenausstattung und einem den Anforderungen einer
560 Popitz 1987.
229
postindustrialisierten Arbeitsgesellschaft optimal angepassten Habitus würden den „modernen
Subjekten“ durch Versorgungsverpflichtungen gegenüber ihren Angehörigen besonders viele
Chancen entgehen. Daraus erklärt sich die Annahme einer ressourcenspezifischen Verteilung
von pflegekulturellen Orientierungen. Das hier verwendete Erklärungsmodell lehnte sich an
den Forschungsansatz des Freiburger Forschungsverbunds „Soziale Sicherheit im Alter“ an,
der in einer Reihe von früheren Pflegestudien in Deutschland entstanden ist und dessen
theoretische Aussagen wiederholt empirische Bestätigung gefunden haben. Es erweitert den
Erklärungsansatz um die Überlegungen zum veränderten Stellenwert der Arbeit für die eigene
Identität und den eigenen Lebensentwurf. Gelten die postulierten Annahmen in einem
russischen Kontext? Ist zu erwarten, dass mit ansteigenden strukturellen Ressourcen und mit
der Tendenz zu individualisierten Lebensentwürfen die intergenerationale Pflegebereitschaft
auch in Russland deutlich abnehmen würde?
4.2 Zentrale Ergebnisse der Pilot-Studie
Mit unserer binationalen Freiburg-Samara Studie wollte man die zentralen Hypothesen und
früheren Befunde der deutschen Pflegestudien561 replizieren. In unserer deutschen Stichprobe
konnten die Hypothesen über systematische Verteilungen von unterschiedlichen Vorstellungen
zur Pflege auf strukturelle und soziokulturelle Ressourcen der potentiellen Pflegeperson
bestätigt werden, in der russischen jedoch nicht. Sämtliche zentrale Befunde in der Samara
Studie widersprachen den Erwartungen und waren daher erklärungsbedürftig:
Pflegebereitschaft variierte keineswegs mit den „symbolischen“ Ressourcen der
Personen. Befragte mit „modernen“ (individualisierten) Lebensentwürfen und jene mit
„traditionellen“ (wenig selbstbestimmten) Lebensentwürfen zeigten sich gleichermaßen
pflegebereit.
Ebenso hing der Sozialstatus mit der Pflegebereitschaft nicht zusammen.
Es traten aber auch weitere große Unterschiede zwischen den beiden Stichproben zu
Tage, und zwar in allen untersuchten Subdimensionen der pflegekulturellen
Orientierungen sowie in den Verteilungen der Ressourcenlagen. Für Samara stellte sich
heraus:
561 Blinkert/Klie 2004, 2006.
230
Ausgesprochen hohe Bereitschaft unter 40-65 Jährigen, ältere Pflegebedürftige selber
und ohne fremde Hilfe zu pflegen;
Auffallender Überhang der hauptsächlich konventionellen moralischen Begründungen
über (Opportunitäts)Kostenerwägungen, wobei die Hauptmotivationsgründe nicht in
der vorhergesagten Weise zwischen den unterschiedlichen Ressourcenlagen variierten.
Recht geringe Verbreitung von individualisierten und hoher Anteil an traditionellen
Lebensentwürfen,
Stark ausgeprägte Ungleichverteilung von sozialstrukturellen Ressourcen mit geringem
Anteil vorteilhafter und hohem Anteil unterprivilegierter struktureller Ressourcenlagen.
In Freiburg ergaben sich umgekehrte Verteilungen: Nur ca. jeder Dritter (36%) würde ohne
professionelle Hilfe zuhause pflegen, die Beweggründe bei Pflegeentscheidungen lagen mit
Schwerpunkt auf (Opportunitäts)Kostenüberlegungen. Die Freiburger*innen zeichneten sich
deutlich häufiger durch individualisierte als traditionelle Lebensentwürfe sowie
durchschnittliche (gute) bzw. hohe als niedrige sozioökonomische Ressourcen aus. Elternpflege
wird vor allem von den deutschen Frauen mit individualisierten Lebensentwürfen mit
Kostenaspekten assoziiert. Die emanzipierten Frauen waren es auch, die am seltensten die
Pflege mit nur moralischen Argumenten in Verbindung brachten.
Durch die Sekundärdatenanalysen und Befunde weiterer Forschungen konnte eine hohe
Übereinstimmung zwischen den Verteilungszahlen in unseren primären Datenerhebungen mit
jenen in repräsentativen Studien belegt werden. Aus diesen sehr unterschiedlichen Ergebnissen
ließ sich schließen, dass die beiden Länder und die Generation der 40- bis 65-Jährigen in sehr
unterschiedlichen Prozessen des sozialen Wandels involviert waren. Allein die Tatsache
unterschiedlicher Verteilungen, die auch stichprobenbedingt sein könnten, beantwortet
natürlich noch nicht die Frage, warum es an Zusammenhängen fehlt. Denn auch in der Samara
Studie gab es die s.g. „Transformationsgewinner" (mit modernen Lebensentwürfen und guten
strukturellen Ressourcen), wenn auch in deutlich geringerer Zahl, die sich aber in ihren
Antworten nicht von den s.g. „Transformationsverlierern“ unterschieden. Es blieben ungeklärte
Fragen: Warum ließen sich aus den Motivationszusammenhängen rund um die Versorgung von
pflegebedürftigen Eltern in Samara praktisch keine Hinweise auf eine mögliche
Unvereinbarkeit mit Beruf oder eigenem Leben finden? Anders gefragt, warum thematisierten
die russischen Befragten kaum Opportunitätskosten beziehungsweise psychische und physische
Belastungen bei der Pflege? Der Beantwortung dieser Fragen widmete sich das dritte Kapitel.
231
4.3 Präzisierungen durch Makroprämissen
Bei der Suche nach den Gründen für die wesentlichen Unterschiede in den pflegekulturellen
Orientierungen zwischen Samara und Freiburg lag der Rückgriff auf makrotheoretische
Erklärungen nahe.
Die für Deutschland – eine wirtschaftsstrukturell entwickelte und individualisierte Gesellschaft
mit einem ausgebauten Wohlfahrtsstaat – entwickelten mikrotheoretischen Hypothesen
schienen unter den Bedingungen eines post-sozialistischen Transformationslandes wie
Russland nicht zuzutreffen. Sie mussten daher mit makrotheoretischen Erklärungen erweitert
und präzisiert werden. Dies betraf insbesondere die Kosten-Nutzen-Bilanzierung der Pflege
bzw. die Abwägung mit (Opportunitäts-)Kosten gegenüber den für den eigenen Habitus
konstitutiven Präferenzen, die die Zusammenhänge zwischen hohem Sozialstatus bzw.
„modernen Lebensentwürfen“ und geringer Pflegebereitschaft erklären.
Es wurde dargelegt, dass es einen ausreichenden Handlungsspielraum, den Pflegefall familiär
im Einklang mit dem eigenen Lebensentwurf zu bewältigen, nur unter bestimmten
ökonomischen, kulturellen und institutionellen (bzw. versorgungsstrukturellen)
Rahmenbedingungen gibt. Um diese zu definieren, wurde das Konzept einer idealtypischen
Gesellschaft mit „Opportunitätsstrukturen der modernen Lebensführung“ entwickelt. Dabei
ging es im Wesentlichen um solche gesellschaftlichen Bedingungen, die es Menschen
ermöglichen, Subjekt ihres eigenen Handelns zu sein und ungehindert eigene Potentiale und
Lebensziele zu realisieren. Das gilt im Übrigen auch für die Gestaltung der Pflegearrangements,
die mit dem eigenen Lebensentwurf in Einklang gebracht werden sollen.
Solche Bedingungen sind:
1) Günstige sozio-ökonomische Lebensbedingungen
2) Geringe normative Starrheit
3) Ein weitreichendes wohlfahrtsstaatliches Versorgungsangebot
(Weiteres hierzu siehe Kap. 3).
232
4.4 Makroebene-Ergebnisse: Zusammenfassung und Diskussion
Der Systemvergleich beider Länder entlang der drei Dimensionen (strukturell, kulturell und
versorgungsmäßig) hat ergeben, dass Deutschland der idealtypischen Gesellschaft in allen
Aspekten am Nächsten kommt. Aufgrund des deutlich höheren Lebensstandards für breite
Bevölkerungsschichten, eines geringeren Ausmaßes sozialer und regionaler
Chancenungleichheit, größerer normativer Offenheit und eines relativ wirksamen
wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsangebots für Pflegebedürftige und ihre Familien sind in
Deutschland insgesamt objektiv und subjektiv mehr Chancen für eine selbstbestimmte
Lebensführung gegeben.
Im Gegensatz dazu kann die russische „(Überlebens)Gesellschaft“ mit geringer wirtschaftlicher
Entwicklung, großen Hindernissen für einen sozialen Aufstieg, einem ca. doppelt so niedrigen
Lebensstandard, der geringen strukturellen Ressourcenausstattung der Mehrheit der
Bevölkerung, überwiegend traditionellen Familienwerten und einem „rudimentär-
staatspaternalistischen“ Wohlfahrtsstaat562 eine selbstbestimmte Lebensführung für die
Mehrheit ihrer Bürger*innen nicht oder nur in unzureichendem Ausmaß anbieten.
Strukturelle Unterschiede
An sämtlichen sozioökonomischen Indikatoren konnte, erstens, nachgewiesen werden, dass ein
wirtschaftlich durchschnittlich entwickeltes Transformationsland erheblich schlechtere
Lebensbedingungen und weniger Aufstiegsmöglichkeiten für große Teile seiner Bevölkerung
schafft als ein entwickeltes Wohlstandsland mit einem gut funktionierenden, marktbasierten
Wirtschaftssystem und entsprechenden Institutionen (siehe Kap. 3.1.2). Zweitens erzeugen in
Russland „neo-etakratische“ gesellschaftliche Strukturen durch das Prinzip des „askriptiven
Mediokratismus“563 in höherem Maß „unfaire“ Chancenungleichheit (in regionaler und
herkunftsbedingter Hinsicht) als in einer berufsständischen Gesellschaft wie Deutschland, in
der das „meritokratische“ Prinzip für den sozialen Aufstieg entscheidender ist. Weiterhin wirkt
sich ein deutlich überragender Anteil der Schattenwirtschaft an der Gesamtwirtschaft Russlands
im Vergleich zu Deutschland stark verzerrend auf das wirtschaftliche und gesellschaftliche
Leben aus (siehe Kap. 2.3.2 Exkurs – Sozialstruktur Russlands und Kap. 3.1).
562 Kollmorgen 2009. 563 Shkaratan 2012.
233
Die methodische Bestimmung der sozialstrukturellen Positionierung in der gesellschaftlichen
Hierarchie anhand von offiziellen Ressourcenindikatoren ist damit erschwert und könnte das
Ergebnis der Hypothesenüberprüfung (Zusammenhang zwischen dem sozialen Status und der
Pflegebereitschaft) in Russland beeinträchtigen. Wie ist das zu lösen? Mit einem
Harmonisierungsvorschlag konnte die Vergleichbarkeit sozialstruktureller Verhältnisse in
beiden Ländern hergestellt werden (siehe Kap 2.3.2). Die demonstrierte methodische
Standardisierungstechnik für den Vergleich unterschiedlicher Sozialstrukturen könnte auch für
andere Zwecke bzw. Projekte von Interesse sein.
Erst nach der „künstlichen“ Standardisierung der sozioökonomischen Indikatoren in der
russischen Stichprobe auf die strukturellen Verhältnisse in der deutschen Stichprobe ergab sich
ein tendenzieller Zusammenhang, nämlich bei einem höheren sozialen Status die eigene
persönliche Beteiligung an der Pflege eher zurückzuweisen und auf Heimunterbringung zu
setzen. Mit diesem methodischen Schritt konnten die zum Teil sehr unterschiedlichen
Stratifizierungseffekte in den beiden Ländern konstant gehalten und die zentralen Hypothesen
ohne „Verzerrungen“ getestet werden. Auch wenn angesichts geringer Fallzahlen ein
belastbares Ergebnis nicht vorliegt, so könnte der sich andeutende Zusammenhang (unter der
hypothetischen Schichtung) dahingehend interpretiert werden: glichen die sozialstrukturellen
Verhältnisse in Samara jenen in Freiburg564, gäbe es also mehr wohlhabendere bzw.
„erfolgreichere“ Menschen in Samara, würden diese tendenziell professionelle
Pflegearrangements dem Selberpflegen vorziehen. Weil die Verhältnisse aber nicht so sind,
bedeutet ein Mangel an ökonomischen Ressourcen in der Bevölkerung für den Pflegefall, dass
man sich formelle Pflegeunterstützung nicht leisten kann und ökonomisch gezwungen ist,
selber zu pflegen.
Kulturelle Unterschiede
Mangelnde strukturelle Opportunitätsmöglichkeiten und eine traditionell familienorientierte
Kultur zusammen mit einem ungenügenden Wohlfahrtsstaat minimieren die Chancen auf
Verwirklichung individualisierter Lebensplanungskonzepte in Russland. Sie legen den
Generationenbeziehungen starre Rahmenbedingungen auf in struktureller, normativer und
versorgungsstruktureller Hinsicht.
564 D.h. bei derselben Korrespondenz zwischen Bildungsqualifikationen und Sozialstatus in Samara wie in
Freiburg, der Bereinigung des Einflusses unterschiedlicher Preisniveaus und Lebenshaltungskosten und bei
Ziehung der Schichtgrenzen nach dem deutschen Muster.
234
Mehrere Befunde der primären als auch der Sekundärdatenanalysen und weiterer Forschungen
unterstützen die These bezüglich der unterschiedlichen Reichweite und Dynamik der
Individualisierungsprozesse in beiden Ländern, was sowohl die Zunahme selbstbestimmter
Lebensentwürfe betrifft als auch deren Auswirkung auf den Wandel der normativen
Vorstellungen über Angehörigenpflege:
In Samara/ Russland haben bei der Generation der 40-65 Jährigen individualisierte
Lebensentwürfe eine viel geringere, traditionelle Lebensentwürfe dagegen eine viel
höhere Bedeutung als bei ihren Altersgenossen in Freiburg/Deutschland.
Sekundäranalytisch ließ sich nachweisen, dass normative Grundlagen der
Familienunterstützung in der russischen Bevölkerung deutlich stärker verankert sind als
in der deutschen. In Russland lässt ein deutlich höherer Konsens hinsichtlich der
Pflichten erwachsener Kinder gegenüber ihren pflegebedürftigen Eltern eine (noch)
weitgehend verbindliche gesellschaftliche Norm vermuten. In Deutschland sind diese
Einstellungen nicht homogen und daher eher Ausdruck eines auf Freiwilligkeit
basierenden Wertepluralismus (Siehe Kap. 3.2).
Auch unsere Studienergebnisse deuten auf größere Traditionalität und Normativität der Russen
im Unterschied zu den Deutschen. Dies zeigte sich in stark ausgeprägten, gleichmäßig in der
Sozialstruktur verteilten normorientierten Unterstützungsmotiven:
Pflege wurde von den russischen Befragten kaum als „(Opportunitäts)Kosten“-
Gesichtspunkt gesehen, sondern eher als Moralvorstellung.
Es gibt Hinweise auf kulturspezifisch unterschiedliche Entwicklungsstufen der
Moralvorstellungen565: In der russischen Studie zeigte sich eine Dominanz der
„konventionellen“ Moralvorstellungen. In der deutschen Studie dagegen war eine
Tendenz zu „postkonventionellen“ sowie auf Individuum bzw. Kernfamilie bezogenen
Moralkonzepten sichtbar.
Bei den russischen Befragten in Samara mit traditionellen und individualisierten
Lebensentwürfen und unterschiedlichem sozialem Status variierten die
Hauptmotivationsgründe (Moral-Kosten-Gemischte Motive) nicht. In Freiburg waren
die Verhältnisse dagegen umgekehrt.
565 Vgl. Kohlberg 1984.
235
Psychische oder physische Belastungen halten die russischen Befragten praktisch nicht
von der Familienpflege ab. Jeder dritte befragte Deutsche hat dagegen objektive
Gründe, Pflege den Professionellen zu überlassen (Siehe Kap. 2.4.2).
Wie lässt sich durch den soziokulturellen Rahmen, in dem sich die intergenerationalen
Beziehungen gestalten, die fehlende ressourcenspezifische Verteilung der Begründungsmuster
und überragende Bedeutung der traditionellen pflegekulturellen Orientierungen in Russland
im Unterschied zu Deutschland erklären?
Die Freiburger Ergebnisse lassen sich folgendermaßen interpretieren: In Gesellschaften mit
gelockerter Normativität bezüglich der Elternpflege spielt der Freiwilligkeitsaspekt eine
größere Rolle. Ebenso zeichnet sich eine eher individualistische Kultur durch eine geringere
Intimität zwischen den familialen Generationen aus als eine eher traditionellere566. So könnte
die Präferenz zum häuslichen Pflegearrangement als eine freiwillige Verpflichtung gesehen
werden, die auf emotionaler Verbundenheit (Intimität) basiert. Mehr engere Beziehungen
wären eher bei den „Traditionals“ als bei den „Performers“ zu erwarten, was mit der
unterschiedlichen Involvierung in Individualisierungsprozesse begründbar ist.
Alle russischen Befragten, auch diejenigen, denen sich in kürzester Zeit viele Möglichkeiten zu
öffnen schienen und die sie gerne ergreifen wollten, würden vermutlich wegen moralischer
Skrupel ihre Eltern nicht in einem Altersheim pflegen lassen. In der russischen familialistischen
Kultur567 gilt der Familienzusammenhalt für das Wohlergehen jedes einzelnen Mitglieds als
stringent. Daraus resultiert eine hohe gegenseitige Verpflichtung. Das mag einer der Gründe
sein, warum es für die Mehrheit der Bevölkerung keinen Freiraum für eine alternative
Auslegung der verbindlichen filialen Unterstützungsnormen und folglich keine Alternativen
zur Familienpflege gibt (siehe Kap. 3.2). So bleibt für den überwiegenden Teil der russischen
Bevölkerung die Pflege der eigenen Eltern eine unbestrittene Familiennorm (in Deutschland
dagegen erheblich weniger). Aus den starken normativen Verpflichtungen gegenüber der
älteren Generation erklärt sich vermutlich auch, warum psychische oder physische Belastungen
der Angehörigenpflege (siehe Kap. 2.2.2) russische Befragte nicht von der Pflegeübernahme
abhalten würden und deshalb unerwähnt blieben.
566 Befunde in Rahmen der Value of Children-Studie bestätigen eine stärkere Normativität (Familienwerte und
normorientierte Motivation) sowie höhere emotionale Verbundenheit (Intimität) als ausschlaggebende
Bedingungsfaktoren für höhere Unterstützung sowie Unterstützungsbereitschaft in Russland im Unterschied
zu Deutschland, siehe Klug 2008. 567 Vgl. Hofstede 2001; Brewer/Chen 2007.
236
Versorgungsstrukturelle Unterschiede
Eine weitere Bedingung für Zusammenhänge zwischen individuellen Ressourcen und
Pflegebereitschaft ist das öffentliche Pflegeangebot. Im internationalen Vergleich wurde ein
Einfluss des sozioökonomischen Status auf familiale Pflege in konservativ-korporatistischen
und familialistischen, nicht aber in sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtssystemen
festgestellt568.
DEUTSCHLAND - Trotz Fortschritten im Pflegesystem wurden in Deutschland keine realen
Wahlmöglichkeiten für alle geschaffen. Durch den Subsidiaritätsgrundsatz und den
Teilleistung-Charakter der Pflegeversicherung wurde eine geschlechts- und
[schicht]spezifische Erbringung unbezahlter Arbeit in der Pflege zementiert569. Zudem wurden
bisher noch keine Zukunftsszenarien für die Sicherung der Pflege im Zeitalter der digitalen
Arbeitswelt entwickelt.
Im Vergleich zum russischen bietet das deutsche Pflegesystem für den Pflegefall den
Betroffenen und ihren Angehörigen gewiss wesentlich mehr Optionen und Unterstützung. In
Deutschland hat man bereits in den 1980er Jahren die Probleme der Demographie, der
strukturellen Veränderungen der Gesellschaft und des dadurch steigenden Versorgungsbedarfs
erkannt. Seitdem wurden in Deutschland die Grundlagen einer professionellen
Pflegeversorgung sowie Rahmenbedingungen geschaffen für gesetzliche Wahlmöglichkeit
zwischen verschiedenen Versorgungsarrangements:
das Pflegeversicherungsgesetz, das eine allgemeine Pflicht zur Grundabsicherung des
Pflegerisikos einführte, ergänzt um die staatliche Förderung der Zusatzpflegevorsorge,
verschiedene Versorgungsarten (ambulant, teilstationär als Teilzeit- oder
Kurzzeitpflege und stationär),
vier verschiedene Akteure: Wohlfahrtsstaat, Pflegemarkt, Zivilgesellschaft und
informeller Pflegesektor,
eine umfassende Pflegeinfrastruktur (Pflegeheime, betreutes Wohnen und
Mehrgenerationenwohnen),
568 Siehe Sarasa/Billingsley 2008. 569 Vgl. Heintz 2015 – Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.).
237
diverse Fördermaßnahmen zur pflegegerechten Modernisierung des Wohnraums für
private Personen und Projektgruppen, für Kommunen zur Entwicklung alters- und
generationengerechter Quartierkonzepte570.
Seitdem beobachtet man im Zuge der Weiterentwicklung des Pflegesystems einen
versorgungsstrukturellen Wandel hin zum „Versorgungsmix“ aus differenzierten und flexiblen
formellen und informellen Netzwerken sowie Leistungsangeboten571. Dieser Prozess beinhaltet
einerseits eine kontinuierliche Nachjustierung der bestehenden Pflegeangebote (z.B.
Pflegebudget als Wahlmöglichkeit, Tag-, Nacht- und Wochenendpflege, Kurzzeitpflege,
Verhinderungspflege). Zusätzlich wurden neue Unterstützungsmaßnahmen eingeführt (z.B.
diverse arbeitsrechtliche Maßnahmen, die Wahrnehmung familiärer Pflegeaufgaben ohne
Arbeitsverzicht zu ermöglichen, soziale Absicherung pflegender Angehörige etc.). Die
Vereinbarkeit der Pflege mit der Berufstätigkeit ist weiter gestärkt worden, zunächst mit dem
Gesetz zu Familienpflegezeiten und dem Pflegezeitgesetz. Mit dem Pflegestärkungsgesetz I
wurden alle Leistungsbeträge der Pflegeversicherung zum 1.1.2015 angehoben. Die Zahl der
zusätzlichen Betreuungskräfte in stationären Pflegeeinrichtungen erhöhte sich. Auch die
Unterstützungsangebote für die Pflege zu Hause wurden verbessert: Die Leistungen der
Kurzzeit- und Verhinderungspflege wurden ausgebaut und können seitdem besser miteinander
kombiniert werden. Der Anspruch auf niedrigschwellige Betreuungsleistungen in der
ambulanten Pflege wurde ausgeweitet. Damit werden pflegende Angehörige mehr entlastet. Mit
dem Pflegestärkungsgesetz II und dem erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriff wurden auch
neue Personengruppen, nämlich an Demenz erkrankte Menschen, in den Kreis der
Leistungsempfänger aufgenommen.
Weitere Ausdifferenzierung von Angeboten und die gesetzlichen Nachbesserungen eines
bedarfsgerechten „pflegerischen Versorgungsmixes“ soll die Pflege in der Zukunft sichern.
Hierzu soll insbesondere das Ehrenamt bei der Übernahme pflegerischer Tätigkeiten gestärkt
werden und bei der Entwicklung einer zukünftigen Versorgungsinfrastruktur größere
Berücksichtigung finden572. Dem Konzept der „Caring Community“ mit kommunalen
Pflegestützpunkten und Case Management als zentralen Anlaufstellen in Fragen der
Sicherstellung der wohnortnahen Beratung, Versorgung und Betreuung der Bevölkerung
kommt eine große Rolle zu. Sie sollen Betroffene und ihre pflegenden Familienangehörigen
über diverse Maßnahmen und besser vernetzte Angebote frühzeitiger und umfassender beraten.
570 Siehe z.B. Quartierentwicklungsstrategie des Sozialministeriums Baden-Württemberg. 571 Görres et al. 2016: 6. 572 Ebd.
238
Der Versorgungsmix soll keine „No-Care-Zonen“ entstehen lassen573. Das Ziel soll eine
optimale Vernetzung und Zusammenarbeit aller mit der Pflege vor Ort beteiligter Akteure
(privatwirtschaftliche und gemeinnützige, professionelle ambulante Pflegeanbieter,
zivilgesellschaftlich Engagierte, Nachbarschaftshilfe sowie kommunale Beratungsstellen, s.g.
Pflegestützpunkte) sein, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Pflegehaushalte Rechnung
zu tragen. Die „sorgenden Kommune“ muss bezüglich der Pflege „eine zukunftsweisende
sorgende Grundhaltung entwickeln“574.
Die Weiterentwicklungen im deutschen Pflegesystem lassen sich an den geplanten
Mehrausgaben für die Pflege veranschaulichen. Ab 2015 stiegen die Leistungen für die
ambulante Pflege um rund 1,4 Mrd. Euro, für die stationäre Pflege um rund 1 Mrd. Euro. Zur
Finanzierung der gesetzlichen Neuerungen durch die Pflegestärkungsgesetze wurden die
Beiträge für die deutsche Pflegeversicherung daher um 0,5 % angehoben. Damit stehen jährlich
fünf Milliarden Euro mehr zur Verfügung. Zudem wurde ein Pflegevorsorgefonds eingerichtet,
um zukünftige Beitragssteigerungen abzumildern575. In der Förderrunde 2017 hat Baden-
Württemberg 16 Projekten in den Stadt- und Landkreisen, die durch innovative Ansätze die
Pflegelandschaft in Baden-Württemberg weiterentwickeln und verbessern wollen, insgesamt
2,3 Millionen Euro zur Verfügung gestellt576.
Wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen im Bereich der Langzeitpflege lassen sich als Antwort der
Gesellschaft und des Staates auf den demographischen, strukturellen und sozialen Wandel
sehen. In Deutschland können sie einerseits als Maßnahmen verstanden werden, um
insbesondere die Frauenrechte bezüglich Erwerbstätigkeit, individualisierter Biographie,
unabhängiger Lebensweise und Eigenständigkeit zu stärken577. Mit zahlreichen Maßnahmen
soll familiäre Pflege honoriert und unterstützt werden. Normative Erwartungen an Frauen und
(Schwieger-)Töchter bzgl. der Pflegeaufgaben sollen de-feminisiert, geschlechtsspezifische
Ungleichheit in der Pflegeübernahme reduziert und Vereinbarkeit von Familie, Pflege und
Beruf verbessert werden.
Die geschilderten Bemühungen gehen jedoch nicht weit genug, wie der Deutsche Frauenrat in
seiner Stellungnahme zum Entwurf des dritten Pflegestärkungsgesetzes zu recht kritisiert. Trotz
Leistungsverbesserungen, Stärkung der häuslichen Pflege durch Angehörige sowie Aufwertung
573 Ebd., S. 15. 574 Ebd., S.10. 575 BMG 2014: Pressemitteilung Nr. 47, 17.10.2014. 576 Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württembergs (2017): „Land fördert innovative Projekte in
der Pflege mit 2,3 Millionen Euro“. 577 Vgl. Meil 2001: 24.
239
des Ehrenamtes, verändert sich am „Prinzip der unbezahlten Pflegeleistung“578 nicht all zu viel
und dementsprechend wenig an den bisherigen Pflegearrangements579. Subsidiaritätsgrundsatz
und Teilkasko-Prinzip, auf das sich die Pflegeversicherung stützt, bestärken eher vormoderne
Pflegeorientierungen, die mit der traditionellen Frauenrolle verbunden sind. Hohe
Eigenbeteiligung an Pflegekosten ist ein häufiger Grund, warum Pflege in der Familie meistens
von Frauen verrichtet werden muss 580. Das ist meistens der Fall in Pflegehaushalten mit
„ökonomischen oder sozialen Restriktionen“. Hier wird die Bereitschaft zur Gestaltung von
Pflegeaufgaben in einem „Pflegemix zwischen Familienpflege und beruflich erbrachter Pflege“
für wenig wahrscheinlich gehalten581. Aber auch in der Mitte der Gesellschaft geht die eheliche
„Zeitverwendungsstrategie“, Nutzen für Ehe und Familie zu ziehen, zulasten der
Berufstätigkeit von (Ehe)Frauen, insbesondere wenn diese nicht der Existenzsicherung dient.
Die Berufsausübung wird typischerweise (noch) als individuelle „Angelegenheit“ der Ehefrau
betrachtet, muss von ihr gerechtfertigt bzw. mit den Pflegeaufgaben in Einklang gebracht
werden582. Darin verbergen sich zukünftige Armutsrisiken für die Frauen. Unter dem
hierzulande vorherrschenden familialistischen Pflegesystem können hauptsächlich die gut
situierten Milieus im Einklang mit eigenen Ressourcen und Lebensplänen zwischen
verschiedenen sozial legitimen Formen der intergenerationalen Solidarität wählen: von
„aufgeklärt-individualistischer“ Nutzung von Unterstützungsangeboten der Pflegeversicherung
bis hin zum traditionellen Selberpflegen ohne fremde Hilfen583. Am meisten profitieren
hierzulande die „Modernisierungsgewinner“ von den im Rahmen der Pflegeversicherung
geschaffenen Wahlmöglichkeiten, guter Pflegeinfrastruktur, ausgebautem Pflegemarkt und
Leistungsverbesserungen. Von ihnen werden eher private Pflegeangebote zu den öffentlich
dotierten hinzugekauft und das Leben nach dem selbstbestimmten Lebensentwurf kann weiter
geführt werden. In den Milieus der „Modernisierungsverlierer“ (zu denen auch traditionell
kulturelle und ethnische Gruppen von Migrant*innen gehören) dagegen zementiert der
korporatistisch-konservative Wohlfahrtsstaat auf dem Feld der Altenpflegepolitik die
traditionellen Geschlechterrollenaufteilungen mit geringen Teilhabechancen für Frauen. Von
Freiwilligkeit in der Übernahme familiärer Pflege und Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen
und ihren Angehörigen kann daher nur bedingt die Rede sein.
578 Vgl. Stellungnahme des Deutschen Frauenrates (DF) zum Gesetzentwurf Drittes Pflegestärkungsgesetzes
2016: 2. 579 Vgl. Evers/Rauch 1998; Runde u. a. 2000; zit. n. Blinkert/ Klie 2001: 89. 580 Vgl. Stellungnahme des DF 2016: 3. 581 Vgl. Runde u. a. 1999, zit. n. Blinkert/ Klie 2001: 87. 582 Dallinger 1997: 280. 583 Vgl. Dallinger 1997: 119.
240
Wie weitreichend und zukunftsweisend die bisherigen Maßnahmen im Prozess des sozialen
Wandels von Werten und Ansprüchen sind, bleibt jedoch ein weiterer offener
Diskussionspunkt. An dieser Stelle müsste die Frage erlaubt sein, ob ein Wohlfahrtsstaat wie
Deutschland sich noch am „Dogma der familiären Pflege“ orientieren darf. Denn beim
Festhalten am bisherigen Idealbild der „guten Pflege“ als „Familienpflege“584 muss
offensichtlich berücksichtigt werden, dass auf jede potenziell zu pflegende Person im
Zeitverlauf weniger potenzielle Pfleger in der Familie zur Verfügung stehen werden. Ferner
dürfen die nicht als Status Quo anzunehmenden subjektiven Motivationen bezüglich der Arbeit
und generell bezüglich individueller Lebensentwürfe in der Bevölkerung nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die Pflege sich zukünftig verändern wird.
Was die Auswirkungen der neuen Produktions- und Arbeitswelten der Industrie 4.0 auf die
Entwicklungen der gesellschaftlichen Pflegeorganisationen von morgen anbetrifft, dazu hat
man in Deutschland noch keine Antworten gefunden. Denn die Frage wurde noch nicht einmal
öffentlich gestellt. Bereits jetzt wirken Digitalisierung und Globalisierung zunehmend
polarisierend auf den deutschen Arbeitsmarkt ein. Während die mittleren
Berufsqualifizierungen stagnieren, wachsen die hochqualifizierten sowie die
geringqualifizierten und atypischen Jobs an. Wie wird sich die Beschäftigung in einer
digitalisierten Welt auf die Pflege von Angehörigen zukünftig auswirken?
Gerade in der Digitalisierung steckt das Vereinbarkeitspotential von Beruf und Familienarbeit
(Kinder- und Altenpflege). Neue Kommunikationstechnologien machen die örtliche
Unabhängigkeit möglich und tragen dazu bei, dass sich das Arbeiten im Home-office weiter
verbreitet und somit mehr Spielräume auch für die Mitverantwortung in der Angehörigenpflege
gegeben werden. Wird es möglich sein, dass ein Vater seinen Arbeitsplatz nachmittags verlässt,
um einen Kindergeburtstag vorzubereiten oder die Betreuung der pflegebedürftigen
(Schwieger)Mutter zu übernehmen und sich später wieder in die Arbeit einklinkt? Wird dies
sein Chef mögen?
Auf der anderen Seite muss die Ausweitung der atypischen Beschäftigung (450 Euro-Jobs,
Zeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse etc.) nicht gleich bedeuten, dass Betroffene eher für
eine Pflege zur Verfügung stehen könnten. Die zunehmende Spaltung des Arbeitsmarktes
bedeutet für viele Arbeitnehmer*innen, dass sie oft 2-3 Jobs nachgehen müssen und dadurch
den Erfordernissen der häuslichen Pflege nicht gerecht werden können. Je weniger
Festanstellungen, Verbeamtungen etc., die sogenannten bisherigen
584 Siehe Eichler/Pfau-Effinger 2009.
241
„Normalarbeitsbiographien“, es geben wird, umso weniger werden die staatlichen
Unterstützungsmaßnahmen (wie Pflegezeit, Familienpflegezeit etc.) greifen, weil diese auf
reguläre Beschäftigungsverhältnisse von gestern ausgerichtet sind. Sie kommen für
Beschäftigte in unsicheren, geringbezahlten Arbeitsverhältnissen nicht mal in Frage. Daher ist
die Kritik von Richard David Precht, einem zeitgenössischen deutschen Philosophen, zum
Umgang der Politik mit den Herausforderungen in der kommenden digitalisierten Wirtschaft
zutreffend: "Wir dekorieren auf der Titanic die Liegestühle um"585.
Grundsätzlich fehlen noch Szenarien, wie die Integration und der soziale Frieden in einer
alternden Gesellschaft funktionieren soll, wenn etwa die Hälfte der Arbeitsplätze im Zuge der
Digitalisierung wegzufallen drohen und immer mehr Menschen Unterstützung und Pflege im
höheren Alter brauchen werden. Neben dem Grundeinkommen, das nach Ansicht von Experten
kommen muss, würde die Festsetzung identischer Leistungshöhen für die Entlohnung
informeller Pflegeleistungen und professioneller Pflege ein richtiger Schritt sein. Diese würden
einerseits die Familienpflege sichern und die Lebensqualität der pflegebedürftigen Personen
verbessern. Anderseits würde die De-Kommodifizierung der Pflegearbeit und eine Beseitigung
der finanziellen Nachteile, die durch eine Pflege entsteht, eine gesellschaftliche Anerkennung
bedeuten, nämlich als Beitrag zur Gemeinwohl-Ökonomie.
Das deutsche Pflegesystem sollte „stellenweise etwas idealisiert“ erscheinen586. Dies liegt zum
Teil an der schwerpunktsmäßig vorgenommenen kritischen Auseinandersetzung mit dem
russischen Pflegesystem und dessen Gegenüberstellungmit dem deutschen. Zum anderen
entspringt dieser Eindruck durch den Vergleich beider Länder mit dem skizzierten
idealtypischen Gesellschaftstyp - dem Idealbild einer westlichen Wohlstandsgesellschaft mit
einem Wohlfahrtstaat nach sozialdemokratischen Werten - von dem der russische Staat mit
seinem Pflegesystem deutlich weiter entfernt ist als der deutsche. Weiterhin wird in
Deutschland wesentlich mehr in den Medien über die Missstände in der Pflege berichtet.
Zusätzlich üben Fachverbände, gestützt auf wisseschaftliche Erkenntnisse, Druck auf die
Politik aus, sich für weitere Verbesserungsmassnahmen in der Pflege einzusetzen und dem
zukünftigen „Pflegnotstand“ in einer alternden Gesellschaft aktiver entgegenzusteuern. Der
anhaltende öffentliche Diskurs zur Pflege in Deutschland ist aber gerade ein Garant des
gesellschaftlichen und sozialpolitischen Fortschritts, auch wenn man dadurch für die
Schwachstellen im bestehenden Pflegesystem stärker sensibilisiert wird.
585 Precht 2017 (interviewt von Fischer 2017). 586 Laut Bröckling (2018), dem Erstgutachter der Dissertation
242
RUSSLAND – Unzureichende Anstrengungen zur Verbesserung von Zugänglichkeit und
Qualität der Versorgungsleistungen für Pflegebedürftige: Das russische Altenpflegesystem als
Teil des „rudimentär-staatspaternalistischen“ Wohlfahrtsstaates ist ungenügend ausgebaut,
unterfinanziert, ineffizient, wenig bedarfsorientiert und sozial selektiv. Mangelhafte Allokation
bei knappen Ressourcen und der Mangel an zielgruppenspezifischer und bedarfsgerechter
Versorgung verhindern, dass Personen mit hohem Pflegebedarf Versorgungshilfe in
ausreichendem Ausmaß erhalten. Das öffentliche Versorgungsangebot, das als Ersatz für die
fehlende Familienpflege gedacht war, schafft keine Entlastung und lässt für die überwiegende
Mehrheit von Pflegehaushalten nur die Wahl, selber zu pflegen.
In Russland hat man bislang wenig Verständnis für die Probleme des demographischen und
sozialen Wandels entwickelt. Bis vor wenigen Jahren war das „Älter werden“ in Russland
praktisch kein Thema von gesellschaftlicher Bedeutung587. Sämtliche Reformen zum
Gesundheitswesen, Rentensystem oder zur Sozialversorgung fanden in Russland ohne
politische und/oder gesellschaftliche Diskussion statt. Die Reformen im sozialen Bereich sind
für die Bevölkerung weder durchschaubar noch werden sie umfassend thematisiert. Es bedarf
einer grundlegenden Reform der medizinischen, grundpflegerischen und sozialen Versorgung.
Das bisher praktizierte Verhältnis der staatlichen - famililialen Pflegeverantwortung muss
grundsätzlich überdacht werden. Es fehlt vor allem an Grundsatzdebatten und
gesellschaftlichem Konsens darüber, „wieviel soziale Verantwortung der Bürger und wieviel
der Staat zu tragen hat“588. Neuerdings setzt die Regierung auf mehr Transparenz, um den
Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, was sie vom Staat erwarten können, bislang nicht viel.
Die Medien tragen ihren Teil dazu bei, in der Öffentlichkeit den Generationenkonflikt zu
schüren, indem sie die demographische Belastung beschwören. Auch das im Vergleich zu
anderen Ländern vorzeitige Versterben der Männer scheint den russischen Staat nicht allzu sehr
zu bekümmern. „Wenn die Gesellschaft keine Entwicklungsstrategie hat, werden nicht nur
ältere Menschen als überflüssig erachtet“, resümiert Grigor’eva (2014). In der sich im rasanten
Tempo wandelnden russischen Gesellschaft hat sich das Motto "live fast, die young" fast
unvermeidlich etabliert589. Und man könnte fortfahren, eine Gesellschaft, die sich am Konzept
einer "kurzen Lebensperspektive" orientiert, wird sich wenig Gedanken oder Sorgen über die
eigene Pflegebedürftigkeit oder die von Angehörigen machen.
587 Krasnova (2010): 191-92; Sidorenko 2010: 131. 588 Schwethelm 2005: 10. 589 Ebd.
243
Bisher hat die russische Regierung nicht genügend Anstrengungen unternommen, dem
steigenden Pflegebedarf Rechnung zu tragen. In den 1990er Jahren begann zwar im Zuge der
dramatischen sozialen, ökonomischen und politischen Transformation der Aufbau eines
Systems der sozialen Versorgung, nachdem auch „die rücksichtslosesten Verfechter eines
“neoliberalen” Ansatzes“ die sozialen Probleme nicht mehr ignorieren konnten590. Ein
wirksames und bedarfsgerechtes Pflegeunterstützungssystem ist daraus nicht geworden. Es
fehlen Pflegefachkräfte und adäquate Pflege für die letzte Lebensphase. Auch die
Pflegeinfrastruktur ist nicht in ausreichendem Ausmaß vorhanden und höchst
modernisierungsbedürftig.
Für die soziale Politik zur Absicherung des Pflegefalls gilt in höchstem Maße das
Auseinanderklaffen von Proklamationen und Taten591. Die staatlich verkündete Absicht, den
Zugang zu qualitativ angemessenen sozialen und pflegerischen Dienstleistungen im benötigten
Umfang für alle pflege- und hilfsbedürftigen Älteren zu schaffen, wurde in Russland nie
realisiert. Der Staat löste sein Versprechen nur gegenüber einem begrenzten Personenkreis ein,
indem er diese ohne erhebliche Wartezeiten in die kostenlose Versorgung aufnahm. Das sind
Personen, deren Verdienste oder Opfer für den Staat anerkannt und honoriert werden, und die
absoluten „Pflegenotfälle“, denen keine andere Wahl gegeben ist. Das öffentliche System der
sozialen Versorgung richtete seine Unterstützungsleistungen grundsätzlich an alleinstehende
oder allein lebende (ältere) Menschen mit Bedarf an fremder Hilfe. Damit gibt sich der
russische Staat ruhigen Gewissens der Annahme hin, seine Pflichten gegenüber den
pflegebedürftigen Mitgliedern der Gesellschaft erfüllt zu haben.
Viele pflegebedürftige Ältere wurden in der Praxis nur selten zu Leistungsempfänger*innen
staatlicher ambulanter Versorgung. Die Zugangsberechtigung war begrenzt. Insbesondere
konnten Leistungen erst nach erheblichen Wartezeiten infolge mangelnder Kapazitäten in
Anspruch genommen werden. Jedoch mussten sie für diese Leistungen selbst aufkommen,
wenn auch zu staatlich subventionierten Preisen. Im Übrigen ist für die meisten Familien der
Bezug von Fremdhilfe bezüglich der Pflegeversorgung älterer Angehörigen nahezu undenkbar,
da dies den gesellschaftlich verbreiteten Normen familialer Unterstützung widerspräche. Es ist
nach wie vor ein Grundverständnis der russischen Bevölkerung, dass die Familie die Pflege
leisten soll. Auch spiegelt sich die lange Tradition der sowjetischen paternalistischen
590 Fruchtmann 2012. 591 Slay 2009.
244
Versorgungs- und Fürsorgepolitik in den Erwartungen der älteren Bevölkerung an den Staat
wider. Sie waren wenig bereit, kostenpflichtige Angebote anzunehmen.
Schwerpunktmäßige psychosoziale und hauswirtschaftliche Hilfsangebote staatlicher
ambulanter Dienste deckten kaum die Bedürfnisse in der pflegerischen Grundversorgung der
pflegebedürftigen Bevölkerung. Im unflexiblen Altenpflegesystem gab es bisher kaum
Möglichkeiten für individuelle Pflegebedürfnisse. Der ursprüngliche Anspruch der häuslichen
sozialen Versorgung, die Leistungsempfänger*innen möglichst lange in ihrem gewohnten
Umfeld zu belassen, konnte so nicht eingelöst werden. Die öffentlichen Versorgungsleistungen
reichten zum Erhalt von persönlichem und sozialem Status nicht aus.
Von einer angemessenen Abdeckung der Grundbedürfnisse der Pflegebedürftigen durch
professionelle Pflegeversorgung in Russland kann man daher nicht reden. Dies gilt auch für die
Entlastung oder Unterstützung der Familienangehörigen bezüglich der Pflegeaufgaben. Da
Pflegebedürftige mit Familienangehörigen öffentliche Versorgung nicht erhielten, bestand für
die Mehrheit der Betroffenen und ihrer Angehörigen praktisch keine Alternative zur
Familienpflege. Selbst wenn die Familien pflegen lassen wollten oder konnten, war dies
aufgrund der mangelnden öffentlichen Angebote und Infrastrukturen kaum möglich. Selbst
beschaffte Pflegehilfen auf dem Graumarkt waren daher die einzige Alternative zur
professionellen Pflege. Ohne eine allgemeine Pflegeversicherung, die, wie in Deutschland,
mindestens eine Grundversorgung (mit ca. 50 % Finanzierung) im Pflegefall garantiert, können
pflegebedürftige Menschen grundsätzlich nur auf zwei Unterstützungsquellen zählen:
„Angehörige“ oder „Geld“.
Der neue „individualisierte Zugang“ soll die Wünsche der Leistungsempfänger*innen zwar
berücksichtigen, allerdings wurde der Katalog der staatlich garantierten Leistungen nicht um
die fehlenden Grundpflegeangebote erweitert. Vielmehr setzt der Staat darauf, die Befriedigung
des Pflegebedarfs weiter bei den Familien zu belassen. Für diejenigen, die es sich leisten
können, soll dagegen ein Markt an kommerziellen Pflegeleistungen ausgebaut werden, um dem
steigenden Bedarf gerecht zu werden.
Mittlerweile hat der Staat erkannt, dass er selbst die Aufgabe nicht erfüllen kann. Er setzt
deshalb nun auf die Entwicklung staatlich-privater-gemeinnütziger Partnerschaften. Im
Rahmen des neuen Gesetzes wird der Kreis der Anbieter der sozialen Dienstleistungen
erweitert. Kommerzielle Dienstleister, gemeinnützige Organisationen sowie
Individualunternehmer dürfen der Bevölkerung soziale Dienstleistungen anbieten. Durch die
Ausweitung des Pflegeanbieterkreises verspricht sich der Staat eine Verkürzung der
245
Wartezeiten bezüglich sozialer Dienste und eine Verbesserung der Qualität der Leistungen.
Zwar wird die Kommerzialisierung der sozialen Versorgung in Russland als notwendig
angesehen, sie birgt aber die Gefahr neuer Formen der Ungleichheit und Redistribution in
sich592. Denn nur wenige ältere Menschen bzw. Familien können oder wollen sich offizielle
Pflegeangebote leisten. Derzeit entwickelt sich der private Pflegesektor nur im Bereich der
stationären, nicht aber der ambulanten Pflege. Hindernisse für die Etablierung des
professionellen Pflegemarktes sind geringe finanzielle Ressourcen, beengte Wohnverhältnisse,
Misstrauen, traditionelle Pflegenormen in den pflegenahen Generationen sowie Erwartungen
der älteren Bevölkerung593.
Zukünftig rechnet Russlands Regierung mit keinem zusätzlichen finanziellen Aufwand zur
Umsetzung der Gesetzesreformen, da mit der Neuregelung keine Ausweitung der bisherigen
Leistungen im Pflegefall vorgesehen ist, sondern lediglich ihre „Optimierung“. Ein Co-
Finanzierungszuschuss des Staates von 621 Mio. Rub. (weniger als 10 Mio. EUR), aufgeteilt
auf 55 Föderationssubjekte, zum Aufbau sozial orientierter gemeinnütziger
Pflegeanbieternetzwerke in den Regionen594 erscheinen als „ein Tropfen auf den heißen Stein“.
Darüber hinaus delegiert der russische Staat einen Teil seiner bisherigen
Versorgungsverpflichtungen an den Markt. Es ist schon ein großer Fortschritt, wenn er
Transparenz schafft und aufzeigt, wann neue Bedarfsfälle an der Reihe sind. Zurecht kritisiert
man die Ineffizienz des neuen Gesetzes: „die Verhinderung der Umstände, die die Bedürftigkeit
der Bürger*innen in der sozialen Versorgung verursachen, lassen sich nicht durch die
„Untersuchung der Ursachen“ in den Lebensumständen der Betroffenen vorbeugen oder lösen,
wie es das Gesetz vorsieht. Dazu wäre eine Reihe von Maßnahmen auf dem Gebiet der
Wirtschaft, Kultur, Bildung, Gesundheit, sozialen Sicherheit etc. erforderlich, um
wirtschaftliche und soziale Probleme der ungleichen Entwicklung im heutigen Russland zu
lösen“595.
4.4.1 Beobachtungen - Entwicklungen bei der Pflege in Russland
Wenngleich die dargelegten Studienergebnisse zur Pflegebereitschaft von Angehörigen in
Samara noch auf eine weitverbreitete familiale Pflegekultur schließen lassen, gibt es jedoch
bereits Hinweise auf Wandlungsprozesse. In der Transformationsgesellschaft ist zwar eine noch
592 Grigorieva 2014. 593 Zdaravomyslova 2013. 594 Regierungsverordnung vom 12.10.2015, № 2029-р. 595 Vinogradova 2014, inhaltsgemäße Übersetzung der Autorin dieser Arbeit.
246
relativ kleine und mit jeder Wirtschaftskrise schrumpfende Mittelschicht entstanden, die sich
Dienstleistungen von privaten Anbieter leisten könnte. Ein geringfügig feststellbarer Trend zur
Abnahme der filialen Verpflichtungen in der Bevölkerung596 lässt erkennen, dass sich die
Inanspruchnahme von professionellen Versorgungsleistungen durch betroffene Familien
langfristig durchsetzen wird. Mit dem Generationenwechsel verändern sich allmählich auch die
sozioökonomischen und soziokulturellen Charakteristiken der Älteren: Babyboomer kommen
in die Jahre und mit ihnen Alte neuen Typs, die aktiver, gebildeter und zahlungsfähiger sind als
die sowjetischen Alten597. Sie werden sich vermutlich nicht /nicht nur auf ihre Kinder verlassen
wollen, sondern sich eine ihren Bedürfnissen entsprechende professionelle Pflege wünschen.
Allerdings geht die Tradition der Selbstaufopferung in der jüngeren Generation schneller
zurück als die Tradition der Familienverpflichtungen bei den älteren Menschen598.
Der Wandel in der Pflege ist heutzutage auch in der langsamen Ausbreitung von nicht-
familiären Formen von Pflege sichtbar, auch wenn diese einen sehr geringen Anteil599 an der
gesellschaftlichen Organisation von Pflegearbeit haben dürften. Waren vor 30 Jahren
pflegebedürftige Menschen noch fast ausschließlich von ihren Familien versorgt, so gibt es
heutzutage Wartelisten für staatliche Pflegeheime, Pflege gegen
Immobilienschenkungsverträge für alleinstehende Senior*innen, private illegale
Beschäftigungen von 24-Std.-Pflegekräften, vermehrt Angebote privater Alten- und
Pflegeheime und gar illegale Hospize in Wohnhäusern. So kursieren in den russischen
Massenmedien Geschichten über Betrügerfirmen, die eine optimale Pflege für die Übereignung
einer Wohnung zusichern. Nach kurzer Zeit verstirbt die Oma/der Opa jedoch, dann ist das
Eigentum verloren. Das Internet ist voll von Vermittlerangeboten, die Hilfe bei der
Überwindung bürokratischer Hürden für die Platzierung einer pflegebedürftigen Person in
einem staatlichen oder privaten Pflegeheim versprechen. Ursprünglich konzentrierten sich die
Angebote der „Senior Group“, Russlands größter Kette privater Senioren- und Pflegeheime,
ausschließlich auf die postindustriellen Global-Cities Moskau und St. Petersburg, inzwischen
entstehen private Pflegeheime auch in den Regionen. In Samara wurden inzwischen 3 private
Pflegeheime gegründet.
Die gegenwärtigen Entwicklungen der Generationenbeziehungen sind Gegenstand von
Diskussionen in russischen Internet-Foren. Die betroffenen Angehörigen äußern sich über das
596 Siehe Analyseergebnisse mit dem GGS 2004 und 2011 von Lefevre et al. 2014. 597 Laut mehreren Beiträgen auf der III Nationalen Konferenz „Auf dem Weg zu einer Gesellschaft für alle
Generationen”, 9.-11.10.2015, Moskau. 598 Siehe Analyseergebnisse mit dem GGS 2004 und 2011 von Lefevre et al. 2014. 599 Vgl. Zdravomyslova 2016 (interviewt von Galkina 2016).
247
Dilemma „Pflichtbewusstsein gegenüber Eltern vs. Überforderung der pflegenden
Familienmitglieder“. Auch die russische Wissenschaft befasst sich mit der Transformation der
Familie, häufig im Kontexte der „Werteverfall“-Diagnose600 und speziell mit der Einbuße ihrer
Sozialisationsfunktion. Dabei wird „Moraltransformation“ schon mal mit „Moralanomie“
verwechselt601. Sozialpolitiker*innen bzw. staatliche Pflege-Verantwortliche bezeichnen sich
wandelnde Pflegearrangements als Zeichen des Moralverfalls der russischen Familienwerte.
Ein langjähriger Direktor eines staatlichen Pflegeheims für Kriegsveteran*innen in Samara
äußerte die Bemerkung, dass seit Jahren die Nichterfüllung filialer Pflichten bedauerlicherweise
zu einer verstärkten Inanspruchnahme staatlicher Pflege führe602.
Daneben wurden erste Forschungen über die Vereinbarkeitsprobleme bei den pflegenden
„Sandwich-Generationen“603 durchgeführt und ein erst seit neuerstem geführter
wissenschaftlicher Diskurs über die Belange der pflegenden Angehörigen gelangt langsam aber
sicher in die öffentliche Wahrnehmung. Grundsätzlich gibt es in Russland eine ähnliche
Vereinbarkeitsproblematik zwischen den Pflegeverpflichtungen und der Berufstätigkeit bzw.
dem eigenen Leben, wie sie aus der deutschen Forschung bekannt sind. Bei der Elternpflege
handelt es sich im Grunde um ein ähnliches Vereinbarkeitsproblem wie bei der
Kinderbetreuung. Der Gesellschaft mangelt(e) es aber an Willen und Einsicht diese zu
erkennen. Hier schienen die verbreiteten Wahrnehmungen über die „Selbstverständlichkeit der
Angehörigenpflege“, ihre geschlechterspezifische Normalisierung, Verschweigen der
Belastungen und der Vereinbarkeitsprobleme sowie mangelnde staatliche Unterstützung dem
Hinterfragen des dominierenden Pflegearrangements im Wege zu stehen604. Dementsprechend
widmeten sich bisher nur wenige Forschungsvorhaben den Belangen pflegender Angehörige.
Mit den neuen Forschungserkenntnissen soll die Situation der berufstätigen, pflegenden Frauen
in der breiten Öffentlichkeit problematisiert und auf die Gewährleistung der institutionellen
Unterstützung hingewirkt werden605.
Diese Beobachtungen zeigen, dass weder das historische Erbe Russlands noch die langsamen
und durch Rückschläge gekennzeichneten strukturellen und soziokulturellen
Transformationsprozesse etwas an der Bedeutsamkeit der Individualisierungsprozesse für die
600 z.B. Zarubina 2013; Varlamova et al. 2006. 601 Mit „Moralanomie“ ist ein Zustand gemeint, bei dem frühere Überzeugungen und Vorstellungen über
Pflichten ihre Gültigkeit verlieren, ohne dass die neue soziale Verantwortung bereits zur Norm geworden ist,
siehe Zarubina 2013. 602 Experteninterview 5. 603 Eine qualitative Studie im Rahmen von „Genderordnung der Privatsphäre in den russischen Regionen“ des
Gender Studies Programms an der European University, siehe Zdravomyslova 2013; Tkach 2015. 604 Vgl. Zdravomyslova 2013, 2016 (interviewt von Galkina 2016) 605 Ebd.
248
gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen in der Altenpflege ändern kann. Allerdings lässt
sich prognostizieren, dass mittelfristig (in den nächsten 15-20 Jahren) angesichts der
wirtschaftlichen Rückständigkeit und strukturellen Hindernisse ein umfassender
soziokultureller Wandel große Teile der Bevölkerung nicht erreichen wird. Damit wird vorerst
keine bedeutende Veränderung der Familienpflege zu erwarten sein. Normen der familiären
Unterstützungsbeziehungen zwischen den Generationen sind von der russischen Bevölkerung
(insbesondere der Menschen, die noch zu Sowjetzeiten sozialisiert wurden) deutlich
verinnerlicht worden. Sie verschwinden selbst unter den sich im Zeitraffer verändernden
gesamtgesellschaftlichen Bedingungen nicht so schnell.
Eine deutliche Konsolidierung der sozioökonomischen Basis und ein Ausbau starker
wohlfahrtsstaatlicher Sicherheitsnetze, die als treibende Kräfte der
Individualisierungstendenzen gelten, sind in Russland kurz- und mittelfristig nicht in Sicht. Die
Mehrheit der Bevölkerung, die aus den post-sozialistischen Transformationsprozessen als
„Verlierer“ hervorgegangen ist, hat sicherlich andere Sorgen als sich zu „individualisieren“.
Andererseits führen marktwirtschaftliche Mechanismen, der Anschluss Russlands an die
globalen Kommunikationsprozesse und Arbeitsmarktentwicklungen der postindustriellen
Arbeitswelt sowie der Rohstoffreichtum des Landes durchaus zu steigendem Wohlstand. Das
schaffte Konsummöglichkeiten für die privilegierten Segmente der Bevölkerung (sog.
„Transformationsgewinner“). Dies wiederum dürfte zu ähnlichen soziokulturellen
Veränderungen wie in Deutschland führen (wachsende Bedeutung von Bildung, beruflicher
Erfolg, persönliche Freiheit etc.). Die bisherigen Pflegearrangements werden sich dadurch
allmählich verändern. Man rechnet damit, dass die „Inertia der Bevölkerungsstruktur und
Einstellungsdimensionen“ eher durch den Generationenwandel überwunden wird606. Auch
werden sich die Vorstellungen über die Pflege eher im Zuge des Generationswechsels
verändern. Längerfristig (in 20-35 Jahren) werden die soziokulturellen Prozesse zu einem
ähnlichen Pflegewandel führen wie in Deutschland, also einer abnehmenden Pflegebereitschaft
und steigendem Bedarf an professioneller Altenpflege.
Gesellschaftliche und familiale Arbeitsteilung der Pflegeaufgaben kann als
„Rationalisierungsprozess“ betrachtet werden. In einer beschleunigten, flexibleren Arbeitswelt
werden zeitliche und persönliche Ressourcen eines modernen Menschen607 immer knapper.
Diese können nicht für unkalkulierbare, zeitintensive Pflegearbeit aufgewendet werden.
606 Radaev 2016. 607 Vgl. Bedeutungsveränderung von Raum-Zeit, dazu siehe Diskussion bei Blinkert/Klie 2004: 144ff..
249
Deswegen ist eine Arbeitsteilung zwischen formeller und familialer Pflege rational608. Dies
würde nicht nur den berufstätigen Angehörigen unterstützen, sondern die Älteren von der
Pflegebereitschaft ihrer Kinder emanzipieren. Daher ist es erforderlich, die Pflegeaufgaben auf
mehrere Schultern zu verteilen. Der russische Wohlfahrtsstaat müsste daher sein Pflegesystem
reformieren und massiv ausbauen. In der Realität macht der russische Staat aber genau das
Gegenteil und hält an seinen minimalen Versorgungsverpflichtungen fest. Er weigert sich, die
Tatsache anzuerkennen, dass die Familie in Folge des demographischen und soziokulturellen
Wandels Pflegeaufgaben kaum mehr alleine meistern kann. Angesichts mangelnder
Möglichkeiten zur nicht-stationären professionellen Altenpflege werden überwiegend
vollzeitberufstätige Frauen beträchtlich belastet609. Für Pflegepersonen im erwerbsfähigen Alter
ist es wichtig zu wissen, ob es genügend pflegerische Entlastungsangebote und finanzielle
Unterstützung sowie arbeitsrechtliche Pflegeregelungen gibt, welche die Vereinbarung
sämtlicher Lebensbereiche ermöglicht: Erwerbstätigkeit, eigenes (Familien)leben und Pflege.
Statt die Familie zu entlasten und pflegenden Familien Unterstützung zu gewähren, wird Pflege
in der Familie kraft rechtlich definierter Pflichten eingefordert und per Bestärkung traditioneller
Familiennormen auch erwartet.
Im Rahmen der Strategie 2020 zur langfristigen sozial-ökonomischen Entwicklung Russlands
soll stärker auf die Entwicklung und den Einsatz der bis dahin in der Wirtschaft kaum benutzten
Konkurrenzfaktoren, nämlich hohes Humanpotenzial, wissenschaftlicher Fortschritt und
innovatives Potential der Mittelschicht gesetzt werden. Für das Erreichen der gesellschaftlichen
Reformbestrebungen und Etablierung einer postindustriellen Wissensgesellschaft wird der
hohe Familialismus in der Pflege jedoch nicht dienlich sein. Unter den beschriebenen
gesellschaftlichen Bedingungen kann langfristig der allmählich ansteigende Pflegebedarf mit
dem bisherigen dominierenden Modus der Pflegeorganisation (vorranging Familien, in
geringem Maß der Staat) nicht gesichert werden.
4.4.2 Leitbilder des Alterns und der Pflege in Deutschland und Russland
Die in der Gesellschaft dominierenden Altersbilder prägen mit Sicherheit die Einstellungen und
Praktiken in der Pflege. Sie bestimmen sowohl die Interaktionen zwischen Pflegebedürftigen
und den ihnen nahe stehenden Angehörigen oder professionellen Pflegekräften. Sie entscheiden
auch über den Zugang zu Pflege- und Gesundheitsleistungen sowie deren Ausschluss. Viele
608 Dallinger 1997: 116-119. 609 Zdravomyslova 2013, 2016; Grigorieva 2014.
250
Faktoren tragen wiederum zu den Altersbildern in der Pflege bei, nämlich die sozialrechtlich
festgelegte Auffassung von Pflegebedürftigkeit, öffentliche Diskussionen darüber, das
berufliche Selbstverständnis der Pflegebranche sowie institutionelle Rahmenbedingungen in
Pflegeheimen und bei ambulanten Diensten610.
In Deutschland ist die Gleichzeitigkeit von stereotyper und differenzierter, von positiver und
negativer Darstellung des Alterns im Bild der Öffentlichkeit charakteristisch. Experten warnen,
dass die durch das Pflegeversicherungsgesetz hervorgebrachte Vorstellung einer mit
erheblichen Einschränkungen verbundenen „Altersgebrechlichkeit“ quasi als „Kehrseite des
Bildes vom aktiven und produktiven Alter“ negative Altersbilder in die Gesellschaft
transportieren kann611.
In welche Richtung sich eine Gesellschaft in Fragen des Alterns, der Pflege und der
Generationenbeziehungen entwickelt, hängt erheblich von den sich als Ziel gesetzten
Leitbildern der Altenpolitik ab. Für die zukünftige politische Agenda Deutschlands sind zwei
Leitbilder prägend, um das Ziel „einer altersfreundlichen, durch Solidarität zwischen den
Generationen gekennzeichneten Gesellschaft“612 zu erreichen:
1) das Leitbild, eine selbst- und mitverantwortliche Lebensführung zu ermöglichen, statt
alleinig fürsorgerisch auf das Alter zu blicken.
2) das Leitbild der differenzierten Betrachtung des Alters und des Alterns. Hierbei sei von
zwei Erkenntnissen auszugehen: das chronologische Alter sei nur als relativ zu
betrachten und es gebe unterschiedliche Alterungsformen. Dabei liegen individuelle
Voraussetzungen als auch institutionelle Rahmenbedingungen dem Outcome des
Alterns zugrunde.
Im gegenwärtigen Russland prägen vorwiegend Altersbilder aus der Vergangenheit den
gesellschaftlichen Umgang mit dem Alter und der Pflege. Ernüchternd und praktisch
einstimmig ist die Einschätzung der typisch negativen Altersbilder in Russland. Das Alter sei
keine gute Zeit im Leben. Seit den Systemumbrüchen in den 1990er Jahren haben die Älteren
ihre gesamten „sozialen Rücklagen“ weitestgehend eingebüßt. Das hat umfassende Verluste an
materiellen, beruflichen, intellektuellen, aber auch alltäglichen Ressourcen und Potentialen zur
Folge, die zuvor den Älteren gesellschaftlichen Respekt und Selbstwertgefühl sicherten613. In
610 Vgl. BMFSFJ (2010): Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland,
S. 345. 611 Ebd., S. 369. 612 Ebd., S. 27ff. 613 Levinson 2010.
251
der öffentlichen Meinung wird das Alter als schwieriger Lebensabschnitt angesehen, der durch
gesundheitliche Probleme, emotionale Lasten und materielle Sorgen geprägt ist. Dazu kommt
die soziale und kulturelle Isolation alter Menschen614. „Man muss Angst davor haben, in
Russland alt zu werden“615. Gerontophobia und „Ageism“ durchdringen die russische
Gesellschaft, hier sind sich viele russische Experten einig. Dabei wird der Kontakt mit älteren
Menschen und das Thema Pflege von der jungen Generation als unerwünscht angesehen.
Negative Stereotypen, Klischees und Diskriminierung älterer Menschen (z.B. auf dem
Arbeitsmarkt und im Gesundheitssystem) sind die Folgen. Allerdings gehört Ageism zu allen
sich schnell transformierenden Gesellschaften616. Deshalb wäre es historisch gesehen nicht
korrekt oder produktiv, ein sinkendes soziales Ansehen der Älteren als Wertemangel bzw. ein
moralisches Problem des gegenwärtigen Russlands zu betrachten617. Selbst das Berufsbild der
Fachkräfte in der Altenhilfe war durch negative Stereotypen und defizitäres Alternsverständnis
geprägt. Ältere Menschen wurden als schwach und als nicht adaptiert an den
Transformationsprozess in Russland dargestellt und begriffen und galten deshalb pauschal als
unterstützungsbedürftig618. Bis vor kurzer Zeit waren „gegenseitige Verpflichtungen zwischen
den Generationen sowie zwischen Bevölkerung und Staat kein Thema einer rationalen
Diskussion in der russischen Gesellschaft“619.
Umso erfreulicher ist es, dass das Thema Älterwerden in Russland seit ca. 4-5 Jahren nun
Diskussionsstoff ist. Die Gesellschaft muss selbst entscheiden, wie sie sich entwickelt und wie
sie zukünftig mit ihren pflegebedürftigen Menschen umgeht. Die im Entstehen begriffene
Zivilgesellschaft Russlands ist momentan der Impulsgeber und die treibende Kraft für das Ziel
einer altersfreundlichen Gesellschaft. Die private wohltätige Stiftung von Elena und Gennadiy
Timtchenko hat das Thema des Alterns zur eigenen Sache gemacht und widmete ihr bereits vier
nationale Konferenzen seit 2013620. Dabei ist das neu gegründete Aging-Forum zur wichtigsten
fachlichen Austauschplattform von nationalen und internationalen Wissenschaftler*innen,
Praktiker*innen im Bereich der Alten- und Langzeitpflege und auch der Politik (staatliche
Institutionen, private Investoren und gemeinnützige Initiatoren, Vertreter der Fachministerien)
geworden. Aufgrund des beharrlichen Engagements, der Diskussionen und Vorarbeiten der
Konferenzteilnehmer*innen wurde der Nationale Strategieplan der Maßnahmen für die
614 Presnjakova 2010: 175. 615 Grigorieva 2014. 616 Noels, Giles, Gallois, Ng 2001, zit. n. Schwarz et al. 2002: 398. 617 Grigorieva 2005a. 618 Krasnova 2010. 619 Grigorieva 2014 (Übersetzung der Autorin dieser Arbeit). 620 Aging Forum - http://www.ageing-forum.org/ru/.
252
Interessen der älteren Generationen bis zum Jahre 2025 entwickelt, der am 15.2.2016 von
Regierungschef Dmitry Medvedev offiziell verabschiedet wurde. Dieses Positionspapier
definiert den Zweck, die Ziele, Grundsätze, Herausforderungen und Vorzugsbereiche einer
staatlichen Politik für ältere Bürger*innen und orientiert sich dabei im Wesentlichen an dem
„Madrid International Plan of Action on Ageing“. Die Strategie hat die Verbesserung der
Lebensqualität der Älteren, Förderung des aktiven Alters und Schaffung der
Beteiligungsmöglichkeiten für die Senior*innen in der Gesellschaft zum Ziel. Sie erkennt
differenzierte Bedürfnisse der Älteren an, nämlich einerseits den Bedarf an Unterstützung und
Pflege, andererseits die Teilhabemöglichkeiten am Arbeitsmarkt und anderen Bereichen der
Gesellschaft. Dazu müssen die z. T. altenfeindliche Einstellung sowie die negativen
Altersbilder geändert, die Infrastruktur kultureller und gesundheitsfördernder Angebote,
gepaart mit lebenslangem Lernen, Reisemöglichkeiten, sowie das System der sozialen
Versorgung ausgebaut und Diskriminierungspraktiken auf dem Arbeitsmarkt abgeschafft
werden. Eine der Schlüsselaufgaben der Strategie soll die Herausbildung einer Gesellschaft für
alle Generationen sein, in der der Beitrag der älteren Menschen in der Familie und Gesellschaft
anerkannt und wertgeschätzt wird. Ihr Wissen, ihre Erfahrungen und ihr Potential soll genutzt
werden. In der Gesellschaft soll das verloren gegangene Band zwischen den Generationen
wiederhergestellt werden.
Wie dieses Versprechen einer Kursänderung des Staates und der Gesellschaft gegenüber den
Älteren sich in der Wirklichkeit realisieren wird, bleibt abzuwarten. Werden wirksame
Unterstützungsmechanismen für die pflegenden Familien entwickelt? Oder wird gar familiale
Verantwortung verstärkt eingefordert, z.B. durch das in Diskussionen erwogene in Pflicht
nehmen der erwachsenen Kinder für die Kosten der stationären Unterbringung? Wie werden
die mangelnden Platzkapazitäten in den Pflegeheimen beseitigt: durch staatlichen Auftrag an
nichtstaatliche Pflegeanbieter oder mittels Drehen an der Schraube der
„Bedürftigkeitskriterien“621? Wird mit der geplanten Einführung der geriatrischen Medizin und
dem Aufbau gerontologischer Stützpunkte eine altersgerechte Versorgung etabliert oder
werden sie Einsparungen im unterfinanzierten Gesundheitssystem auf Kosten der Älteren
dienen, wie manche Experten es befürchten622. Werden für Demente spezielle
Betreuungsangebote geschaffen oder landen sie zukünftig in psychiatrischen Anstalten? Wer
wird für die Pflege zukünftig finanziell aufkommen und auf welche Schultern werden die
Kosten verteilt? Wie können die Bedingungen in den pflegenden Berufen verbessert werden?
621 Vzglyad delovaya gazeta 2015; DoctorPiter 2016b. 622 DoctorPiter 2016b.
253
Wird die Zentralregierung zukünftig nicht nur Verordnungen erlassen, sondern den Regionen
auch die notwendigen Mittel für die benötigten Mehrausgaben in der Pflegeversorgung zur
Verfügung stellen?
Für die desintegrierte russische Gesellschaft623, in der die Interessen verschiedener sozialer
Gruppen miteinander im Konflikt stehen, soll schwerpunktmäßig die Kultur einer sozialen
Partnerschaft und Konsensfindung in den Streitfragen der Entwicklung der Gesellschaft
etabliert werden, zu denen auch die Sozialpolitik bezüglich verschiedener Altersgruppen
gehört. Die politische Förderung des generationenübergreifenden Miteinanders und
Füreinanders kann zur Wiederherstellung des sozialen Status älterer Menschen führen und
somit zur Integration der Gesellschaft beitragen624. Wenn das geschieht, dann würde man sagen
können, Russland ist auf dem Weg zu einer humaneren und zivilisierteren Gesellschaft für alle
Generationen.
4.5 Kritische Bemerkungen zur Studie
Nach der inhaltlichen Ergebnisdiskussion der Unterschiede zwischen Samara und Freiburg soll
noch über messtheoretische und stichprobenbasierte Gründe des Nichtauffindens von
Zusammenhängen (zwischen sozialstrukturellen und soziokulturellen Ressourcen und
Pflegebereitschaft) reflektiert werden.
Unter messtheoretischen Gesichtspunkten könnten zwei methodische Effekte aufgetreten sein:
1) Wie bei der Skalenkonstruktion bereits diskutiert wurde (siehe Kap. 2.3.3), könnten die
für die Messung von Lebensentwürfen verwendeten Indikatoren (Einstellungsitems zur
Frauenrolle) in interkulturell vergleichenden Studien Validitätsprobleme aufweisen.
Die Voraussetzung für einen analytischen Ländervergleich an einem theoretischen
Konzept ist immer die länderübergreifende Konvergenz hinsichtlich der Bedeutung der
einzelnen Antworten. Dies ist angesichts recht unterschiedlicher gesellschaftlicher
Rahmenbedingungen, die die Lebenswelt und Antworten von den in Russland und
Deutschland lebenden Menschen prägen, wenig wahrscheinlich. So könnten die
interkulturellen Unterschiede im Fehlen von Beziehungen zwischen den Variablen oder
im Niveau der Erklärungsvariablen durchaus dadurch zustande gekommen sein, dass in
Samara/ Russland der Grad der Traditionalität der Lebensführung eher unterschätzt
wurde. In Freiburg /Deutschland könnte umgekehrt die tendenzielle Überschätzung des
623 DeBolt 2006. 624 Grigorieva 2005b.
254
Anteils traditioneller Lebensentwürfe625 für zu „schwache“ Zusammenhänge gesorgt
haben.
In der zukünftigen Forschung müssten neue Messinstrumente entwickelt werden, die alle
Subdimensionen – Selbstbestimmungswerte, fortgeschrittene Anerkennungsbedürfnisse und
(berufliche) Selbstverwicklichungsaspirationen - eines modernen Lebensentwurfs bzw. Habitus
moderner Subjekte gleichermaßen bzw. besser zum Ausdruck bringen (siehe Kap. 2.2). Für ein
solches Vorhaben zur Skalenentwicklung müsste eine eigenständige methodische Vorstudie
eingeplant werden, die auch der Überprüfung von funktionaler Äquivalenz in verschiedenen
Länderkontexten Rechnung trägt.
2) Im Hinblick auf pflegekulturelle Orientierungen mag, vor dem Hintergrund der
normativen Ordnungskonzepte der Angehörigenpflege in Russland (vgl. Kap. 3.2), in
der russischen Stichprobe in einem stärkeren Ausmaß als in der deutschen der Effekt
der „sozialen Erwünschtheit“ aufgetreten sein. Die russischen Befragten, unter denen
sich Übrigens überproportional viele Frauen und gut Gebildete befanden, hätten „viel
in moralischer Sicht zu verlieren“, wenn sie gegenüber den jungen Interviewer*innen
den Moralprinzipien einer familialistischen „Pflegekultur“ widersprechen müssten. Das
gilt für die Wunschäußerung über die nicht-familiäre Versorgung des eigenen
gebrechlichen Elternteils genauso wie die positive Beurteilung einer „fremden Tochter,
die ihre Mutter ins Pflegeheim abgeben möchte“ oder Angabe von Contra-Pflege-
Gründen. Befürwortung der Heimpflege, „individualistische“ Rechtfertigungsgründe,
Erwägungen von Belastung durch die Pflege sind für die meisten Russen noch immer
ein Tabu. Vor allem Bessergebildete könnten eine Abweichung ihrer Meinung von dem
sozial Erwünschten antizipieren. Sie würden dazu tendieren, unangenehme Situationen
bezüglich des eigenen Ansehens durch verfälschte Angaben zu vermeiden. Auch Frauen
dürften während der Befragungssituation ihre Antworten verstärkt sozialen Normen
angepasst haben, evtl. ungeachtet ihrer eigenen Meinung dazu.
Trotz diverser Versuche, diese Verzerrungseffekte zu minimieren (z.B. Anonymitäts-
zusicherungen, mit der „fremden Situation“ beginnen, bevor man über die Pflege eigener
Angehörigen spricht), um so den Befragten das Gefühl des sozialen Drucks zu nehmen (siehe
Kap. 2.3.4), bleiben Effekte der sozialen Erwünschtheit jedoch weiterhin bei sensiblen Themen
wie der Pflege bestehen. Dabei ist von einer stärkeren systematischen Ergebnisverzerrung durch
625 Vgl. Braun 2006.
255
die soziale Erwünschtheit im russischen Kulturkreis auszugehen, was die Vergleichbarkeit der
Ergebnisse unserer kulturvergleichenden Studie zu einem gewissen Grad relativiert.
Ein weiteres Defizit der Pilotstudie besteht darin, dass sie nur auf Querschnittsdaten basiert. Es
sind daher weder kausale Zusammenhänge überprüfbar noch die Veränderungen im
Zeitverlauf. Die relativ stark ausgeprägte Pflegebereitschaft in der russischen Stichprobe könnte
unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass die vorliegende Untersuchung nur auf den
Daten von 40-65 Jährigen basiert, die noch unter den Bedingungen des Sowjetregimes
sozialisiert wurden. Jüngere Menschen waren nicht die Zielgruppe der Befragung, zu wenige
besser Situierte waren in der Stichprobe vertreten. Das mag ebenso ein Grund gewesen sein,
warum die in der Gesellschaft stattfindenden Wandlungsprozesse in der Pflegeorganisation
(noch) nicht empirisch beobachtet wurden.
Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist gewiss eingeschränkt aufgrund der mangelnden
Repräsentativität der kleinen und nicht zufallbasierten Stichproben. Allerdings konnten mit
unseren bi-nationalen Pilot-Studien, insbesondere in Russland, Tendenzen aufgespürt und
Erklärungen angestoßen werden. Generell bedarf es weiterer landesweiter Studien in Russland,
um mittels repräsentativer Befragungsdaten mit höherer Analysetiefe die Verallgemeinerungen
über die gesamte Nation sowie lokal und regional differenzierte Aussagen machen zu können.
4.6. Anregungen für weitere Forschung
Durch die hier eingenommene multidimensionale und multizentrische Perspektive wurden die
unterschiedlichen pflegekulturellen Entwicklungen in Russland und Deutschland im
gesamtgesellschaftlichen Kontext des jeweiligen Landes dargestellt. Der deskriptive Vergleich
zweier Systeme lieferte zahlreiche Hinweise dafür, dass strukturelle (ökonomische), normative
und institutionelle Rahmenbedingungen für die selbstbestimmten Lebensführungen und
Pflegentscheidungen von großer Bedeutung sind. Es tun sich dabei weitere Forschungsfragen
auf, die auf die Generalisierung dieser Befunde auf andere Länderkontexte und eine genaue
Ergründung der Makro-Mikroebene-Zusammenhänge abzielen.
Für die landestypischen Generationenbeziehungen und normativen Pflegeverpflichtungen
dürfen also nicht nur die dominierenden Wertesysteme konstitutiv sein, wie es die
kulturvergleichende Forschung hauptsächlich sieht626. Auch dürfen in den
ländervergleichenden Forschungsvorhaben, die zwar häufig beides, Pflegesysteme und
626 Nauck/ Trommsdorff 2009; Klug 2008.
256
kulturelle Normen, berücksichtigen627, strukturelle Rahmenbedingungen der
Pflegeentscheidungen nicht ausgeklammert werden. Auch sollten zukünftige Untersuchungen
intergenerationaler Pflege sich nicht nur auf die „vier Welten des Wohlfahrtsstaates“
beschränken, sondern auch Wohlfahrtsstaaten des ehemaligen sozialistischen Blocks
einbeziehen. Es wäre daher wichtig, Vergleichsdaten zu Mittel-, Osteuropa und den GUS-
Ländern zu erheben, um dabei die Bedingungsfaktoren der Pflegebereitschaften unter
europaweit unterschiedlichen ökonomischen, kulturellen und versorgungsstrukturellen
Rahmenbedingungen zu untersuchen.
Es ergeben sich dabei konkrete Forschungsfragen: Welcher der genannten Makrofaktoren
(Struktur, Kultur oder Institutionen) hat wohl am meisten Einfluss bezüglich der
Zusammenhänge auf der Individualebene? Und wie fällt der Erklärungsbeitrag dieses
Makrofaktors im Vergleich zu den individualen Charakteristiken der potentiellen
Pflegepersonen (z.B. ihren strukturellen und symbolischen Ressourcen) aus? Ferner wäre
wichtig zu ermitteln, ob die Auswirkungen der Individualfaktoren auf eine Pflegebereitschaft
variieren je nach dem, in welchem Ausmaß ein Land „Opportunitätsstrukturen der modernen
Lebensführung“ zur Verfügung stellt. Im europaweiten Vergleich wären folgende Verteilungen
zu erwarten: Nicht nur in Russland, sondern auch in anderen ost- und mitteleuropäischen post-
sozialistischen Wohlfahrtsstaaten (mit wenig Möglichkeiten der selbstbestimmten
Lebensgestaltung) werden kaum oder nur sehr geringe Zusammenhänge zwischen
unabhängigen und abhängigen Individuallevel-Variablen auftreten.
In den nördlichen Ländern des sozialdemokratisch-universalistischen Wohlfahrtstyps, die der
idealtypischen Gesellschaft moderner Lebensführung am nächsten kommen (s. Kap 3), würde
soziokulturelle Verankerung von Pflegebereitschaft am stärksten beobachtbar sein. In diesen
Wohlfahrtsstaaten sind Opportunitätsstrukturen für die selbstbestimmte Lebensführung und
Entscheidungsfreiheit am höchsten entwickelt und geben Individuen Wahlmöglichkeiten, über
Pflegearrangement nach eigenem Lebensentwurf zu entscheiden.
In korporatistisch-konservativen Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland, deren Politik eher auf die
Konservierung der bestehenden (ungleichen) Statusverhältnisse als auf eine Erweiterung und
Gleichverteilung von Lebenschancen abzielt, würden die untersuchten Variablen nur
mittelstark korrelieren. Um solche Interaktionseffekte zu untersuchen, wäre der Einsatz eines
elaborierten multivariaten Analyseverfahrens wie die Mehrebenenanalyse erforderlich.
627 Z. B. Haberkern 2009; Haberkern/Szydlik 2010; Lowenstein/ OGG 2003.
257
Abkürzungen
BIBB Bundesinstitut für Berufsbildung
BMFSFJ Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BMG Bundesministerium für Gesundheit
bpb Bundeszentrale für Politische Bildung
Destatis Statistisches Bundesamt Deutschland
DF Deutscher Frauenrat
DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
EBRD European Bank for Reconstruction and Development
EC European Commission
EU Europäische Union
EUROSTAT Statistische Amt der Europäischen Union
EVS European Value Survey
Gesis Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften
GGS Generations and Gender Survey
Goskomstat Federal State Statistics Service
HSE Higher School of Economics
OECD Organisation for Economic Co-operation and Development
OIA Oxford Institute of Aging
RLMS Russisches Monitoring der wirtschaftlichen Situation und Gesundheit der
Bevölkerung
Samarastat Statistisches Amt von Samara Region
UN United Nations
UNDP United Nations Development Programme
KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
DZA Deutsches Zentrum für Altersfragen
259
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protezov), protezno-ortopedicheskimi izdeliyami" (s izmeneniyami i dopolneniyami [Decret der Regierung
RF vom 07.04.2008 № 240 „Über die Versorgung der Invaliden mit den technischen Rehabilitationsmitteln“
(mit Änderungen und Ergänzungen).]
Postanovleniye Pravitelstva Samarskoy oblasti ot 07.09.2011 № 447 "Ob utverzhdenii Perechnya
gosudarstvennykh uslug, predostavlyayemykh organami ispolnitel'noy vlasti Samarskoy oblasti, a takzhe
organami mestnogo samoupravleniya pri osushchestvlenii otdel'nykh gosudarstvennykh polnomochiy, peredannykh federal'nymi zakonami i zakonami Samarskoy oblasti i Perechnya uslug, kotoryye yavlyayutsya
neobkhodimymi i obyazatel'nymi dlya predostavleniya organami ispolnitel'noy vlasti Samarskoy oblasti
gosudarstvennykh uslug i predostavlyayutsya organizatsiyami, uchastvuyushchimi v predostavlenii
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vom 23.1.2015 des Ministeriums für Soziales, Demographie und Familienpolitik der Samara Region „Über
die Bewertung des individuellen Bedarfs von Bürgern an bestimmten sozialen Dienstleistungen“, Anlage Nr.
2: Bestimmung des individuellen [Pflegegrades] Bedürfnisgrades der Bürger an sozialen Dienstleistungen;
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häuslichen Versorgung zur Verordnung.]
Prikaz Ministerstva Sotsial’no-Demograficheskoy i Semeynoy Politiki Samarskoy Oblasti ot 23 yanvarya 2015
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Experteninterview 2: Persönliches Interview mit der Leitung des Samara Altersheims für Veteranen des Krieges
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Experteninterview 3: Persönliches Interview mit einem Vertreter des Ministeriums für Soziales, Demographie und
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Experteninterview 4: Telefonisches Interview mit der stellvertretenden Leitung eines munizipalen staatlichen
Zentrums ambulanter sozialer Versorgung für Senior*innen und Personen mit Behinderung der Stadt Samara,
April 2016.
Experteninterview 5: Telefonisches Interview mit der Leitung des Samara Regionalen Gerontologischen
Zentrums, April 2016.
281
Anhang
Anhang 1: Schätzungen der Pflegebedürftigenzahl, in Tsd. in Russland 2015-2050, (Status-Quo-Szenario) Alters-
gruppen 2015 2050 (Schätzungswerte)
Bevölkerungs-
zahl in Tsd.
Pflegewahr-
scheinlichkeit,
Pflegebedürftigen-
zahlen
% an d. Gesamt-
bevölkerung
Bevölkerungszahlen
in Tsd.
Pflegewahr-
scheinlichkeit
Pflegebedürftigen-
zahlen
% an d. Gesamt-
bevölkerung
0-4 9262 0,6% 52
80,2
91563
0,5%
458
71,2%
5-9 8004 0,5% 40
10-14 7126 0,5% 36
15-19 6829 0,5% 34
20-24 9293 0,5% 46
25-29 12620 0,5% 63
30-34 12092 0,5% 60
35-39 10884 0,5% 54
40-44 10122 0,5% 51
45-49 9140 0,5% 46
50-54 10957 0,5% 55
55-59 10873 0,5% 54
60-64 9260 1,6% 152
16,7 30478
3,88% (ø-Wert
für 60-79
Jährigen) 1182 23,7%
65-69 6428 2,6% 168
70 -79 8699 7,4% 644
80+ 4678 39,6% 1852 3,1 6558 39,59% 2596 5,1%
Gesamt 146267 3,6% 3408
100% 128599 3,58% 4236 100%
Quelle: Goskomstat 2015; UN (2015): World Population Prospects; Pflegewahrscheinlichkeiten für Deutschland in 2007 nach Altersgruppen (siehe Pu (2012): Tab, 2, S.24); Eigene Darstellung.
282
Anhang 2: Lebenserwartung von Männer (M) und Frauen (F) bei Geburt (in Jahren), in
Russland und Deutschland 1960-2014
Quelle: The World Bank DataBank; Eigene Darstellung
283
Anhang 3: Medianalter der Bevölkerung
Land/ Jahr 1950 1980 2015 2030 2050 2100
Russland 24,3 31,4 38,7 42,4 40,8 42,4
Deutschland 35,3 36,4 46,2 48,6 51,4 50,6
Quelle: UN (2015): World Population Prospects, Tab. S8, S. 34, 36; Eigene Darstellung
Anhang 4: Prozentualer Verteilung der Bevölkerung in ausgewählten Altersgruppen in Russland und Deutschland
Land/ Jahr 2015 2050 2100
Altersgruppen 0-14 15-59 60+ 80+ 0-14 15-59 60+ 80+ 0-14 15-59 60+ 80+
Russland 16,8 63,2 20,0 3,1 17,7 53,5 28,8 5,1 17,0 55,5 27,5 7,5
Deutschland 12,9 59,5 27,6 5,7 12,4 48,3 39,3 14,4 13,4 46,9 39,7 16,2
Quelle: UN (2015): World Population Prospects, Tab. S8, S. 34, 36; Eigene Darstellung
284
Anhang 5: Anteil der jüngeren (0-14) und der älteren (65+) Bevölkerung in Russland und
Deutschland, 1992-2015
Quelle: The World Bank DataBank; Eigene Darstellung
285
Anhang 6: Gesundheitszustand verschiedener Bevölkerungsgruppen in Russland und
Deutschland 2004
Quelle: GGS 2004 (gewichtete Daten); Eigene Darstellung.
Anhang 7: Zusammenhänge zwischen den Prädiktoren „Strukturelle Ressourcen“
Samara
Freiburg
Indikatoren Nicht
standardisierte Skala „strukturelle
Ressourcen
Auf die Freiburger
strukturierenden
Verhältnisse
standardisierte Skala „strukturelle
Ressourcen“
Skala „strukturelle
Ressourcen“
Bildung Pearsons r
N
0,735
189
0,864
172
0,838
230
Nettoäquivalenzeinkommen,
kaufkraftbereinigt
Pearsons r
N
0,664
172
0,680
172
0,793
209
Subjektiver Wohlstand Pearsons r
N
0,868
189
0,769
172
0,709
203
Alle Pearsons Korrelationskoeffiziente sind auf dem Niveau von 0,001 (2-seitig) signifikant. Quelle: Bilaterale Pilot-Studie 2010/11; Eigene Darstellung
6%
50%45%
27%
61%
11%
49%
40%
11%
79%
17%
4%
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
sehr gut oder
gut
befriedigend sehr schlecht
oder schlecht
sehr gut oder
gut
befriedigend sehr schlecht
oder schlecht
Russland
Deutschland
Potentielle
Pflegepersonen
30-59 Jährigen
60-79
Jährigen
286
Anhang 8: Anlage Nr. 2: Bestimmung des Pflegebedürftigkeitsgrades, zur Verordnung № 22 v.
23.01.2015, Ministerium für Soziales, Demographie und Familienpolitik der Oblast
Samara.
Приложение № 2 к Положению об оценке индивидуальной
нуждаемости граждан в предоставлении отдельных форм
социального обслуживания
Определение степени индивидуальной нуждаемости граждан в предоставлении социального обслуживания
Для определения степени индивидуальной нуждаемости граждан в предоставлении социального
обслуживания используют сумму количества баллов по двум шкалам. По полученной сумме баллов
определяют степень индивидуальной нуждаемости в постороннем уходе в соответствии с таблицей № 1.
Таблица № 1
Определение степеней индивидуальной нуждаемости граждан
в предоставлении социального обслуживания
Сумма баллов по по
основным
рангам шкал
Бартела и
Лаутона
Сте
пен
ь
Характеристика степеней индивидуальной нуждаемости
127 баллов 0 В посторонней помощи не нуждается.
100 - 126
балла
1 Основные виды элементарной деятельности (питание, пользование посудой и бытовыми
приборами, умывание, одевание, обувание, контроль за актом дефекации и
мочеиспускания, принятие ванны, душа, пользование туалетом) выполняет
самостоятельно в полном объеме. Основные виды сложной деятельности (использование транспорта, телефона,
приготовление пищи, прием лекарств, распоряжение личными финансами,
осуществление покупок в магазинах и получение услуг в организациях района
проживания, ведение домашнего хозяйства, стирка, занятия рукоделием) выполняет
самостоятельно в полном объеме.
Передвигаются вне дома и двора без удаления на значительные расстояния. Пользуется
транспортом. Имеет сложности при подъеме по крутой лестнице.
Может нуждаться в посторонней помощи при осуществлении покупок или получении
услуг в организациях вне района проживания.
Незначительная зависимость от посторонней помощи. В силу имеющихся факторов
риска может нуждаться в небольшом объеме постороннего вмешательства и ухода
(частичной посторонней поддержки требует выполнение гражданином менее 10% простых и сложных действий).
88 - 99 балла 2 Основные виды элементарной деятельности (питание, пользование посудой и бытовыми
приборами, умывание, одевание, обувание, контроль за актом дефекации и
мочеиспускания, пользование туалетом) выполняет самостоятельно в полном объеме.
Основные виды сложной деятельности (использование транспорта, телефона,
приготовление пищи, прием лекарств, распоряжение личными финансами) выполняет
самостоятельно в полном объеме.
Передвигается в пределах двора дома и на небольшие расстояния. Пользуется
транспортом. Имеет сложности при подъеме по лестнице.
Ванну или душ принимает самостоятельно, может периодически нуждаться в
посторонней помощи (присутствие постороннего лица для предотвращения травм).
Может нуждаться в незначительной помощи при ведении домашнего хозяйства, в частичной помощи при стирке, занятиях рукоделием, в осуществлении покупок или
получении услуг в организациях, которые находятся вдали от места проживания.
Умеренно выраженная зависимость от посторонней помощи. Может нуждаться в
умеренном объеме постороннего вмешательства и ухода, в том числе в силу имеющихся
ограничений жизнедеятельности, условий проживания и факторов риска (частичной
посторонней поддержки может требовать выполнение клиентом до 20% простых и
сложных действий).
287
76 - 87 балла 3 Основные виды элементарной деятельности (питание, пользование посудой и бытовыми
приборами, умывание, контроль за актом дефекации и мочеиспускания, пользование
туалетом) выполняет самостоятельно в полном объеме.
Виды сложной деятельности (использование телефона, прием лекарств, распоряжение
личными финансами) выполняет самостоятельно в полном объеме.
Передвижения в основном ограничены квартирой. Может передвигается на небольшие
расстояния самостоятельно или с сопровождением пешком или на транспорте.
Может иметь значительные сложности при подъеме по лестнице или не в состоянии самостоятельно подниматься по лестнице без посторонней помощи.
При купании в ванне или душе может нуждаться в частичной посторонней помощи.
Может нуждаться в незначительной помощи при одевании и обувании, при
приготовлении пищи, ведении домашнего хозяйства, в частичной помощи при стирке,
осуществлении покупок в магазинах и предоставлении услуг организациями,
находящихся вдали от места проживания.
Умеренно выраженная зависимость от посторонней помощи. Может нуждаться в
умеренном объеме постороннего вмешательства и ухода, в том числе в силу имеющихся
ограничений жизнедеятельности, условий проживания и факторов риска (частичной и
полной посторонней поддержки и ухода требует выполнение гражданином до 40%
простых и сложных действий).
63-75 балла 4 Основные виды элементарной деятельности (пользование посудой и бытовыми
приборами, умывание, контроль за актом дефекации и мочеиспускания, пользование туалетом) выполняет самостоятельно в полном объеме.
Некоторые виды сложной деятельности (использование телефона, распоряжение
личными финансами, прием медикаментов) выполняет самостоятельно в полном
объеме.
Передвижения ограничены квартирой. В редких случаях может передвигается на
незначительные расстоянии с сопровождением пешком или на транспорте.
Не в состоянии подниматься по лестнице без посторонней помощи.
Может нуждаться в частичной посторонней помощи при одевании и обувании, при
приеме и приготовлении пищи, при ведении домашнего хозяйства, при купании в
ванной или душе, при стирке.
Нуждается в осуществлении покупок в магазинах и предоставлении услуг организациями.
Имеет выраженную зависимость от постороннего вмешательства и ухода, в том числе в
силу имеющихся ограничений жизнедеятельности, условий проживания и факторов
риска (частичной и полной посторонней поддержки и ухода требует выполнение
гражданином до 50% простых и сложных действий).
54-62 балла 5 Основные виды элементарной деятельности (пользование посудой и бытовыми
приборами, умывание, контроль за актом мочеиспускания и дефекации, пользование
туалетом) выполняет самостоятельно в полном объеме.
Некоторые виды сложной деятельности (использование телефона, распоряжение
личными финансами, прием медикаментов) выполняет самостоятельно в полном
объеме.
Передвижения ограничены квартирой. В редких случаях может передвигаться на незначительные расстоянии с сопровождением пешком или на транспорте. Не в
состоянии самостоятельно подниматься по лестнице.
Может вести домашнее хозяйство небольшого объема при больших временных
затратах. Стирка крупных вещей невозможна.
При купании в ванной или душе, при одевании и обувании, при приеме и приготовлении
пищи может нуждаться в частичной посторонней помощи.
Нуждается в осуществлении покупок в магазинах и предоставлении услуг
организациями.
Имеет выраженную зависимость от постороннего вмешательства и ухода, в том числе,
в силу имеющихся ограничений жизнедеятельности, условий проживания и факторов
риска (частичной и полной посторонней поддержки и ухода требует выполнение
гражданином до 90% простых и сложных действий).
43 – 53 балла 6 Прием пищи, умывание, причесывание, чистка зубов, обувание и одевание возможно с частичной посторонней помощью. Может частично контролировать мочеиспускание и
акт дефекации.
Передвижение в основном ограничено комнатой. В редких случаях может выходить во
двор с сопровождением.
Принимает ванну или душ с посторонней помощью. Пользуется туалетом с посторонней
288
помощью (нуждается в помощи при сохранении равновесия, одевании, раздевании).
Основные виды домашнего хозяйства вести не в состоянии. Возможно приготовление
простейших блюд, стирка небольших вещей.
Нуждается в осуществлении покупок в магазинах и предоставлении услуг
организациями.
Может пользоваться телефоном.
Принимает медикаменты самостоятельно или с незначительной помощью. Может
распоряжаться личными финансами. Имеет выраженную зависимость от постороннего вмешательства и ухода, в том числе,
в силу имеющихся ограничений жизнедеятельности, условий проживания и факторов
риска (частичной и полной посторонней поддержки и ухода требует выполнение
гражданином до 100% простых и сложных действий, из них 60% и более требуют
частичной посторонней помощи).
32 - 42 балла 7 Прием пищи, принятие ванны или душа, умывание, причесывание, чистка зубов, бритье,
обувание, одевание возможно с посторонней помощью.
Пользуется туалетом с посторонней помощью (нуждается в помощи при сохранении
равновесия, одевании, раздевании).
Передвижение ограничено комнатой. При переходе с кровати на стул иногда нуждается
в минимальной помощи или наблюдении.
Ведение домашнего хозяйства, приготовление простейших блюд, стирка невозможны.
Самостоятельный прием медикаментов вызывает затруднение. Распоряжаться личными финансами часто не в состоянии.
Может пользоваться телефоном с небольшой помощью.
Имеет полную зависимость постороннего вмешательства и ухода, в том числе, в силу
имеющихся ограничений жизнедеятельности, условий проживания и факторов риска
(частичной и полной посторонней поддержки и ухода требует выполнение гражданином
до 100% простых и сложных действий, из них около 50% требуют частичной
посторонней помощи).
25 - 31 балла 8 Принимает ванну или душ, умывается, причесывается, чистит зубы, бреется, одевается,
обувается с посторонней помощью. При приеме пищи нуждается в частичной помощи.
Акт дефекации и мочеиспускание может контролировать полностью или частично.
Передвижение ограничено кроватью и около кроватным пространством.
Переход с кровати на стул может требовать частичной посторонней помощи. Пользоваться туалетом может самостоятельно или с посторонней помощью (кресло-
туалет около кровати или судно).
Использует телефон или имеет затруднения при его использовании.
Самостоятельное приготовление пищи, ведение домашнего хозяйства, стирка,
рукоделие невозможны. Самостоятельно принимать медикаменты и распоряжаться
личными финансами не в состоянии.
Отмечается полная зависимость от посторонних лиц. Частичная зависимость составляет
менее 50% случаев выполнения простых и сложных действий, обусловленная
состоянием здоровья и возможностями передвижения.
12 - 24 балла 9 Постоянно находится в постели. Переход с кровати на стул требует посторонней
помощи.
Может осуществлять активные движение в пределах кровати. Может самостоятельно сидеть. Садится самостоятельно или с незначительной помощью. Контролирует акты
дефекации и мочеиспускания частично или полностью. Пользуется судном или креслом-
туалетом.
Отмечается полная зависимость от посторонних лиц.
0 - 11 балла 10 Постоянно находится в постели. Все передвижения осуществляются только с
посторонней помощью. Питание, умывание, купание, одевание только при посторонней
помощи. Не садится самостоятельно и не может сидеть. Не контролирует акты
дефекации и мочеиспускания. Необходим постоянный уход в течение суток.
Отмечается полная зависимость от посторонних лиц.
Примечание. При получении суммы баллов по шкалам между пограничными значениями суммы баллов по степеням, сумма баллов округляется в сторону уменьшения. Например, сумма баллов 11,5 – округляем до 11,
что соответствует 10 степени нуждаемости.
289
Anhang 9: Anlage Nr. 3: Maximale Leistungsgewährung, zur Verordnung № 22 v. 23.01.2015,
Ministerium für Soziales, Demographie und Familienpolitik der Oblast Samara.
Приложение № 3 к Положению об оценке индивидуальной
нуждаемости граждан в предоставлении
отдельных форм социального обслуживания
Определение максимального объёма рекомендуемого социального обслуживания на дому
Степень Максимальное
кол-во услуг,
рекомендуемое
для оказания
в неделю
Максимальное
кол-во услуг,
рекомендуемое
для оказания
в месяц
Максимальное время,
рекомендуемое для
оказания услуг
в неделю
Максимальное
время,
рекомендуемое
для оказания
услуг в месяц
1 1 услуга до 5 услуг до 60 мин (1 час) до 250 мин
(4,16 часа)
2 до 2 услуг до 10 услуг до 120 мин (2 часа) до 500 мин
(8,33 часа)
3 до 3 услуг до 15 услуг до 180 мин (3 часа) до 750 мин
(12,5 часа)
4 до 4 - 5 услуг
до 21 услуги до 240 мин (4 часа) до 1000 мин (16,6 часа)
5 до 6 - 7
услуг
до 30 услуг до 360 мин
(6 часов)
до 1500 мин
(25 часов)
6 до 8 - 9
услуг
до 38 услуг до 600 мин
(10 часов)
до 2500 мин
(41,6 часа)
7 до 10 - 12
услуг
до 50 услуг до 900 минут
(15 часов)
до 3750 мин
(62,5 часа)
8 до 15 услуг до 62 услуг до 1200 мин
(20 часов)
до 5000 мин
(83,3 часа)
9 до 18 до 75 услуг до 1500 мин
(25 часов)
до 6240 мин
(104 часа)
10 до 20 и более до 85 услуг и
более
до 2100 мин
(35 часов)
до 8736 минут
(145,6 часа)
290
Anhang 10: Stationäre Einrichtungen für die Versorgung von älteren Personen und Personen mit
Behinderung (Erwachsene und Kinder), Zum Ende des Jahres, Stand: 29.7.2015
2000 2005 2010 2011 2012 2013 2014 2015
Anzahl der Einrichtungen für
Ältere und Erwachsene mit
Behinderung 1132 1390 1475 1417 1406 1411 1354 1293
Darin:
Anzahl Plätze, Tausend 232 242 249 249 251 251 252 254
Anzahl Bewohner, Tausend 212 235 245 245 247 247 248 246
Anzahl der Einrichtungen für
Kinder mit Behinderung 156 153 143 134 132 134 133 144
Darin:
Anzahl Plätze, Tausend 33 31 27 26 25 24 23 23
Anzahl Bewohner, Tausend 29 29 24 23 22 22 21 21
1) Laut Angaben des Ministeriums für Arbeit.
Quelle: Goskomstat (2015): Тab. 2.8: [Stationäre Einrichtungen für die Versorgung von älteren Personen und
Personen mit Behinderung (Erwachsene und Kinder]; Übersetzung der Autorin
291
Anhang 11: Komplexzentren und Abteilungen der ambulanten sozialen Dienste für die älteren
und Personen mit Behinderung in der RF, zum 1. Januar. Stand: 29.7.2015
2010 2011 2012 2013 2014 2015
Komplexzentren der Sozialen Dienste
Anzahl der Zentren 2219 2185 2196 2200 1985 1988
von diesen mit Abteilungen:
Kurzzeitpflege 523 528 510 477 415 394
Tagespflege [Rehabilitationsmassnahmen] 1026 929 833 807 735 816
Anzahl Plätze in Abteilungen von:
Kurzzeitpflege 10922 10968 10745 10171 8942 8769
Tagespflege [Rehabilitationsmassnahmen] 25529 23212 22009 21830 19761 20907
Anzahl Leistungsempfänger (pro Jahr) in
Abteilungen von
Kurzzeitpflege 47197 34835 33295 31835 29433 28180
Tagespflege [Rehabilitationsmassnahmen] 651788 572662 467169 400170 290156 289868
Abteilungen der häuslichen Betreuungsdienste
Anzahl Abteilungen 11456 11395 11311 11230 10324 9784
Anzahl beschäftigter Sozialarbeiter 176363 172526 171185 169475 159432 154118
Anzahl älterer und behinderter Personen,
registriert für den Erhalt von häuslichen
Betreuungsdiensten 1146640 1120801 1101881 1102549 1099755 1158398
Anzahl älterer und behinderter Personen, die häusliche Betreuungsdienste erhalten haben
[Leistungsempfänger]: 1100828 1088921 1086821 1090105 1088347 1151243
Anteil Leistungsempfänger an den
registrierten Leistungsberechtigten 96,0 97,2 98,6 98,9 99,0 99,4
Anzahl registrierten Leistungsberechtigten (älteren und behinderten Personen) auf der
Warteliste für die häusliche Betreuung 45812 31880 15060 12444 11408 7155
Anzahl Leistungsempfänger pro Sozialarbeiter
[Betreuungsschlüssel] 6,5 6,5 6,4 6,5 6,9 7,5
1) laut Angaben von Arbeitsministerium der RF
Quelle: Goskomstat (2015): Тab. Ur 2-1-1: [Zentren und Abteilungen der häuslichen Betreuungsdienste für ältere
Personen und Personen mit Behinderung in RF]; Übersetzung der Autorin
292
Anhang 12 Anteil der älteren und behinderten Leistungsempfänger der häuslichen
Betreuungsdienste in der Russländischen Föderation, zum 1. Januar, Stand:
29.7.2015
2011 2012 2013 2014 2015
Betagte Bürger und Menschen mit
Behinderungen, die häusliche
Betreuungsdiensten nutzen1), Anzahl
Personen 1178694 1172206 1171065 1159681 1208952
Der Anteil betagter Bürger und
Menschen mit Behinderung, die
häusliche Betreuungsdienste erhalten an
der Bevölkerung im Rentenalter 3,7 % 3,6 % 3,5 % 3,4 % 3,5 %2)
1) Laut Angaben des Ministeriums für Arbeit. 2) vorläufige Zahlen
Quelle: Goskomstat (2015): Тab Ur 2-1-3: [Anteil der betagter Bürger und Behinderten, die häusliche soziale Betreuungsdienste erhalten]; Übersetzung der Autorin
Anhang 13: Befragungsinstrument zur Bilateralen Pilotstudie Samara-Freiburg 2010/11
(Auszug)
Befragung zur Pflege und freiwilligem Engagement
Freiburg im Breisgau September - Oktober 2010
Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität
Rempartstraße 15 79098 Freiburg
Fallnummer:
InterviewerInnen-
nummer
INSTITUT FÜR SOZIOLOGIE
1
Guten Tag Frau/Herr…, mein Name ist ... , Ich studiere am Institut für Soziologie der Universität
Freiburg. Wir führen eine Umfrage zum Thema durch, welche Einstellungen es in Deutschland zur
Versorgung von pflegebedürftigen Menschen gibt. Das Interview wird ungefähr 40 Minuten dauern. Die
Auswertung ist streng vertraulich und niemand kann erfahren, welche Auskünfte Sie als Person gegeben
haben. Ist es Ihnen recht, wenn wir jetzt mit dem Gespräch beginnen? Darf ich Ihnen zunächst einige
Fragen zu Ihrer Familie stellen?
1 War schon einmal eine/ mehrere Ihnen nahe stehende Person(en), für eine längere Zeit oder
sogar dauerhaft aufgrund von Altersgebrechen oder Erkrankung …
- hilfsbedürftig, das heißt, dass sie im Alltag ohne fremde Hilfe nicht mehr zurecht
kam(en)
oder
- pflegebedürftig, das heißt, dass sie zusätzlich zur Unterstützung im Alltag noch Hilfe
bei
der Körperpflege oder beim Toilettengang oder ähnlichem brauchte(n)?
INT: Fragetext und Antworten vorlesen. Mehrfachnennungen möglich
1 - nein, das gab es noch nie Weiter mit Frage 12
2 - ja, das gab es, die Person brauchte zwar keine Pflege,
kam im Alltag aber ohne fremde Hilfe nicht mehr zurecht Weiter mit Frage 2
3- ja, das gab es, die Person(en) brauchte(n) (auch) Pflege Weiter mit Frage 2
weiß nicht [INT: nicht vorlesen!] Weiter mit Frage 12
Aussage verweigert [INT: nicht vorlesen!] Weiter mit Frage 12
2 Wer war das?
Mehrere Nennungen sind möglich!
3 Wo fand die Versorgung oder Pflege
statt?
Mehrfachnennungen möglichׂ
4 Waren Sie
an der
Versorgung oder
Pflege dieser
Person(en)
beteiligt?
INT:
(Keine Namen!, Nach der Verwandt-
schaftsbeziehung fragen und diese in die Spalte(n) unten eintragen( z.B.
Vater)
Nachfragen, ob es noch weitere
Angehörige/ Freunde gab, die pflege-
oder hilfsbedürftig waren. Für jede genannte Person, die Fragen
2-4 ausfüllen! Zu
hau
se i
n d
er W
oh
nu
ng
des
An
geh
öri
gen
Zu
hau
se –
in
mei
ner
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un
sere
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oh
nu
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ach
fragen
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auf
FB
noti
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!
Wei
ß n
ich
t [
INT
: N
icht
vorl
esen
!]
1. Ja 2. Nein Weiter mit
Interview
er-
anweisung 2 und
Frage 8
2.1 Gab es noch weitere Angehörige
oder Freunde, die pflege- oder
hilfsbedürftig waren? Wer war das?
INT: wenn bei der Versorgung mindestens einer Person beteiligt weiter mit Frage 5
2
Denken Sie jetzt an alle Ihre Angehörigen und Freunde, die Sie in so einem Fall versorgt haben. Diese
Frage können Sie also auf mehrere Personen beziehen.
5 Haben Sie persönlich einem oder mehreren Ihnen nahestehenden hilfs- oder pflegebedürftigen
Person(en) die folgenden Hilfen bzw. Unterstützungen geleistet, indem Sie diese Person/ Personen …
INT: Vorgaben mit Beispielen bitte langsam vorlesen! Mehrfachnennungen möglich.
JA NEIN
… selbst gepflegt haben? (z.B. Hilfe beim Essen reichen, persönliche Hygiene wie Anziehen/ Ausziehen, Baden,
Toilettengang, Lagerung, medizinische Versorgung wie Verband wechseln, etc.)
…in seinem/ ihrem Alltag unterstützt haben? (z.B. Hilfe im Haushalt, beim Einkaufen, Wäsche waschen, in der Wohnung
saubermachen, Hilfe bei Bewegungsaktivitäten in der Wohnung, Anleitung, Erledigung
seiner / ihrer bürokratischen Angelegenheiten, etc.)
…bei seinen/ ihren weiteren Bedürfnissen, die diese Person(en) haben könnte,
unterstützt und begleitet haben? (z.B. Gespräche führen/ Zuhören, Spiele spielen, Freizeit mit ihm/ ihr verbringen,
Begleitung zu Veranstaltungen und Festen, beim Spazierengehen, emotionale
Unterstützung bieten, etc.
5.1 Haben Sie Ihren/ Ihre Angehörige(n) oder Freund/e in einer solchen Situation noch auf andere,
hier nicht erwähnte Weise unterstützt? Bitte erläutern Sie
Ja … Nein …
(INT: Stichworte notieren )
_______________________________________________________________________________
_______________________________________________________________________________
_
_______________________________________________________________________________
__
Interviewer Anweisung 1: Den Einleitungstext bitte vorlesen und Frage 6 und 7 stellen, wenn
Frage 4 mindestens einmal mit „JA“ beantwortet wurde.
Unsere weiteren Fragen beziehen sich nur auf einen Ihrer hilfs- oder pflegebedürftigen Angehörigen oder
Freunde. Falls Sie mehrere Personen unterstützt haben, denken Sie bitte an die Person, die Sie am
längsten bzw. am intensivsten gepflegt oder unterstützt haben.
6 Wie lange haben Sie sich um die Pflege oder Versorgung dieser Person gekümmert? Können Sie
mir das ungefähr sagen?
(INT: Wenn Pflege noch andauert, fragen seit wann gepflegt wird!)
Ungefähr (seit) ________ Jahre(n) , ________ Monate (n).
3
7 Wer hat Ihnen dabei geholfen? INT: Liste 1 vorlegen. Mehrfachnennungen möglich
Niemand
Verwandte / Familienangehörige
Einrichtungen wie die Kurzzeitpflege oder die Tagespflege
Nachbarn und Freunde
Selbsthilfegruppe
berufliche Pflegekräfte und ambulante Dienste
Sonstige Personen, (INT: Nachfragen wer) ________________________
Interviewer Anweisung 2: Den Einleitungstext bitte vorlesen und Frage 8 stellen, wenn auf Frage 4
nur mit „NEIN“ geantwortet wurde!
Unsere weiteren Fragen beziehen sich nun nur auf einen Ihrer hilfs-/ pflegebedürftigen Angehörigen oder
Freunden. Falls bei mehreren Personen Hilfs-/ Pflegebedürftigkeit bestand/ besteht, denken Sie bitte an
die Person, bei der der Bedarf an Versorgung oder Pflege am längsten bzw. am intensivsten andauerte
oder noch andauert.
8 Wer hat Ihre/n Angehörige/n oder Freund/e versorgt oder gepflegt?
INT: Liste 2 vorlegen, Mehrfachnennungen möglich
andere Verwandte
berufliche Pflegekräfte /ambulante Dienste
Nachbarn und Freunde
Pflegekräfte in der stationären Einrichtung
Andere (nicht verwandte) Personen, wer war das? ____________
9 Wie weit wohnen/ wohnten Sie von dieser Person entfernt, als seine/ ihre Hilfs- oder
Pflegebedürftigkeit eingetreten war?
INT: Falls ein Umzug während dieser Zeit erfolgte, nach dem letzen Wohnort fragen! Nur eine Nennung möglich!
im selben Haushalt weiter mit Frage 11
im selben Haus, aber mit getrennten Haushalten weiter mit Frage 10
in der Nachbarschaft
im gleichen Ort
in einem anderen Ort, in weniger als 1 Std. erreichbar
in einem anderen Ort, innerhalb von 1-2 Std. erreichbar
in einem anderen Ort, in 2-5 Std. erreichbar
weiter entfernt
verweigert [INT: nicht vorlesen!]
INT: Fragen 9-11 an ALLE Befragten stellen, (die hilfs-/ pflegebedürftige Angehörigen oder Freunde
hatten, d.h. wenn in Frage 1 Antwort 2 oder 3 genannt wurden).
4
10 Lebt/ lebte diese Person allein im Haushalt oder mit anderen Personen zusammen als seine/ ihre
Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit eintrat?
Lebt/ lebte allein
Lebt/ lebte mit anderen Personen im Haushalt
Auskunft verweigert [INT: Nicht vorlesen!]
weißt nicht
________________________
11 Wie eng fühlen/ fühlten Sie sich mit dieser Person emotional verbunden, bevor ihre /seine Hilfs-
oder Pflegebedürftigkeit eintrat?
INT: Liste 3 vorlegen. Nur eine Nennung möglich!
1 - Sehr eng
2 - Eng
3 - Mittel
4 - Weniger eng
5 - Überhaupt nicht eng
7 - Verweigert [INT: Nicht vorlesen]
8 - K.A./ trifft nicht zu [INT: Nicht vorlesen]
5
12 Ich schildere Ihnen jetzt einmal eine Situation und möchte dann einige Fragen dazu stellen: SITUATION Eine ältere Dame wird in nächster Zeit aus dem Krankenhaus entlassen. Sie erlitt vor einigen Wochen einen Schlaganfall und ihr geht es dem Umständen entsprechend wieder besser,. Sie kann aber aufgrund der bleibenden Behinderung nicht mehr allein leben. Das heißt, sie braucht allgemein Unterstützung im Alltag und teilweise bei der Körperpflege. Ihr Wunsch ist es, im Hause ihrer einzigen Tochter versorgt zu werden. Ihre Tochter ist verheiratet, hat zwei Kinder, die zur Schule gehen, und ist halbtags berufstätig. Für die Pflege der Mutter müsste sie ihre Berufstätigkeit aufgeben. Die Tochter entscheidet sich gegen den Wunsch der Mutter und bemüht sich um einen Platz in einem gut geführten Pflegeheim.
Halten Sie die Entscheidung der Tochter für eher falsch oder eher richtig? Wo würden Sie auf
dieser Skala (Liste 4 vorlegen) Ihre Einschätzung machen? INT: Wenn Schwierigkeiten wegen fehlender Informationen/Gesichtspunkte auftreten:
Versuchen Sie das einmal nach Ihrer persönlichen Einschätzung zu beurteilen - ist die
Entscheidung eher richtig oder eher falsch? Sie können mir dann gleich anschließend sagen,
welche Gesichtspunkte für Sie wichtig waren.
0 Einschätzung ist trotz Erläuterung nicht möglich: Weiter mit Frage 13
1 Einschätzung ist möglich: Weiter mit Frage 14
Verhalten der Tochter ist…
eher falsch eher richtig
-3 -2 -1 +1 +2 +3
13 Welche Gesichtspunkte wären für Sie wichtig? Was müssten Sie noch wissen, damit Sie das
Verhalten der Tochter beurteilen könnten?
(Stichworte notieren - später ausführliches Gedächtnisprotokoll im Anhang)
INT: Wenn die Person sehr kurz antwortet, nachfragen: Können Sie das bitte etwas erläutern?
Weiter mit Frage 15
14 Wie würden Sie Ihre Entscheidung begründen? Welche Gesichtspunkte waren dabei für Sie
wichtig?
(Stichworte notieren - später ausführliches Gedächtnisprotokoll im Anhang)
INT: Wenn die Person sehr kurz antwortet, nachfragen: Können Sie das bitte etwas erläutern?
6
15 Wie wäre das, wenn ein/e Ihnen nahe stehende/r Angehörige/r in eine solche Situation käme, -
also pflegebedürftig würde? (Bei Bedarf nochmals Definition von Pflegebedürftigkeit aus Frage 1 vorlesen)
Was würden Sie in einer solchen Situation tun?
INT: Stichworte notieren - später ausführliches Gedächtnisprotokoll im Anhang
16 Ich habe hier eine Liste verschiedener Möglichkeiten, wie sich eine solche Situation der
Pflegebedürftigkeit bewältigen ließe. Welche dieser Möglichkeiten käme für Sie - auf jeden Fall in Frage
- eventuell in Frage
- auf keinen Fall in Frage (langsam vorlesen!)
auf jeden
Fall
2
Eventuell
1
auf
keinen
Fall 0
Den Verwandten alleine und ohne fremde Hilfe zu Hause pflegen
Die Pflege zu Hause übernehmen, aber Unterstützung durch einen Pflegedienst, z.B. eine Sozialstation suchen
Für den Verwandten einen Platz in einem gut geführten Pflegeheim in
Ihrer näheren Wohnumgebung suchen
Den Verwandten zu Hause - mit der Hilfe von Freunden und Familie - pflegen
17 Stellen Sie sich vor, ein älterer Vater oder eine ältere Mutter kann wegen gesundheitlicher
Probleme körperlicher oder seelischer Art den Alltag nicht mehr ohne regelmäßige Hilfe
meistern.
Was wäre Ihrer Meinung nach das Beste für Menschen in dieser Situation? Und was wäre das
Zweitbeste?
INT: nur zwei Antworten bzw. Kreuze sind möglich!
Das
Beste
Das
Zweitbeste
Sie sollten bei einem ihrer Kinder leben.
Eines ihrer Kinder sollte sie regelmäßig zuhause besuchen, um die notwendige Unterstützung im Alltag oder Pflege zu leisten.
Öffentliche oder private Dienstleister sollten sie zuhause besuchen und
ihnen die geeignete Hilfe und Pflege zukommen lassen.
Sie sollten in ein betreutes Heim für Senioren ziehen
(z. B Altenwohnheim /Pflegeheim, etc.).
12
27 Stellen Sie sich die folgende Situation vor …
In Ihrem Wohngebiet gibt es viele Jugendliche, die keine Möglichkeit haben, sich an einem festen
Ort zu treffen. Deshalb stellte ein Mitbürger eine Initiative zum Bau eines Jugendtreffs auf die
Beine und sucht noch weitere Menschen, die mit anpacken.
INT: Antwortvorgaben vorlesen und Liste 6 vorlegen
Sagen Sie mir bitte: Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie sich bei der Umsetzung dieses Projekts aktiv
mit 10 Arbeitsstunden einbringen würden? Benutzen Sie bitte diese Liste (6).
1 sehr wahrscheinlich
2 eher wahrscheinlich
3 vielleicht/ eventuell
4 eher unwahr-scheinlich
5 sehr unwahr-scheinlich
8 weiß nicht
(INT:
NICHT vorlesen!)
28 Ich komme nun zum Thema Familie und Kindererziehung.
Über die Aufgaben der Frau in der Familie und bei der Kindererziehung gibt es verschiedene
Meinungen. Bitte sagen Sie mir nun zu jeder Aussage, die ich Ihnen vorlese, ob Sie ihr
- ihr völlig zustimmen, - ihr eher zustimmen
-sie eher ablehnen oder - sie völlig ablehnen (Langsam vorlesen!)
INT: Bitte Liste 7 vorlegen
Völlig zustim
men
Eher zustim
men
Eher ableh
nen
Völlig ablehn
en
Weiss nicht
(INT:
NICHT vorlese
n!
1 Eine berufstätige Mutter kann ein genauso
herzliches und vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Kindern haben
wie eine Mutter, die nicht berufstätig ist.
2 Für eine Frau ist es wichtiger, ihrem Mann bei
seiner Karriere zu helfen, als selbst Karriere zu
machen.
3 Ein Kleinkind wird sicherlich darunter leiden, wenn
seine Mutter berufstätig ist.
4 Es ist für alle Beteiligten viel besser, wenn der
Mann voll im Berufsleben steht und die Frau zu
Hause bleibt und sich um den Haushalt und die
Kinder kümmert.
5 Es ist für ein Kind sogar gut, wenn seine Mutter
berufstätig ist und sich nicht nur auf den Haushalt konzentriert.
6 Eine verheiratete Frau sollte auf eine Berufs-
tätigkeit verzichten, wenn es nur eine begrenzte Anzahl von Arbeitsplätzen gibt und wenn ihr Mann
in der Lage ist, für den Unterhalt der Familie zu
sorgen.
7 In der Familie ist vor allem die Frau für die
Versorgung von pflegebedürftigen Angehörigen zuständig.
15
31
Wie viele Jahre haben sie insgesamt eine Schule besucht, inklusive dem etwaigen Besuch einer
Berufsschule oder Hochschule? Berücksichtigen Sie bitte alle Voll- und Teilzeitausbildungen und
rechnen Sie die Gesamtdauer Ihrer Schul- bzw. Ausbildungszeit in ganze Jahre um. Bitte nur ganze Jahre eintragen!
____________ Jahre
30 Als nächstes kommen jetzt Fragen zu Ihrer Ausbildung und Ihrem Beruf. Beginnen wir mit Ihrer
Ausbildung:
Welchen höchsten allgemein bildenden Schulabschluss haben Sie?
(Antwort mit folgender Liste vergleichen! Im Zweifel nachfragen! Nur eine Nennung möglich! Nur höchsten Schulabschluss angeben lassen!)
Schule beendet ohne Abschluss
Volks-/ Hauptschulabschluss bzw. Polytechnische Oberschule mit Abschluss 8. oder 9. Klasse
Mittlere Reife, Realschulabschluss bzw. Polytechnische Oberschule mit Abschluss 10. Klasse
Fachhochschulreife (Abschluss einer Fachoberschule etc.)
Abitur bzw. Erweiterte Oberschule mit Abschluss 12. Klasse (Hochschulreife)
Anderen Schulabschluss und zwar: __________________________
32 Welchen beruflichen Ausbildungsabschluss haben Sie?
(Antwort mit folgender Liste vergleichen und einordnen! Im Zweifel nachfragen! Mehrfachnennungen möglich!)
Berufliche-betriebliche Anlernzeit mit Abschlusszeugnis, aber keine Lehre
Teilfacharbeiterabschluss
Abgeschlossene gewerbliche oder landwirtschaftliche Lehre
Abgeschlossene kaufmännische Lehre
Berufliches Praktikum, Volontariat
Fachschulabschluss
Berufsfachschulabschluss
Meister-, Techniker-oder gleichwertiger Fachschulabschluss
Fachhochschulabschluss (auch Abschluss einer Ingenieurschule)
Hochschulabschluss
Anderen beruflichen Ausbildungsabschluss, und zwar: __________________________________
Keinen beruflichen Ausbildungsabschluss
16
33 Welchen Familienstand haben Sie?
Sind Sie…
ledig
verheiratet
geschieden
verwitwet
in einer eingetragenen Lebensgemeinschaft
34 Leben Sie mit einem (Ehe)Partner im
Haushalt?
Ja
Nein
35 Wie viel Personen leben mit Ihnen im
Haushalt, Sie eingeschlossen?
Eine „1“ würde bedeuten, dass Sie alleine leben
______ Personen
36 Wie viele davon sind Kinder oder
Jugendliche unter 18 Jahren?
Eine „0“ würde bedeuten „keine Kinder
und Jugendlichen“
______ Personen
37 Sind sie gegenwärtig erwerbstätig oder was trifft sonst auf Sie zu?
Mehrere Nennungen sind möglich!
INT: Antwortvorgaben vorlesen
ganztags berufstätig
teilzeitbeschäftigt
geringfügig oder stundenweise beschäftigt
(400€ Job, Mini-job, Ein-Euro-Job)
arbeitssuchend
Hausfrau/Hausmann
Rentner(in)/Pensionär(in)
in Berufsausbildung, Lehre, Wehrdienst,
Zivildienst
Schüler(in)/Student(in
etwas anderes_______________________
38
Wie hoch ist das gesamte monatliche Nettoeinkommen Ihres Haushalts? Gemeint ist die Summe,
die sich aus Lohn, Gehalt, Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, Rente oder Pension ergibt,
jeweils nach Abzug der Steuern und der Kranken- und Sozialversicherungsbeiträge.
Rechnen Sie bitte auch Einkommen aus Vermietung, Verpachtung sowie Geldanlagen und
Einkünfte wie Kindergeld, Wohngeld, Sozialhilfe und sonstige Einkünfte hinzu. Wenn Sie die
genaue Summe nicht wissen, schätzen Sie bitte.
Liste 9 vorlegen und bitten die entsprechende Buchstabe zu nennen und nachfragen
z.B. L wie „Ludwig“? und diese dem entsprechenden Intervall unauffällig zuordnen)
Nur eine Antwort ist möglich
B Bis zu 649 Euro R 2500 bis 2749 Euro................................
T 650 bis 749 Euro................................ A 2750 bis 2999 Euro................................
M 750 bis 999 Euro................................ K 3000 bis 3999 Euro ................................
P 1000 bis 1249 Euro................................ S 4000 bis 4999 Euro ................................
F 1250 bis 1499 Euro................................ U 5000 bis 5999 Euro
E 1500 bis 1749 Euro................................ O 6000 und 6999 Euro
H 1750 bis 1999 Euro................................ H 7000 und mehr Euro
L 2000 bis 2249 Euro................................ kann/will die Frage
nicht beantworten ................................
V 2250 bis 2499
17
40 Wie alt sind Sie?
Ich bin ____________ Jahre alt.
41 Bitte das Geschlecht eintragen, ohne zu fragen.
Männlich Weiblich
42 Wären Sie dazu bereit, bei einer Anschlussbefragung zu einem anderen Zeitpunkt
teilzunehmen? Es würde sich dabei um ein freies Gespräch/ Interview handeln, das etwa 15 bis
20 Minuten dauern würde.
Ja Nein
43 Wir danken Ihnen herzlich für Ihre Teilnahme an unserer Studie.
Haben Sie noch Anregungen für uns oder haben wir einen wichtigen Aspekt zum Thema
Versorgung pflegebedürftiger Menschen oder ehrenamtliches Engagement nicht
angesprochen?
39 Welche finanziellen Möglichkeiten stehen Ihrer Familie zur Verfügung, um Ihre Bedürfnisse zu
decken? Berücksichtigen Sie dabei bitte die Einkünfte aller Familienmitglieder.
INT: Nur eine Antwort ist möglich. Liste 10 vorlegen und bitten die entsprechende Buchstabe zu nennen und nachfragen z.B. F wie „Florian“? und diese der entsprechenden Nennung zuordnen)
D: Es fehlt am Geld sogar für das Notwendigste.
L: Für die täglichen Bedürfnisse reicht das Geld aus, aber der Kauf von Kleidung
bereitet uns schon Schwierigkeiten.
C: Das Geld reicht hauptsächlich aus, aber beim Kauf langlebiger Waren (Fernseher,
Kühlschrank etc. ) sind unsere Ersparnisse ungenügend.
K: Der Kauf von langlebigen Waren (Fernseher, Kühlschrank etc.) ist unproblematisch, aber
die Anschaffung eines Neuwagens ist für uns unzugänglich.
O: Eine Neuwagenanschaffung ist für uns unproblematisch, aber der
Immobilienerwerb, z.B. eine Eigentumswohnung, können wir uns nicht
leisten.
F: Immobilienerwerb können wir uns leisten, aber keine teuere Luxusgüter
N: Teure Luxusgüter (z.B. Boot, teurer Schmuck, Ferienhaus/ Ferienwohnung o.ä.) können wir
uns leisten.
18
Int.: Bitte die folgenden Fragen nicht vorlesen, sondern nur nach dem Interviewende
ausfüllen!
44
Das Interview wurde um ________Uhr begonnen.
Dauer des Interviews: ________ Minuten
46 Allgemeine Anmerkungen zum Interview (z.B. Verständnisprobleme, besondere
Vorkommnisse etc.):
Gedächtnisprotokoll zu Frage 13