22
JANNIS PANAGIOTIDIS Die Krise ist kein Fußballspiel: Bemerkungen zu einem medial inszenierten Konflikt 1 Abstract. This article argues that the perception of a crisis in German-Greek relations that began with the „Greek crisis“ in the autumn of 2009 is the result of media coverage on both sides that indulged in football-style „us“ against „them“ generalizations and in national stereotypes, instead of conducting an adequately nuanced analysis. The paper examines instances of the strife between German and Greek print and online media during the period 2010-2012 and focuses on the discursive tropes that were used to invoke specific social, cultural, and historical images. While some German media stressed „Greek“ laziness, unreliability, and non-existent „Europeanness“, their Greek counterparts focused on Germany’s Nazi past, the memory of German occupation during World War II, and Greek sovereignty. This public discourse has increased the danger that politicians charged with making decisions in the crisis will be acting under pressure and on false or stereotypical premises. The changing image of Greece in the eyes of fellow Europeans might jeopardize Greece’s standing as a European nation. Jannis Panagiotidis ist promovierter Historiker. Einleitung Am 22. Juni 2012 kam es bei der Fußball-Europameisterschaft zu einem Vier- telfinalduell mit deutscher Beteiligung, das von dem Massenbla Bild als das „heißeste Spiel des Jahres“ bezeichnet wurde. 2 Gegner waren weder die stets mit Deutschland rivalisierenden Holländer (diese hae die DFB-Elf bereits in der Vorrunde hinter sich gelassen) noch die nie um eine mediale Auseinander- seꜩung vor dem Spiel verlegenen Engländer und auch nicht die insbesondere seit der Halbfinalniederlage bei der WM 2006 herzlich gehassten Italiener (diese 1 Der Autor dankt Elena Panagiotidis (Zürich), Evangelos Georgiou, Christos Katsioulis (beide Athen), den anonymen Gutachtern sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Journalisten-Workshops der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 29. Juni bis 1. Juli 2012 in Athen für Anregungen, Kommentare und Korrekturen. 2 So das Titelbla von Bild am 22.06.2012, online abruar unter <hp://www.horizont.net/ aktuell/marketing/pages/protected/showfull.php?p=48900>. Auf alle zitierten Internetdoku- mente wurde zuleꜩt am 10.09.2012 zugegriffen. Südosteuropa 60 (2012), H. 3, S. 433-454 GRIECHENLAND

Die Krise ist kein Fußballspiel: Bemerkungen zu einem medial inszenierten Konflikt

  • Upload
    univie

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

JANNIS PANAGIOTIDIS

Die Krise ist kein Fußballspiel: Bemerkungen zu einem medial inszenierten Konflikt1

Abstract. This article argues that the perception of a crisis in German-Greek relations that began with the „Greek crisis“ in the autumn of 2009 is the result of media coverage on both sides that indulged in football-style „us“ against „them“ generalizations and in national stereotypes, instead of conducting an adequately nuanced analysis. The paper examines instances of the strife between German and Greek print and online media during the period 2010-2012 and focuses on the discursive tropes that were used to invoke specific social, cultural, and historical images. While some German media stressed „Greek“ laziness, unreliability, and non-existent „Europeanness“, their Greek counterparts focused on Germany’s Nazi past, the memory of German occupation during World War II, and Greek sovereignty. This public discourse has increased the danger that politicians charged with making decisions in the crisis will be acting under pressure and on false or stereotypical premises. The changing image of Greece in the eyes of fellow Europeans might jeopardize Greece’s standing as a European nation.

Jannis Panagiotidis ist promovierter Historiker.

Einleitung

Am 22. Juni 2012 kam es bei der Fußball-Europameisterschaft zu einem Vier-telfinalduell mit deutscher Beteiligung, das von dem Massenblatt Bild als das „heißeste Spiel des Jahres“ bezeichnet wurde.2 Gegner waren weder die stets mit Deutschland rivalisierenden Holländer (diese hatte die DFB-Elf bereits in der Vorrunde hinter sich gelassen) noch die nie um eine mediale Auseinander-setzung vor dem Spiel verlegenen Engländer und auch nicht die insbesondere seit der Halbfinalniederlage bei der WM 2006 herzlich gehassten Italiener (diese

1 Der Autor dankt Elena Panagiotidis (Zürich), Evangelos Georgiou, Christos Katsioulis (beide Athen), den anonymen Gutachtern sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Journalisten-Workshops der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 29. Juni bis 1. Juli 2012 in Athen für Anregungen, Kommentare und Korrekturen.

2 So das Titelblatt von Bild am 22.06.2012, online abrufbar unter <http://www.horizont.net/aktuell/marketing/pages/protected/showfull.php?p=48900>. Auf alle zitierten Internetdoku-mente wurde zuletzt am 10.09.2012 zugegriffen.

Südosteuropa 60 (2012), H. 3, S. 433-454

GrIechenLAnD

434 Jannis Panagiotidis

bereiteten den Unbesiegbarkeitsträumen von Bild erst im Halbfinale ein Ende). Stattdessen war Gegner das bei diesem EM-Turnier bis ins Viertelfinale vorge-stoßene Team Griechenlands, Überraschungseuropameister von 2004, freilich in der EM-Endrunde 2012 eher unter den sportlichen Leichtgewichten eingeordnet.

Zukünftigen Generationen von Forschern, die dereinst das Bild-Zeitungsar-chiv durchstöbern werden, mag diese Schlagzeile Rätsel aufgeben: Wieso sollte ausgerechnet dieses fußballerisch eher unausgewogene Match zum „heißesten Duell“ des Jahres hochstilisiert werden? Die Antwort findet sich im Kontext der griechischen Schuldenkrise, die den Schlagzeilenmachern von Bild einen Fundus an Metaphern lieferte. So titelte Deutschlands führendes Boulevardblatt am Tag des Spiels: „Tschüss Griechen! Heute können wir euch nicht retten“.3 Bereits am 18. Juni hatte es geheißen: „Arme Griechen, die nächste Pleite gibt’s geschenkt. Gegen Jogi hilft KEIN Rettungsschirm“.4 In manchen griechischen Sportzeitungen wurde der Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise ebenfalls dankbar aufgegriffen, etwa von der Goal News, die die Aussicht auf ein Viertel-finale gegen Deutschland mit der Titelschlagzeile kommentierte: „Bringt uns Merkel!“5 Auch Teile der sogenannten Qualitätsmedien konnten der Vermi-schung von Fußball und Politik nicht widerstehen: Spiegel Online kommentierte die griechische Niederlage mit einem „mal wieder nicht gerettet“ und empfahl „den Griechen“, sich nach dem Ausscheiden neue Gegner zu suchen: „das Selbstmitleid und die ewige Opferrolle“.6

Einhellig wehrten sich die sportlichen Akteure gegen die politische Aufla-dung der fußballerischen Auseinandersetzung. Bundestrainer Joachim Löw teilte auf einer Pressekonferenz mit, dies sei ein ganz normales Spiel, und so wie Kanzlerin Angela Merkel ihm nicht in die Aufstellung hineinrede, so gebe er auch keine politischen Statements ab.7 Auch die griechischen Spieler Giorgos Samaras und Kyriakos Papadopoulos betonten in der Pressekonferenz vor dem Spiel, Fußball und Politik solle man nicht vermischen.8 Liest man freilich die

3 Ebd.4 Bild, 18.06.2012, unter <http://www.bild.de/sport/fussball-em-2012-polen-ukraine/joach-

im-loew/gegen-ihn-hilft-kein-rettungsschirm-24722040.bild.html>. Weitere Beispiele sind angeführt unter <http://www.horizont.net/aktuell/marketing/pages/protected/Deutschland-vs.-Griechenland-Eine-Medien--und-Werbeschau_108364.html?openbox=0>.

5 Goal News, 17.06.2012, unter <http://www.contra.gr/newspapers/Sport/goal_news/goal-news.1819359.html>.

6 David Böcking, Mal wieder nicht gerettet, Spiegel Online, 23.06.2012, unter <http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/griechenlands-em-aus-mal-wieder-nicht-gerettet-a-840518.html>.

7 Christoph Sydow, DFB-Elf gegen Griechenland / „Özils Explosion kommt noch“, Spie-gel Online, 19.06.2012, unter <http://www.spiegel.de/sport/fussball/em-viertelfinale-gegen-griechenland-loew-setzt-auf-explosion-von-oezil-a-839773.html>.

8 Άλλο ποδόσφαιρο, άλλο πολιτική … [Fußball ist keine Politik], Sportday, 19.06.2012, unter <http://www.sday.gr/Football/Greek-National-Team/allo-podosfairo-allo.aspx>.

435Die Krise ist kein Fußballspiel

jeweiligen Publikationen, so stellt man fest, dass sowohl Bild als auch ihre grie-chischen Pendants wie Sport Day die jeweils andere Seite für die Politisierung verantwortlich machten.9 Dabei betonten beide Seiten, eine Verquickung von Fußball und Politik sei völlig unangebracht.

Die sensiblen Reaktionen auf die Politisierung des Fußballs im Falle des EM-Viertelfinales Deutschland-Griechenland sind in der medialen Vorgeschichte dieses Spiels begründet. Dabei ist die Überhöhung der Bedeutung von Fuß-ballspielen in der Öffentlichkeit eigentlich nichts Ungewöhnliches und war zumindest bisher in einem europäischen Kontext auch nicht übermäßig be-denklich. Weder die ritualisierten Auseinandersetzungen der Boulevardpresse in Deutschland und England inklusive Weltkriegsreferenzen vor Spielen der DFB-Elf gegen die „Three Lions“, noch die hämischen „Ohne Holland fahr’n wir zur WM“-Gesänge der deutschen Fans während der Weltmeisterschaft 2002 führten je zu nachhaltiger Verstimmung in den bilateralen Beziehungen dieser Länder, geschweige denn zu einem blutigen „Fußballkrieg“ wie 1969 zwischen El Salvador und Honduras.10 Im vorliegenden Fall war das bilaterale Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland in der Folge der Eurokrise allerdings bereits so weit medial aufgeheizt, dass eine weitere Zuspitzung im Zusammenhang mit einem Fußballspiel wenig angebracht schien.

Vorliegender Beitrag behandelt Ursachen und Auswirkungen dieser medial aufgeheizten Atmosphäre. Hierbei geht es nicht um die Politisierung des Fuß-balls, sondern, im Gegenteil, um die „Fußballisierung“ der Eurokrise. Wesent-lich problematischer als die Verbindung eines Fußballspiels mit der Eurokrise war und ist die Tatsache, dass Medien sowohl in Deutschland als auch in Griechenland seit Beginn der Krise Ende 2009 über deren Verlauf wie über ein Fußballspiel berichtet haben. Dies beinhaltet bestimmte Interpretations- und Sprachmuster, um die es in diesem Beitrag gehen wird: die Reduktion einer komplexen und multilateralen Wirtschaftskrise auf eine bilaterale Auseinan-dersetzung zwischen Deutschland und Griechenland; die Verwendung von Kollektivbegriffen wie „wir“ und „ihr“, die im Fußball typisch, für den poli-tischen Kontext jedoch eher ungeeignet sind, sowie der damit einhergehende Rückgriff auf nationale Stereotypen, die in der jüngeren Vergangenheit im

9 „Bringt uns Merkel!“ – „Angela, mach Dich bereit!“ / Griechen giften gegen Deutsch-land, Bild, 17.06.2012, unter <http://www.bild.de/sport/fussball-em-2012-polen-ukraine/em-2012/griechen-giften-gegen-deutschland-24700614.bild.html>. In dem Artikel heißt es unter anderem: „Sport und Politik haben eigentlich nichts miteinander zu tun. Eigentlich … […] Die griechischen Blätter schaffen es nicht, Politik und Sport voneinander zu trennen.“ Von griechischer Seite aus: Σήμερα, Έλληνες, δεν θα σας σώσουμε [Griechen, heute werden wir euch nicht retten], Sport Day, 22.06.2012, unter <http://www.sday.gr/Football/Greek-National-Team/simera-ellines.aspx>.

10 Ryszard Kapuścinski, Der Fußballkrieg. Berichte aus der Dritten Welt. Frankfurt a. M. 2001.

436 Jannis Panagiotidis

vermeintlich postnationalen Europa großenteils auf die Sphäre der sportlichen Auseinandersetzung beschränkt blieben. Alle diese simplifizierenden, pauscha-lisierenden und nationalisierenden Interpretationsmuster resultieren aus einer unzureichenden Analyse der Krise in bedeutenden Teilen der Öffentlichkeit, die komplexere wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge ignoriert, die sich mit simplen Analysekategorien wie „die Deutschen“ und „die Griechen“ nicht erfassen lassen.

Im Folgenden werden diese Aspekte in einer kursorischen Analyse aus-gewählter Episoden der Auseinandersetzung zwischen deutschen und grie-chischen Medien herausgearbeitet. Praktischer Erwägungen halber liegt der Schwerpunkt auf Print- und Onlinemedien – eine umfassende Analyse der TV-Berichterstattung in beiden Ländern würde den Rahmen dieser Unter-suchung sprengen, aber vermutlich keine grundsätzlich anderen Ergebnisse hervorbringen.11 In einem zweiten Schritt werden einige Thesen über die Be-deutung dieser Befunde formuliert, etwa zur Frage, inwiefern die jeweiligen Darstellungen des „Anderen“ in der veröffentlichten Meinung Rückschlüsse auf den Effekt in der öffentlichen Meinung zulassen und welche politischen Konsequenzen dies impliziert.

Was dieser Artikel explizit nicht liefern kann, ist eine umfassende Analyse des deutsch-griechischen Verhältnisses in seiner Gesamtheit. Eine solche Analyse müsste politische, diplomatische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und andere Beziehungen unter die Lupe nehmen, um ihrem Gegenstand gerecht zu werden. Es geht hier vielmehr um mediale Deutungsmuster, die eben solche komplexen Deutungen vermieden und durch polemische und pauschalisierende Berichte den Eindruck einer tiefgehenden bilateralen Krise zwischen Deutschland und Griechenland erzeugt haben. Leider ist es unumgänglich, sich auf die Nega-tivbeispiele innerhalb der medialen Berichterstattung zu konzentrieren unter Vernachlässigung der durchaus vorhandenen Positivbeispiele. Hier korrespon-diert die akademische Analyse mit einer Realität, in der den „Krachmachern“ des Boulevards stets mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als nüchternen, sachlichen und komplexen Analysen mit höherem Anspruch und geringerem Verbreitungsgrad.12

11 Als Negativbeispiel einer TV-Sendung siehe etwa die Analyse von „Hart aber fair“ vom Mai 2011 durch Christoph Twickel, Wir schalten um auf Vorurteil, Spiegel Online, 19.05.2011, unter <http://www.spiegel.de/kultur/tv/griechenland-bashing-bei-plasberg-wir-schalten-um-auf-vorurteil-a-763486.html>.

12 Eine ausführliche Analyse der Berichterstattung deutscher, amerikanischer, britischer, französischer und italienischer Qualitätsmedien zur Krise in Griechenland wurde vorgelegt von Georgios Tzogopoulos, Η ελληνική κρίση στα διεθνή ΜΜΕ [Die griechische Krise in den internationalen Medien] (ELIAMEP Working Paper, 16/2011), unter <http://www.elia-mep.gr/wp-content/uploads/2011/04/16_2011_-WORKING-PAPER-_-Tzogopoulos-G-.pdf>.

437Die Krise ist kein Fußballspiel

Die „Griechen-Krise“ in deutschen Medien

Vor Beginn der Krise geriet Griechenland nur vereinzelt in den Fokus medialer Aufmerksamkeit in Deutschland,13 etwa nach den verheerenden Waldbränden auf der Peloponnes 2007 und während der Studenten- und Jugendunruhen ab Dezember 2008. Dies änderte sich bald nach Ausbruch der Wirtschaftskrise gegen Ende 2009. Das Interesse der deutschen Medien an Griechenland stieg sprunghaft und übertraf deutlich die Aufmerksamkeit, die vergleichbare Pub-likationsorgane in anderen Ländern dem Land schenkten.14 Bereits frühzeitig schälte sich das Muster einer auf die nationale Komponente der Wirtschafts- und Schuldenkrise in Griechenland zugespitzten Betrachtungsweise mit korres-pondierendem Sprachgebrauch heraus. Ein vermeintlich seriöses Leitmedium wie Spiegel Online tat sich etwa mit der Verwendung eines plakativen Begriffs wie „Griechen-Krise“ hervor, um die Entwicklungen in Griechenland zu be-schreiben.15 Mit dieser Bezeichnung wurde nicht nur nahegelegt, es handele sich primär um ein nationales – und nicht etwa um ein wirtschaftliches oder fiskalisches – Problem. Die sprachlich an sich nicht sehr elegante Formulierung „Griechen-Krise“ (anstelle einer präziseren Formulierung wie „Krise in Grie-chenland“) suggerierte zudem, die Krise sei eben eine Krise „der Griechen“ als nationalem Kollektiv, und nicht etwa des griechischen Staates, der griechischen Wirtschaft etc. Hauptsächlich – aber nicht ausschließlich – Boulevardmedien umschrieben dieses nationale Kollektiv obendrein mit beleidigenden Begriffen und stellten es einem anderen Kollektiv gegenüber: „uns Deutschen“. Hier nahm die „Bilateralisierung“ der Krise als deutsch-griechische Auseinandersetzung ihren Anfang.

Während des gesamten Untersuchungszeitraums bestimmte Deutschlands auflagenstärkstes Blatt, Bild, den Ton in der medialen Konstruktion deutscher und griechischer nationaler Kollektive nebst Assoziation mit bestimmten Ste-

13 Martha Kalantzi, Das medienkonstruierte Ausland. Deutsche und griechische Tages-zeitungen im Vergleich. Frankfurt a. M., Bern, Las Vegas 2003, 192.

14 Dies zumindest legen die Zahlen nahe, die Georgios Tzogopoulos, Ελληνική κρίση (wie Anm. 12), 11, vorlegt. Allerdings sind sie mit Vorsicht zu genießen: Laut seinen Untersu-chungen publizierten die deutschen Qualitätszeitungen (Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung) zwischen 05.10.2009 und 31.12.2010 zum Thema Griechenland 6.773 Artikel gegenüber 4.946 Artikeln in den französischen Blättern Le Figaro und Le Monde sowie 2.452 in den italienischen Tageszeitungen Corriere della Sera und La Stampa. Diese Zahlen sind mit Sicherheit deutlich zu hoch veranschlagt, was in der aus Mehrfachverlinkungen resultierenden Unschärfe der verwendeten Online-Suchmethode begründet liegen dürfte. In ihrer Grundaussage – generell gestiegenes Interesse an Griechenland, insbesondere in Deutschland – dürfte Tzogopoulos’ Untersuchung aber stimmen.

15 Eine Suche nach dem Begriff „Griechen-Krise“ im Online-Archiv von Spiegel Online und der Printausgabe des Spiegel unter <www.spiegel.de> ergab 70 Treffer am 10.07.2012, den frühesten am 04.02.2010. 49 Artikel datieren aus dem Jahr 2010, weitere 20 aus dem Jahr 2011. 2012 scheint der Begriff aus dem Spiegel-Vokabular fast gänzlich verschwunden zu sein.

438 Jannis Panagiotidis

reotypen des „faulen Südländers“.16 Am 30. Januar 2010 unkte Kolumnist Georg Gafron: „… und wir sollen zahlen!“17 Empört fragte er: „Für wen sollen wir Deutsche denn noch die (leere) Staatskasse öffnen? […] Griechenland, aber auch Spanien und Portugal, müssen begreifen, dass vor der Siesta harte Arbeit – sprich: eisernes Sparen – steht.“ Diesem Aufruf folgte ein joviales und doch nicht minder pauschalisierendes „Angebot“: „Hilfe zur Selbsthilfe gerne – nicht zuletzt, weil Urlaub bei euch so schön ist!“

Deutlich weniger „konziliant“ war die Berichterstattung in den folgenden Wochen. Sie kreiste um die von Bild eigens geschaffene Kollektivbezeichnung „Pleite-Griechen“, denen ein meist nicht präzise definiertes „wir“ – die Bild-Le-ser, die deutschen Steuerzahler, „die Deutschen“ – gegenübergestellt wurde. Wie der medienkritische BILDblog ausführlich dokumentiert, tat sich Bild mit Schlag-zeilen hervor wie „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen“; „Ihr griecht nichts von uns! Hier schreibt BILD an Griechenlands Pleite-Premier“; „Warum zahlen wir den Griechen ihre Luxus-Renten?“; „So gut haben es Rentner in Grie-chenland“; „Wer soll den Griechen noch glauben?“; „Angst um unser Geld“.18 Besonderes Aufsehen erregte die Aktion des Bild-Reporters Paul Ronzheimer, der auf dem Athener Syntagma-Platz Drachmen verteilte und dies unter dem Titel „BILD gibt den Pleite-Griechen ihre Drachmen zurück“ publik machte.19 Wie er am Ende seines Beitrags feststellte, sei die Rückkehr Griechenlands zur Drachme „auch für unseren Euro das Beste“. Wen das „wir“ der Euro-Besitzer genau umfasst, bleibt offen, nur eines ist sicher: die „Pleite-Griechen“, denen Ronzheimer ihre Drachmen zurückgegeben hat, gehören nicht dazu.

Neben Bild tat sich das Burda-Magazin Focus als Anheizer im publizistischen Konflikt zwischen deutschen und griechischen Medien hervor. Besonderen Nachhall hatte die Ausgabe vom 22. Februar 2010.20 Von diesem Heft bleibt vor allem das Titelblatt in Erinnerung, das die Venus von Milo mit ausgestrecktem Stinkefinger zeigt, begleitet von dem reißerischen Titel „Betrüger in der Euro-Familie. Bringt uns Griechenland um unser Geld – und was ist mit Spanien, Portugal, Italien?“ Während dieses Bild vor allem plakative Wirkung entfalte-te, enthielt das Heft drei ausführliche Beiträge, in denen Focus seine Sicht der „Griechenland-Pleite“ darlegte und ein bestimmtes Narrativ der Krise vorgab,

16 Hans-Jürgen Arlt / Wolfgang Storz, Drucksache „Bild“ – Eine Marke und ihre Mägde. Die „Bild“-Darstellung der Griechenland- und Eurokrise 2010. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung (OBS-Arbeitsheft 67). Frankfurt a. M. 2011, unter <http://www.bild-studie.de>.

17 Georg Gafron, … und wir sollen zahlen!, Bild, 30.01.2010, unter <http://www.bild.de/news/standards/kommentar/kommentar-11299430.bild.html>.

18 Unter <http://www.bildblog.de/tag/paul-ronzheimer/>.19 Paul Ronzheimer / George Kalozois, Tschüs, Euro! BILD gibt den Pleite-Griechen die

Drachmen zurück, Bild, 27.04.2010, unter <http://www.bild.de/politik/wirtschaft/griechenland/bild-gibt-den-pleite-griechen-die-drachmen-zurueck-12338432.bild.html>.

20 Focus, 22.02.2010, unter <http://www.focus.de/magazin/archiv/jahrgang_2010/ausga-be_8/>.

439Die Krise ist kein Fußballspiel

dessen zentrale Themen zum Teil auch schon in den zitierten Überschriften von Bild zu finden sind: Betrug, luxuriöse Renten, Korruption, Verfall, die allesamt in gewisser Weise dem Nationalcharakter (ohne diesen Begriff zu benutzen) der Griechen zuzuschreiben seien.

Das Focus-Dossier unterstreicht eines der größten Probleme der Krisenbe-richterstattung deutscher Medien: fehlende Orts- und Sachkenntnis.21 Unter den Autoren finden sich zwar Redakteure aus Berlin sowie Korrespondenten aus Brüssel, aber kein ausgewiesener Griechenland-Korrespondent – ein durchaus symptomatischer Befund. Nur wenige Zeitungen und Magazine hatten sich in den vorangegangenen Jahren solche Korrespondenten vor Ort geleistet. Statt-dessen berichteten Journalisten aus Istanbul oder Belgrad über Griechenland. In der Substanz hatte das effekthascherisch aufgemachte Dossier daher wenig zu bieten – was die Autoren nicht an drastischen Urteilen hinderte. So postulierte der Leitartikel „Die Griechenland-Pleite“:

„Vater Staat ist nach Ansicht vieler Griechen vor allem für eines zuständig: Er soll sichere Posten garantieren und gute Gehälter. Der Gedanke, regelmäßig Steuern zu zahlen, ist dem Volk dagegen fremd.“22

Dies hatte freilich so ähnlich bereits einen Monat vorher in der deutschen Aus-gabe von Le Monde Diplomatique gestanden, wo Griechenland-Experte Niels Kadritzke die strukturellen Ursachen der Krise nach eigener Aussage „nur leicht überspitzt“ wie folgt zusammenfasst: „Die meisten Griechen wollen keine Steuern zahlen, aber fast alle wollen eine Stelle im öffentlichen Dienst.“23 Der Hauptunterschied zwischen den beiden Artikeln liegt jedoch in Kadritzkes ungleich detaillierterer Sachkenntnis, seinen differenzierten Analysekatego-rien und seinem demgemäß vorsichtigen Sprachgebrauch. Während Kadritzke nach der anfänglich zugespitzten Formel ausführlich zwischen verschiedenen Berufsgruppen sowie der politischen Klasse des Landes differenzierte, spitzte der Focus seine Analyse auf ein Kollektiv namens „die Griechen“ und deren vermeintlich unveränderliche Eigenschaften zu. Nach dem „erschlichenen“ Euro-Eintritt hätten „die chronisch klammen Griechen plötzlich viel einfacher und günstiger Schulden aufnehmen“ können.

„Sie liehen sich nicht nur Milliarden über Milliarden. Sie verheimlichten auch der EU das wahre Ausmaß ihrer Schulden – bis jetzt in der Wirtschaftskrise alles aufflog.“

21 Die Tendenz von Journalisten internationaler Medien, ohne genaue Kenntnisse der grie-chischen Realität über diese zu schreiben, wird auch bemerkt von Tzogopoulos, Ελληνική κρίση (wie Anm. 12), 38.

22 Die Griechenland-Pleite, Focus, 22.02.2010, unter <http://www.focus.de/finanzen/news/staatsverschuldung/wirtschaft-die-griechenland-pleite_aid_482498.html>.

23 Niels Kadritzke, Griechenland – Auf Gedeih und Verderb, Le Monde Diplomati-que, 15.01.2010, unter <http://www.monde-diplomatique.de/pm/2010/01/15.mondeText.artikel,a0004.idx,0>.

440 Jannis Panagiotidis

Laut Focus gingen „die Griechen“ kollektiv sechs Jahre früher in Rente als „die Deutschen“, die ihrerseits „fassungslos […] auf die unglaublichen Verhältnis-se auf dem Peloponnes [sic]“ blickten. Weiterhin urteilte der Focus: „Um gute Europäer zu werden, so wie es sich die EU vorstellt, müssten sich die Griechen grundsätzlich ändern.“ Die Chancen dafür stünden jedoch schlecht: „Beste-chung, Korruption und Steuerhinterziehung sind den Griechen offensichtlich in Fleisch und Blut übergegangen.“ Ohne explizit auf den Wortschatz des ro-mantischen Nationalismus zurückzugreifen, werden hier „den Griechen“ einige essentielle Eigenschaften zugeschrieben, die sie außerhalb der Völkerfamilie der „guten Europäer“ stellen.

Noch weiter trieb der Focus-Redakteur und Schriftsteller Michael Klonovsky in seinem Essay mit dem Titel „2.000 Jahre Niedergang“ die Kollektivpolemik gegen Griechenland und „die Griechen“.24 Dabei griff er auf ein klassisches Motiv der deutschen (und auch europäischen) Betrachtung des modernen Griechenland zurück: die Disparität zwischen den Griechen von heute und den fast schon mythisch überhöhten antiken Hellenen von einst.25 Ohne jede kritische Distanz zitierte Klonovsky den Orientalisten Jakob Philipp Fallmerayer aus dem Jahr 1830:

„‚Kein Tropfen des alten Heldenblutes fließt ungemischt in den Adern der jetzigen Neugriechen […] Eure [der Philhellenen] schwärmerische Teilnahme ist verschwen-det an ein entartetes Geschlecht, an die Abkömmlinge jener slawischen Unholde, die im fünften und sechsten Jahrhundert über das byzantinische Reich hereinbrachen und die hellenische Nationalität mit Stumpf und Stiel ausrotteten.‘“

Dieses Zitat hat es in sich. Von den rassistischen Implikationen des Geredes von „ungemischtem Heldenblut“ und „slawischen Unholden“ ganz abgesehen, dürfte es Klonovsky nicht unbekannt gewesen sein, dass der Name Fallmerayer bis heute im griechischen gelehrten und öffentlichen Diskurs ein rotes Tuch ist ob Fallmerayers Infragestellung der Kontinuität von antikem und modernem Griechentum.26 Klonovskys prinzipielle Zustimmung zu dessen Thesen war somit äußerst provokativ – und im Falle seines Urteils, wonach das moderne Griechenland „keinen bedeutenden Dichter, Komponisten, bildenden Künstler oder Philosophen“ besitze, von keinerlei Sachkenntnis getrübt. Zum „Beleg“ seiner und Fallmerayers Thesen scheute Klonovsky auch nicht davor zurück, Oswald Spengler anzuführen:

24 Michael Klonovsky, 2000 Jahre Niedergang, Focus, 22.02.2010, unter <http://www.focus.de/finanzen/news/staatsverschuldung/wirtschaft-2000-jahre-niedergang_aid_482500.html>.

25 Siehe dazu etwa Hans Eideneier, Wo im kulturellen Europa liegt das moderne Griechen-land?, in: Chryssoula Kambas / Marilisa Mitsou (Hgg.), Hellas verstehen. Deutsch-griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert. Köln 2010, 35-50.

26 Gustav Auernheimer, Fallmerayer, Huntington und die Diskussion um die neugriechi-sche Identität, Südosteuropa 47 (1998), 1-17.

441Die Krise ist kein Fußballspiel

„Griechenland scheint das ideale Beispiel zu sein für die Theorie des Geschichts-denkers Oswald Spengler, dass Kulturen Organismen sind, die notwendig einen Lebenszyklus von der Jugend über Blüte und Reifezeit bis zum Verfall durchlaufen. Freilich dauert dieser Abstieg von so beispielloser Höhe inzwischen schon 2.000 Jahre.“

Im restlichen Beitrag führt Klonovsky allerlei Beispiele an von Bereichen, in denen die neuen Griechen nach seinem Dafürhalten ihren antiken Vorfahren nicht das Wasser reichen können.

Diese Form von absurd anmutendem (und in Jules Dassins klassischer Film-komödie „Sonntags nie“ treffend persifliertem) diachronem Vergleich durch den auswärtigen Betrachter steht in einem diskursiven Zusammenhang mit dem vorherrschenden griechischen nationalen Narrativ, wie es im 19. Jahrhundert vom „Nationalhistoriker“ Konstantinos Paparrigopoulos formuliert wurde.27 Paparrigopoulos hatte unter anderem in Auseinandersetzung mit den Thesen Fallmerayers die ungebrochene Kontinuität von antikem Hellas, Byzanz und neuzeitlichem Griechentum postuliert – eine Vorstellung, die bereits zuvor die Philhellenen verschiedener europäischer Staaten für die neugriechische Sache begeistert hatte. In den Worten des Neogräzisten Hans Eideneier:

„Die Ideologie des Philhellenismus war nach Griechenland exportiert und dort gern importiert worden, um eine starke Stütze für den wissenschaftlich begründeten Nachweis einer Kontinuität des Griechentums von der Antike bis heute bilden zu können […] Doch übernahmen sie [die modernen Griechen] damit zugleich eine Ideologie, die ihrem Land und ihrer kulturellen Leistung seit der Antike Hohn sprach.“28

Die Verortung der modernen griechischen Nation fand somit stets im Span-nungsfeld zwischen idealisiertem Fremdbild der auswärtigen Betrachter, idealisiertem Selbstbild des neugriechischen Nationalismus und der Realität Griechenlands als Staat der europäischen Peripherie statt. Nur leicht überspitzt formuliert könnte man sagen, dass der Preis, den das neue Griechenland zahlen musste, um als Teil Europas anerkannt zu werden, der ständige Vergleich mit den alles überstrahlenden antiken Vorfahren war. Klonovskys Essay war somit ein gezielter Angriff sowohl auf das griechische Selbstverständnis als auch auf den Platz Griechenlands in Europa im Allgemeinen.

Neben der oben geschilderten Stereotypisierung „der Griechen“ emotiona-lisierte genau dieses Fischen in den trüben Wassern historischer Untiefen die (notwendige) Debatte um die Eurokrise unnötig und ließ sie ins Polemische abgleiten. Der Vergleich – zwar essayistisch, aber wenig schmeichelhafte Schluss-

27 Konstantinos Paparrigopoulos, Ιστορία του ελληνικού έθνους από των αρχαιοτάτων χρόνων μέχρι των νεωτέρων [Geschichte der griechischen Nation von der Antike bis zur Gegenwart]. 6 Bde. Athen 1860-1877.

28 Eideneier, Kulturelles Europa (wie Anm. 25), 38, 41.

442 Jannis Panagiotidis

folgerungen beinhaltend – mit den vermeintlichen antiken Vorbildern trug nicht zum Verständnis der gegenwärtigen Probleme des EU-Mitgliedsstaates Griechenland bei, sondern führte zur Vergiftung des medialen Klimas. Wie in der Folge zu sehen sein wird, war der Rückgriff auf die (allerdings deutlich jün-gere) Historie in der griechischen Krisenberichterstattung umso ausgeprägter.

„Nazi geht immer“ – Deutschland in griechischen Medien

„Nazi geht immer“ – so betitelte im Februar 2012 Spiegel Online einen Artikel über die griechische Berichterstattung zu Deutschland im Kontext der Krise.29 Diese Überschrift deutet auf einen zentralen Topos hin, der zumindest in Teilen der griechischen Medien verwendet wurde und wird, um die Rolle Deutsch-lands im europäischen Krisenmanagement zu beschreiben, zu interpretieren und in letzter Konsequenz zu diffamieren. Der Rückgriff auf Nazi-Vergleiche und Verweise auf die Weltkriegsvergangenheit inklusive deutscher Besatzung und daraus resultierenden offenen Reparationsforderungen verleihen dieser Interpretation eine historische Dimension, die aufgrund ihrer zeithistorischen Resonanz über Klonovskys Rückgriff auf antike Vergleiche sowie Fallmeray-ers und Spenglers Thesen deutlich hinausreicht. In der deutschen Diskussion standen die gegenwärtigen Verfehlungen „der Griechen“ – wie auch immer erklärt und interpretiert – eindeutig im Mittelpunkt. Natürlich fehlte diese gegenwartsbezogene Dimension auch im griechischen Kontext nicht. Doch lag der Fokus hier weniger auf bestimmten Eigenschaften „der Deutschen“ und mehr auf deren politischen Repräsentanten, insbesondere Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble. Sie galten als die Gesichter des deutschen Feindbildes, das trotz der Beteiligung auch anderer europäischer Staaten – wie z. B. Frankreich – am Krisenmanagement recht exklusiv gepflegt wurde und den Eindruck einer bilateralen Krise verstärkte.

Nachdem Focus im Februar 2010 seine Stinkefinger zeigende Venus von Mi-lo publiziert hatte, ließ eine griechische Reaktion nicht lange auf sich warten. Die traditionell der politischen Rechten zugeordnete Tageszeitung Ελεύθερος Τύπος (Freie Presse) erwiderte das publizistische Feuer am darauffolgenden Tag mit einer Fotomontage der Viktoria auf der Berliner Siegessäule, die ein Hakenkreuz in der Hand hält. Die dazugehörige Überschrift enthält zentrale Begriffe, die einen Teil des (polemischen) Diskurses innerhalb der griechischen Öffentlichkeit prägen sollten: „Die wirtschaftliche Besatzung (κατοχή) des Vierten Reiches breitet sich aus“.30

29 Julia Amalia Heyer / Ferry Batzoglou, Nazi geht immer, Der Spiegel, 27.02.2012, unter <http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-84162374.html>.

30 Εξαπλώνεται η οικονομική κατοχή του 4ου Ράιχ [Die wirtschaftliche Besatzung des Vierten Reiches breitet sich aus], Eleftheros Typos, 23.02.2010.

443Die Krise ist kein Fußballspiel

Der Begriff κατοχή ist einer der Schlüsselbegriffe des griechischen zeithis-torischen Vokabulars. Während das Wort als solches eine militärische Okku-pation im Allgemeinen bezeichnet, ist die Variante mit bestimmtem Artikel – η Κατοχή – eindeutig mit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg verbunden.31 Diese – dank der Arbeiten von Historikern wie Mark Mazower und Hagen Fleischer – bestens dokumentierte Besatzung forderte einen hohen Blutzoll unter der griechischen Bevölkerung durch Massaker der deutschen Wehrmacht an Zivilisten und durch eine dramatische Hungersnot im ersten Besatzungswinter 1941/1942.32 Die Verwendung dieses historisch und emotional hochgradig aufgeladenen Begriffes durch Ελεύθερος Τύπος und andere Medien war somit keineswegs zufällig. Sie verfolgte den eindeutigen Zweck, innerhalb der griechischen Bevölkerung Ängste vor einer wie auch immer gearteten deutschen Intervention in griechische Angelegenheiten zu wecken. Nachhaltig unterstreicht die Verwendung des Begriffs „Viertes Reich“ diese Absicht.

Innerhalb des griechischen Mediendiskurses etablierten sich in der Folge eine Reihe weltkriegsbezogener Topoi, die benutzt wurden, um die Maßnah-men der – nicht exklusiv deutschen – „Besatzer“ der „Troika“, bestehend aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB) und Europäischer Union (EU), zu beschreiben. So identifizierte der Karikaturist Stathis der – inzwischen bankrotten – linken, einst auflagenstarken und seriösen Tageszeitung Ελευθεροτυπία (Pressefreiheit) wiederholt das drohende Elend der verarmenden griechischen Bevölkerung mit dem Leiden von KZ-Häftlingen.33 Der Kolumnist Georgios Delastik der PASOK-nahen Tageszeitung Το Έθνος (Die Nation) prägte den korrespondierenden Begriff des „fiskalischen Dachau“, in das griechische Arbeitnehmer und Rentner eingeschlossen würden.34 Dazu muss man wissen, dass im griechischen Kontext Dachau, und nicht etwa Auschwitz, das Sinnbild für die Schrecken der Nazis ist.35 Die Versuche griechischer Medien

31 Ähnliche Resonanz hat ansonsten nur die Besatzung Nordzyperns durch die türkische Armee. Die dortigen besetzten Gebiete sind allgemein als „τα κατεχόμενα“ bekannt.

32 Mark Mazower, Inside Hitler’s Greece. The Experience of Occupation, 1941-1944. New Haven 1993; Hagen Fleischer, Im Kreuzschatten der Mächte. Griechenland 1941-1944 (Ok-kupation – Resistance – Kollaboration). 2 Bde. Frankfurt a. M. 1986.

33 Elena Panagiotidis, Negativbilder in den Medien – Spiegelbild der Entfremdung zwi-schen Deutschen und Griechen? Unveröffentlichtes Manuskript, 6.

34 Georgios Delastik, Η Ευρώπη μας αδίκησε [Europa hat uns Unrecht getan], To Ethnos, 15.05.2010, unter <http://www.ethnos.gr/article.asp?catid=22792&subid=2&pubid=12108994>.

35 So schreibt etwa die Anthropologin Neni Panourgia: „Dachau was the concentration camp Greeks knew best.“ Siehe Neni Panourgia, Dangerous Citizens: The Greek Left and the Terror of the State, Kapitel 5, unter <http://dangerouscitizens.columbia.edu/1946-1949/dachau/1/>. Dies dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass der Vorsitzende der Griechischen Kommunistischen Partei (KKE), Nikos Zachariadis, und andere politische Ge-fangene während des Zweiten Weltkriegs in Dachau inhaftiert waren. Die Ermordung fast aller Juden Griechenlands in Auschwitz hat im griechischen kollektiven Gedächtnis wesentlich geringere Spuren hinterlassen.

444 Jannis Panagiotidis

(und auch Politiker), die noch immer anhängigen Verfahren der Überlebenden deutscher Massaker in den Ortschaften Distomo und Kommeno sowie das dem griechischen Staat während der Besatzung aufgezwungene Darlehen mit der gegenwärtigen Krise zu verbinden, passen in diesen Diskurszusammenhang.36

Die problematische Kommunikationspolitik deutscher Medien und deutscher Politiker leistete dieser übertreibenden und historisch problematischen Bericht-erstattung Vorschub. Unglücklich war etwa der Vorschlag der Bundesregierung im Januar 2012, einen „Sparkommissar“ (oder, wie ihn der CDU-Fraktionsvor-sitzende Volker Kauder nannte: „Staatskommissar“) in Griechenland einzu-setzen.37 Nicht nur in Griechenland erntete die deutsche Regierung heftigen Widerspruch, und dies brachte die Kanzlerin dazu, eilig zurückzurudern.38 Das Kommunikationsdesaster hatte da freilich schon stattgefunden. Wie Spiegel berichtete, brachte dieser Vorschlag selbst für einen besonnenen Journalisten wie Notis Papadopoulos, den Chefredakteur der linksliberalen Τα Νέα, das Fass zum Überlaufen, da es eindeutige Assoziationen an einen „Gauleiter“ weckte.39 Der – gelinde gesagt – unsensible Umgang mit solchen Vorschlägen von Seiten deutscher Akteure dürfte nicht zuletzt in der vorherrschenden Un-wissenheit über die dunklen Seiten des deutsch-griechischen Verhältnisses im 20. Jahrhundert begründet liegen.40 Es ist natürlich reine Spekulation, ob ein deutscher Politiker es wagen würde, die Einsetzung eines solchen Kommis-sars in Polen oder in der Tschechischen Republik zu empfehlen. Das stärkere historische Bewusstsein für die Auswirkungen der deutschen Besatzung wäh-rend des Zweiten Weltkriegs auf diese Länder würde ein derartiges Ansinnen möglicherweise in die Sphäre des „Unsagbaren“ relegieren. Zumindest käme die Heftigkeit der zu erwartenden Reaktionen nicht so unvermutet, wie sie es offenbar im griechischen Fall war.

Ein bedeutsamer Unterschied zwischen griechischer und deutscher Krisen-berichterstattung liegt in der wesentlich stärkeren Zuspitzung auf einzelne Personen in griechischen Medien, ohne sich auf „die Deutschen“ in ihrer Ge-

36 George N. Tzogopoulos, It’s Germany Stupid! The Greek-German Misunderstanding, in: Almut Möller / Roderick Parkes, Germany as Viewed by Other EU Member States (EPIN Paper, 33/2012), 6-9, 7.

37 Ralph Bollmann / Markus Wehner, Vorschlag der Bundesregierung / Ein Sparkom-missar für Griechenland?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.2012, unter <http://www.faz.net/aktuell/politik/vorschlag-der-bundesregierung-ein-sparkommissar-fuer-griechen-land-11629087.html>.

38 Philipp Wittrock, Debatte um Sparkommissar. Merkel besänftigt aufgebrachte Grie-chen, Spiegel Online, 30.01.2012, unter <http://www.spiegel.de/politik/ausland/debatte-um-sparkommissar-merkel-besaenftigt-aufgebrachte-griechen-a-812226.html>.

39 Heyer / Batzoglou, Nazi geht immer (wie Anm. 29).40 Diese Unwissenheit wurde auch beim „Deutsch-griechischen Mediendialog“ der Süd-

osteuropa-Gesellschaft in München im Juli 2012 betont. Siehe Michael Martens, Und nun zu Griechenland, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.07.2012, 29.

445Die Krise ist kein Fußballspiel

samtheit zu beziehen.41 Ganz oben auf der Liste der Angriffsobjekte steht die Bundeskanzlerin. So schrieb der schon erwähnte Kolumnist Delastik im No-vember 2010, Angela Merkel wolle die EU in ein Dachau verwandeln.42 Sogar ein eigentlich liberaler Kommentator wie Ioannis K. Pretenteris von Τα Νέα bezeichnete Merkel als „deutsche Gouvernante“, deren „strafende Oberleh-rerhaftigkeit“ (τιμωρητικός διδακτισμός) nicht auf ein Land mit elf Millionen Einwohnern anwendbar sei.43 Am deutlichsten wird diese Personalisierung in den Reaktionen von Teilen der Sportpresse vor dem schon erwähnten EM-Viertelfinale Griechenland-Deutschland. Goal News schrieb nicht etwa „Bringt uns die Deutschen!“, sondern – fußballerisch betrachtet völlig unsinnig – „Bringt uns Merkel!“44 Auch der Chef der Task Force der Europäischen Kommission für Griechenland, Horst Reichenbach, wurde etwa in den Karikaturen des schon erwähnten Stathis als Feindbild präsentiert, wobei insbesondere der Bestandteil „Reich“ seines Nachnamens es den auf das „Vierte Reich“ fixierten griechischen Polemikern leicht machte.45 Auf Finanzminister Wolfgang Schäuble gab es die krasseste Attacke ad personam auf Twitter, wo ihn die Journalistin Sofia Dimtsa vom privaten TV-Sender MEGA als „Krüppel“ (σακάτης) diffamierte – eine Bezeichnung, die zustimmend mancher Blog aufgriff, die allerdings auch in-nerhalb der Blogosphäre heftige Kritik auslöste.46

Eine Kontroverse zwischen den Boulevardblättern Δημοκρατία und Bild im Februar 2012 um die Person Wolfgang Schäubles liefert exzellentes Anschau-ungsmaterial, um die Dynamik der diskursiven Mechanismen von Personifi-zierung und Pauschalisierung in der Auseinandersetzung zwischen manchen deutschen und griechischen Boulevardmedien zu verstehen. Am 15. Februar bildete die Δημοκρατία auf ihrer Titelseite Wolfgang Schäuble in Nazi-Uniform ab und titelte: „Oberst Schäuble verbietet jetzt auch die Wahlen“.47 Neben dem Nazi-Vergleich war ebenso wenig die Verwendung der Rangbezeichnung „Oberst“ zufällig, rückte sie Schäuble doch in die Nähe des Obristenregimes, das

41 Panagiotidis, Negativbilder (wie Anm. 33), 7.42 Der Kontext im gegebenen Fall war der deutsche (und französische!) Vorschlag, „Schul-

densündern“ innerhalb der EU das Stimmrecht zu entziehen. Siehe Georgios Delastik, Η Μέρκελ κάνει … Νταχάου την ΕΕ! [Merkel verwandelt die EU in ein Dachau], To Ethnos, 01.11.2010, unter <http://www.ethnos.gr/article.asp?catid=22792&subid=2&pubid=40508969>.

43 I[oannis] K. Pretenteris, Γερμανίδα γκουβερνάντα [Deutsche Gouvernante], Ta Nea, 15.11.2011, unter <http://www.tanea.gr/empisteytika/?aid=4673014>.

44 Goal News, 17.06.2012, unter <http://www.contra.gr/newspapers/Sport/goal_news/goal-news.1819359.html>.

45 Heyer / Batzoglou, Nazi geht immer (wie Anm. 29).46 Unter <http://www.lifo.gr/team/bitsandpieces/28987>; ein Beispiel für zustimmende

Verwendung findet sich unter <http://troktikoblog.blogspot.it/2012/06/blog-post_6605.html>.47 Unter <http://www.cityofpetaloudes.gr/index.php?option=com_content&view=article

&id=7685:ta-protoselida-ton-athinaikon-efimeridon-simera-tetarti-15-fevrouariou-2012&catid=96:efimerides&Itemid=73>; <http://topontiki.gr/article/31302>.

446 Jannis Panagiotidis

Griechenland zwischen 1967 und 1974 diktatorisch regiert hatte. Am 17. Februar antwortete Bild: „Wir zahlen und sie bepöbeln uns – Schmeißt die Griechen end-lich aus dem Euro!“48 Was die Δημοκρατία wiederum dankend aufnahm und am Tag darauf als „Delirium“ und „weiteren Angriff von ‚Bild‘ auf Griechenland“ betitelte.49 Auf eine persönliche Attacke gegen einen deutschen Politiker folgte also der pauschale Aufruf, „die Griechen“ aus dem Euro zu werfen. Und ähnlich wie anlässlich der gegenseitigen Anschuldigungen, das Fußballspiel unnötig zu politisieren, ist sich auch hier keine Seite einer Schuld bewusst: weder Bild, die auch bei anderen Gelegenheiten gekränkt reagierte, wenn es in Griechen-land zu deutschfeindlichen Äußerungen oder Nazivergleichen kam, noch die Δημοκρατία, die scheinheilig den „weiteren Angriff“ von Bild beklagt, ohne die eigene Provokation zu erwähnen.50 Beiderseits gilt das Schulhofprinzip „Er hat aber angefangen!“

Die „FTD-Affäre“

Nach der im Frühjahr 2010 sprunghaft gestiegenen Anzahl von Publikationen über Griechenland in deutschen und internationalen Medien flaute das Inter-esse ab Sommer desselben Jahres wieder deutlich ab.51 Nach Unterzeichnung des sogenannten Memorandums im Mai 2010 verlor auch Bild das Interesse an Griechenland und die Angriffslust, von Publikationen wie der „Geheimakte Griechenland“ im Herbst 2010 abgesehen.52 Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine deutliche Versachlichung und Differenzierung der Berichterstattung über Griechenland zu konstatieren – selbst Bild schenkt inzwischen den sozialen Problemen, die aus dem Sparkurs resultieren, ihre Aufmerksamkeit.53

48 Franz Solms-Laubach, Schmeißt die Griechen endlich aus dem Euro, Bild, 17.02.2012, unter <http://www.bild.de/politik/ausland/griechenland-krise/schmeisst-die-griechen-end-lich-aus-dem-euro-22678402.bild.html>.

49 Alexandra Chydirioti, Παραλήρημα της ‚Bild‘: Διώξτε επιτέλους από το Ευρώ τους Ελληνες [Bild im Delirium: Schmeißt die Griechen endlich aus dem Euro], Dimokratia, 18.02. 2012, unter <http://www.dimokratianews.gr/content/5401/παραλήρημα-της-«Bild»-διώξτε-επιτέλους-από-το- Ευρώ-τους-Ελληνες>.

50 Beispiele gekränkter Reaktionen von Bild über „mangelnde Sensibilität“ griechischer Demonstranten oder Medien finden sich in der Ausgabe vom 21.07.2011. So wird dort be-anstandet, bei einer Demonstration in Griechenland sei ein „Bundesadler mit Hakenkreuz geschändet“ worden, und gefragt: „Es sind einzelne Demonstranten. Aber wissen sie nicht, dass sie die Gefühle von Millionen Deutschen verletzen?“, unter <http://www.bildblog.de/32079/griechische-schaendungsschande/>.

51 Tzogopoulos, Ελληνική κρίση (wie Anm. 12), 13.52 Ebd., 31.53 Panagis Galiatsatos, Γερμανοί και Έλληνες δημοσιογράφοι [Deutsche und griechische

Journalisten], Kathimerini, 11.07.2012, unter <http://news.kathimerini.gr/4dcgi/_w_articles_co-lumns_2_11/07/2012_488586>. Ein Beispiel für die neuerdings differenziertere Haltung von Bild ist z. B. der Beitrag von Lea Fliess, Tacheles-Talk bei „Hart aber fair“ zur Griechen-Kri-

447Die Krise ist kein Fußballspiel

Eine bedeutende Ausnahme zu diesem generellen Trend waren allerdings die medialen Dissonanzen, die im Zusammenhang mit den griechischen Parlaments-wahlen im Mai und Juni 2012 auftraten. Interessanterweise war Unruhestifter diesmal nicht einer der üblichen Verdächtigen von Focus oder Bild, sondern die bis dahin kaum populistisch in Erscheinung getretene Wirtschaftszeitung Financial Times Deutschland (FTD).54 Am 14. Juni, wenige Tage vor den Parla-mentswahlen vom 17. Juni, richtete die FTD einen „offenen Brief“ an die grie-chischen Wähler, in dem diese aufgerufen wurden, „dem Demagogen“ – Alexis Tsipras von der radikalen Linken SYRIZA – zu widerstehen und stattdessen die konservative Nea Dimokratia (ND) unter Antonis Samaras zu wählen, auch wenn diese Empfehlung angesichts der früheren „falschen Politik“ der Partei „nicht leicht“ falle. Trotz Mitverantwortung der ND für die Krise werde das Land „mit einer Koalition unter Antonis Samaras besser fahren als unter Tsipras, der das Rad zurückdrehen will und eine Welt vorgaukelt, die es so nicht gibt“.55

SYRIZA reagierte auf diesen Aufruf heftig. Es trat eine charakteristische Mischung aus antideutscher, antieuropäischer, antiimperialistischer und anti-kapitalistischer Rhetorik zutage, mit der Betonung der nationalen Souveränität des Landes als zentralem Motiv.56 Das Pressebüro der Partei verlautbarte, „diese beispiellos plumpe Intervention der Financial Times Deutschland“ stelle „eine Beleidigung der nationalen Würde und Unterminierung der Demokratie in unserem Lande“ dar. Der SYRIZA-Politiker Vasilis Moulopoulos fügte hinzu, diese Form von „Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates“ erinnere „an andere dunkle Zeiten“ – diesmal weniger eine Anspielung auf die Naziherrschaft als auf die wiederholten Interventionen vor allem der amerikanischen Botschaft in die griechische Nachkriegspolitik. Und weiter:

se. Wahl-Griechin rechnet mit ihren neuen Nachbarn ab, 19.06.2012, unter <http://www.bild.de/politik/inland/hart-aber-fair/tacheles-talk-zur-griechen-krise-24731732.bild.html>. Anders als der reißerische Titel vermuten lässt, gibt der Artikel mit beachtlicher Detailgenauigkeit eine Diskussion in Frank Plasbergs Sendung „Hart aber fair“ wieder, in der die durch die Krise und den Sparkurs verursachten sozialen Ungerechtigkeiten zur Sprache kamen. Nach dem Begriff „Pleite-Griechen“ sucht man hier vergeblich.

54 Bild folgte erst am 15. Juni mit einem offenen Brief: „Liebe Griechen, macht jetzt keinen Fehler“, unter <http://www.bild.de/politik/ausland/griechenland-krise/liebe-griechen-macht-jetzt-keinen-fehler-24686922.bild.html>. Dieser erregte im Schatten der FTD-Intervention allerdings vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Ein in Deutsch verfasster offener Brief der Tageszeitung Τα Νέα an Bild und deren Leser vom 23.06.2012 blieb seinerseits ohne Medienecho in Deutschland.

55 Αντισταθείτε στo δημαγωγό – Widersteht den Demagogen, Financial Times Deutsch-land, 14.06.2012, unter <http://www.ftd.de/politik/europa/:wahlempfehlung-antistatheite-sto-dimagogo-widersteht-den-demagogen/70050480.html>.

56 Β. Μουλόπουλος: Έπεσαν οι μάσκες της Γερμανίας [V. Moulopoulos: Deutschland zeigt sein wahres Gesicht], To Vima, 15.06.2012, unter <http://www.tovima.gr/afieromata/elections2012/article/?aid=462512>.

448 Jannis Panagiotidis

„Die Banker und das europäische Großkapital haben gezeigt, wer ihr Mann in Griechenland ist. So wird endlich die Rolle enthüllt, die die Nea Dimokratia und ihre Partner spielen werden, falls sie die Regierung übernehmen, und wessen Interessen sie dienen werden. Es wird eine Regierung von Siemens, von Bankern, Arbeitgebern, Waffenhändlern, Reedern.“

Zudem ließ sich der Parlamentskandidat Dimitris Papadimoulis dahingehend vernehmen, jetzt fehle nur noch, dass Frau Merkel höchstpersönlich Wahl-kampfmaterial für die ND verteile. „Sie halten das Land für ein Protektorat. Ich erwarte eine Reaktion von Herrn Samaras.“

In der Tat antworteten die Nea Dimokratia und ihr Spitzenkandidat Antonis Samaras umgehend. Aus den Reaktionen geht allerdings hervor, dass sie die FTD-„Empfehlung“ als äußerst kontraproduktiv begriffen. Die Partei teilte offiziell mit:

„Wir Griechen sind ein stolzes Volk. Wir wissen, was wir wählen. Keine Empfeh-lungen, nicht bei uns! Nea Dimokratia ist eine große Partei. Sie schöpft ihre Kraft aus dem Volk. Keine abgekarteten Provokationen vor den Wahlen!“57

Und Samaras selbst ließ verlautbaren, es handle sich„um eine abgekartete Veröffentlichung derjenigen, die sich Griechenland außerhalb des Euro wünschen. Wir spielen dieses Spiel nicht mit. Wir wollen Griechenland in Europa. Es sind Spiele von ausländischen Medien; Empfehlungen und abgekartete Provokationen sollen sie irgendwo anders platzieren, diese Veröffentlichungen helfen Syriza und der Drachmen-Lobby.“58

Der „Unterstützte“ sah sich also genötigt, die Unterstützung aus dem Ausland vehement von sich zu weisen. Angesichts der Stimmung im Lande musste er sie tatsächlich als Angriff auf seine Wahlaussichten verstehen – die Assoziation mit „ausländischen Mächten“ konnte keine positiven Auswirkungen haben. Was im antiimperialistischen Duktus der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts der „Gehilfe der Amerikaner“ (τσιράκι των αμερικανών) war, ist nunmehr der Erfüllungsgehilfe Deutschlands, der EU und der Troika. Welche Implikationen diese Haltung für die Akzeptanz unter Druck durchgeführter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformen haben kann, wird unter anderem im nächsten Abschnitt diskutiert.

57 Unter <http://www.skai.gr/news/politics/article/205702/adidrasi-nd-gia-to-dimosieuma-ton-financial-times-tis-germanias/>; die deutsche Übersetzung findet sich unter <http://www.ftd.de/politik/europa/:reaktionen-auf-die-wahlempfehlung-der-ftd-post-aus-athen/70050941.html>.

58 Unter <http://www.ftd.de/politik/europa/:reaktionen-auf-die-wahlempfehlung-der-ftd-post-aus-athen/70050941.html>. In dieselbe Richtung ging die (auch ebd. zitierte) Interpretation der Tageszeitung Καθημερινή: „Warum sollte nicht diese Veröffentlichung als eine verdeckte Unterstützung von Syriza verstanden werden, so dass die Syriza die meisten Stimmen be-kommt und diejenigen in Deutschland und in Europa, die sich wünschen, Griechenland aus der Euro-Zone zu führen, einen Vorwand haben?“

449Die Krise ist kein Fußballspiel

Folgerungen

Wie aus der bisherigen Analyse hervorgeht, ist die Wahrnehmung, die Be-ziehungen zwischen Deutschland und Griechenland befänden sich in einer Krise, das Resultat eines bestimmten Mediendiskurses, der die Wirtschafts- und Finanzkrise des griechischen Staates als bilaterale Angelegenheit zwischen Deutschland und Griechenland deutet. Hieraus folgt eine bestimmte Sprache, die eher dem Bereich des Sports angehört und das Ziel verfolgt, Identifikation mit nationalen Kollektiven hervorzurufen. Innerhalb dieses Diskurses werden Begriffe und Bilder verwendet sowie Themen angesprochen, die starke Emotio-nen wecken, indem sie sensible Punkte ansprechen: einerseits das Stereotyp des faulen und betrügerischen Südländers, die angebliche Unzulänglichkeit der modernen Griechen gegenüber ihren antiken Vorfahren; andererseits die Weltkriegsvergangenheit, die nationale Souveränität Griechenlands und der europäischen Staaten generell.

Daraus lassen sich mehrere Folgerungen ziehen, die im Folgenden thesenhaft formuliert und erläutert werden:

1. Auch im vorgeblich postnationalen und vereinten Europa sind nationale Stereotype unter der Oberfläche stets vorhanden und abrufbar. Diese mögen überwiegend von Boulevardmedien wie Bild oder Δημοκρατία bedient werden, was sie freilich keineswegs weniger relevant macht. Im Gegenteil erreichen sie auf diese Weise hohen Verbreitungsgrad und potentiell enorme Wirkung, zumal dann, wenn seriöse Medien diese Stereotype ebenfalls bedienen oder sich zu stereotypisierendem Sprachgebrauch hinreißen lassen.

2. Die Eurokrise ist kein Fußballspiel. Sie ist also keine bilaterale Auseinander-setzung (in diesem Fall zwischen Deutschland und Griechenland), bei der nur einer der Beteiligten gewinnen kann. Die „Fußballisierung“ der Krise fand in den Medien statt. Zwar hat der FAZ-Journalist Michael Martens nicht unrecht, wenn er Pauschalurteile von „Medienkritikern“ gegenüber „den Journalisten beider Länder“ zurückweist und eine Herangehensweise kritisiert, die „Grie-chenlands Staatskrise kurzerhand zu einer medialen Darstellungskrise“ umdeu-tet.59 In der Tat ist die Staatskrise kein Problem der medialen Darstellung – die behauptete Krise in den „deutsch-griechischen Beziehungen“ allerdings sehr wohl. Pauschalkritik an „den Journalisten“ mag zu unpräzise sein. Es waren und sind aber nun einmal bestimmte Journalisten und Medien in Deutschland sowie in Griechenland, die sich mit unangemessener Berichterstattung hervor-getan haben. Auf einem anderen Blatt steht, ob sie für die Medienlandschaft beider Länder repräsentativ sind. Fakt ist jedoch: Sie finden Gehör und malen ein womöglich wirkmächtiges Bild der Realität. Vor diesem Hintergrund muss man „Demagogie“ und „Missbrauch der Pressefreiheit“ – derer Altkanzler Hel-

59 Martens, Und nun zu Griechenland (wie Anm. 40).

450 Jannis Panagiotidis

mut Schmidt die Bild bezichtigt hat60 und die auch in Teilen der griechischen Medienlandschaft verbreitet sind – durchaus beunruhigend finden.

3. Das vorliegende Quellenmaterial erlaubt allerdings keine sicheren Rück-schlüsse, in welchem Maß die veröffentlichte Meinung innerhalb des Presse-diskurses der öffentlichen Meinung entspricht und welche kausalen Zusam-menhänge zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung bestehen. Eine kürzlich erschienene Studie des European Policy Institutes Network (EPIN) liefert einige neue Daten zum Ansehen Deutschlands in Griechenland und in den anderen EU-Staaten (bezeichnenderweise steht Griechenland, entgegen seiner eigentlichen politischen Bedeutung oder der alphabetischen Ordnung, an erster Stelle der Länderberichte).61 Basierend auf dem Gallup World Poll stellt das Papier fest, im Jahr 2011 seien ganze 21 % der befragten Griechen mit der Arbeit Deutschlands als europäischer Führungsmacht einverstanden gewesen, während 66 % explizit unzufrieden waren. Das sind die niedrigsten bzw. die höchsten Werte in allen EU-Mitgliedsstaaten. Gegenüber der Zustim-mungsquote von 38 % im Jahr 2006 bedeutet dies einen statistisch signifikanten Rückgang um 17 Prozentpunkte. Damit steht Griechenland im Widerspruch zum allgemeinen europäischen Trend, gemäß dem Deutschlands Führung in den meisten Staaten der EU inzwischen mehr Zustimmung genießt als noch 2006. So ist etwa die Zustimmung in Spanien um 35 Prozentpunkte auf 58 % gestiegen. Generell übertrifft die Rate der Zustimmung zur deutschen Rolle diejenige der Ablehnung.62

Inwiefern diese niedrige Zustimmung in Griechenland entweder auf die Krise als solche oder auf die mit ihr einhergehende Berichterstattung zurückgeführt werden kann, ist jedoch weniger eindeutig, als es scheinen mag. Der Autor der Länderstudie zu Griechenland, George Tzogopoulos, legt nahe, die „Welle der Feindseligkeit“ gegenüber Deutschland sei auf den politischen Diskurs und die Medienberichterstattung zurückzuführen.63 Intuitiv ist dies nachvollzieh-bar, und Tzogopoulos präsentiert weiteres Umfragematerial, das die negative Stimmung gegenüber Deutschland im Allgemeinen und Angela Merkel im Besonderen widerspiegelt.64 Indes ist zu bedenken, dass die Zustimmungsra-

60 Verstehen Sie das, Herr Schmidt? Die Zeit, 26.05.2010, unter <http://www.zeit.de/2010/22/Einfach-Schmidt-diLorenzo/seite-3>.

61 Möller / Parkes (Hgg.), Germany (wie Anm. 36).62 Nicolas Scharioth, Changes in the Image of Germany – 2006 to 2011: Evidence from

the Gallup World Poll, in: Möller / Parkes, Germany (wie Anm. 36), 1-5, 4f. Diese Trends werden auch belegt durch die Studie: European Unity on the Rocks. Greeks and Germans at Polar Opposites, Pew Research Center, 29.05.2012, 35-40, unter <http://www.pewglobal.org/files/2012/05/Pew-Global-Attitudes-Project-European-Crisis-Report-FINAL-FOR-PRINT-May-29-2012.pdf>.

63 Tzogopoulos, It’s Germany Stupid! (wie Anm. 36), 8.64 Ebd.

451Die Krise ist kein Fußballspiel

te von 38 % im Jahr 2006 ebenfalls nicht sonderlich hoch ausfiel, wenngleich zum damaligen Zeitpunkt Griechenland keinesfalls europäisches Schlusslicht war.65 Weiterhin präsentiert dieselbe Studie Gallup-Zahlen, laut denen die Zustimmungsrate der griechischen Befragten zur britischen Politik 2010 bei ebenfalls nur 21 % lag, womit die damalige Prozentzahl für Deutschland (23 %) noch unterboten wurde.66 Dies zeigt, dass in Griechenland die deutsche Politik bereits vor der Krise relativ kritisch gesehen wurde. Zugleich demonstrieren die Vergleichszahlen anderer Länder von 2006, dass auch in Staaten, die sich in keinem medialen Dauergefecht mit Deutschland befunden haben, die Zu-stimmung zur deutschen Führungspolitik extrem niedrig sein konnte (Slowakei 14 %, Malta 23 %, wobei letzterer Wert bis 2011 stabil blieb). Gleiches gilt für die niedrige Zustimmungsrate in Griechenland zur britischen Politik. Folglich wäre es voreilig, auf einen eindeutigen Kausalzusammenhang zwischen Me-dienberichterstattung und öffentlicher Meinung zu schließen. Nur eingehende Studien könnten einen solchen Zusammenhang belegen.

4. Doch auch ohne dessen eindeutigen Nachweis ist von der politischen Wirksamkeit der veröffentlichten Meinung auszugehen. Politische Folgen er-geben sich etwa dann, wenn Politiker beiderseits berücksichtigen müssen, dass ihre Wähler die hier geschilderten Ansichten möglicherweise unterstützen und ihre Wahlentscheidung entsprechend ausrichten. Konkret bedeutet dies: Aus Furcht vor Abstrafung durch Bild lesende (und auch andere) Wähler kann Angela Merkel gegenüber den medial erzeugten faulen, betrügerischen und verschwenderischen „Pleite-Griechen“ nicht nachgeben. Umgekehrt darf ein griechischer Politiker, der eine Wahl gewinnen möchte, gegenüber dem „Vierten Reich“ keine Schwäche zeigen, und er kann sich angesichts der perzipierten Bedrohung der nationalen Souveränität keine Assoziation mit „ausländischen Mächten“ gefallen lassen, wie die Reaktion von Samaras auf die FTD-Wahl-empfehlung beweist. Zudem legen die jüngsten Ausfälle des bayrischen Finanz-ministers Markus Söder (CSU) – der an Griechenland „ein Exempel statuieren“ wollte und „den Griechen“ riet, endlich „bei Mama auszuziehen“ – nahe, dass wenigstens manche deutsche Politiker antigriechische Hetze nach wie vor für eine gewinnbringende Strategie halten.67 Ob unter diesen Umständen die best-

65 Noch niedriger lag 2006 die Zustimmung zur deutschen Politik als Führungsmacht in Schweden, Zypern, Polen, Italien, Portugal, Malta und der Slowakei. Insbesondere die Slowakei ist bemerkenswert, denn die Zustimmung stieg bis 2011 auf 53 %.

66 Scharioth, Changes (wie Anm. 62), 4.67 Söder will an Griechenland ein Exempel statuieren, Süddeutsche Zeitung, 05.08.2012,

unter <http://www.sueddeutsche.de/politik/euro-krise-soeder-will-an-griechenland-ein-exempel-statuieren-1.1432144>. Es sollte allerdings nicht verschwiegen werden, dass Söder für seine Aussagen Kritik auch aus den eigenen Reihen einstecken musste: Empörung über „dummdreisten“ Söder, Handelsblatt, 06.08.2012, unter <http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/griechenland-debatte-empoerung-ueber-dummdreisten-soeder/6965612.html>.

452 Jannis Panagiotidis

mögliche Politik beschlossen wird, ist zumindest fraglich. In jedem Fall können so weder die deutschen Gegner einer allein auf Sparmaßnahmen fokussierten Krisenbekämpfung noch die griechischen Befürworter eines ernsthaften Re-formkurses ausreichend Gehör finden.

5. Die insbesondere in den ersten Monaten der Krise vorherrschende pau-schalisierende Logik nationaler Kollektive hat sich für manche Politiker in entscheidenden Positionen bereits als handlungsleitend erwiesen. IWF-Chefin Christine Lagarde verweigerte in einem Guardian-Interview im Mai 2012 den griechischen Opfern der Krise und der Sparpolitik ihr Mitgefühl, indem sie auf die griechischen Steuerhinterzieher verwies. Die sozialen Folgen für griechi-sche Kinder tat sie mit dem Hinweis ab, die Eltern sollten eben Steuern zahlen, um die Situation zu verbessern. Es zeigt sich, dass es für sie – ähnlich wie für Bild – nur „die Griechen“ gibt, ohne soziale Schattierungen und Abstufungen.68 Man kann berechtigte Zweifel hegen, ob daraus eine zielgerichtete, effektive und – was im Kontext eines Diskurses nach dem Motto „die Griechen müssen sparen“ leicht vergessen wird – sozial gerechte Politik zu erwachsen vermag.

6. Hinsichtlich der langfristigen Auswirkungen der Krisenberichterstattung für Griechenland hat die griechische Journalistin Xenia Kounalaki Bedenkens-wertes geschrieben. In der Καθημερινή vom 31. Mai 2012 konstatierte sie einen „neuen Orientalismus“, den sowohl die „Unterstützer“ Griechenlands (wie Slavoj Žižek und Günter Grass) als auch die „Gegner“ (wie Christine Lagarde) an den Tag legten.69 Wie schon erwähnt, hatte Lagarde den griechischen Krisen-opfern ihr Mitgefühl verweigert und auch mitgeteilt, mehr Mitleid für Kinder im Niger zu empfinden als für die von den Sparmaßnahmen betroffenen Menschen in Athen. Der Philosoph Žižek hingegen hatte zum „Solidaritätstourismus“ mit Griechenland aufgerufen und Günter Grass in einem „mit nachgefüllter Tinte“ (Spiegel Online) geschriebenen Gedicht den Umgang Europas mit der Wiege seiner Kultur gegeißelt.70 Kounalaki sah hier zwei Seiten derselben Medaille eines neuen europäischen Orientalismus gegenüber Griechenland:

„Beide Seiten nehmen Zuflucht in die Reproduktion von Verallgemeinerungen und Stereotypen, die uns entweder schmeicheln oder uns die Peitsche geben. Mit

68 Decca Aitkenhead, Christine Lagarde: Can the Head of the IMF Save the Euro?, The Guardian, 25.05.2012, unter <http://www.guardian.co.uk/world/2012/may/25/christine-lagarde-imf-euro>.

69 Xenia Kounalaki, Ο νέος οριενταλισμός [Der neue Orientalismus], Kathimerini, 31.05.2012, unter <http://news.kathimerini.gr/4dcgi/_w_articles_columns_2_31/05/2012_483903>.

70 Günter Grass, Europas Schande, Süddeutsche Zeitung, 25.05.2012, unter <http://www.sueddeutsche.de/kultur/gedicht-von-guenter-grass-zur-griechenland-krise-europas-schan-de-1.1366941>; Grass dichtet über Griechenland. Mit nachgefüllter Tinte, Spiegel Online, 25.05.2012, unter <http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/guenter-grass-dichtet-ueber-griechenland-a-835371.html>; Save us from the Saviours. Slavoj Žižek on Europe and the Greeks, London Review of Books 34 (07.06.2012), No. 11, unter <http://www.lrb.co.uk/v34/n11/slavoj-zizek/save-us-from-the-saviours>.

453Die Krise ist kein Fußballspiel

einem neokolonialistischen Blick betrachtet uns Europa nun wieder als exotisches und unverständliches Land, als ideales […] Reiseziel oder als widerspenstigen Dritte-Welt-Slum. Diese Herangehensweise bringt uns automatisch in einen Ge-gensatz zu Europa.“

Die Autorin beschreibt ein existenzielles Problem des griechischen Staates in der Krise. Das Postulat der gleichwertigen Zugehörigkeit zu Europa und zum Westen, das der frühere Ministerpräsident Konstantinos Karamanlis (der Ältere) mit seinem programmatischen Ausspruch „Wir gehören zum Westen“ (Ανήκομεν εις την Δύσιν) zum Ausdruck gebracht hat, ist in Frage gestellt.71 Griechenland wird (wieder) zu einem Teil des „Orients“ und damit für den „Westen“ verzichtbar. Gemäß orientalistischer Logik bedeutet dies auch, dass alle jene positiven Eigenschaften, die „den Griechen“ in der deutschen und in der europäischen Imagination zugeschrieben wurden, sich nun ins Negative wenden. „Zorbas der Grieche“ ist ein faszinierender Lebemann und ein toller Tänzer, aber eben auch ein Faulpelz und Schwindler, in den Worten von Eber-hard Rondholz ein „Taugenichts“, der einst ein „zivilisationsmüdes Publikum“ faszinierte.72 Sobald in der Wahrnehmung dieses Publikums die negativen Seiten des Stereotyps überwiegen, steht Griechenland vor einem massiven Imageproblem. Dieser Punkt mag erreicht sein.73

Darüber hinaus sieht Kounalaki den unheilvollen Zusammenhang zwischen neuem westlichem Orientalismus und dem Erhalt des Status quo in Griechen-land:

„[Die orientalistische Herangehensweise] hilft uns nicht dabei, uns zu ändern, denn grundsätzlich beruhigt sie unsere existentiellen Ängste und reproduziert die Mytho-logie von der bruderlosen Nation und vom auserwählten Volk. Einerseits sind wir von Žižek und Grass gerührt, andererseits entrüsten wir uns über Lagarde. Aber keiner von ihnen gibt uns zu denken. Und so werden die realistische Einschätzung der Lage und die Selbstkritik auf unbestimmte Zeit hinaus verschoben.“

71 Dieser Satz wurde zur ideologischen Grundlage der europäischen Integration Grie-chenlands nach dem Sturz der Militärdiktatur 1974. Im Kontext der gegenwärtigen Krise wurde dieses „Dogma“ u. a. vom SYRIZA-Vorsitzenden Alexis Tsipras als „überholt“ und „gefährlich“ kritisiert. Siehe Τσίπρας: „Επικίνδυνο το δόγμα ανήκομεν εις τη Δύση“ [Tsi-pras: „Das Wir-gehören-zum-Westen-Dogma ist gefährlich“], Proto Thema, 06.02.2012, unter <http://www.protothema.gr/politics/article/?aid=175325>.

72 Eberhard Rondholz, Griechenland. Ein Länderporträt. Berlin 2011, 30.73 Hierzu liefert European Unity on the Rocks (wie Anm. 62) interessantes Zahlenmaterial.

Laut dieser Studie ist Griechenland bei den befragten Europäern das unpopulärste Land Eu-ropas. In keinem Land außer Griechenland selbst äußerte sich eine Mehrzahl der Befragten positiv über Griechenland. Demnach sind es nur 27 % in Deutschland (S. 35). Zudem glauben 60 % der Deutschen, unter den Europäern arbeiteten die Griechen am wenigsten hart (S. 39). In allen befragten Ländern (außer in Griechenland selbst) wird nur Italien als noch korrupter wahrgenommen als Griechenland.

454 Jannis Panagiotidis

Zu diesem letzten Punkt passen auch die Überlegungen des Regisseurs und Schauspielers Vasilis Papavasileiou in dem (leider nur in griechischer Sprache vorliegenden) Essayband „Unter Null“ (Υπό το μηδέν). In seiner scharfzüngi-gen Analyse des modernen griechischen politischen Vokabulars lässt er sich unter anderem über den Begriff der „nationalen Angelegenheit“ (εθνικό θέμα) aus, einen Begriff, der üblicherweise wichtigen – aber prinzipiell unlösbaren – außenpolitischen Themen vorbehalten ist. Nach Papavasileiou lässt sich mit der Bezeichnung einer Angelegenheit als „national“ unter anderem erreichen, dass man sich niemals ernsthaft damit befassen muss. Die Verwandlung „au-ßenpolitischer Themen“ in „nationale Angelegenheiten“ sei verbunden mit „der Kultivierung eines Gefühls der Selbstviktimisierung einer Gesellschaft mit allen dazugehörigen Angstsyndromen“.74 Die Krise scheint, wie etwa die mazedonische Namensfrage, längst eine „nationale Angelegenheit“ zu sein. Diese Aussicht stimmt nicht optimistisch.

74 Vasilis Papavasileiou, Εθνικά ψευδώνυμα. Απόσπασμα από ένα ΛΕΞΙΚΟ [Natio-nale Pseudonyme: Zitat aus einem WÖRTERBUCH], in: Takis Theodoropoulos u. a., Υπό το μηδέν: Τέσσερα σχόλια για την κρίση [Unter Null. Vier Kommentare zur Krise]. Athen 2010, 265-276, 275.