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14 Schacht: Die Schlange connection Schamanismus 10 Von Johanna Schacht Schlange Zentraler Archetyp im schamanisch-matriarchalen Weltbild Die Schlange ist ein vielschichtiges Symbol. In China ein Glücksbringer, im Christen- tum verteufelt, in antiken Kulten ein heiliges Tier. Mal wurde sie als weise und glück- bringend verehrt, mal als tückisch und todbringend dämonisiert. Dieser Archetyp hat seinen Ursprung im Matriarchat, erklärt die Heilpädagogin Johanna Schacht Die

Die Schlange. Zentraler Archetyp im schamanisch-matriarchalen Weltbild

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14 Schacht: Die Schlangeconnection Schamanismus 10

Von Johanna Schacht

SchlangeZentraler Archetyp im schamanisch-matriarchalen Weltbild

Die Schlange ist ein vielschichtiges Symbol. In China ein Glücksbringer, im Christen-tum verteufelt, in antiken Kulten ein heiliges Tier. Mal wurde sie als weise und glück-bringend verehrt, mal als tückisch und todbringend dämonisiert. Dieser Archetyp hat

seinen Ursprung im Matriarchat, erklärt die Heilpädagogin Johanna Schacht

Die

E s verdichten sich die Hinweise, dass es zu Beginn dermenschlichen Kulturentwicklung eine universelle, ma-triarchale Phase gegeben hat, die sich aus der Verehrung

eines weiblich-mütterlichen schöpferischen Prinzips speiste.Die ursprüngliche Macht der Frau war ihre mütterliche Wür-de und Verantwortung für das Ganze; sie gründete in ihrerFähigkeit, Nachwuchs zu gebären und aufzuziehen. Frauengenossen eine natürliche Autorität. Ihr Wort hatte damals mehrGewicht als in den Jahrtausenden des Patriarchats, die darauffolgten. Über die längste Zeit der Menschheitsentwicklungwaren die Frauen die Schöpferinnen und Trägerinnen der Kul-tur – einer schamanisch-matriarchalen Kultur.Der Begriff Matriarchat für die vorpatriarchale Periode der

Menschheitsgeschichte ist in Fachkreisen ein heißes Eisen,denn er wurde im populären Verständnis gleichgesetzt mitHerrschaftsverhältnissen – nur mit umgekehrten Vorzeichen.Umkehrung hieße: Unterdrückung des männlichen Ge-schlechts und Tyrannei weiblicher »Herrenwesen«, ein Spie-gelbild der patriarchalen Gesellschaft. Dieses Missverständ-nis wird auch in akademischen Kreisen nur zu gern adaptiert,um die Matriarchatsforschung zu diskreditieren und eine ma-triarchale Phase der menschlichen Kulturentwicklung insReich des mystizistischen, ideologisch verbrämten Wunsch-denkens von Feministinnen zu verweisen.

»Matriarchat« ist keine »Herrschaft«

Die etymologische Herleitung und Übersetzung des BegriffsMatriarchat als »Mutterherrschaft« ist jedoch irreführend. DieWortbedeutung von arche ist neben Herrschaft auch Anfang,Beginn, Ursprung. Im Begriff Archetyp = Urbild, Urform istdiese Bedeutung zugrunde gelegt, ebenso zeugen Archäolo-gie und archaisch von diesem Wortsinn. Die bekannte Matri-archatsforscherin Heide Göttner-Abendroth wird nicht müde,auf diese Herleitung des Matriarchatsbegriffs zu verweisen.Dadurch wird das Matriarchat als umfangreiches philoso-phisches, geistesgeschichtliches, kulturpsychologisches Para-digma verstanden und nicht auf einen politischen Begriff re-duziert. Es bedarf also der Klärung und präzisen Definitionvon Kriterien sowohl für Matriarchat als auch für Patriarchat(vgl. mein Artikel »Wurzeln der Menschheit. Die Wiederent-deckung der mütterlichen Kulturstufe« in Connection Scha-manismus Nr. 9).Zweifellos wurde in vorpatriarchalen Zeiten das weibliche

Prinzip als das Ursprüngliche, zuerst Dagewesene, das Schöp-ferische und Lebensspendende angesehen. Die Verehrungweiblicher Gottheiten reicht bis ins Paläolithikum zurück. Daswird inzwischen auch in der akademischen Wissenschaft kaumnoch zu leugnen versucht. Allerdings wird die starke Posi tionvon Frauen in der Realität des Zusammenlebens umso lauterbezweifelt – das könne man ja nicht beweisen, und die Eth-nologie zeige, dass das Vorhandensein weiblicher Gottheitennicht zwangsläufig mit einem hohen Stellenwert von Frauenin diesen Gesellschaften korreliere.

Gottesbilder

Im Zuge der Patriarchalisierung wurde der früheste Glaubendes Menschen an Schöpfergöttinnen umgedeutet zur Anti-these des rein männlichen göttlichen Ursprungs. Unsere My-thologien und Weltbilder haben durchaus Einfluss auf unse-re konkrete Lebenswirklichkeit und umgekehrt, andernfallshätten sich die Gottesbilder nie geändert. Insofern sind dieWorte Matriarchat und Patriarchat sehr griffige und passen-de Begriffe für die jeweiligen Paradigmen. Über die Archety-pen haben sie sowohl das kollektive Bewusstsein als auch diekonkrete gesellschaftliche Realität geprägt. Das kollektive Be-wusstsein wurde über die bewusste Änderung der heiligenMythen und Archetypen durch die Mythographen des Patri-archats manipuliert – das zeigt, dass die politisch motiviertePropaganda so alt ist wie der männliche Herrschaftsanspruch.»Am Anfang war das Wort«, das die Weltschöpfung des Va-ters vorbereitete.Im Folgenden werde ich den Archetyp der Schlange näher

untersuchen, um diesen mythographischen Prozess nachzu-zeichnen und zugleich den Untergang schamanischer Vorstel -lungen und Praktiken im Zuge der Patriarchalisierung zu be-leuchten.Unsere tiefsten archetypischen Vorstellungen wurzeln in

schamanischen Weltbildern, die bereits im Paläolithikum ent-wickelt wurden. Heutige schamanische Kulturen sind sehrhäufig von Männern bestimmt, die alle wichtigen Ämter derGemeinschaft in Anspruch nehmen. Ich vertrete jedoch dieThese, dass die ersten »Schamanen« Frauen waren und dasSchamanentum aus überwiegend von Frauen entwickeltentherapeutischen Techniken im Rahmen eines universellen Mut-terkultes am Beginn der kulturellen Evolution entstanden ist.

Weiblicher Schamanismus

Für die lange altsteinzeitliche Evolutionsstufe des Menschensowie das Neolithikum, in dem alle kulturellen, geistigen so-wie technischen Grundlagen für das Entstehen von Hoch-kulturen entwickelt wurden, kann eine Führungsrolle der Fraupostuliert werden. Wilhelm E. Mühlmann ist in umfangrei-chen Studien den Spuren eines ursprünglich weiblichen Scha-manismus nachgegangen: »Man darf also die These von derWeiblichkeit des Schamanismus nicht überspannen, und mankann nur sagen, dass der weibliche Schamanismus genetischder ältere, der häufigere und oft auch der echtere ist. […] Dieschamanischen Gaben scheinen […] nicht, oder nicht nur, anein persönliches, sondern an ein gentiles Charisma gebundenzu sein, und zwar an ein matrilinear-gentiles. Dieses kann so-gar dynastischen Charakter annehmen, denn im alten Japanwaren die Kaiserinnen Schamaninnen, oder besser umgekehrt:Charismatisch qualifizierte Schamaninnen waren Herrsche-rinnen«.Ein universelles Symbol in schamanischen Weltbildern ist

die Schlange. Bei heutigen Schamanenkulturen begegnen wir

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In schamanischen Weltbildern ist die Schlange ein universelles Symbol. Wir begegnen ihr bei heutigen Schamanenkulturen

überall auf der Welt und auch im biblischen Schöpfungsmythos

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ihr überall auf der Welt, und bekanntlich spielt sie auch imbiblischen Schöpfungsmythos eine zentrale Rolle. Die austra-lischen Aborigines glauben, die Schöpfung des Lebens sei dasWerk der Regenbogenschlange. Auch in der Archäologie istdie Schlange ein omnipräsentes Motiv. »Sie [...] und ihre ab-strakte Ableitung, die Spirale, sind die vorherrschenden Mo-tive der Kunst im alten Europa«. Mit dem »alten Europa« meintdie Archäologin Maria Gimbutas die vorpatriarchale Phasedes europäischen Neolithikums, eine archaische Hochkultur,welche die erstaunlichen Megalith-Heiligtümer hervorge-bracht hat.Halten wir zunächst fest, dass die vorpatriarchale Phase der

Menschheitsentwicklung eng mit schamanisch-magischerFrauenmacht verknüpft war, die unter anderem durch dieSchlange symbolisiert wurde. Obwohl einige Forscher mit

Freud in der Schlange ein Phallus-Symbol se-hen, ist sie zu nächst eine Emanation der GroßenMutter, ein Symbol für die Nabelschnur, undgeht mit der Frau eine Symbiose zum Symbolschöpferischer Macht ein. Noch heute verweistder Äskulapstab als Symbol der Ärzteschaftunbewusst auf die uralte Frauenmacht, die heil-kundig und sakral, bzw. schamanisch war.Unzählige Göttinnen-, Königinnen- und spä-

ter auch Königsabbilder haben Schlangen alsAttribut, selbst in hierarchischen, männerdo-minierten antiken Stadtstaaten. Im Zuge derPatriarchalisierung wurde die Schlange ent-weder als Herrschaftssymbol vereinnahmt oderdämonisiert und zum Symbol des Bösen ver-kehrt, wie es z.B. in antiken weiblichen Dämo-nen wie den Gorgonen zum Ausdruck kommt.

Helden und Drachentöter

Das Drachenkampfmotiv der patriarchalenHeldenmythologie unseres Kulturkreises isteine Abwandlung des Kampfs mit der ar-chetypischen Schlange, die ins Monströse mu-tiert ist. Die pränatale Psychologie und psy-choanalytische Mythendeutung hat im Dra-chenkampf ein Geburtssymbol erkannt, wobeider Drache als archaisches Muttersymbol ge-deutet wird und die Schlange als Nabelschnur,die durch trennt wird.In der kulturpsychologischen Erweiterung

dieser Perspektive kann man dem Helden-kampf als archetypischem Schema für die Ge-burt und Urmatrix der Individuation folgendeDeutungsebene hinzufügen: Es handelt sichum den kollektiv-evolutiven Übergang von dermatriarchalen zur patriarchalen Kulturphase.Die Schlange als Symbol für weibliche Machtund gleichzeitig für das schamanische Weltbild

wird vom männlichen Helden getötet. Die Macht der Frauwurde so gebrochen, und in paranoider Angst vor ihrem Wie-dererstarken wurde die Frau versklavt, entmündigt und un-terdrückt. Die frühpatriarchale Mythologie wimmelt von hel-denhaften Schlangentötungen; der sumerische Gott Baal tö-tet die Schlange Lotan, Zeus tötet die Schlange Syphon, Apol-lon die Schlange Python, Herakles erschlägt die Schlange La-don.Die Dämonisierung der Göttin zum monströsen Ungeheu-

er war die Legitimation für ihre vollständige Entmachtungund die gewaltsame Unterwerfung ihrer Repräsentantin aufErden, der Frau. Archetypisch betrachtet ging die Geburt desmenschlichen Individuums, das heißt des souveränen Egos,mit einem Muttermord einher. Die Schlangengöttin wurde imLaufe der Patriarchalisierung vernichtet.

Obwohl einige Forscher mit Freud in der Schlange ein Phallus-Symbol sehen, ist sie zunächst eine Emanation der Großen Mutter, ein Symbol für die Nabelschnur

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Der heilige Georg, hier eine traditionelle Darstellung aus Spanien, ist ein beliebtes Heldenmotiv in der Kunst.

Aneignung weiblicher Kräfte

Lange Zeit war die aus schamanischen Techniken entwickel-te Kunst der Weissagung aus der antiken Lebenspraxis nichtzu tilgen, jedoch wurden die uralten, teilweise noch aus demPaläolithikum stammenden Naturheiligtümer der Orakel-stätten den neuen männlichen Göttern geweiht, wie z.B. Del-phi dem Apollon. Der Überlieferung nach tötete Apollon diegeflügelte Schlange Python und entriss so Gaia, der Erdmut-ter, die Kontrolle über das Heiligtum. Die weibliche medialePriesterin hieß weiterhin Pythia, wurde jedoch zunehmendzum willenlosen Instrument der männlichen Oberpriester. VonPlutarch, der selbst Oberpriester des Delphischen Orakels war,ist überliefert, dass ungebildete Bauerntöchter in diese Funk-tion des Mediums des männlichen Gottes eingesetzt wurden.Von einer ganzheitlichen Weisheit zeugte jedoch noch der

überlieferte Spruch über dem Tempelportal: »Er-kenne dich selbst« – Introspektion als Vorausset-zung für vertiefte Welt erkenntnis ist eine seit Ur-zeiten tradierte schamanische Methode. Nach undnach wurde jedoch in der griechischen Antike auchdie spirituell-kultische Autorität der Frauen durchMänner erobert. Die antiken Philosophen, die nochbei Priesterinnen in die Lehre gegangen waren,Sokrates z.B. bei Dio tima, verfälschten die ural-ten überlieferten Weisheitslehren der Frauen, be-trieben einen Paradigmenwechsel und wurden sozu strategischen Chefideologen des Patriarchats.

Paradigmenwechsel

Die ganzheitliche, auf Lebenskunst ausgerichteteweibliche Weisheit wurde in einen lebensverach-tenden Dualismus von Körper und Geist ver-wandelt. Zu den zentralen Säulen des patriar-chalen Paradigmas gehört das Vorurteil der Über-legenheit des männlichen Geistes über den derFrau, die das dumpfe, materielle Prinzip verkör-pere. Auch der Vorreiter der Matriarchatsfor-schung, J.J. Bachofen, war noch tief davon durch-drungen. Im Widerspruch zu seiner epochalen Lei-stung der Infragestellung der universellen Gül-tigkeit männlicher Überlegenheit stehen einigeAussagen, die noch stur auf patriarchalen Gleisenfahren: »Der Fortschritt von der mütterlichen zuder väterlichen Auffassung des Menschen bildetden wichtigsten Wendepunkt in der Geschichtedes Geschlechterverhältnisses ... In der Hervor-hebung der Paternalität liegt die Losmachung desGeistes von den Erscheinungen der Natur, in ih-rer siegreichen Durchführung eine Erhebung desmenschlichen Daseins über die Gesetze des stoff-lichen Lebens«. Hier wird ideologische Propa-ganda für den Sieg des väterlich-geistigen Prin-

zips über das weiblich-stoffliche Prinzip betrieben. Die zen-trale Denkfigur des patriarchalen Paradigmas wird deutlichformuliert: der Dualismus von Stoff und Geist, die Unver-bundenheit und das hierarchische Herrschaftsverhältnis die-ser beiden Prinzipien, was letztendlich in Lebensverachtungmündet.Die dualistische Spaltung der Psyche und der Welt in Geist

versus Körper, Kultur versus Natur ist das zentrale Kennzei-chen des patriarchalen Paradigmas, das auch auf der Not-wendigkeit einer bewussten Unterdrückung der natürlichenBedürfnisse und Impulse beruht, besonders der Sexualität,durch die patriarchale, monogame Ehe.Während männliches Denken hierarchisch ist und eine ver-

tikale Ausrichtung hat, ist weibliches Denken horizontal. Weib-liches Denken weiß seit Urzeiten den Geist in der Materie auf-gehoben, Geist und Materie sich gegenseitig durchdringend

Archetypisch betrachtet ging die Geburt des menschlichen Individuums, das heißt des

souveränen Egos, mit einem Muttermord einher

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und bedingend. Das weibliche Prinzip ist ebenfalls ein geisti-ges, allerdings ein dialektisches, ein anderes als die lineare Lo-gik des Entweder-Oder, die so schnell automatenhaft, instru-mentell und zerstörerisch wirkt, selbst bei den größten philo-sophischen Dialektikern wie Hegel.Evolution ist ein dialektischer Prozess, der aus der Wech-

selwirkung von Projektion und Introjektion lebt. Letztendlichist Selbsterkenntnis Welterkenntnis und umgekehrt, wie derWeisheitsspruch von Delphi schon vor Tausenden von Jahrenverkündet hat. Im »Erkenne dich selbst« kommt der weibli-che Genius zum Ausdruck, der rezeptiv, introspektiv, asso-ziativ, vom Analogieprinzip durchdrungen ist und dialektisch-ganzheitlich Strukturen erfasst. Ein zweiter Spruch stand lautPlaton auf dem Portal: »Nichts im Übermaß« – auch hier einedialektische Sichtweise, die auf dem anzustrebenden Gleich-gewicht polarer Kräfte basiert.

Die Ayahuasca-Schlange und der Baum der Erkenntnis

Der Anthropologe Jeremy Narby hat in seinem Buch »Die kos-mische Schlange« bahnbrechende Erkenntnisse zur Bedeu-tung der Schlange im schamanischen Weltbild dargelegt. Beiindigenen Völkern des Amazonas-Gebiets, wo Narbys Schwer-

punkt seiner Feldforschungen lag, spielen Schlangen in scha-manischen Visionen, die mittels eines halluzinogenen Pflan-zensuds (Ayahuasca) induziert werden, eine zentrale Rolle.Er fragte sich, was das universelle archtetypische Bild derSchlange für eine göttlich-mächtige, heiliges Wissen vermit-telnde Kraft repräsentiert.Die biblische Geschichte von der Vertreibung aus dem Pa-

radies ist ein weiterer Beleg für die uralte Macht der Schlan-ge. Sie ist mit dem »Baum der Erkenntnis« assoziiert, von des-sen Früchten Eva zuerst aß und dann auch Adam dazu ver-führte. Hierin lag nach christlich-patriarchaler Deutung derGrund für das Elend der Menschheit, seiner Vertreibung ausdem Paradies. Was kann uns dieser Mythos zeigen, außer dassin patriarchaler Umdeutung die Schlange und die Frau stattwie einst mit Weisheit, heiligem Wissen und schöpferischerMacht, nun mit Schuld und moralischer Schwäche assoziiertwerden?Zunächst wird die Patriarchalisierung in der Bibel als Stra-

fe Gottes beschrieben, denn Adam muss fortan im Schweißeseines Angesichts schuften, das heißt von der Frau die tra-gende Rolle kultureller Produktivität übernehmen. Eva sollunter Schmerzen gebären, die Geburt neuen Lebens wird ent-wertet, prä- und perinatale Traumata nehmen zu. Im Bild derEva, die sich von der Schlange zum Genuss der Früchte des

Der Überlieferung nach tötete Apollon die geflügelte Schlange Python und entriss so Gaia, der Erdmutter, die Kontrolle über die Orakelstätte Delphi

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Baums der Erkenntnis verführen lässt, ist ein Hinweis auf dieRolle der Frau bei der Bewusstseinsentwicklung der Mensch-heit enthalten. Als Sammlerin und früheste Gärtnerin im Zugeder Neolithisierung machte sie sich und den Ihren die psy-choaktive Wirkung von Pflanzen zunutze.

Schlangenförmige DNS

Jeremy Narby entdeckte, dass Schamanen verifizierbares bio-chemisches Wissen auf ihren schamanischen Reisen erlangen,indem sie mit Hilfe von Trancetechiken, darunter pflanzlicheRauschdrogen wie Ayahuasca, einen Zugang zur molekula-ren Bewusstseinsebene eröffnen. Er identifiziert die im Scha-manismus omnipräsente kosmische Schlange mit der DNS.Die DNS ist ein Fadenmolekül, das in aller belebten Materievorhanden ist, eine geniale kreative Biotechnologie, die aufkleinstem Raum unendlich viel Information enthält. In jedermenschlichen Zelle windet sich die DNS-Doppelhelix sechs-hundertmillionenmal um sich selbst. Nahezu alle schamani-schen Weltbilder der Naturvölker sprechen in ihren Kosmo-gonien von Schlangen, Strickleitern, Seilen bzw. göttlichenZwillingen, die durch Verwandlung erschaffen.Narby beschreibt seine assoziative Forschungsmethode wie

folgt: »Wie hatte ich die Verbindungen zwischen dem Zwil-ling Avireri, dem Großen Verwandler, und der DNS-Doppel-helix übersehen können, der zuerst die Atmosphäre schuf, dieman atmen konnte (»die Jahreszeiten«) und danach die Ge-samtheit der lebenden Wesen durch Transformation, der inder Welt des mikroskopisch Kleinen (Unterwelt) lebt und zwarin Zellen, die mit Meerwasser gefüllt sind (River’s End), derdie Gestalt eines Fadens, eines Seils oder einer um sich selbstgeschlungenen Kletterliane annimmt und bis zum heutigenTag alle lebenden Arten auf diesem Planeten erhält?[...] Ichsaß in meinem Arbeitszimmer und dachte an die Zeit, als Car-los Perez Shuma (Ayahuasca-Schamane aus dem westlichenAmazonasgebiet) mir erzählt hatte, dass »die maninkari« (DieGeist-Wesen, wörtl. die, die verborgen sind) uns gelehrt ha-ben, Baumwolle zu spinnen und zu weben. [...] Mein Problemwar gewesen, dass ich ihm nicht geglaubt hatte. Nicht einenAugenblick lang hatte ich in Erwägung gezogen, dass seineWorte irgendetwas mit der Realität zu tun haben könnten«.Diese Schamanenkultur im peruanischen Amazonas-Re-

genwald hat ein sehr umfangreiches Pflanzenwissen, das vonder modernen pharmazeutischen Industrie bis heute ausge-beutet wird, ohne das geistige Eigentum der indigenen Völ-ker anzuerkennen, geschweige denn zu entlohnen. Am Bei-spiel des Rauschgetränks Ayahuasca und des Pfeilgiftes Cu -rare wird deutlich, was für komplizierte Erfindungen dieseRezepturen darstellen.

Erfindungen der »Steinzeitindianer«

»Die Wissenschaftler sträuben sich, anzuerkennen, dass ›Stein-zeitindianer‹ überhaupt irgendetwas entwickelt haben könn-

ten. Die allgemein anerkannte Theorie besagt, die Indianerseien »zufällig« über die nützlichen Moleküle gestolpert. ImFall von Curare klingt diese Erklärung wenig wahrscheinlich.Es gibt vierzig verschiedene Arten von Curare im Amazonas -gebiet, hergestellt aus siebzig Pflanzengattungen. Die heutein der westlichen Medizin verwendete Art kommt aus demWestamazonasgebiet. Für die Herstellung müssen mehrerePflanzenarten miteinander kombiniert und zweiundsiebzigStunden lang gekocht werden. Dabei muss jeder Kontakt mitdem schwachen, aber tödlichen Dampf, der von dem Sud auf-steigt, vermieden werden. Das Endprodukt ist eine Paste, dieals solche keinerlei Wirkung hat. Die Wirkung entfaltet sicherst, wenn die Paste unter die Haut injiziert wird« (Narby).Direkt nach dem Ursprung ihres Wissens gefragt, antwor-

teten die Schamanen stets, es sei mythischen Ursprungs, einGeschenk des Schöpfers der Welt, oder die Geister der Pflan-zen selbst hätten es sie in halluzinatorischen Erfahrungen ge-lehrt.Narby entwickelte die Hypothese, dass die DNS als Informa -

tionsträgersubstanz in der Lage ist, mittels Lichtsignalen überOrganismengrenzen hinweg zu kommunizieren, und dassSchamanen seit Urzeiten diesen universalen Vorgang ins Be-wusstsein gehoben hätten. Demnach müssten wir mit allenlebendigen Wesenheiten über die DNS kommunizieren kön-nen.

Das I-Ging Orakel

Der Arzt Martin Schönberger machte eine andere interessan-te Entdeckung und zwar die, dass das Strukturprinzip desgene tisches Codes mit dem des chinesischen OrakelsystemsI-Ging identisch ist. Es ist tatsächlich erstaunlich und nichtvon der Hand zu weisen, dass die Gene, die aus einer Drei-ersequenz von Basenpaaren bestehen, formallogisch überein-stimmen mit den abstrakten Yin-Yang-Tripletts des I-Ging.Beide ergeben genau 64 Kombinationsmöglichkeiten – dieGrundelemente sowohl der DNS, des »Buchs des Lebens«, alsauch des I-Ging (»Buch der Wandlungen«).Die von der Naturwissenschaft vor nicht allzu langer Zeit

als Sensation gefeierte Entschlüsselung des genetischen Co-des der DNS könnte also schon vor Urzeiten im Zusammen-hang mit abergläubischen Weissagungsritualen geleistet wor-den sein. Hier begegnen sich uraltes schamanisches Wissenund neueste naturwissenschaftliche Forschung – es führt denHochmut, den Größenwahn, unter dem jeder von der westli-chen Zivilisation geprägte Mensch mehr oder weniger leidet,klar vor Augen.Es könnte sich als Anmaßung herausstellen, animistische

Weltbilder der heutigen Naturvölker und der präpatriarcha-len Phase der Bewusstseinsentwicklung für primitiven Aber-glauben zu halten, wenn wissenschaftlich bestätigt wird, dassein quantenphysikalisches Kommunikationsnetz des Lebensexistiert. Unsere Seelenverwandten sind nicht nur Menschen,sondern auch Tiere, Pflanzen und Einzeller – unsere Ge-

Zu den zentralen Säulen des patriarchalen Paradigmas gehört das Vorurteil der Überlegenheit des männlichen Geistes

über den der Frau, die das dumpfe, materielle Prinzip verkörpere

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schwister und Verbündete, wie die Schamanen sagen. »Un-sere Erde ist eingehüllt in eine Schicht aus Leben auf der Ba-sis der DNS-Information. Dieses Leben schuf die Atmosphä-re, in der wir atmen können. Sie schuf auch die Ozonschicht,die unser genetisches Material gegen ultraviolette und gen-schädigende Strahlen abschirmt. Sogar eine halbe Meile un-ter dem Meeresboden gibt es anaerobe Bakterien: Bis tief un-ter die Erdkruste ist unser Planet mit Leben verkabelt. Wennwir über ein Feld laufen, dann ist die DNS – und damit dasLeben auf Zellbasis, das sie kodiert – einfach überall: in un-serem Körper ebenso wie in den Pfützen, dem Schlamm, denKuhfladen, dem Gras, auf dem wir gehen, der Luft, die wiratmen, den Bäumen, den Vögeln – kurz, in allem, was lebt«.(Narby)

Ein Teil des Ganzen

Wir sind nur Menschen, ein kleiner Part im unermesslichenNetz des Lebens auf diesem paradiesischen Planeten. DenScha manen und orakelkundigen Weisen geht es nicht darum,die DNS zu manipulieren. Sie kommunizieren mit der DNSund lernen von ihr, sie entlocken ihr ihre Geheimnisse undnutzen sie für ausgewogene, weitblickende Entscheidungenzum Wohl des Ganzen. Das ist der entscheidende Unterschiedzwischen Schamanen und westlichen Naturwissenschaftlern,

die einem Machbarkeitswahn verfallen sind und die Weisheit,die Lebendigkeit der Natur nicht ehren, sie nicht einmal wahr-nehmen können, da sie Natur als seelenlosen Mechanismusbetrachten.Die dialektische Synthese aus matriarchalem und patriar-

chalem Weltbild erzeugt eine klare Erkenntnis der spiraldy-namischen (d.h. weder/sowohl zyklischen noch/als auch li-nearen) Entwicklungsprozesse als universellem Naturgesetz,dem auch der Mensch sich nicht ohne Schaden zu nehmenentziehen kann. Das dialektische Denken ist an dem schöpfe-rischen Lebensprinzip orientiert, das sich überall in der Na-tur offenbart. Es ist das evolutionäre Prinzip der Spirale, dassich in der DNS, in Galaxien und tausendfach wiederkehrendin der Morphologie von Flora und Fauna offenbart. Die Spi-rale ist eine dialektische Synthese von Gerade (yang) und Kreis(yin) – das Prinzip der kosmischen Schlange, das Menschenschon vor Urzeiten entdeckten und verehrten als schöpferi-sche Kraft. Genau genommen handelt es sich um zwei kom-plementäre, spiralig ineinander verschlungene Schlangen, diedas Strukturprinzip der DNS bilden.

Patriarchale »Wichser-Mentalität«

Matriarchale und patriarchale Vorstellungen dagegen sinduro borisch, sie reduzieren das schöpferische Prinzip auf eine

Die dualistische Spaltung der Psyche und der Welt in Geist versus Körper, Kultur versus Natur ist das zentraleKennzeichen des patriarchalen Paradigmas

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Die DNS erinnert an eine Schlange

einzige, sich in den eigenen Schwanz beißende Schlange. Dieaus sich selbst heraus das All erschaffende Große Mutter istebenso illusorisch wie die männliche Schöpfung aus sich selbstheraus, nur dass letztere wider besseren Wissens konstruiertwurde – ein Rückschritt nach der Erkenntnis der männlich-weiblichen Co-Kreativität spätestens im Neolithikum. Hierein schönes Beispiel der männlich-uroborischen Mentalitätaus der 5. Dynastie (um 2650 v. Chr.) des alten Ägypten, ge-funden als Inschrift im Inneren einer Pyramide:

»Ja,ich war es,der meinen Penis ergriff,Saatwasser hervorlockte,dieses durch meine Faust in mich selbst hineinleitete,Ich wickelte mich selbst um meinen Penis,ich half mit, meinen Schatten zu vögeln,[...]Ich regnete fruchtbares Wasser,es trieb wie Gerste aus der Erdein meinen eigenen Mund.Daraus ersproß der Windmann Schu.Ich gebar das Regenmädchen Sefnut.« (zit, n. Hetmann)

Diese narzisstische, mit Verlaub »Wichser-Mentalität« brach-te u.a. die Produkte unserer modernen »organischen« Chemiehervor, die das Ökosystem in unzumutbarer Weise verpesten.Bei der Entschlüsselung der Ringstruktur des hochgiftigenBenzols durch Kekulé erschien ihm im Halbschlaf, als er überdas Problem der Molekularstruktur sinnierte, ein Uroboro –die tiefere, warnende Bedeutung dieser schamanischen Inspi -ration entging ihm leider.

Das paritätische Paradigma

Die Einsicht in die Notwendigkeit eines paritätischen Para-digmas der Ausgewogenheit und Gleichwertigkeit der pola-ren Schlangenkräfte, auch von männlichen und weiblichenWerten, führt zu einer gesellschaftlichen Transformation, diealle Bereiche betrifft. Der Antagonismus Geisteswissenschaftversus Naturwissenschaft löst sich zunehmend auf, statt Ab-grenzung und gegenseitigem Unverständnis zählen Interdis-ziplinarität und gegenseitige Befruchtung. Introspektiv er-langte Einsichten werden naturwissenschaftlich untersuchtund mit quantitativen Messmethoden auf ihre Stichhaltigkeithin überprüft.Der Aufstieg der Kundalini-Energie, die in der Yoga-Philo-

sophie als Schlange oder Schlangenpaar vorgestellt wird, ist,wie der Pränatalpsychologe Horia Crisan aufgezeigt hat, eineregressiv-progressive Integration prä- und perinataler Erleb-nisse, introspektives Schöpfungswissen. Wer durch derartigeinitiatorische Prozesse gegangen ist, kommt in den Genuss ei-ner Verfeinerung seines Körper- und Sinnenbewusstseins, syn-chronisiert und harmonisiert die Funktionen des »Reptilien-

gehirns« mit denen des Neokortex. Der Kundalini-Prozess alsspirituelles Erwachen ist ein Entwicklungsprozess, den dieMenschheit jetzt kollektiv zu vollziehen hat, um ihre Evolu-tion voranzubringen. n

Literatur• Jakob Bachofen: Mutterrecht und Urreligion. Stuttgart 1984• Gerhard Bott: Die Erfindung der Götter. Essays zur politischen Theologie. Norderstedt

2009• Horia Crisan: Die perinatale Psychosomatik des Kundalini-Yoga. Ein Versuch

interkultureller Annäherung. In curare 18 (1995) 1: S. 173-201• Riane Eisler: Kelch und Schwert. Von der Herrschaft zur Partnerschaft. Weibliches und

männliches Prinzip in der Geschichte. München 1989• Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt am Main 1994• Fester/König/Jonas/Jonas: Weib und Macht. Fünf Millionen Jahre Urgeschichte der

Frau. Frankfurt a.M. 1980• Heide Göttner-Abendroth: Der Weg zu einer egalitären Gesellschaft. Prinzipien und

Praxis der Matriarchatspolitik. Klein Jasedow 2008• Marija Gimbutas: Die Zivilisation der Göttin, 1996• Frederik Hetmann (Hg.): Wie Frauen die Welt erschufen. Zürich 2001• Wilhelm E Mühlmann.: Die Metamorphose der Frau. Weiblicher Schamanismus und

Dichtung. Berlin 1984• Jeremy Narby: Die kosmische Schlange. Auf den Pfaden der Schamanen zu den

Ursprüngen modernen Wissens. Stuttgart 2001• Jeremy Narby: Intelligenz in der Natur. Eine Spurensuche an den Grenzen des Wissens.

Baden/ und München 2006• Giorgio Samorini: Halluzinogene im Mythos. Vom Ursprung psychoaktiver Pflanzen.

Solothurn 1998• Schacht/Uhlmann/Grimm/Schwarz-Schilling/Fuhrmann: Europa heißt Die

Weitblickende. Postpatriarchale Perspektiven für die Kulturanthropologie. Norderstedt2011

• Martin Schönberger: Weltformel I Ging und genetischer Code. Aitrang 2000• Marie-Luise Schwarz-Schilling: Die Ehe. Seitensprung der Geschichte. Frankfurt a.M.

2004• Ingrid Straube: Die Quellen der Philosophie sind weiblich. Aachen 2003• Gabriele Uhlmann: Archäologie und Macht. Norderstedt 2012• Philipp Vandenberg: Das Geheimnis der Orakel. Archäologen entschlüsseln das

bestgehütete Mysterium der Antike. München 1979• Roger N. Walsh: Der Geist des Schamanismus. Olten 1992

In patriarchaler Umdeutung werden die Schlange und die Frau stattwie einst mit Weisheit, heiligem Wissen und schöpferischer Macht

nun mit Schuld und moralischer Schwäche assoziiert

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Johanna Schacht, Jg 1976, ist Diplom-Heil-pädagogin, Kunsttherapeutin, Geschäfts-führendes Vorstandsmitglied der InternationalSociety for Pre- and Perinatal Psychology andMedicine (ISPPM e.V., www.isppm.de), Mut-ter von zwei Kindern. Zusammen mit anderen

Autoren veröffentlichte sie das Buch »Europa heißt die Weit-blickende. Postpatriarchale Perspektiven für die Kulturanthro-pologie.«www.gartenkunsttherapie.de