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Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Zum Forschungsstand (13) — Vergleichsperspektive der Untersuchung: Eine Faktorenanalyse der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Außenla- gern (16) — Praxeologische Rahmung der Studie (18) — Gewalt als Un- tersuchungsgegenstand (21) — Tätertypen und Täterbilder (23) — Die Beteiligung von Industrie, Bürokratie und Wehrmacht am Einsatz der KZ- Häftlinge in der deutschen Kriegswirtschaft (25) — Häftlingszwangsge- sellschaft und Überlebenstechniken (26) — Quellen (27) — Überleben- denberichte und -interviews (30) — Zum Aufbau der Studie (33) I. Die Sklavenarbeit der KZ-Häftlinge für die deutsche Kriegswirtschaft 35 Arbeit in den Konzentrationslagern bis zur Kriegswende vor Moskau im Win- ter 1941/42 (35) — Die Umstellung der Kriegswirtschaft und die neuen Herren der Zwangsarbeit (Februar-September 1942) (36) — Die Rich- tungsentscheidung im September 1942 und ihre Folgen (September 1942 – Juli 1943) (39) — Der Beginn der Untertageverlagerung: Das Außenlager Mittelbau-Dora (August 1943 – Februar 1944) (42) — Die letzten, verzwei- felten Rüstungsanstrengungen (Frühjahr 1944 bis Herbst 1944) (45) — Letz- te Versuche zur Aufrechterhaltung der KZ-Rüstungsproduktion (Herbst 1944 – Kriegsende) (51) — Fazit: Vernichtung durch Arbeit? (53) II Gewalt und Ökonomie – Die Kooperation zwischen SS, Unternehmen, Bürokratie und Wehrmacht beim Häftlingsverleih 55 Erste Außenlager und Kooperationsversuche in Norddeutschland (55) — Der Beginn des Häftlingseinsatzes in der Rüstungsindustrie (Januar bis Sep- tember 1942) (57) — Die Verstetigung und Bürokratisierung des Häft- lingseinsatzes (September 1942 – Juli 1943) (65) — Die Operation Gomor- rha und der Einsatz von KZ-Häftlingen (Juli 1943 – März 1944) (74) — Das letzte Aufgebot: Der Häftlingseinsatz an den Brennpunkten der deutschen Kriegswirtschaft (März-Oktober 1944) (76) — Agonie der Kriegswirtschaft Massenmord an den KZ-Häftlingen (Oktober 1944 bis Kriegsende) (99) — Fazit: Die SS als gern gesehener Juniorpartner (102)

Arbeit & Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, Göttingen 2009

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Zum Forschungsstand (13) — Vergleichsperspektive der Untersuchung: Eine Faktorenanalyse der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Außenla-gern (16) — Praxeologische Rahmung der Studie (18) — Gewalt als Un-tersuchungsgegenstand (21) — Tätertypen und Täterbilder (23) — Die Beteiligung von Industrie, Bürokratie und Wehrmacht am Einsatz der KZ-Häftlinge in der deutschen Kriegswirtschaft (25) — Häftlingszwangsge-sellschaft und Überlebenstechniken (26) — Quellen (27) — Überleben-denberichte und -interviews (30) — Zum Aufbau der Studie (33)

I. Die Sklavenarbeit der KZ-Häftlinge für die deutsche Kriegswirtschaft 35

Arbeit in den Konzentrationslagern bis zur Kriegswende vor Moskau im Win-ter 1941/42 (35) — Die Umstellung der Kriegswirtschaft und die neuen Herren der Zwangsarbeit (Februar-September 1942) (36) — Die Rich-tungsentscheidung im September 1942 und ihre Folgen (September 1942 – Juli 1943) (39) — Der Beginn der Untertageverlagerung: Das Außenlager Mittelbau-Dora (August 1943 – Februar 1944) (42) — Die letzten, verzwei-felten Rüstungsanstrengungen (Frühjahr 1944 bis Herbst 1944) (45) — Letz-te Versuche zur Aufrechterhaltung der KZ-Rüstungsproduktion (Herbst 1944 – Kriegsende) (51) — Fazit: Vernichtung durch Arbeit? (53)

II Gewalt und Ökonomie – Die Kooperation zwischen SS, Unternehmen, Bürokratie und Wehrmacht beim Häftlingsverleih 55

Erste Außenlager und Kooperationsversuche in Norddeutschland (55) — Der Beginn des Häftlingseinsatzes in der Rüstungsindustrie (Januar bis Sep-tember 1942) (57) — Die Verstetigung und Bürokratisierung des Häft-lingseinsatzes (September 1942 – Juli 1943) (65) — Die Operation Gomor-rha und der Einsatz von KZ-Häftlingen (Juli 1943 – März 1944) (74) — Das letzte Aufgebot: Der Häftlingseinsatz an den Brennpunkten der deutschen Kriegswirtschaft (März-Oktober 1944) (76) — Agonie der Kriegswirtschaft Massenmord an den KZ-Häftlingen (Oktober 1944 bis Kriegsende) (99) — Fazit: Die SS als gern gesehener Juniorpartner (102)

III. Verwaltungsaufbau und Versorgungsstrukturen der KZ-Außenlager 105

Die Verwaltungsstrukturen des Hauptlagers (106) — Die Sozialstruktur des Kommandanturstabes (116) — Die Bedeutung des Hauptlagers für die Außenlager (117) — Die generelle Situation in den Außenlagern (130) — Fazit: Persönliche Macht und Unterversorgung (165)

IV Bilder des Grauens? Fotografien und Zeichnungen zu Neuengammer Außenlagern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Fotografien und NS-Forschung (169) — Fotografien und Filme als Quel-len (170) — Filme und Fotografien vom Bau eines U-Boot-Bunkers in Bremen-Farge (172) — Filme von der Baustelle (173) — Fotografien von der Baustelle (174) — Fotografien aus dem Außenlager (177) — Bil-der alliierter Soldaten von befreiten Lagern (180) — Zeichnungen, Gra-fiken und Aquarelle von Häftlingen (182) — Fazit: Unüberbrückbare Dif-ferenzen (196)

V Ein Vergleich – Die Außenlager des KZ Neuengamme . . . . . . . 199

Die häufigsten Todesursachen (200) — Die »unnatürlichen« Todesfälle in den Außenlagern (203) — Die Datenbasis: Das elektronische Totenbuch der KZ-Gedenkstätte Neuengamme (204) — Sterblichkeitsraten im Haupt- und in den Außenlagern (206) — Die zentralen Vergleichskatego-rien: Arbeit, Geschlecht und Außenlagergröße (213) — Die Sklavenarbeit der Häftlinge (218)

Die Bauaußenlager. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226Preispolitik, Kosten und Löhne beim Häftlingseinsatz in der Bauwirt-schaft (227) — Die Hochbau-Außenlager (234) — Arbeitssituation en (234) — Der Vergleich zweier Hochbau-Außenlager: Bremen-Farge und Fallersleben (238) — Primat des Rassismus? (244) — Außenlager bei militärischen Schanzarbeiten (246) — Das Außenlager Husum: »Hier wird das Leben ausgerottet« (247) — Das Außenlager Meppen-Versen: Der Tod im Emsland (252) — Untertagebau-Außenlager (255) — Das Außen-lager Helmstedt-Beendorf: Gründe für die niedrige Sterblichkeit im Unter-tagebau (258) — Das Außenlager Hannover-Ahlem: Untertagebau durch jüdische Häftlinge (264) — Trümmerbeseitigungs-Außenlager (268) — Die drei großen Hamburger Trümmerbeseitigungs-Außenlager (270) — Bauaußenlager mit weiblichen Häftlingen (274) — Ein Vergleich zwischen den Männer- und Frauenbauaußenlagern in Hamburg (276)

Die Produktionsaußenlager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283KZ-Häftlinge bei der Sklavenarbeit auf Werften (284) — Das Außenlager bei Blohm & Voss (287) — Das Außenlager bei der Kriegsmarinewerft in Wilhelmshaven (289) — Bremen-Schützenhof: Das lebensbedrohlichste Werftaußenlager (292) — Die anderen Produktionsaußenlager (296) — Schwerstarbeit im Vorzeigewerk des NS-Staates: KZ-Häftlinge bei den Her-mann-Göring-Werken in Salzgitter (298) — Arbeit für den Quandt-Kon-zern: Das Außenlager in Hannover-Stöcken bei den Akkumulatoren-Wer-ken (307) — Produktionslager mit männlichen jüdischen Häftlin-gen (312) — Jüdische KZ-Häftlinge in der Lastwagenproduktion (313) — Weibliche Häftlinge in Produktionsaußenlagern (317) — Der Einsatz in der modernen Fließproduktion von Gasmasken: Hannover-Limmer (318) — Das zweitgrößte Frauenaußenlager Neuengammes: Jüdische Häftlinge in der Munitionsproduktion in Salzwedel (322)

Fazit: Sterblichkeitsraten und Hierarchien in den Außenlagern . . . 328

VI Täter und Taten: Gewalt und Handlungsoptionen in den KZ-Außenlagern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Taten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340Gewaltsituationen und auslösende Momente (340) — Gewalt-formen (344) — Zusammenfassung: Körperliche Gewalt in den KZ-Au-ßenlagern (383)

Täter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386Täterbilder und Täterforschung (386) — Ideologie und Praxis der SS (390) — Waffen-SS und Konzentrationslager-SS (391) — Die Zu-sammensetzung des Personals in den Außenlagern (392) — Die reichsdeut-schen SS-Männer (395) — Die Stützpunktleiter: Ein Neuengammer Spezi-fikum? (396) — Ein Matrose im steten Aufstieg in der SS: Karl Wiede-mann (399) — Der junge Karrierist und Schläger: Arnold Strip-pel (403) — Die kleinen Kommandanten: Die Lagerführer (407) — Die alte SS – Gewalt und Selbstbereicherung: Hans Hermann Griem (408) — Die neue Generation der SS? Ein deklassierter Kaufmann: Gerhard Poppenha-gen (410) — Die Frau an seiner Seite (416) — Die Schrecken der großen Männeraußenlager: Die Rapportführer (416) — Der sadistische Landwirt: Anton Brunken (417) — »Einfache« SS-Männer: SS-Unteroffiziere und Mannschaftsdienstgrade (419) — Volksdeutsche SS-Männer (422) — Ein volksdeutscher Gewalttäter: Josef Klingler (428) — Wehrmachtsange-hörige (430) — Zwei Hauptmänner als Lagerführer: Otto Freyer und

Bernhard Waldmann (437) — Der Schläger vom Heer: Hans Fie-kers (441) — Briefe von Soldaten im KZ-Einsatz (442) — Polizisten, Zöllner und andere Dienstverpflichtete (447) — Ein Polizeireservist als Fluchthelfer (455) — Ein Volkssturmmann als Schrecken der Häft-linge (456) — Ausländische SS-Männer (457) — Ein dänischer KZ- Bewacher: Gustav Alfred Jepsen (458) — Weibliche KZ-Aufseherin nen (460) — Kommandoführerin in Bremen: Gertrud Heise (468) — Zwi-schen Autoritätshörigkeit und bisexueller Liebe: Anneliese Kohl-mann (469) — Die Offiziere und Unteroffiziere der Produktion: Direk-toren, Meister und Vorarbeiter (473) — Firmenleiter und Professor ohne Mitleid: Solms Wilhelm Wittig (475) — Marineoberbaudirektor Hans Horstmann: »Falsches Mitleid wäre nicht am Platz« (475) — Ein prügeln-der Ingenieur: Walter Mehnert (477)

Fazit: Die Täter in den Außenlagern des KZ Neuengamme . . . . . 479

VII Die Häftlingszwangsgesellschaft in den Außenlagern – Kollektive und individuelle Überlebensversuche . . . . . . . . . . . . . . . . 485

Die Häftlingszwangsgesellschaft (487) — Hunger als zentrale Empfin-dung (490) — Die Spaltung der Häftlingszwangsgesellschaft in Grup-pen (499) — Moral in den Konzentrationslagern (506) — Geschlechter-differenzen im Konzentrationslager (508) — Geschlechtsspezifische As-pekte der KZ-Haft (509) — Geschlechterdifferente Moral? (511) — Ge-schlechtspezifische, sozialisationsbedingte Dispositionen (513) — Weib-liches und männliches Gruppenverhalten? (515) — Funktionshäft-linge (518)

Wer wird Zeitzeuge? Berichte und Interviews von und mit Überlebenden der Außenlager des KZ Neuengamme . . . . . . . . 534Individuelles Durchschlagen mit partieller Unterstützung: Raymond Porte-faix (537) — Vernetztes Überleben: David Rousset (546) — Überleben in einer Gruppe erfahrener polnischer Häftlinge: Wieslaw Kielar (559) — »Eine Gazelle im Löwenrudel«: Benjamin Sieradzki (566) — Überleben in der Akku-Fabrik: Aleksej Andrejewitsch Schulga (571) — Überleben trotz Trauer um den Verlust der Mutter: Lilly Kertesz (575) — »Es darf nicht vergessen werden« – Überleben in der Zimmergemeinschaft:Hédi Fried (582) — Widerstand im Produktionslager: Stéphanie Kuder (591)

Fazit: Überlebenstechniken, Geschlechterdifferenzen und Moral in den KZ-Außenlagern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597Techniken des Überlebens (598) — Geschlechterdifferenzen (601) — Nationale Positionskämpfe der männlichen Häftlinge (603)

VIII KZ-Außenlager und die deutsche Bevölkerung . . . . . . . . . . 605

Forschungsstand und Fragestellungen (607) — Politische Einstellung und Verhalten der Bevölkerung in Bremen-Nord (610) — Nutznießer und Pro-fiteure (611) — Reaktionen der Bevölkerung auf die Häft-linge (612) — Hatz auf Flüchtige (613) — Nicht-Orte und Grenzver-schiebungen (614) — Übergriffe und Hilfeleistungen an anderen Or-ten (615) — Kontakte und Strafen am Arbeitsplatz (617) — Politische Einstellung und Verhalten gegenüber Häftlingen (618) — Die Bevölke-rung in besetzten Ländern (619) — Hilfe durch Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in Deutschland (621) — Fazit: Volksgemeinschaft und KZ-Häftlinge (622)

IX Die Räumung des KZ-Komplexes Neuengamme . . . . . . . . . . 625

Evakuierung und Todesmärsche – Forschungsperspektiven (625) — Erste Evakuierungspläne (626) — Die Rolle der Rüstungsindustrie und der Stadtverwaltungen (628) — Der Ablauf der Evakuierung des KZ Neuen-gamme und seiner Außenlager (634) — Die Fußmärsche (638) — Die Bahntransporte (641) — Die Auffanglager (647) — Die Massa-ker (650) — Die Tragödie der KZ-Schiffe (653) — Die Rettungsakti-onen (654) — Fazit: Weißwaschung durch Abschiebung – Die Hansestäd-te Hamburg und Bremen als Profiteure der Evakuierungstransporte (655)

X Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658

Die Regulation des Todes: Zentrale Steuerung und lokale Dyna-miken (659) — Häftlingszwangsgesellschaft (664) — Die Heterogenität der Täter (666) — Die neue herrschende Klasse? Hamburg als ein Fall be-sonders weitreichender Kooperation zwischen den lokalen Wirtschaftsreprä-sentanten und den Vertretern der Nazi-Partei (671)

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677

Dienstgrade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679

Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679

Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680

Gedruckte Erinnerungsberichte zu den Außenlagern des KZ Neuengamme (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686

Dokumenteneditionen, Hilfsmittel, Ausstellungskataloge und Sammlungen von Zeitzeugenberichten . . . . . . . . . . . . . . . . . 688

Ausgewählte Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690

Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxx

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Einleitung

»500 ausländische weibliche KZ-Häftlinge, politische und kriminelle. Bara-ckenlager anschliessend, 11 Mann Bewachung, 17.000 m Stacheldraht, 380 Volt, Fühldraht. […] Die deutschen Vorarbeiter sollen durch Vorarbeiter aus den Häftlingen ersetzt werden, da diese rigoroser durchgreifen. Arbeitsleis-tung sehr zufriedenstellend. Ausbringung grösser als mit etwa gleicher Zahl deutscher Arbeiter, weil Arbeitszeit länger und weniger Fehlzeiten. […] Be-zugsmöglichkeiten und Quellen für Rundeisen, Stacheldraht usw. geben uns die Herren gerne auf. Die Herren meinen, dass die Bedingungen schärfer klingen als sie gehandhabt werden.«1

Hamburg, Sommer 1944. Die Rüstungswirtschaft der Hansestadt hatte sich ge-rade vom verheerenden Luftangriff Operation »Gomorrha« erholt und setzte an, ihren Geräteausstoß für die deutsche Kriegswirtschaft und den »Endkampf« ein letztes Mal in die Höhe zu treiben. Eine wichtige Rolle bei der erwünschten Produktionssteigerung sollten tausende KZ-Häftlinge spielen, deren Überstel-lung aus dem KZ Auschwitz nach Hamburg als beschlossene Sache galt. In die-ser Situation ließen sich Rudolf Blohm und wichtige Mitarbeiter seiner Werft, die eine der beiden bedeutendsten privaten deutschen Kriegswerften war, von den Betriebsdirektoren der Dräger-Werke – einem der beiden reichsweit wich-tigsten Gasmaskenproduzenten – über die Erfahrungen mit dem Einsatz von KZ-Häftlingen bei einer Besichtigung des KZ-Außenlagers auf dem Gelände der Drägerwerke in Hamburg-Wandsbek aufklären. Die Konzernherren äußerten sich positiv über die Arbeitsleistung der Häftlinge. Neben der beruhigenden Be-merkung, »dass die Bedingungen schärfer klingen als sie gehandhabt werden«, zeigte die Besichtigung aber auch, dass die Konfrontation der Unternehmer und der SS mit den KZ-Arbeitskräften auf Leben und Tod ging: Der das Lager um-schließende Zaun enthielt eine tödliche Ladung Strom. Eine Flucht wurde mit allen Mitteln verhindert, die Alternative für die Häftlinge lautete: Arbeit oder Tod.

Ob es diese Alternative überhaupt gab oder ob es nicht Arbeit und Tod heißen muss, beschäftigt die Forschung zu den Konzentrationslagern seit ihren Anfän-gen. Bereits in den ersten Nachkriegsprozessen nutzten alliierte Ankläger die zeitgenössische nationalsozialistische Formel der »Vernichtung durch Arbeit«, um dem Gericht den kriminellen Charakter des KZ-Systems sui generis zu be-weisen. Diese Strategie wurde insbesondere bedeutsam, wenn den Angeklagten

1 Aufzeichnung eines Mitarbeiters von Blohm & Voß vom Besuch bei den Drägerwerken vom 29.8.1944, in: StAHH, 621-1 Blohm & Voß 23, Band 17. Am Rand des Dokuments befinden sich handschriftliche Bemerkungen des Werfteigentümers Rudolf Blohm, die zeigen, dass er bei der Besichtigung zugegen war.

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keine konkreten kriminellen Handlungen nachgewiesen werden konnten. Vor allem die Verteidiger von angeklagten deutschen Industriellen, die KZ-Häftlinge eingesetzt hatten, argumentierten, diese hätten die Häftlinge durch den Einsatz vor dem sicheren Tod gerettet. So unzutreffend dies war, so unzweifelhaft ist, dass die Rechtsprechung im Fall von Industriellen mit anderen Problemen kon-frontiert ist als bei der direkten Gewalttätern aus den Konzentrationslagern. Dieses zuerst in der juristischen Praxis festzustellende Problem, zwischen Tatbe-teiligung und eigenhändiger Tat zu unterscheiden, stellt die Geschichtswissen-schaft vor die Aufgabe, den Grad der Beteiligung und die Mittäterschaft bei Verbrechen mit genuin historischen Begrifflichkeiten zu beschreiben

Während in der Forschung heute unumstritten ist, dass es kein handlungslei-tendes Motiv von Unternehmern war, KZ-Häftlinge zu retten, werden andere Fragen des Themenkomplexes nach wie vor kontrovers diskutiert: War das Prin-zip »Vernichtung durch Arbeit« für den gesamten Häftlingsarbeitseinsatz prä-gend, oder hing die Situation der Häftlinge bei den Arbeitseinsätzen vielmehr von zufälligen und lokalen Faktoren ab? Waren die Motive der SS und der Un-ternehmer diametral entgegengesetzt, oder gab es Interessenübereinstimmun-gen? Sind die Motive mit den Eckpunkten Vernichtung und Arbeit treffend beschrieben?

Thema der Arbeit ist die Untersuchung des Einsatzes von KZ-Häftlingen in der deutschen Kriegswirtschaft am Beispiel des Außenlagersystems des KZ Neu-engamme. Bis Kriegsende gehörten 85 Außenlager zum KZ-Komplex Neuen-gamme, die in ganz Norddeutschland bei zumeist rüstungswichtigen Projekten errichtet worden waren. Das KZ Neuengamme spielte schon bei den ersten Ver-suchen, Häftlinge in der Rüstungswirtschaft einzusetzen, eine wichtige Rolle. Eines der Vorzeigeprojekte, das selbständige Konzentrationslager Arbeitsdorf beim VW-Werk in Fallersleben, war eng mit dem Hauptlager Neuengamme verknüpft. Die Außenlager in Wittenberge und Salzgitter-Drütte gehörten zu den reichsweit ersten Lagern, die auf Firmengeländen entstanden. Das KZ Neu-engamme war auch eines der ersten Lager, welches mobile Baubrigaden für Auf-räumarbeiten in bombengeschädigten deutschen Großstädten stellte. 1944 ver-stärkte sich der Wunsch deutscher Firmen und Behörden, die Arbeitskraft der KZ-Häftlinge einzusetzen, da mit dem Rückzug der Wehrmacht aus den besetz-ten Gebieten der Nachschub an zivilen Zwangsarbeitern ausblieb. Vom Haupt-lager Neuengamme spannte sich inzwischen ein fast flächendeckendes Netz von Außenlagern über Norddeutschland aus. Das Hauptlager wurde zur Drehscheibe für die Auswahl und den Transport der Arbeitsfähigen und zum Kranken- und Sterbelager für die von der Arbeit ausgemergelten Häftlinge. Von den 50.000 Häftlingen, die sich 1944 im Komplex2 Neuengamme befanden, waren etwa

2 Die Begriffe Komplex und Kosmos werden im Folgenden verwendet, wenn das Haupt-lager und seine Außenlager bezeichnet werden sollen.

Einleitung

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40.000 – darunter 13.000 weibliche Häftlinge – in den Außenlagern unterge-bracht und zur Arbeit eingesetzt.

Zum Forschungsstand

Während die unterschiedlichen Entwicklungsphasen der Hauptlager inzwischen gut erforscht sind, steht eine systematische Erfassung des ab 1942 rasch expan-dierenden Außenlagersystems der KZ noch aus. In diesem Zusammenhang wie-sen bereits Karin Orth und Michael Zimmermann zu Recht darauf hin, dass die Entwicklung einer Typologie der Außenlager eines der zentralen Desiderata der Konzentrationslagerforschung darstellt.3

Die historische Aufarbeitung des Geschehens in den KZ-Außenlagern setzte in der Bundesrepublik noch später ein als die ebenfalls lange Jahre vernach-lässigte Erforschung der KZ-Hauptlager. Bis zu Beginn der achtziger Jahre be-schäftigten sich in der Bundesrepublik lediglich die Organisationen ehemaliger KZ-Häftlinge, die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, Bundesent-schädigungsstellen und der Internationale Suchdienst des Internationalen Ko-mitees des Roten Kreuzes mit den KZ-Außenlagern. Publiziert wurden gesam-melte Informationen, die für die meisten Außenlager nicht mehr als fünf bis zehn Zeilen Basisinformationen enthalten.4 Diese waren bis vor kurzem für viele der kleineren Außenlager die alleinige und oft fehlerbehaftete Informations-quelle. Erst durch das Enzyklopädie-Projekt des Zentrums für Antisemitismus-forschung (Berlin), welches 2009 zum Abschluss kommt, wird sich dieser Zu-stand grundlegend ändern.5

Das über viele Jahre kaum vorhandene Interesse am Phänomen der KZ-Skla-venarbeit erwachte in der Bundesrepublik erst zu Beginn der 1980er Jahre.6 Die

3 Orth, System, S. 239; Zimmermann, Arbeit in den Konzentrationslagern, S. 733.4 ITS [International Tracing Service] (Hg.), Vorläufiges Verzeichnis; Weinmann (Hg.),

Das nationalsozialistische Lagersystem. Des Weiteren die Listen in: Bundesgesetzblatt 2.3.1967, 24.9.1977 und 3.12.1982.

5 Von dem Projekt sind bislang die ersten sieben Bände erschienen: Wolfgang Benz/Bar-bara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors, Bd. 1-7 (im Folgenden: Der Ort des Terrors). Der erste Band des Projekts des US Holocaust Memorial Museum »Encyclopedia of Camps and Ghettos«, der auch Beiträge zu KZ-Außenlagern enthält, ist gerade erschie-nen, konnte aber nicht mehr berücksichtigt werden.

6 Wysocki, Zwangsarbeit im Stahlkonzern; ders., Arbeit für den Krieg; Fröbe et al., Kon-zentrationslager in Hannover. Die ersten beiden Studien, welche die Außenlager als zentralen Untersuchungsgegenstand behandelten, waren zwei Dissertationen in der DDR. Diese ›Pionierstudien‹ sind auch heute noch relevant, da in ihnen die Bedeutung der Außenlager für die deutsche Rüstungswirtschaft erstmalig eingehend diskutiert wird. Zu kritisieren ist, dass die gravierenden Unterschiede zwischen den einzelnen Au-ßenlagern nicht beachtet werden: Naumann, Das arbeitsteilige Zusammenwirken; Brenner, Zur Rolle der Außenkommandos.

Einleitung

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aufkommende Beschäftigung mit dem Thema war eng verbunden mit der Ge-schichtswerkstättenbewegung, die die Geschichte des Nationalsozialismus vor Ort zu erforschen begonnen hatte. Seither hat das Interesse an den KZ-Außen-lagern nicht nachgelassen, und inzwischen existiert eine beinahe unzählbare Menge von Studien zu einzelnen Außenlagern. So gibt es zum Beispiel zu mehr als der Hälfte der 85 Außenlager des KZ Neuengamme Publikationen, die auch wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden.7 Dem großen Umfang an Ein-zelstudien stehen bisher kaum Forschungen gegenüber, die sich um eine Syste-matisierung bemühen. Dieses Desiderat wurde in den letzten Jahren erkannt und wird sich durch im Entstehen begriffene Dissertationen bald ändern.8

Für meine Fragestellungen besonders wertvolle Studien, die versuchen, die Verhältnisse in verschiedenen Außenlagern zu vergleichen, stammen von den beiden österreichischen Historikern Bertrand Perz und Florian Freund. Sie un-tersuchten die Außenlager des KZ Mauthausen und belegten dabei vor allem die bis dahin wenig untermauerte These, dass die Art der Arbeit, zu der die Häft-linge eingesetzt wurden, von großer Bedeutung für deren Überlebenschancen war.9

Ein zentrales Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie richtet sich auf die Frage nach der Teilhabe privater Unternehmen an der Ausbeutung der KZ-Häft-linge. Die damit verbundene Debatte um die Verantwortung der bis heute be-stehenden Firmen wurde vor allem durch den Mitte der 1980er Jahre geführten Streit um die Rolle von Mercedes-Benz angeregt. Um die bereits zuvor aufge-kommene Kritik an der Zwangsarbeitspolitik des Betriebs im Dritten Reich zu-rückzuweisen, beauftragte der Vorstand des Unternehmens mehrere Historiker mit einer Studie, die nachweisen sollte, dass der Konzern vom nationalsozialisti-schen Staat genötigt worden war.10 Daraufhin verfasste eine Gruppe von Histo-rikern und Mercedes-Betriebsratsmitgliedern eine Gegenstudie, die eine neue analytische Tiefe in die Untersuchung der Ausbeutung von KZ-Häftlingen durch deutsche Unternehmen brachte.11 Aufgrund breiter öffentlicher Kritik sah

7 Einen Überblick über die Publikationen zu den Neuengammer Außenlagern bietet Kaienburg, Das Konzentrationslager Neuengamme, S. 345f.

8 Veröffentlicht: Ellger, Zwangsarbeit; Glauning, Entgrenzung. Eingereicht: Schalm, Organisation und Struktur. Allerdings bilden Vergleichsaspekte in allen drei Arbeiten eher ein Randthema. Weitere Projekte: Ulrich Fritz (Außenlager des KZ Flossenbürg), Andrea Rudorff (Außenlager des KZ Groß-Rosen) und Rolf Schmolling (KZ-Sklaven-arbeit im Siemens-Konzern).

9 Freund, Arbeitslager Zement; Freund, Mauthausen; Perz, Projekt Quarz; Perz, Ar-beitseinsatz. Einen Überblick zur Forschung zum KZ Mauthausen insgesamt bietet: Stuhlpfarrer et.al. (Hg.), Bibliographie zur Geschichte.

10 Pohl, Die Daimler-Benz AG.11 Fröbe, »Wie bei den alten Ägyptern«; Koppenhöfer, »In Buchenwald«. Beide Autoren

hatten auch in den folgenden Jahren maßgeblichen Anteil an weiteren Diskussionen um die KZ-Außenlager. So stammen von Rainer Fröbe die bedeutendsten Beiträge zur Un-tertageverlagerung der Industrie: Fröbe, KZ-Häftlinge als Reserve. Von Peter Koppenhö-

Einleitung

15

sich der Konzern schließlich gedrängt, selbst eine kritische Studie mit freiem Archivzugang zu initiieren, die 1994 erschien und bis heute eine der bedeutends-ten Veröffentlichungen zum Thema Zwangsarbeit und Industrie darstellt.12 Mark Spoerer, einer der Autoren der Studie, legte in der Folgezeit einige beson-ders lesenswerte Veröffentlichungen zur Frage der bereitwilligen Beteiligung der Industrie an der Ausnutzung von KZ-Arbeitskräften vor. Er konnte nachweisen, dass die meisten Industriebetriebe die Zuweisung von KZ-Häftlingen aus freiem Antrieb und nicht auf Druck des Staates oder der Rüstungsstellen beantragten und sich dementsprechend Vorteile von der Sklavenarbeit der Häftlinge verspra-chen.13 Allerdings scheint der Einsatz der Häftlinge im Vergleich zum Einsatz von zivilen Zwangsarbeitern im Gegensatz zu häufig geäußerten Vermutungen für die Unternehmer keine deutlich höheren Profite abgeworfen zu haben.14 Falls sich diese These bestätigen sollte, gilt es, nach den weiteren Gründen zu suchen, die die Unternehmer dazu veranlassten, KZ-Häftlinge für einen Arbeits-einsatz zu beantragen. Hier wird bislang betont, dass es oft nicht mehr möglich war, andere Arbeitskräfte zu bekommen. Aus Sicht der Unternehmer ermög-lichte die Zuweisung von KZ-Häftlingen, neue Aufträge anzunehmen und im Geschäft zu bleiben. Obgleich die Unternehmen also keine besonders hohen Profite durch die KZ-Häftlinge erzielten, erhofften sie sich das Niveau durch-schnittlicher Profite erreichen zu können.15

Eine andere zentrale Frage, die fast die gesamte Forschung zu den Außen-lagern durchzieht: Gab es ein Primat des Rassismus oder ein Primat der Ökono-mie? Die Debatte um das Primat der Politik gegenüber dem Primat der Öko-nomie wurde hinsichtlich der Bewertung des gesamten Nationalsozialismus vor allem in den 1960er und 1970er Jahren geführt. Sie galt aber ab den 1980er Jah-ren durch beide Pole integrierende Studien zunehmend als überwunden, u. a. weil die Primat-Diskussion drohte, Interessensunterschiede einzuebnen und In-stitutionen und Organisationen als monolithische Blöcke zu entwerfen.16 Für die Zwangsarbeiter- und KZ-Außenlagerforschung führte die Debatte in den 1980er und 1990er Jahren noch einmal in ähnlicher Form zu einem zentralen Punkt der Auseinandersetzung. Als Vertreter des Primats der Ökonomie wurden Karl Heinz Roth und z.T. Rainer Fröbe ausgemacht,17 die aber bereits deutlich

fer stammt u. a. einer der wichtigsten Aufsätze zu den Beziehungen der umliegenden Bevölkerung zu den KZ-Außenlagern: Koppenhöfer, KZ als Verhaltensmodell.

12 Hopmann et. al., Zwangsarbeit bei Daimler-Benz.13 Spoerer, Profitierten.14 Rauh-Kühne, Hitlers Hehler. Anders sieht dies bei einigen SS-Betrieben aus, die in der

Frühzeit des Häftlingszwangsarbeit weniger Lohn an das Reich abführen mussten und so z.T. große Gewinne durch Häftlingsarbeit erzielen konnten: Allen, Flexible Produc-tion.

15 Spoerer, Profitierten, S. 90.16 Eine gute Zusammenfassung der Debatte bietet: Kershaw, Der NS-Staat, S. 82-113.17 Roth, IG Auschwitz; Fröbe, Arbeitseinsatz.

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nuanciertere Positionen vertraten als die DDR-Historiker in den 1960er Jahren. Gegen ihre Argumente bezogen Anfang der 1990er Jahre vor allem Ulrich Her-bert und Hermann Kaienburg Position. Herbert betonte in einem Aufsatz, dass für die SS bis 1945 der Rassismus handlungsleitend blieb, und Kaienburg kam in seiner Studie über das Hauptlager Neuengamme zu dem Ergebnis, dass »Ver-nichtung durch Arbeit« die Handlungsmaxime der SS war und bis Kriegsende blieb.18 Diese Position wurde noch deutlicher von Wolfgang Sofsky in seiner soziologischen Beschreibung eines idealtypischen Konzentrationslagers vertre-ten.19 Erst die Arbeiten von Jens-Christian Wagner haben die dichotome Ent-gegensetzung in Frage gestellt und zu einem neuen Nachdenken über die mög-lichen Verbindungen der beiden Pole geführt.20

Vergleichsperspektive der Untersuchung: Eine Faktorenanalyse der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Außenlagern

Einen Schwerpunkt dieser Arbeit bildet die Frage nach den konkreten und un-terschiedlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge in den Außenla-gern. Schon ein erster Vergleich einzelner Außenlager anhand ihrer Sterblich-keitsraten zeigt, dass erhebliche Differenzen existierten. Während beispielsweise im Außenlager Lütjenburg, wo die Häftlinge zur hochspezialisierten Produktion von Kreiselkompassen für die V2-Rakete herangezogen wurden, kaum ein Mensch starb, kamen hunderte Häftlinge in Husum beim Bau von Panzergrä-ben innerhalb kürzester Zeit ums Leben.21

Anhand eines systematischen Vergleichs der unterschiedlichen Außenlager werden die Faktoren herausgearbeitet, die das Leben im Lager prägten und über Leben oder Tod der Häftlinge entschieden. In diesem Sinne ist die Studie kom-paratistisch angelegt. Im Unterschied zu den meisten historisch-komparatisti-schen Studien wird aber nicht auf einen sozialgeschichtlich-strukturellen Län-dervergleich abgehoben, sondern anhand der konkreten Mikroebene verglichen. Einen ganz zentralen Bewertungsmaßstab meiner Studie bilden die Sterblich-keitsraten der Außenlager, die synchron verglichen werden. Sie bilden den bes-ten Maßstab zur Beurteilung der Überlebenschancen der Häftlinge in den Au-ßenlagern. Ziel war es ursprünglich, eine Typologie der verschiedenen Außenlager zu entwickeln. Die Analyse ergab jedoch, dass eine Bildung weniger Typen von Außenlager aufgrund einer Vielzahl heterogener Faktoren, die in unterschied-licher Form auf die Bedingungen einwirkten, nicht möglich war. Stattdessen wurde deswegen der Weg einer Faktorenanalyse gewählt. Die unterschiedlichen,

18 Herbert, Arbeit und Vernichtung; Kaienburg, Vernichtung.19 Sofsky, Ordnung.20 Wagner, Noch einmal; ders., Produktion des Todes.21 Kaienburg, KZ Neuengamme, S. 155ff.; Bästlein, KZ Husum.

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das Leben und Überleben prägenden Faktoren werden analysiert und in einem systematischen Vergleich bestimmt und gewichtet.

Die Gefahr eines solchen Vergleichs liegt darin, die von den Häftlingen erlit-tenen Leiden auf einer Stufenleiter der Schlechtigkeiten abzubilden und die Er-fahrungen der Häftlinge in den vergleichsweise humaneren Außenlagern zu ba-gatellisieren.22 Dies soll unbedingt vermieden werden. Leid ist schließlich immer subjektiv, und wie groß das individuelle Leid eines einzelnen Häftlings in einem Außenlager war, vermag die Studie nicht zu beurteilen. Zudem ist festzuhalten, dass die Schrecken der Wirklichkeit der Lager nicht abzubilden sind.23 Die ein-genommene Vergleichsperspektive zielt darauf ab zu beurteilen, wie groß die Überlebenschancen eines Häftlings im jeweiligen Außenlager waren. Es wird untersucht, welche Gründe für die Differenzen in den Sterblichkeitsziffern be-standen. Eine wichtige Anregung für diese Perspektive bilden viele Berichte Überlebender, die von einer sehr genauen Sicht auf die graduellen Unterschiede zwischen den einzelnen Lagern geprägt sind. Demgegenüber schildern andere ehemalige Häftlinge ihre Erfahrungen in unterschiedlichen Lagern als weitge-hend gleichermaßen grauenvoll. Eine Abstufung zwischen den Lagern liegt ih-nen fern. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung. Die in der vorliegenden Studie untersuchten Differenzen sind gradueller Natur. Nur in den allerwenigs-ten Außenlagern wurden die Häftlinge z. B. so ernährt, dass sie bei Kriegsende eine normale Mahlzeit hätten zu sich nehmen können, ohne daran zu erkranken oder zu sterben.

Meine Ausgangshypothese für den Vergleich lautet, dass die Art der Arbeit, welche die Häftlinge zu verrichten hatten, sowohl die in einem Außenlager exis-tierenden Strukturen und Bedingungen als auch ihre Überlebenschancen präg-ten. Ich folge darin Florian Freund und Bertrand Perz, die für das Außenlager-system von Mauthausen folgendes nachweisen konnten: Außenlager, in denen Häftlinge lebten, die in der Produktion eingesetzt wurden, wiesen eine jährliche Sterblichkeitsrate von ca. fünf Prozent auf, während die Mortalitätsrate in Bau-lagern bei etwa 30 Prozent lag.24 Es zeigt sich aber, dass diese deutliche Differenz zwischen Bau- und Produktionslagern bei den Sterblichkeitsraten für die Au-ßenlager des KZ Neuengamme nicht gegeben ist. Aus diesem Grund wird eine weitere, differenzierte Untergliederung der Arten der Arbeit sowohl bei den Bau- wie bei den Produktionslagern entwickelt. Die drei wichtigsten Autoren, die für eine Faktorenanalyse hinsichtlich der Überlebenschancen in den Außen-

22 Auf die Gefahr einer solchen Hierarchisierung des Bösen weist Jan Philipp Reemtsma bezüglich möglicher Vergleiche von Auschwitz, dem Gulag und Hiroshima hin. Der Vorteil der Vergleichsperspektive dieser Arbeit besteht darin, dass nur die Lager in einem politischen Regime verglichen werden und so zumindest keine moralische Stu-fenleiter für unterschiedliche politische Systeme zur Diskussion steht: Reemtsma, Ver-trauen und Gewalt, S. 341.

23 Reemtsma, Mord am Strand, S. 211.24 Freund, Mauthausen, S. 272; Perz, Arbeitseinsatz.

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lagern anhand des Arbeitseinsatzes plädieren, – Florian Freund, Bertrand Perz und Karin Orth – berücksichtigen zudem nicht, dass die Sterblichkeitsraten in den Frauenaußenlagern bei mit den Männerlagern vergleichbaren Arbeitseinsät-zen wesentlich geringer war. Auch diesem empirischen Befund wird genauer nachgegangen werden.

Es wird ein Analyserahmen entwickelt, der mehrere Faktoren (Geschlecht der Häftlinge, Größe der Außenlager, Dringlichkeit der Arbeiten, Täterhandeln, Zusammensetzung der Wachmannschaften etc.) in den Blick nimmt und inner-halb dessen die einzelnen Faktoren für die Überlebenschancen gewichtet werden können. Die Art des Arbeitseinsatzes wird mit den vorgenommenen Differen-zierungen zu einem zentralen Faktor innerhalb der multifaktoralen Analyse. Zur Bezeichnung der Arbeit der KZ-Häftlinge in den Außenlagern nutze ich den Begriff »Sklavenarbeit«. Im Gegensatz zu Wolfgang Sofsky gehe ich davon aus, dass der Begriff eine treffende Beschreibung des Geschehens ermöglicht.25 Zudem ergeben sich hierdurch Anschlussmöglichkeiten an die bezüglich der Beschreibung der Arbeitssituationen und ihrer Zwänge sehr detailliert analysie-rende Sklavereiforschung. Für die weitergehende Herausarbeitung der Unter-schiede zwischen verschiedenen Arten der Arbeit ist eine praxeologische Be-schreibung der Arbeitssituationen hilfreich.

Praxeologische Rahmung der Studie

Ein wesentliches Ziel meiner Arbeit ist es, die verschiedenen Täter und ihre Ta-ten in den Blick zu nehmen. Es werden sowohl die Täter in den Lagern wie auch die Industriellen und Bürokraten, die den Einsatz planten und vor Ort über-wachten, untersucht werden. Dabei wird der Zusammenhang zwischen dem je-weiligen Arbeitsfeld, der Biografie und einer konkreten Praxis hergestellt wer-den. Methodisch stütze ich mich für die Beschreibung des Täterverhaltens auf praxeologische Ansätze und in geringerem Maße auch auf das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu.

Die Mehrzahl der Arbeiten zur Geschichte der Konzentrationslager tendiert jeweils zu einem von zwei Extremen: Sie argumentieren entweder vorwiegend auf einer strukturellen Ebene oder aber sie konzentrieren sich ganz auf die Er-zählungen Überlebender und rücken die strukturelle Ebene weit in den Hinter-grund. In beiden Fällen findet eine genaue Beschreibung des Handelns der Täter kaum statt. In diesem Kontext möchte die Studie die Forderung von Wolfgang Sofsky aufgreifen, wonach die Täterforschung »methodisch gut daran [täte; M.B.], mit dem Sichtbaren und Konkreten zu beginnen, also mit dem Verhal-

25 Aus diesem Grund wird im Folgenden die Arbeit der Häftlinge in den KZ-Außenlagern als »Sklavenarbeit« bezeichnet, während für die Arbeit ziviler ausländischer Arbeiter der Ausdruck »Zwangsarbeit« verwendet wird. Siehe dazu ausführlicher: Kapitel V.

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ten, mit der Verwaltungsarbeit, den Dienstpraktiken, mit den Formen der Gewalttätigkeit.«26 Ein Schwerpunkt des angestrebten Vergleichs der Außenla-ger liegt in der Untersuchung der konkreten Arbeitspraktiken der Häftlinge und der Aufsichtspraktiken ihrer Bewacher. Im Kapitel über Taten und Täter werden zuerst phänomenologisch die verschiedenen Gewaltpraxen der Täter beschrie-ben; anschließend wird gefragt, welche Täter aufgrund welcher Aufgabenberei-che am ehesten bestimmte Praktiken ausübten. In der Untersuchung der Häft-lingsgesellschaft geht es ebenfalls darum, die konkreten Praktiken und Prozesse der Gemeinschaftsbildung und der Kämpfe um das Überleben zu schildern. Die Studie nutzt den praxeologischen Zugang in diesem Sinne als einen methodolo-gischen Rahmen.

Der besondere Vorteil dieser Ausrichtung liegt in einer theoretischen und em-pirischen Verknüpfung von individuellen Handlungen und strukturellen Hand-lungsbedingungen. Als eine spezifische Form der Kulturtheorie unterscheidet sich die Praxeologie von strukturtheoretischen und von ökonomisch-individua-listischen Ansätzen, weil sie die Frage der sozialen Ordnung nicht als Hand-lungskoordinationsproblem auffasst, sondern stattdessen untersucht, wie die Akteure die Welt als geordnet wahrnehmen und dadurch handlungsfähig wer-den. Das Soziale wird dabei in den Verhaltensweisen der Menschen verortet. Im Zentrum stehen wiederholte Handlungen, die zu Praktiken werden. Um die meisten Praktiken ausüben zu können, braucht der Mensch seinen Körper, dem wiederum die Praktik durch die Einübung bestimmter Abläufe antrainiert wird. Mit der Zeit setzt schließlich eine Routine ein, und der Körper vollzieht die Praktiken wie von selbst.27 Im Sinne Bourdieus kommt es zur Inkorporierung von Wissen.28 Hier setzt die Studie an: Die Formen der praktischen Hervorbrin-gung der im KZ-System zu beschreibenden Verkörperungen von (Zwangs-)Ord-nungen werden genauer untersucht.

Das zweite Zentrum einer praxeologischen Perspektive bildet die Analyse des Umgangs mit Artefakten. Vor allem die Techniksoziologie hat gezeigt, dass das Vorhandensein bestimmter Artefakte neue Praktiken hervorbringt. Einführun-gen neuer Fertigungstechniken führten in den Fabriken fast immer zur Verän-derung der Kräfteverhältnisse zwischen Arbeitern und Fabrikbesitzern bzw. Ma-nagern und oft auch innerhalb der Arbeiterbelegschaft. Auch für die KZ-Häftlinge in den Außenlagern war es von zentraler Bedeutung, zu welchen Arbeiten sie eingeteilt wurden. Je nach technologisch-organisatorischem Stand der Arbeit

26 Sofsky, Perspektiven, S. 1150.27 Dies sollte aber nicht funktionalistisch gedeutet werden. Der Mensch bleibt in der

Lage, seine Praxen zu überdenken und zu verändern. Es bedarf dann allerdings erneuter Einübung.

28 Bourdieus Ausführungen zur Praxeologie sind ähnlich wie beim Habitus über das ganze Werk verteilt. Am bedeutendsten und systematischsten sind: Bourdieu, Entwick-lung einer Theorie, S. 139-202 und 228-317; ders., Sozialer Sinn, S. 147-179 und ders., Die Logik der Praxis.

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boten sich den Häftlingen bei den Praktiken unterschiedliche Freiräume. Oft unterschied sich aufgrund der technischen Situation bei der Arbeit auch das Verhalten der Wachmannschaften.

Eine praxeologische Untersuchungsperspektive richtet ihre Aufmerksamkeit vordergründig nicht auf die Intentionen der Handelnden. Im Zentrum stehen die konkreten Ausführungen und deren Auswirkungen. Die Praxis behält trotz ihrer Routine immer auch einen Rest Unberechenbarkeit, die nicht exakt vorher bestimmbar sein wird. Die Logik der Praxis sorgt also fast zwangsweise für ein partiell offenes Forschungskonzept. Alle Praktiken sind in ihrem historisch-kul-turellen Kontext zu betrachten. Sie existieren nur in ihrem Vollzug. Wiewohl die Praxeologie zuerst nach dem »Wie« fragt, schließt sie aber die Frage nach dem »Warum« keineswegs aus; vielmehr kann nach der Beantwortung des »Wie« die »Warum«-Frage auf neuer Basis gestellt werden.29

Mit einem praxeologischen Zugang eröffnet sich eine bedeutsame Chance: Die in der Debatte um den Gegenstand der historischen Analysen aufgeworfe-nen Gräben zwischen der Sozialgeschichte und der Alltagsgeschichte können produktiv überwunden werden. Während der Sozialgeschichtsschreibung vorge-worfen wurde, sie verkenne das Individuum und seine Aneignungspraktiken,30 konzentrierte sich die Kritik an der Alltagsgeschichte auf ihre mangelnde Be-rücksichtigung gesellschaftlicher Strukturen und insbesondere ihrer Unkenntnis wirtschaftlicher Verhältnisse.31 Im Kern können beide Vorwürfe als zutreffend bezeichnet werden. In dieser Arbeit wird eine die Dialektik der Pole ernst neh-mende Position weiterentwickelt.32

Als methodischer Hintergrund für die Frage nach dem Täterhandeln dient im Rahmen des praxeologischen Zugangs das Habitus-Konzept von Bourdieu. Er entwickelte dieses vor allem, um die erkenntnishemmenden Dichotomien von

29 Wehlers Kritik am Ausblenden der »Warum«-Frage in vielen alltagsgeschichtlichen und ethnographischen Arbeiten ist zwar durchaus berechtigt (Wehler, Herausforderung, S. 148), aber keineswegs strukturell unabänderlich angelegt. Aus ethnographischer Sicht: Katz, From How to Why.

30 Exemplarisch: Tanner, Historische Anthropologie; Daniel, Kompendium Kulturge-schichte; Lüdtke, Alltagsgeschichte. Nach ersten stark polemischen Abwehrversuchen später selbstkritischer aus sozialgeschichtlicher Perspektive: Kocka, Sozialgeschichte, S. 152-174; Wehler, Herausforderung, S. 145f.

31 Exemplarisch: Wehler, Herausforderung; Röhr, Alltag. Selbstkritisch aus alltagshistori-scher Sicht: Gerstenberger, Alltagsforschung.

32 Einen guten Überblick zur angloamerikanischen Geschichtswissenschaft und praxeolo-gischen Ansätzen bieten: Bonnell/Hunt (Hg.), Beyond the Cultural Turn; Spiegel (Hg.), Practicing History. Wichtige Anregungen in der deutschen Geschichtswissen-schaft bei: Reichardt., Praxeologische Geschichtswissenschaft; ders., Praxeologie. Lüdtke, Alltagsgeschichte; ders (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. In der Soziologie: Reckwitz, Grundelemente und ders., Entwicklung. Als Beispiele für empirische Stu-dien, die einen praxeologischen Zugriff wählen: Biernacki, Fabrication of Labour; Reichardt; Faschistische Kampfbünde.

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Struktur und Handlung oder Subjektivismus und Objektivismus zu überwin-den. Bourdieu beschreibt den Habitus als Denk-, Handlungs- und Wahrneh-mungsmatrix, die es den Menschen ermöglicht, auf Situationen zu reagieren.33 Jeder Mensch hat einen eigenen Habitus, der das Produkt seiner bisherigen Le-benserfahrung ist und diese zugleich prägt. Das tägliche Ausagieren dieser Er-fahrungen führt zu einem spezifischen Lebensstil, der das systematische Produkt des Habitus ist. Durch unsere Denkmuster und unseren Lebensstil nehmen wir handelnd auch immer Einfluss auf andere Menschen. Für Bourdieu ist es zent-ral, dass Menschen sich immer mit anderen Menschen vergleichen und daraus ihre Schlüsse ziehen. Der Habitus hat also zwei Seiten: Zum einen werden Han-delnde durch die Verhältnisse in ihrer Umwelt strukturiert, zum anderen wirken sie durch ihr Handeln strukturierend auf die Umwelt ein.

Gewalt als Untersuchungsgegenstand

In den Konzentrationslagern und auch in den Außenlagern war Gewalt alltäg-lich. Die in Dachau entwickelte, routinierte Gewaltsamkeit gehörte zum Dienst-betrieb der SS-Totenkopfverbände. Sie beruhte nur selten auf Affekthandlungen oder einer triebhaften Zerstörungswut, vielmehr gehörte die Gewaltausübung zur Personalausbildung, und die Strafordnung bildete einen ständigen Anlass, Häftlinge zu sanktionieren. Gewalt wurde ein zentraler Bestandteil des Habitus der Lager-SS.

Seit Anfang der 1990er Jahre hat es einen Wandel in der Gewaltforschung gegeben: Trutz von Trotha, Heinrich Popitz, Wolfgang Sofsky u. a. wandten sich zunehmend von der Erforschung der Motive der Gewalt ab und untersuchten stattdessen stärker die phänomenologische Seite der Gewalt.34 Wiewohl mitun-ter in diesem Ansatz die Tendenz besteht, Gewalt zu einer ahistorischen, anthro-pologischen Konstante zu erklären,35 hat er viele neue Einsichten hervorgebracht. Grundsätzlich wird auch in dieser Studie der Ansatz verfolgt, dass Gewalt und Grausamkeit in sozialen Situationen entstehen und mit sozialen Bedeutungen aufgeladen sind und werden. Im Zentrum des Kapitels über die Direkttäter wird dementsprechend die exakte Beschreibung36 der Gewalthandlungen stehen.

33 Die Entwicklung des Habitus-Begriffs zieht sich fast durch das gesamte Werk Bourdi-eus. Als zentrale Stellen sind zu nennen: Entwurf einer Theorie, S. 139-202; Die feinen Unterschiede, S. 277-286; Sozialer Sinn, S. 97-121. Von der Sekundärliteratur beson-ders hilfreich: Krais/Gebauer, Habitus; Schwingel, Bourdieu, S. 53-76; Wacquant, Ha-bitus.

34 Popitz, Phänomene der Macht; Trotha, Soziologie der Gewalt; Sofsky, Traktat; Nedel-mann, Gewaltsoziologie; Reemtsma, Vertrauen und Gewalt.

35 Insbesondere: Sofsky, Traktat.36 Ich verzichte bewusst auf die Verwendung des Begriffes »Dichte Beschreibung«. Viele

Historiker, die eine mikroskopische Situation beschreiben, haben in letzter Zeit diesen

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Einen wichtigen Aspekt der Untersuchung bildet die Analyse und Darstellung von Handlungsoptionen der SS und der anderen Wachmannschaften, aber auch der Häftlinge. Der Begriff der Handlungsoption setzt aber voraus, dass dem Handelnden eine gewisse Entscheidungsfreiheit zur Verfügung steht. Prinzipiell gehe ich davon aus, dass diese Freiheit für die SS und andere Wachmannschaften im KZ vorhanden war, während diese für die Häftlinge nur sehr bedingt gege-ben war.37 Darüberhinaus gehe ich davon aus, dass deren Handlungsmöglichkei-ten deutlich geringer waren, als z. B. die der Soldaten in den besetzten Gebieten. Der Einsatzort KZ war räumlich eng begrenzt und die gegenseitige soziale Kon-trolle hoch. Trotzdem hat es Fälle gegeben, in denen die Bewacher ihre Position zugunsten der Häftlinge nutzten. Hier schließen sich zentrale Fragestellungen an: Was hat die wenigen Ausnahmefälle unter den Bewachern dazu bewogen, ihre Handlungsweisen zu Gunsten der Häftlinge auszurichten? In welchem Rahmen und unter welchen Umständen waren Hilfestellungen möglich? Nah-men diese Formen der Handlungsweisen gegen Kriegsende eher zu? Mussten die Bewacher mit Sanktionen rechnen und wenn ja, mit welchen? Hintergrund der kontrastiven Schilderung wird immer das Verhalten der Mehrheit der Bewacher bilden, welche die Häftlinge schikanierten oder aber sich gleichgültig gegenüber dem Leiden der Häftlinge verhielten. Es gilt im Auge zu behalten, dass auch im KZ in den meisten Fällen nicht ein Zwang zur Gewaltausübung vorherrschte, sondern eher von einer generellen Erlaubnis ausgegangen werden muss. Nur in wenigen Situationen, z. B. bei der Flucht von Gefangenen, hatte ein Bewacher damit zu rechnen, dass er bestraft würde, wenn er keine Gewalt anwendete.

Obwohl damit die direkte körperliche Gewalt im Vordergrund der Analyse steht, ist eine Reduktion des Gewalt-Begriffes auf körperliche Gewalt, wie sie sich in Anschluss an Popitz in Deutschland weitgehend durchgesetzt hat, nicht sinnvoll. Popitz definierte Gewalt folgendermaßen: »Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt.«38 Die Gewalt im Konzentrationslager ist aber neben dem Schlagen, Treten, Auf-hängen etc. noch von anderen Gewaltverhältnissen geprägt.39 Die hohe Sterb-lichkeit in den Lagern wäre ohne einen weitergehenden Gewaltbegriff, der die strukturell angelegte Unterversorgung der Häftlinge in den Blick nimmt, nicht

modischen Begriff verwandt und behauptet, dem methodischen Modell von Clifford Geertz zu folgen. Dabei wurde selten reflektiert, dass eine Übertragung einer ethnogra-phischen Methode auf die Geschichtswissenschaft nicht ohne weiteres möglich ist: Geertz, Dichte Beschreibung, S. 7-43. Der methodische Anspruch an eine »dichte Be-schreibung«, z. B. zur Erforschung des Holocausts, ist aus Sicht eines Ethnographen überaus hoch: Pesch, Die künstlichen Wilden.

37 Zum Begriff der Handlungsoption: Lüdtke, »Fehlgreifen in der Wahl der Mittel«.38 Popitz, Phänomene der Macht, S. 73. Ihm schlossen sich u. a. an: Sofsky, Traktat; Tro-

tha, Soziologie der Gewalt; Nedelmann, Gewaltsoziologie.39 Als Beispiel einer Aufzählung, was von der sich an Popitz orientierenden Schule als

Gewalthandlung begriffen wird: Trotha, Soziologie der Gewalt, S. 26.

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zu erklären. Ein Beispiel für die Gewaltverhältnisse in den Lagern bildet die Ernährungssituation: Der große Hunger in vielen Außenlagern erreichte erst durch den Diebstahl von Lebensmitteln durch SS und Funktionshäftlinge sein volles Ausmaß. Zugleich war die systematische Aushungerung der Häftlinge durch die vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft bestimm-ten Rationen vorgegeben. Die Vorenthaltung der Nahrung führte langfristig zu einer physischen Schwächung und letztlich zum Tod der Häftlinge. Die Mehr-zahl der Häftlinge in den KZ-Außenlagern starb durch Hunger und Krankheit. Für den Tod der Häftlinge war die direkte körperliche Gewalt von SS-Männern zumeist nicht verantwortlich. Allerdings war die beständige Gewaltandrohung notwendig, um die Flucht der Häftlinge und die Beschaffung von Nahrung zu verhindern. Die für die schlechte Ernährungssituation vor Ort hauptverant-wortlichen Gewalttäter befanden sich im entfernten Berlin und haben mitunter nie Kontakt zu KZ-Häftlingen gehabt. Das Phänomen des Hungerns im KZ zeigt, dass es nicht sinnvoll ist, den Gewaltbegriff im Popitzschen Sinne zu ver-engen, sondern dass es darum geht, die Verbindungslinien zwischen direkter physischer Gewalt und struktureller Gewalt40 genauer zu untersuchen.

Tätertypen und Täterbilder

Die ersten Studien über die Konzentrationslager-SS tendierten dazu, das Verhal-ten der Täter zu bestialisieren und sie als ungebildete, ständig gewaltbereite Horde zu beschreiben.41 Wolfgang Sofsky betont hingegen, dass der Großteil der SS-Männer in den Lagern Gewalt als Routine vollzog, die kaum noch größere Emotionen bei den Männern auslöste, geschweige denn von Sadismus geprägt war.42 Auch Gerhard Paul und Klaus-Peter Mallmann legen für ihre Differenzie-rung zwischen verschiedenen Tätertypen großes Gewicht auf die Frage nach der jeweiligen emotionalen Beteiligung und den Motiven der Täter.43 Die Motiva-tion der Täter ist ohne Zweifel ein wichtiger Baustein für die Täterforschung. Im Rahmen dieser Studie wird jedoch ein anderer Schwerpunkt gewählt. Den

40 An Johan Galtungs Definition der strukturellen Gewalt gibt es allerdings auch berech-tigte Kritik. Allgemein liegt für Galtung »Gewalt […] dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische oder geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung« (Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensfor-schung, S. 9). Diese Definition ist zu offen. Für die Analyse der Konzentrationslager ist Galtungs Festhalten daran, dass die Verweigerung von Grundbedürfnissen eine Ge-walttat sein kann, aber treffend und hilfreich. Siehe auch: Bindernagel/Bütow, Ingeni-eure als Täter, S. 47f. Neuere Bemühungen zur Definition des Begriffs finden sich in: Heitmeyer/Hagan (Hg.), Internationales Handbuch.

41 Kogon, Der SS-Staat, S. 352-355.42 Sofsky, Ordnung, S. 115-136.43 Paul/Mallmann, Sozialisation, Milieu und Gewalt.

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Ausgangspunkt bildet die Frage danach, in welchen Positionen welche Taten wahrscheinlich waren. So veränderte sich beispielsweise das Verhalten eines SS-Offiziers mitunter entscheidend, wenn er von der Stelle eines Rapportführers zum Lagerführer aufstieg. Während er als Rapportführer im besonderen Maße für die Disziplinierung und Bestrafung der Häftlinge verantwortlich war, küm-merte sich der Lagerführer in größeren Außenlagern vor allem um die Verwal-tung. Dadurch existieren für einen SS-Offizier oft sehr unterschiedliche Cha-rakterisierungen von Häftlingen, je nachdem in welcher Stellung er sich gerade befand. In ähnlicher Weise gilt es auch für Industrielle, Ingenieure und Bürokra-ten zu fragen, in welchen Situationen sie Einfluss auf das Leben und Überleben der Häftlinge hatten und welche Handlungsoptionen ihnen offen standen.

Die SS war ein militärisch-männlicher Ordensverband, der sich als rassische und ideologische Elite verstand. Von Beginn an war die Geschichte der 1925 gegründeten SS eng mit einer Verherrlichung und Anwendung von Gewalt verbunden. In den 1934 eigens zur Bewachung der KZ gegründeten SS-Toten-kopfverbänden wurde diese Tendenz verstärkt und in einer militärisch durchor-ganisierten Erziehung zur Gewalt verstetigt. Das vom ersten Inspekteur der Konzentrationslager, Theodor Eicke, 1934 begründete »Dachauer System« setzte sich sowohl hinsichtlich der Organisation der KZ wie zur Ausbildung der Wach-mannschaften durch und blieb bis Kriegsende handlungsleitend. Die Ausbil-dung der Wachmannschaften war dabei von einem doppelten Gewaltverhältnis geprägt: Einerseits wurde den SS-Männern selbst durch ihre Anleiter mit Drill und Gewalt der eigene Willen partiell gebrochen, zum anderen wurde den An-zulernenden von Beginn an beigebracht, KZ-Häftlinge zu schlagen und zu quä-len.

Die Männer der unter Eicke ausgebildeten »Dachauer Schule« blieben in den meisten KZ bis Kriegsende in den führenden Positionen. Max Pauly, der Kom-mandant des KZ Neuengamme, war ein »alter Kämpfer« und seit langer Zeit im KZ eingesetzt. Die Pauly umgebenden Abteilungsleiter im Hauptlager verfügten zum Teil auch über eine langjährige Sozialisation innerhalb des KZ-Systems. Bereits für die Lagerführer in den Außenlagern galt dies nur noch bedingt. Viele von ihnen waren erst nach Kriegsbeginn Teil des KZ-Systems geworden. Im KZ Neuengamme erhob Pauly zudem eine größere Zahl ehemaliger Wehrmachtsof-fiziere, die erst ab dem Sommer 1944 zur SS überstellt worden waren, zu Lager-führern. In der Mehrzahl der Neuengammer Außenlager wurden Ende 1944 nur noch eine kleine Anzahl altgedienter und erfahrener SS-Männer eingesetzt. Die Mehrheit der Bewacher in den Außenlagern bildeten darüber hinaus nicht mehr die reichsdeutschen SS-Männer. Sie wurden ab 1941 zunehmend durch volks-deutsche SS-Männer ergänzt oder abgelöst, die aufgrund ihrer mitunter mangel-haften Deutschkenntnisse von den Reichsdeutschen wenig akzeptiert wurden. Sie stellten oft eine eigene Gruppe innerhalb der Wachmannschaft dar. 1944 reichte auch diese Ergänzungsquelle nicht mehr aus, um die Bewachung der sich durch die immer rigorosere Einweisungspraxis rapide vergrößerten Häftlings-

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gruppen zu gewährleisten. Dies führte dazu, dass nun Wehrmachtssoldaten, Volkssturmangehörige, Zollbeamte, Polizisten und Eisenbahner sowie weibliche KZ-Aufseherinnen in den Frauenaußenlagern schließlich das Gros der Bewa-chungsmannschaften bildete.44 Die sich ändernde Zusammensetzung der Wach-mannschaften ist für die Analyse der Situationen in den Lagern bedeutsam: Wie reagierten die hinzukommenden Gruppen auf die Brutalität der SS-Wachmann-schaften und den Anblick ausgemergelter Häftlinge? Setzte sich eine Kamerade-rie der Gewalt durch oder überwog ein ›Dienst nach Vorschrift‹? Oder kam es zu Hilfeversuchen und Verweigerungen?45

Die Beteiligung von Industrie, Bürokratie und Wehrmacht am Einsatz der KZ-Häftlinge in der deutschen Kriegswirtschaft

Die wirtschaftlichen und staatlichen Führungsgremien und -personen beteilig-ten sich in ganz wesentlichem Umfang am Ausbau des KZ-Außenlagersystems. In meiner Studie werden anhand der Beteiligungen am Ausbau, der Aufrechter-haltung und Auflösung der Außenlager des KZ Neuengamme die Handlungs-weisen und Intentionen der verschiedenen Berufsgruppen untersucht. Welche konkreten Interessen hatten die jeweiligen Gruppen? Wie ließ sich der Einsatz der Häftlinge mit dem jeweiligen Habitus der Gruppe verbinden, und an wel-chen Stellen kam es zu Brüchen und Widerständen? Im Mittelpunkt dieser Ana-lyse stehen die Industriellen, die Häftlinge in ihren Betrieben einsetzten, und die Bürokraten, die den Einsatz planten und verwalteten. Ebenso wird untersucht, wie sich die Wehrmachtsstellen beim Einsatz von KZ-Häftlingen verhielten.

Mögen die Motive der Unternehmer und Industriellen äußerst vielfältig ge-wesen sein, so ist doch weitgehend unstrittig, dass Profitmaximierung und die Erhaltung und Zukunftsfähigkeit des Unternehmens zwei maßgebliche Krite-rien sind, nach denen die Unternehmer ihre Entscheidungen trafen. Mark Spoe-rer hat die These aufgestellt, dass die Unternehmer damit rechneten, Profit zu machen, wenn sie die Initiative zur Beschäftigung von Häftlingen ergriffen.46 Einen Schwerpunkt dieses Untersuchungsteils wird aus diesem Grund die Frage nach den Initiativen und Verhandlungen zur Einrichtung der KZ-Außenlager einnehmen. Für die Außenlager des KZ Neuengamme gibt es hier die dichteste Quellenüberlieferung. Es wird gefragt, von wem jeweils die Initiative zur Ein-

44 Zum Wandel in der Zusammensetzung: Perz, Wehrmachtsangehörige; Wagner, Pro-duktion, S. 332-344.

45 Die größere Heterogenität einer Gruppe muss keineswegs deren Handlungsfähigkeit in Frage stellen. Alf Lüdtke hat in einem Gespräch darauf hingewiesen, dass Forscher dazu tendieren, sich Gruppen von Gewaltakteuren homogener vorzustellen, als sie in der Praxis sind. Oft ermöglicht es gerade die Heterogenität einer Gruppe, dass der Einzelne in ihr seinen Platz zu finden vermag: Lüdtke, Gewaltformen, S. 162.

46 Spoerer, Profitierten.

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richtung des Außenlagers ausging und wie die Verhandlungen abliefen. Da die Verhandlungen zumeist nicht auf Industrie und SS beschränkt blieben, rückt auch das Verhalten der Behörden auf Reichsebene ins Blickfeld. Im Zentrum steht dabei das Reichsministerium für Rüstungs- und Kriegsproduktion. Dabei ist zu prüfen, inwieweit eine in der Forschung häufig als starr präsentierte Di-chotomie von Wirtschaft und Staat für die Endphase des Dritten Reiches be-stand. Da sowohl an der Einrichtung wie der Auflösung der Außenlager alle Machtsäulen des NS-Staates in Teilen beteiligt waren, wird anhand der Analyse dieser Ereignisse auch ein Einblick in die Machtkonstellation der letzten Kriegs-jahre an einem regionalen Beispiel gewährt. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen dabei die Vorgänge in der Stadt Hamburg.

Häftlingszwangsgesellschaft und Überlebenstechniken

Die Häftlingsgesellschaften in den Außenlagern des KZ Neuengamme waren Gesellschaften des Mangels und des Zwangs. Die SS versagte den Häftlingen überlebensnotwendige Mittel, insbesondere Nahrungsmittel. Sie setzte die da-durch stark geschwächten Häftlinge zur Sklavenarbeit ein, was zu weiterer Ent-kräftung führte. Der Überlebenswille trieb die Häftlinge dazu, Überlebensstra-tegien und -techniken zu entwickeln. Tendenziell ist zu vermuten, dass die Überlebenschancen der Häftlinge umso geringer ausfielen, je größer die Mängel und je schwerer die Sklavenarbeit war. Des Weiteren ist anzunehmen, dass, je schlechter die Situation in einem Außenlager war, die Häftlinge desto heftiger um überlebensnotwendige Nahrungsmittel und Kleidungsstücke kämpften. Die Lebensverhältnisse und Überlebensstrategien werden im Folgenden sowohl strukturell als auch individuell untersucht. In einem ersten Schritt wird der strukturelle Aufbau der Häftlingsgesellschaften analysiert. In einem zweiten Schritt wird das Leben in den Außenlagern und die daran angepassten Überle-benstechniken einzelner Häftlinge anhand ihrer Berichte beschrieben.

Die Häftlingszwangsgesellschaft in den Konzentrationslagern war sowohl im Hauptlager als auch in den größeren Außenlagern durch ein System starker Un-gleichheit geprägt. Generell war die Häftlingszwangsgesellschaft in den Außen-lagern ähnlich wie im Hauptlager aufgebaut. Alle größeren Außenlager hatten einen Lagerältesten, der an erster Stelle der Hierarchie stand. Von seiner Einstel-lung hingen die Verhältnisse innerhalb der jeweiligen Außenlager zum Teil stark ab. Auch andere Funktionshäftlinge besaßen großen Einfluss, ihr jeweiliges Ver-halten konnte über Tod und Leben der anderen Häftlinge mitentscheiden. Ihre Macht war zugleich auf die anderen Häftlinge beschränkt, gegenüber der SS blieben sie machtlos. Dementsprechend hing ihre Bedeutung für die Häftlinge auch davon ab, ob der Lagerführer und die SS-Männer mit Zutritt zum Lager innerhalb des Lagers selbst aktiv waren, oder ob sie die Führung des Lagers weit-gehend den Funktionshäftlingen überließen. Generell lässt sich am Beispiel der

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Außenlager des KZ Neuengamme beobachten, dass in den Männeraußenlagern die Distanz und der Machtunterschied zwischen den Funktionshäftlingen und dem Rest der Häftlinge sehr groß war. In den Frauenaußenlagern war diese Di-stanz weitaus geringer. Hier gilt es zu fragen, inwieweit diese Differenz durch eine unterschiedliche Behandlung der SS oder durch andere Überlebensstrate-gien zustande kam.

Die Erkenntnis, dass die Häftlingszwangsgesellschaft von starken Ungleich-heiten geprägt und die Überlebenschancen für alle Häftlinge keineswegs gleich schlecht waren, führt die Notwendigkeit einer differenzierten Analyse vor Au-gen. Die unterschiedlichen Überlebenschancen führten auch zur Ausbildung unterschiedlicher Überlebensstrategien und -techniken.47 Die Forschung hat sich mehrfach darum bemüht, überlebensfördernde Verhaltensweisen herauszu-arbeiten. Am eindrücklichsten hat dies Terence des Pres versucht, der dabei den Typ des erfolgreichen »Survivors« beschreibt, der bürgerliche Moralwerte hinter sich lässt und sich dadurch am schnellsten an die Welt des Lagers anpassen konnte.48 Hier wird hingegen von der Annahme ausgegangen, dass es nicht eine erfolgsversprechende, sondern viele sehr unterschiedliche Überlebensstrategien gab, deren Erfolgschancen auch maßgeblich davon abhingen, wie die Verhält-nisse im jeweiligen Außenlager waren. Ziel ist es, die verschiedenen Überlebens-techniken in ein Verhältnis zur spezifischen Situation zu setzen, in welcher sich der jeweilige Häftling befand.

Quellen

Für eine auf den Vergleich der Außenlager anhand der Sterblichkeitsraten ange-legte Studie ist es von zentraler Bedeutung, einen möglichst vollständigen Nach-weis über die Todesfälle in den Außenlagern führen zu können. Dies ist für die Außenlager des KZ Neuengamme anhand der Unterlagen der lokalen Standes-ämter sowie der Außenlager-Totenbücher, die im Krankenrevier des Hauptlagers geführt wurden, weitgehend möglich.49 Ansonsten gehört das KZ Neuengamme aber zu jenen Lagern, in denen es der SS gelang, fast die gesamte Lagerkorres-pondenz zu verbrennen.50 Für das KZ Neuengamme sind kaum Häftlingsbe-

47 Ähnlich: Botz, Binnenstrukturen.48 Des Pres, The Survivor.49 Detailliert: Kapitel V.50 Dementsprechend besteht der Bestand des ITS Arolsen für Neuengamme auch im

Wesentlichen aus Dokumenten, die Todesfälle verzeichnen. Da der Bestand zur Zeit-punkt meiner Archivrecherche nicht zugänglich war, habe ich die Ersatzüberlieferung in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gesichtet. Der Bestand NS 4 im Bundes-archiv enthält für das KZ Neuengamme nur eine Akte, die Küchentagebücher aus zwei Außenlagern umfasst.

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standslisten aus Außenlagern erhalten geblieben,51 ebenso wenig wie datierte Stärkeangaben für alle Außenlager. Aus diesem Grund ist der vierteljährliche Bericht des SS-Standortarztes Neuengamme für das Frühjahr 1945 von großem Wert. Er stellt das einzige Dokument dar, in dem die Belegungsstärken aller existierenden Außenlager zu einem spezifischen Zeitpunkt genannt werden. Zu-dem nennt er die Anzahl, der für jedes Lager eingesetzten Bewachungsmann-schaften sowie die Sterblichkeit in den Außenlagern, allerdings nur nach Stütz-punkten aufgelistet.52

Zur Beschreibung der Planungen der SS-Führungsspitze und deren zentraler Erlasse betreffs der Konzentrationslager sind die Bestände NS 3, NS 4 und NS 19 im Bundesarchiv in Berlin sowie die Sammlung der Nürnberger Dokumente im Staatsarchiv Nürnberg zentral. Bei den Kooperationen mit anderen staatlichen Stellen beim Verleih der KZ-Häftlinge sind die Bestände der Reichsministerien im Bundesarchiv in Berlin hilfreich, wobei dem Bestand des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion die größte Bedeutung zukommt. Für die Kooperationen mit der Wehrmacht wurden die Akten im Bundesarchiv-Militär-archiv gesichtet. Bei der Zusammenarbeit mit den städtischen Verwaltungen waren insbesondere die Bestände der Staatsarchive in Hamburg und Bremen wichtig.

Eine vergleichsweise dünne Quellenlage bieten im Fall der Außenlager des KZ Neuengamme die Überlieferungen aus Unternehmensbeständen. Problemlos zugänglich sind die Bestände Blohm & Voss im Hamburger Staatsarchiv, Her-mann Göring Werke (später: Salzgitter AG) im Bundesarchiv Koblenz und Kur-märkische Zellwolle und Zellulose AG Wittenberge im Landeshauptarchiv Brandenburg in Potsdam. Zudem konnte Einsicht in das Archiv der Drägerwerk AG in Lübeck genommen werden. Nicht zugänglich zum Zeitpunkt der Recher-che waren die Firmenarchive der Continental AG und der vormaligen Akkumu-latorenwerke AG, heute Varta. Zum Teil befinden sich einige Firmendokumente in den Unterlagen der Nachkriegsprozesse zu einzelnen Außenlagern. Insgesamt sind alle Überlieferungen, die den Einsatz der KZ-Häftlinge bei der Arbeit in den jeweiligen Werken betreffen, als äußerst spärlich zu bezeichnen. In keinem der Bestände finden sich detaillierte Aufschlüsselungen zur Arbeitsproduktivität der Häftlinge, zu Prämienregelungen, Verhaltensanweisungen für Firmenmit-glieder etc. Am gehaltvollsten sind die Unterlagen in den meisten Fällen hin-sichtlich der Verhandlungen der Firmen mit der SS über die Einrichtung der Außenlager. Eine wichtige Ergänzung stellen für einige Unternehmen die Com-bined Intelligence Objectives Sub-Committee (CIOS)- und British Intelligence Ob-

51 Ausnahmen bilden zwei von Häftlingen gerettete Bestandslisten für die Außenlager Meppen-Versen und Bremen-Schützenhof.

52 Vierteljährlicher Bericht des SS-Standortarztes des KZ Neuengamme vom 29.3.1945, in: StAN, 2169-PS.

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jectives Sub-Committee (BIOS)-Berichte dar, die im Hauptstaatsarchiv in Han-nover gelagert werden.53

Zur Beschreibung von Täterbiografien sind für die langjährigen SS-Männer die vor einigen Jahren ins Bundesarchiv Berlin eingegliederten Bestände des Ber-lin Document Center zentral. Da dies jedoch nur einen kleinen Teil der in den Außenlagern tätigen Wachmannschaften umfasst, sind die Unterlagen alliierter und bundesdeutscher Strafverfolgungsbehörden von größerer Bedeutung für diese Studie. Den wichtigsten Bestand bilden die Prozess- und Ermittlungsakten der britischen Besatzungsbehörden (WO 235 und WO 309), die im Public Re-cord Office in London lagern. Sie haben gegenüber bundesdeutschen Akten den Vorteil der Zeitnähe. Die Zeugenaussagen stammen aus den Jahren 1945 bis 1948, zudem befinden sich mitunter Originaldokumente aus der NS-Zeit in den Akten. Die Qualität der Akten der bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden hängen vor allem vom Ermittlungsinteresse der jeweiligen Staatsanwälte ab. Während die Akten der Staatsanwaltschaften bei den Landgerichten in Ham-burg und Hannover mitunter aussagekräftig sind, sind die Akten der Staatsan-waltschaft in Bremen aufgrund von deren geringem Ermittlungsinteresse wenig gehaltvoll.

Prinzipiell ist die Verwendung von Strafprozessakten als historische Quelle nicht unproblematisch. In der Regel waren die Angeklagten bemüht, sich in ei-nem günstigen Licht darzustellen. Ehemalige Häftlinge als Zeugen vermischten häufiger selbst Erlebtes und nur Gehörtes oder dramatisierten mitunter das Tä-terhandeln, da sie einen der Täter für ihr erlittenes Schicksal zur Verantwortung gezogen wissen wollten. Zudem folgen die Gerichtsprotokolle und Verhöre den Interessen der Justiz. In der Regel zielen sie auf die Beschreibung strafbarer Tat-bestände, die Lebensumstände der Häftlinge im Lager spielten hingegen vor Gericht oft eine geringe Rolle.54 Für die Studie wurden vor allem die Selbstaus-sagen der Täter über den eigenen Werdegang genutzt. Allerdings wurden diese, so dies möglich war, mit anderen Unterlagen abgeglichen, da mitunter Beitritte zur NSDAP oder zur SS verschwiegen oder zeitlich verändert wurden. Die Dar-stellungen zum Berufsweg stammten hingegen immer mit älteren Quellen über-ein, da dieser vor Gericht in der Regel keine Strafrelevanz besaß. Des Weiteren wurden die Aussagen ehemaliger SS-Angehöriger für die Rekonstruktion der Kompetenzen und Handlungsabläufe in den Außenlagern sowie im Kontakt zum Hauptlager genutzt. Auch hier bedarf es des Abgleichs mit anderen Aussa-gen, weil die Aussagenden dazu tendierten, die Bedeutung der eigenen Position im Gefüge zu minimieren. Aussagen von SS-Angehörigen oder anderen Bewa-

53 Zu deren Geschichte: Eckert, Kampf um die Akten, S. 41-58 und 243-246.54 Zur Nutzung von Strafprozessunterlagen als Quelle: Scheffler, NS-Prozesse; Tuchel,

NS-Prozesse; Orth, Konzentrationslager-SS, S. 14-17; Welzer, Täter, S. 304-307; Pollak, Grenzen des Sagbaren, S. 95-99; Wagner, Produktion, S. 37f.; Browning, Normale Männer, S. 17f.

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chungsmannschaften über Gewalttaten in den Lagern sind vergleichsweise sel-ten. Zugegeben wurden in der Regel höchstens Ohrfeigen oder Gewalttaten, die von einer großen Zahl von Zeugen bekundet wurden. Wenn die Täter ihre Ge-walttat eingestanden, beschrieben sie diese entweder als notwendig zur Aufrecht-erhaltung der Ordnung im Lager oder als von Vorgesetzten angeordnete Taten.

In einem gesonderten Kapitel werden als Quellenart Fotos, Filme und Zeich-nungen analysiert, die das Geschehen in Außenlagern des KZ Neuengamme oder den Arbeitsorten der Häftlinge abbilden. Da in der Arbeit die Bilder abge-druckt und analysiert werden und diese visuell auf das Geschehen vor Ort ver-weisen, wurde das Kapitel direkt vor dem Vergleich der Lebensbedingungen in den einzelnen Außenlagern positioniert. Nach diesem quellenanalytischen Teil wird dann in den folgenden Kapiteln an einigen wenigen Beispielen gezeigt, wie die Bilder für eine Sozial- und Alltagsgeschichte der Lager genutzt werden kön-nen.

Überlebendenberichte und -interviews

Eine zentrale Quelle dieser Arbeit stellen die Überlebendenberichte und -inter-views dar. Allein im Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme befinden sich fast 1.000 Interviews und Berichte, die auch das Leben in einem oder mehreren Außenlagern des KZ Neuengamme zum Thema haben. Die autobiografischen Schriften und lebensgeschichtlichen Interviews stellen einzigartige Quellen dar. Zu Fragestellungen, bei denen es auch um soziale Beziehungen und Emotionen geht, ist es von großer Bedeutung, die Ebene der subjektiven Erfahrungen, die Aneignungs- und Deutungsmuster in den Blick zu nehmen. Nur durch die Be-richte der Überlebenden ist etwas über die Anpassungsprozesse an eine un-menschliche Welt und die darin entwickelten Überlebensstrategien zu erfah-ren.55 Von daher hat die Oral History nicht nur additiven Wert für die Geschichtswissenschaft, sondern sie ermöglicht es, andere Fragen zu stellen und zu beantworten.56

Seit den ersten Oral History-Projekten hat sich die methodische Diskussion erheblich vertieft. Trotzdem sind zentrale Fragen keineswegs geklärt. Die Nut-zung von Zeitzeugenberichten und -interviews in der Geschichtswissenschaft führt zu nach wie vor umstrittenen Fragen ihrer Aussagekraft und ihrer Wirk-lichkeitsreferenz. Für das Forschungsfeld der Konzentrationslager ist dabei von besonderer Bedeutung, dass die Materialauswahl nicht repräsentativ ist. Berich-ten konnten nur die Überlebenden.57 Zudem schreibt bzw. spricht der Berich-tende in dem Wissen um den Ausgang der Geschichte, was im übrigen auch für

55 Pollak, Grenzen des Sagbaren, S. 106.56 Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen.57 Pollak, Grenzen des Sagbaren, S. 107; Wagner, Produktion, S. 33.

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die Aussagen der Täter in den Ermittlungsverfahren oder vor Gericht gilt. Der überlebende Häftling weiß um die Dimension des Massenmords, und er spricht vom Punkt des Überlebens. Dies strukturiert die Erzählung mit.58

Auf einer generelleren Ebene bewegt sich die Frage nach der Wirklichkeitsre-ferenz von lebensgeschichtlichen Interviews und Berichten. Insgesamt ist sich die Forschung heute weitgehend einig, dass diese kein historisches Abbild der Ereignisse präsentieren, was allerdings auch keine andere Quelle leisten kann. Mit Almuth Roelfs ist festzuhalten: »Die Konstruktion der Erinnerung unter-liegt verschiedenen Produktionsbedingungen, die die Erzählungen in den Inter-views maßgeblich beeinflussen.«59 Insbesondere für die Überlebenden der Lager, aber auch für alle anderen Zeitzeugen, ist es unumgänglich, die eigenen lebens-geschichtlichen Erfahrungen mit Sinn zu versehen und in dieser Hinsicht erin-nernd zu konstruieren. Des Weiteren zeigen neuere Forschungsansätze, dass das Gedächtnis nicht als Speicher funktioniert, sondern Erinnerungen in einem ständigen kreativen Prozess verfasst werden.60

Stellvertretend für die unterschiedlichen Ansichten hinsichtlich der Wirklich-keitsreferenz können die Positionen von Alexander von Plato und Harald Wel-zer bezeichnet werden. Während Plato von einer Entsprechung zwischen der vergangenen Wirklichkeit und ihrer Wiedergabe ausgeht, betrachtet Welzer die Aussagen Überlebender als bloßes Artefakt.61 Für die Erforschung der Ge-schichte der Konzentrationslager ist der Dissertation von Ulrike Jureit großer Wert beizumessen. Sie positioniert sich in der Tendenz ebenfalls eher skeptisch zur Wirklichkeitsreferenz der Zeitzeugenberichte.62 In letzter Zeit sind ihr darin mehrere empirische Arbeiten zur Geschichte der Konzentrationslager gefolgt. So betonen etwa Jens-Christian Wagner oder Hans Ellger mit Bezug auf Ulrike Jureit, dass eine Falsifizierung von Aussagen Überlebender aufgrund des konst-ruktiven Charakters der Aussagen nur bedingt möglich und sinnvoll ist.63 Der Position von Plato folgen hingegen z. B. Hermann Kaienburg oder Christopher Browning, die eine Falsifizierung der Aussagen durch Quellenabgleiche für möglich halten.64 Das Überraschende bei diesen diametral unterschiedlichen Ausgangspositionen ist, dass sich in den Studien selbst nur eine geringe Diffe-

58 Young, Beschreiben des Holocausts, S. 58.59 Roelfs, Oral History, S. 3.60 Jureit, Konstruktion und Sinn, S. 6.61 Plato, Zeitzeugen und historische Zunft; Welzer, Interview als Artefakt. Hier sei darauf

verwiesen, dass Harald Welzer die aus meiner Sicht mit weit größerer Skepsis zu be-trachtenden Aussagen von Tätern vor Gericht, trotz aller methodischen Reflexion, mit-unter so nutzt, dass er die Aussagen der Täter über bestimmte Taten als wirklichkeits-entsprechend nimmt, weil sein Buch sonst nicht hätte geschrieben werden können: Welzer, Täter.

62 Jureit, Erinnerungsmuster.63 Wagner, Produktion, S. 33; Ellger, Zwangsarbeit, S. 23.64 Kaienburg, Vernichtung durch Arbeit, S. 21; Browning, Collected Memories.

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renz im Umgang mit den Zeitzeugenberichten auffinden lässt. Auch Wagner und Ellger benutzen die Berichte mitunter als Ergänzung zur Aktenüberliefe-rung, und auch hier werden Zitate aus Berichten so geschildert, als würden sie faktisch die Vergangenheit repräsentieren können. In dieser Studie wird ein forschungspragmatisches Vorgehen gewählt, das die Frage nach der Wirklich-keitsreferenz produktiv bearbeitet. Die Erinnerungsberichte werden sowohl als eigensinnige Konstruktionen der Überlebenden begriffen, in denen lebensge-schichtliche Erfahrungen verarbeitet werden, wie auch als Belege für die Ereig-nisse im Lager. Die für die Studie zentrale Frage nach den konkreten Ereignissen im Lager wird aus unterschiedlichen Perspektiven erörtert, die nicht vorab ent-lang einer Wirklichkeitsreferenzskala gewichtet werden. Ihre Überzeugungskraft für mein Erkenntnisinteresse gewinnen die Aussagen der Überlebenden aus zwei Perspektiven: Der erinnerungs- und erzähltheoretischen, die den Bericht als (über-)lebenswichtige Konstruktion der Bearbeitung von Erfahrungen versteht und der strukturell-vergleichenden, die das Erzählte in die aus anderen Quellen erhaltenen Wissensbestände einfügen kann.

Forschungspraktisch werden in diesem Sinne die Berichte von Zeitzeugen in unterschiedlicher Form genutzt. In den Kapiteln zum Vergleich der Außenlager (V) und zu den Taten und Tätern (VI) werden durch die Berichte der Überle-benden Aussagen über die Situationen in den Außenlagern und über das Han-deln der Täter gewonnen, die ohne diese detaillierten Schilderungen nicht mög-lich wären. Aufgrund des Prüfens der Aussagen anhand anderer Datenquellen und Erinnerungsberichten wird ihnen hier, wenn der Abgleich positiv ausfällt, eine Wirklichkeitsreferenz zugeschrieben. In dieser Hinsicht werden die Aussa-gen der Überlebenden, wenn man es so bezeichnen will, wie ein »Aktenersatz« behandelt.65 Viele Überlebende legen unter anderem Zeugnis ab, um von den Verhältnissen in den Lagern und den an ihnen begangenen Verbrechen zu be-richten. Eine Beschränkung auf eine fallgeschichtliche, die Gänze des Erlebnis-berichts aufgreifende Analyse ist auch aus diesem Grund nicht sinnvoll. Eine kritische Geschichtsschreibung, die über die Verhältnisse in den Lagern und den dort begangenen Verbrechen berichten will, benötigt möglichst vielfältige Be-schreibungen.

Der Anspruch, die Berichte in ihrer lebensgeschichtlichen Dimension darzu-stellen und dabei auch die Konstruktionsprozesse der Erinnerung aufzuzeigen, bietet die zweite, den Erkenntnisgewinn der Studie produktiv erweiternde Pers-pektive. Es werden acht Überlebendenberichte bzw. -interviews in Kapitel VII in umfassender Form und im Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte in-terpretiert. Dabei geht es vor allem darum, der systematischen und strukturellen

65 Als Beispiele für sehr hohe methodische Ansprüche, die bei ihrer Umsetzung einen solchen Umgang tendenziell unmöglich machen würden und die eine Nutzung als »Aktenersatz« kritisieren: Rahe, Bedeutung der Zeitzeugenberichte, S. 86f.; Wagner, Produktion, S. 30.

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Analyse der Außenlager durch lebensgeschichtliche Perspektiven mehr Tiefe und Breite zu verleihen.

Zum Aufbau der Studie

Im ersten Kapitel werden die Hintergründe der Entstehung der KZ-Außenlager geschildert. Die Entwicklung wird dabei in verschiedene Phasen unterteilt. Die zentralen Akteure sind die SS-Spitze um Himmler und Pohl sowie ihre Verhand-lungspartner, wobei insbesondere die Rolle des Rüstungsministeriums hervor-sticht. Im zweiten Kapitel werden die Verhandlungen zwischen verschiedenen Akteursgruppen nachgezeichnet, die für die Entstehung von Außenlagern des KZ Neuengamme in Norddeutschland verantwortlich waren. Die wesentlichen Akteure sind die Kommandantur des KZ Neuengamme, Unternehmen, städti-sche Bürokratien und regionale Rüstungsdienststellen, die allerdings im Regel-fall mit den Verantwortlichen auf Reichsebene interagieren. Anhand der Ver-handlungen wird ein Panorama der Machtstrukturen im NS-Staat in den letzten Kriegsjahren gezeichnet. Im dritten Kapitel werden die Beziehungen zwischen dem Hauptlager und den Außenlagern untersucht. Im Zentrum steht der Ein-fluss, den Kommandant Pauly auf die Außenlager zu nehmen vermochte. Im zweiten Teil des Kapitels werden die strukturellen Bedingungen skizziert, die im Prinzip für alle Außenlager mit graduellen Abweichungen galten. Dadurch er-übrigt sich beispielsweise beim Vergleich der Außenlager der wiederholte Hin-weis, dass die Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht ausreichend war. Im vier-ten Kapitel werden drei verschiedene Arten von Bildquellen vorgestellt, die für die Geschichte der Neuengammer Außenlager aussagekräftig sind. Es wird ihr Gehalt untersucht und die differenten Aussagemöglichkeiten beschrieben. Das Ziel ist es, ihren Wert für eine Alltags- und Sozialgeschichte der Konzentrations-lager herauszuarbeiten.

Das Zentrum der Arbeit bilden die Kapitel fünf bis sieben. Im fünften Kapi-tel werden die Verhältnisse in den verschiedenen Außenlagern des KZ Neuen-gamme systematisch verglichen. Den zentralen Vergleichsmaßstab bilden die Sterblichkeitsraten in den jeweiligen Lagern. Ziel ist es, Faktorenbündel heraus-zuarbeiten, welche es ermöglichen, die Überlebenschancen der Häftlinge in den jeweiligen Außenlagern zu beschreiben. Im sechsten Kapitel stehen Gewalttaten und Täter im Mittelpunkt des Interesses. Im ersten Teil werden die in den KZ-Außenlagern begangenen Gewalttaten dargestellt und systematisiert. Im zweiten Teil werden die verschiedenen Tätergruppen anhand ihrer verschiedenen Wege in die KZ-Bewachungsmannschaften und ihrer Aufgabengebiete beschrieben. Im siebten Kapitel erfolgt die Untersuchung der Häftlingsgesellschaft in den Außenlagern und der kollektiven und individuellen Überlebensstrategien der Häftlinge. Im ersten Teil des Kapitels werden die Rahmenbedingungen, insbe-sondere die Mangelverhältnisse und die strukturelle Ungleichheit, analysiert.

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Daran anschließend werden acht Berichte bzw. lebensgeschichtliche Interviews Überlebender ausgewertet. Sie stellen zuerst einmal eine individuelle Schilde-rung der Erlebnisse in einem Außenlager dar. Aufgrund der verschiedenen Aus-drucksweisen und Zugriffe der Überlebenden tendieren die Berichte dahin, die stark strukturierte Erzählung des Historikers zu vervielfältigen. Neben dieser Vervielfältigung der Perspektiven geht es jedoch auch darum, die Berichte im Sinne der Fragestellung nach den Überlebensbedingungen zu interpretieren. Das achte Kapitel untersucht die Verhaltensweisen der Bevölkerung gegenüber den in den KZ-Außenlagern eingesperrten Häftlingen. Im neunten Kapitel wird die Evakuierung des KZ Neuengamme und seiner Außenlager beschrieben. Alle Kapitel werden durch ein kurzes Fazit abgeschlossen. Zum Schluss der Studie werden die zentralen Fragen der Einleitung wieder aufgegriffen und beantwor-tet.

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X Schlussbetrachtung

Das System der KZ-Außenlager entstand zwar in der zweiten Kriegshälfte, wirt-schaftliche Bedeutung größeren Ausmaßes erlangte es jedoch erst ab dem Früh-jahr 1944. Am Ende wurden KZ-Sklavenarbeiter zum letzten Aufgebot der Zwangsrekrutierung von Arbeitskraft, nachdem die gewaltsame Mobilisierung von zivilen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen zunehmend schwieriger wurde. Die KZ-Außenlager bildeten also eine wichtige Station auf der letzten Etappe einer maßlos übersteigerten Rüstungskonjunktur und Kriegswirtschaft. Die deutsche Gesellschaft war inzwischen vollkommen auf die Kriegswirtschaft ausgerichtet worden. Die ungeheure Dynamik der Entwicklung lässt sich nur aus der Kombination eines sich dem Ende zuneigenden Rüstungszyklus und ei-nes ideologisch extrem hochgerüsteten Freund-Feind-Schemas des bereits im Untergang befindlichen NS-Systems verstehen.

Für das System der Konzentrationslager waren die von der NSDAP und der SS vorgenommenen Feinddefinitionen von Beginn an konstitutiv. Während diese für Juden und für Sinti und Roma absolut waren und eine Überschreitung der Trennlinie zunehmend unmöglich wurde,1 war die Feindschaft gegenüber der Mehrheit der KZ-Häftlinge graduell abgestuft. Sozialdemokraten, Kommu-nisten, Zeugen Jehovas und so genannte »Asoziale« oder »Kriminelle« hatten aus Sicht der Nazis die Möglichkeit, sich zu rehabilitieren und konnten, zumindest in der Theorie, aus dem KZ-System entlassen werden. Ähnliches galt für den Großteil der Häftlinge, die als Oppositionelle aus anderen Ländern in die KZ verschleppt worden waren. Zwar wurden sie als Feinde des Nationalsozialismus betrachtet – und waren es auch –, aber diese Feindschaft wurde nicht als absolut angesehen. Während Juden, die den Einsatzgruppen während des Feldzuges ge-gen die Sowjetunion in die Hände fielen oder in ein Vernichtungslager depor-tiert wurden, in der Regel getötet werden mussten, galt für die Mehrzahl der KZ-Häftlinge aus Sicht der SS, dass sie getötet werden konnten. Als jüdische Häftlinge ab April 1944 zur Sklavenarbeit in die Außenlager im Reichsgebiet gebracht wurden, setzte die SS das Tötungsgebot aus. In den KZ-Außenlagern sollten die jüdischen Häftlinge arbeiten. Sie konnten, mussten aber nicht, getötet werden. Prinzipiell verstand die SS-Führung dies jedoch nur als temporäre Aus-setzung der Vernichtung.

Das zentrale Anliegen der SS-Bewachungsmannschaften war nicht die Tö-tung, sondern die Terrorisierung der Häftlinge. Auch wenn deren Tod billigend in Kauf genommen wurde, ging es vordergründig »lediglich« um Erniedrigung und Demütigung der Gefangenen, die nie wieder zum Widerstand in der Lage sein sollten. Die Rassifizierung und Inferiorisierung des »Fremden«, besonders auch der Osteuropäer, trugen ohne Zweifel dazu bei, dass die SS-Wachmann-

1 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden; Welzer, Täter.

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schaften ihren Dienst oft nicht nur als Pflichterfüllung verstanden, sondern die Terrorisierung der Häftlinge aus eigenem Antrieb praktizierten.

Die zeitliche Dynamik des Tötungshandelns in den Konzentrationslagern kann aber nur in eingeschränktem Maße durch die Feindbilder der KZ- Wachmannschaften erklärt werden, da die antisemitische und rassistische Weltanschauung sich nur bedingt wandelte. Sie war vielmehr von Beginn an grundlegend für das Handeln der SS-Wachmannschaften. Die Dynamik des Tö-tungshandelns lässt sich für die zweite Kriegshälfte nur vor dem Hintergrund des Kriegsverlaufs und des rüstungswirtschaftlichen Bedarfs an Arbeitskräften erklären. Das jeweilige Gewaltniveau ist nur kontextualisiert zu verstehen. Dem-entsprechend kann auch hier nur sehr bedingt von einer Eigendynamik der Ge-walt, die sich problemlos selbst perpetuierte, gesprochen werden. Vielmehr kann am Beispiel der KZ-Außenlager festgestellt werden, dass Gewalt immer sozial und historisch spezifisch ist. Deshalb ist Thomas Kühne zuzustimmen, der zur Theoriebildung der neuen Gewaltforschung anmerkt: »Die Krux der neuen Ge-waltsoziologie liegt in ihrer Flucht vor dem Kontext ihres Gegenstandes«.2

Die Regulation des Todes: Zentrale Steuerung und lokale Dynamiken

Die Reichsebene: Zentrale Beschlüsse

Himmler und Pohl sahen bis Ende 1942 wenig Sinn darin, die hohe Sterblichkeit in den Lagern zu bekämpfen. Bis dahin stand die Terrorisierung der Häftlinge im Vordergrund der in den Konzentrationslagern ausgeübten Praktiken. Die Sklavenarbeit der Häftlinge für rüstungswichtige Projekte hatte zwar bereits ein-gesetzt, aber die SS-Führung sah in deren Ausweitung keinen Grund, den Terror zu bremsen. Infolge der Kombination von schwerer Arbeit und brutaler Gewalt-anwendung war die Sterblichkeit in den Lagern sehr hoch. Erst im Winter 1942/43 mussten Himmler und Pohl schließlich einsehen, dass derart hohe To-desraten ihre Pläne vom Ausbau der Konzentrationslager verhinderten. Der Tod der Häftlinge wurde dysfunktional. Die Reaktion der SS auf das Massensterben war geprägt von einem zynischen Utilitarismus: Solange das Sterben der Häft-linge die Pläne der SS behinderte, galt es, dieses durch Regulation einzuschrän-ken, aber keineswegs zu beenden.

Die SS-Spitze hatte die Macht, die als notwendig betrachteten Maßnahmen auch in den Lagern umsetzen zu lassen. Durch die seit 1942 verstärkt ausgebaute Statistik im WVHA konnten die Verhältnisse von oben überwacht und gegebe-nenfalls reguliert werden. Theodor M. Porter und Michael T. Allen haben ein-drucksvoll belegt, dass der Ausbau von statistischen Systemen immer dort zu beobachten war, wo hemmende Entwicklungen der Organisation schnell und

2 Kühne, Massen-Töten, S. 24.

Schlussbetrachtung

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»rational« behoben werden sollten.3 Statistiken konnten so auch Terror und Gewalt »rationalisieren«. Das etablierte Terror-System konnte dadurch be-schränkt und verändert werden. Eine wichtige Veränderung war die Einschrän-kung der Kollektivstrafen in den Lagern. Die terrorisierende Gewalt wurde zwar beibehalten, aber stärker exemplarisch am einzelnen Häftling ausgeübt. Sie wurde individualisiert. Doch die individuelle Terrorisierung und insbesondere die Exekutierung von Häftlingen wegen Sabotage stellten ein wichtiges Mittel dar, um alle anderen Häftlinge dauerhaft und nachhaltig einzuschüchtern, ohne dabei ihre Arbeitskraft zu schädigen.

Aus diesen Gründen war die prozentuale Sterblichkeit im KZ-System Neuen-gamme in der Zeit vom Oktober 1943 bis Oktober 1944 mindestens dreimal niedriger als in der vorherigen Phase. Im November 1944 stieg die Sterblichkeit hier wie auch in den meisten anderen KZ-Komplexen im Reichsgebiet jedoch wieder rapide an. Die Gründe dafür waren vielfältig. Von besonderer Bedeutung war, dass die SS immer neue Häftlinge in die Konzentrationslager einlieferte, ohne dass sie die organisatorischen und versorgungstechnischen Grundlagen für diese Erweiterung schuf. Spätestens im Sommer 1944 war beispielsweise abseh-bar, dass die neuen Häftlinge kaum noch bekleidet werden konnten. Im Herbst 1944 begann schließlich die Auflösung der Konzentrationslager an den östlichen und westlichen Rändern des deutschen Herrschaftsbereichs, die für eine Über-füllung der Lager im Reichsgebiet sorgte. Als parallel dazu die kalte Jahreszeit einsetzte und die Nahrungsrationen gekürzt wurden, war ein dramatischer An-stieg der Sterblichkeit absehbar.

Himmler, das WVHA und die Kommandanten reagierten hierauf, indem sie Zonen des Todes in den Konzentrationslagern schufen und diese von den pro-duktiven Zonen des KZ-Systems abzukoppeln versuchten. In vielen Hauptla-gern entstanden abgetrennte Sterbebereiche, in denen als arbeitsunfähig gel-tende, kranke und sterbende Häftlinge weitgehend sich selbst überlassen wurden. Mitunter führte die SS dort jedoch auch Massenmorde durch. Die Trennung der produktiven von den unproduktiven Zonen – und Menschen – verlief in jedem KZ-Komplex in unterschiedlicher Weise. Im KZ-Komplex Mittelbau-Dora wurde das Hauptlager im Herbst 1944 für kranke Häftlinge aus den Außenla-gern gesperrt, weil die V2-Produktion im Hauptlager als bedeutsam betrachtet wurde. Stattdessen schob die SS die kranken Häftlinge in Bauaußenlager mit besonders schlechten Lebensbedingungen ab, wodurch sich diese zu Sterbela-gern entwickelten.

Im KZ-Komplex Neuengamme blieb hingegen das Hauptlager das zentrale Kranken- und Sterbelager. Die SS reagierte hier auf den Anstieg der Sterblichkeit in den Außenlagern mit umfangreichen Transporten kranker Häftlinge ins Hauptlager, die vor allem in der Zeit von November 1944 bis Januar 1945 erfolg-

3 Porter, Trust in Numbers; Allen, Business of Genocide, S. 281. Ähnlich: Tooze, Statis-tics.

Schlussbetrachtung

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ten. Die Folge war eine enorme Zunahme der Todesrate im Hauptlager, wäh-rend die Sterblichkeit in vielen Außenlagern im Januar 1945 zurückging. Im Februar 1945 beendete der Verkehrskollaps in Deutschland diese Strategie weit-gehend, und die Sterblichkeit in den Außenlagern stieg wieder drastisch an. Als die Evakuierungen der Außenlager des KZ Neuengamme Ende März 1945 ein-setzten, waren die Verhältnisse in vielen von ihnen katastrophal.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das utilitaristische Inter-esse der SS-Führung am Einsatz der Häftlinge in der Kriegswirtschaft kurzfristig zu einem Rückgang der Sterblichkeit in den Lagern beitrug. Die Senkung der Sterblichkeit war allerdings weniger durch ökonomisches als durch machtpoliti-sches Denken bedingt.4 Der Einsatz der Häftlinge in der Kriegswirtschaft bot der SS die Chance zur Beteiligung an kriegswirtschaftlichen Entscheidungspro-zessen, zu denen sie vorher wenig Zugang gehabt hatte. Auch wenn die SS nie über die Rolle einer Juniorpartnerschaft gegenüber den rüstungswirtschaftlichen Machtzentren hinauskam, schienen sich hier aus Himmlers Sicht neue Möglich-keiten aufzutun, für die er bereit war, das Ausmaß des Terrors in den Konzent-rationslagern einschränken zu lassen. Vor Ort sorgte die Logik der Produktion ebenfalls in mehreren Fällen für eine Abschwächung des Terrors, beispielsweise wenn die SS während der Arbeitszeit aus den Fabrikhallen verbannt wurde. Gleichzeitig war der Arbeitskräftebedarf der Kriegswirtschaft dafür verantwort-lich, dass die SS immer mehr Menschen in die Konzentrationslager verschleppte. So forderten im Jägerstab Industrielle die Deportation der ungarischen Juden, um mehr Arbeitskräfte für die Untertageverlagerung der Flugzeugindustrie zur Verfügung zu haben. Als im Herbst 1944 die Räumung der an den Rändern des Reiches gelegenen Konzentrationslager begann und parallel hierzu die Rüstungs-produktion in Deutschland einbrach, setzte in den Konzentrationslagern ein Massensterben ein. Die Logik des Machtausbaus und der Produktion sorgte nun nur noch für Versuche, den Tod zu steuern; eine generelle Tendenz, den Tod auf-zuhalten, gab es weder bei der SS noch der Rüstungsindustrie. Vielmehr versuchte die Industrie ab Frühjahr 1945, die Häftlinge an die SS zurückzugeben. Es ging darum, sich kurz vor Kriegsende jeglicher Verantwortung zu entledigen.

Die Mittelinstanz: Die Neuengammer Kommandantur

Für die Neuengammer Außenlager kann festgehalten werden, dass die Bemü-hungen, die Sterblichkeit zu senken, ab dem Herbst 1943 erfolgreich waren. In den Außenlagern nahm die Sterblichkeitsrate in der Phase von Oktober 1943 bis Oktober 1944 spürbar ab. Nur in den wenigsten Fällen starben in einem der Außenlager mehr als 1% der Häftlinge pro Monat, während in den Phasen davor und danach die Sterblichkeit durchschnittlich zwischen 3% und 5% lag und mit-

4 In Bezug auf das Denken Himmlers: Schulte, Zwangsarbeit, S. 439.

Schlussbetrachtung

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unter in einzelnen Lagern über 10% anstieg. Als die Sterblichkeit ab November 1944 wieder zu steigen begann, reagierte die Kommandantur mit der Verstär-kung der Krankentransporte von den Außenlagern ins Hauptlager. Kein Außen-lager wurde als dauerhaftes Sterbelager für Häftlinge aus anderen Lagern um-funktioniert. Hierbei lassen sich bei der Behandlung einzelner Außenlager keine Unterschiede erkennen. Während im System Mittelbau-Dora eine Unterschei-dung zwischen Außenlagern mit wichtigen Produktionen und anderen mit we-niger wichtigen Produktionen stattfand, lässt sich Vergleichbares im System Neuengamme nicht beobachten.

Im Ganzen kann festgehalten werden, dass die Gesamthöhe der Sterblichkeit in den Außenlagern des KZ Neuengamme maßgeblich durch die Kriegslage und das Verhalten der obersten SS-Führung bedingt war. Die Kommandantur im KZ Neuengamme sorgte im Prinzip vor allem für die Umsetzung der zentralen Anweisungen in den Außenlagern. Das Bemühen Paulys ging dahin, ein geord-netes Konzentrationslager zu führen, welches den Wünschen der SS-Führung entsprach und ihm deren Lob einbringen sollte. Er versuchte deswegen, die Ter-rorisierung der Häftlinge und die Verhinderung von Fluchten mit den Erforder-nissen des Arbeitseinsatzes und der von der SS-Führung erwarteten Regulierung der Sterblichkeit in Übereinstimmung zu bringen. Falls Pauly das Regime in einem Außenlager bei seinen Inspektionsreisen zu milde erschien, sorgte er für die Absetzung des Lagerführers. Wenn jedoch die Sterblichkeit über ein be-stimmtes Maß hinaus anstieg, bestellte er den Lagerführer ein und verlangte eine Senkung der Todeszahlen. Den größten Einfluss auf die Praxis in den Außen-lagern hatte Pauly jedoch dadurch, dass er die jeweiligen Lagerführer sowie die Stärke des Wachkommandos für die einzelnen Außenlager festlegte.

Lokale Dynamiken: Eine Faktorenanalyse der Sterblichkeit in den Außenlagern

Die unterschiedlichen Phasen der Sterblichkeit in den Außenlagern des KZ Neuengamme waren im Wesentlichen durch den Kriegsverlauf und die sich dadurch ergebenden Entscheidungen auf höchster Reichsebene bedingt. Dane-ben unterschieden sich jedoch auch innerhalb einzelner Phasen die einzelnen Außenlager gravierend, was die Überlebenschancen der Häftlinge betraf. Das formulierte Ziel der Untersuchung war es, eine Typologie der Außenlager zu entwickeln, die aufgrund der Zuordnung eines Außenlagers zu einem Typ eine belastbare Relation zur Sterblichkeitsrate herstellen sollte. Die Studien zu den Außenlagern des KZ Mauthausen hatten ergeben, dass in den Produktionslagern eine jährliche Sterblichkeitsrate von etwa 5% und in den Baulagern von etwa 30% herrschte. Diese bedeutende Differenz ließ auch für diese Untersuchung annehmen, es müsse einen gravierenden Unterschied zwischen den Bau- und den Produktionslagern geben.

Schlussbetrachtung

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Die Analyse zeigt jedoch, dass die Verhältnisse und Entwicklungen in den Außenlagern des KZ Neuengamme deutlich komplexer und heterogener waren als im Fall Mauthausen. Verallgemeinernd kann festgehalten werden: In den Frauenaußenlagern war die Sterblichkeit vergleichsweise gering. Bei den Männer-außenlagern war die Sterblichkeit in den kleinen Außenlagern tendenziell ge-ring, während sie in den großen Außenlagern hoch war. Letzteres gilt jedoch schon nur eingeschränkt, weil die Unterscheidung nach Lagergröße in den ers-ten beiden Phasen des Untersuchungszeitraumes nicht signifikant war und erst in der dritten Phase deutlich nachweisbar wurde.

Es zeigt sich, dass der Aussagewert einer solchen Typologisierung gering ist. Ein Ergebnis der Studie lautet darum, dass die Aufstellung einer Typologie von Außenlagern anhand der Überlebenschancen der Häftlinge aufgrund der Kom-plexität der Verhältnisse nur mittels einer Entkontextualisierung und Reduktion multipler Faktoren möglich ist. Stattdessen wurde eine Herangehensweise ge-wählt, die dezidiert einzelne Faktoren herausarbeitete, die Erklärungen für die unterschiedlichen Sterblichkeitsraten liefern können. Sie erbrachte folgende Er-gebnisse: Die Unterschiede in den Sterblichkeitsraten zwischen den Typen Bau- und Produktionsaußenlager blieben während der drei untersuchten Phasen ge-ring. Einer der Gründe hierfür lag darin, dass männliche jüdische Häftlinge, die aufgrund des Antisemitismus der Wachmannschaften eine vergleichsweise hohe Sterblichkeit aufwiesen, im KZ Neuengamme vor allem in die Produktionsau-ßenlager gebracht wurden. Doch auch ein Vergleich der Bau- und Produktions-lager mit nichtjüdischen Häftlingen ergibt keine signifikanten Unterschiede. Ein wichtiger Grund für die fehlende Differenz liegt darin, dass in vielen Pro-duktionslagern, insbesondere bei den Werften, häufig Bau- und Aufräumarbei-ten verrichtet werden mussten.

Unterschiede in den Sterblichkeitsraten werden erst deutlich, wenn die Typen weiter differenziert werden: So war bei den Baulagern die Sterblichkeit beim Hochbau dreimal geringer als bei den Schanzarbeits-Außenlagern. Wesentliche Gründe für die hohe Sterblichkeit in letzteren liegen darin, dass die Arbeiten im Panzergraben leicht zu überwachen waren, das Bewachungspersonal deswegen häufig zur Gewalt griff und die Arbeitsbedingungen katastrophal waren. Die Häftlinge arbeiteten bei Wind und Wetter schutzlos draußen. Viele mussten währenddessen bis zu den Knöcheln im Grundwasser stehen.

Ein überraschendes Ergebnis der Studie war, dass die Sterblichkeit beim Un-tertagebau eher unterhalb der durchschnittlichen Sterblichkeitsrate aller Männer-außenlager lag, während in vielen anderen KZ-Systemen die Untertagebaulager durch sehr hohe Todeszahlen geprägt waren. Am Beispiel des Außenlagers Helmstedt-Beendorf ließ sich zeigen, dass dies teilweise auf die Beschaffenheit der Untertageräume zurückzuführen war. In der Salzmine herrschte Trockenheit und eine Temperatur von über 20 Grad. Für die Häftlinge war die Mine gerade im besonders kalten Winter des Jahres 1944/45 ein vergleichsweise günstiger Ar-beitsplatz. Im Gegensatz dazu war die Sterblichkeit im Untertagebaulager in

Schlussbetrachtung

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Hannover-Ahlem hoch, weil die klimatischen Bedingungen im dortigen As-phaltstollen deutlich schlechter waren als in der Salzmine. Diese Ergebnisse zei-gen, dass auch die weitere Ausdifferenzierung der Arten der Arbeit nur teilweise einen Zusammenhang mit den Überlebenschancen herstellen kann. Wichtiger als die Art der Arbeit waren häufig die konkreten Arbeitsbedingungen, die wie-derum durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst wurden. Neben den klima-tischen Verhältnissen am Arbeitsplatz (und in den Baracken) war die Dringlich-keit des Baues oder der Produktion für die Kriegswirtschaft von entscheidender Bedeutung. Insbesondere für die Baulager lässt sich zeigen, dass mit steigendem Termindruck die Überlebenschancen der Häftlinge sanken.

Eklatant unterschiedlich waren die geschlechtsspezifischen Überlebenschan-cen. In den Männeraußenlagern war die Sterblichkeit in der zweiten Phase (Ok-tober 1943 bis Oktober 1944) fünfmal und in der dritten Phase (November 1944 bis März 1945) dreißigmal höher als in den Frauenaußenlagern. Wesentliche Gründe hierfür waren die niedrigere Bewachungs- und Gewaltintensität in den Frauenaußenlagern, die besseren Kontakte von weiblichen Häftlingen zur Au-ßenwelt sowie ihre homogenere Gruppenzusammensetzung und ihr niedrigerer Altersdurchschnitt. Während die geringere Bewachungsintensität, die homoge-nere Gruppenzusammensetzung und der niedrigere Altersdurchschnitt5 direkt auf Anweisungen der SS zurückgeführt werden können, ergaben sich das gerin-gere Gewaltniveau und die besseren Kontaktmöglichkeiten wesentlich aus der Situation vor Ort.

Bei den Männeraußenlagern zeigt sich in der Untersuchung für die letzte Zeitphase ein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Überlebenschancen aufgrund der Belegungsstärke der Außenlager. In den kleinen Außenlagern (we-niger als 200 Häftlinge) war die Sterblichkeitsrate siebenmal geringer als in den großen Außenlagern (mehr als 1.000 Häftlinge). Die Gründe hierfür lagen vor allem darin, dass die größere Nähe zwischen Häftlingen und SS das Gewalt-niveau verringerte und dass die Verteilung der Nahrungsmittel unter den Häft-lingen weniger durch Ungleichheit und Korruption geprägt war.

Häftlingszwangsgesellschaft

Eine weitere wichtige Frage der Untersuchung war, inwieweit die Herkunft der Häftlinge und die jeweiligen Verhaftungs- bzw. Einweisungsgründe in ein KZ die Überlebenschancen beeinflussten. Maßgeblich für den Umgang der SS mit den Häftlingen war unter anderem die Stellung des jeweiligen Häftlings in der rassistischen NS-Hierarchie. Aus diesem Grund wird der Standort in der bishe-rigen Forschung als ein zentraler Gradmesser für die Überlebenschancen der Häftlinge in den Konzentrationslagern betrachtet. So wird etwa davon ausge-

5 Dieser war bedingt durch die Selektionspraxis im KZ Auschwitz.

Schlussbetrachtung

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gangen, dass die Sterblichkeit der jüdischen und der osteuropäischen Häftlinge in der Regel sehr viel höher als die der westeuropäischen und deutschen Häft-linge gewesen sei.6

In Übereinstimmung mit der NS-Rassenhierarchie finden sich im Außenlager-system des KZ Neuengamme zwar die hohe Sterblichkeit der männlichen jüdi-schen Häftlinge sowie die niedrige Sterblichkeit der nordeuropäischen und der deutschen Häftlinge, aber andere Vorannahmen bestätigen sich nicht. Die Sterb-lichkeit der männlichen westeuropäischen Häftlinge war in etwa gleich hoch wie die Sterblichkeit der jüdischen Häftlinge und lag damit deutlich höher als bei den osteuropäischen Häftlingen. Ebenfalls im Widerspruch zu der Annahme steht die durchgängig geringere Sterblichkeit der weiblichen jüdischen Häftlinge.

Eine Erklärung dieser Befunde ist nicht ohne eine grundsätzliche Charakterisie-rung der Häftlingszwangsgesellschaft möglich. Diese war ein System extremer Un-gleichheit. Von zentraler Bedeutung für das Leben der Häftlinge war die ständige Unterversorgung mit Nahrungsmitteln oder Bekleidungsstücken. Insbesondere der Hunger prägte grundlegend den Alltag der Mehrheit der Häftlinge. Da die Nahrungsrationen in vielen Außenlagern nicht für das Überleben aller ausreichten und eine Rebellion gegen die SS den Tod bedeutet hätte, kämpften die Häftlinge um die knappen Lebensmittel. Die SS bemühte sich nach Kräften, Gegensätze zu schüren und Häftlinge gegeneinander auszuspielen. Vor allem bestärkte sie die Vorurteile zwischen den nationalen Häftlingsgruppen. Beispielsweise setzte sie gerne polnische Kapos für mehrheitlich aus französischen Häftlingen bestehende Arbeitsgruppen ein. Die SS förderte dadurch die ohnehin bestehende Tendenz zur nationalen Gruppenbildung der Häftlinge.

Kehren wir vor diesem Hintergrund zur beobachteten Abweichung von den bisherigen Forschungsannahmen zurück und betrachten, wie sich die Stellung in der rassistischen NS-Hierarchie und die Überlebenschancen zueinander ver-hielten. Um diese Abweichungen zu erklären, gingen bisherige Forschungen da-von aus, dass mit dem Arbeitseinsatz der Häftlinge in den Außenlagern die Be-deutung ihrer beruflichen Qualifikation für die Überlebenschancen zunahm, während die Bedeutung ihrer Position auf der rassistischen Skala proportional abgenommen habe. Die Quellenlage lässt hierzu bezüglich der Außenlager des KZ Neuengamme nur teilweise Aussagen zu. In mehreren Außenlagern zählte ein vergleichsweise großer Anteil der verstorbenen Häftlinge zu den Facharbei-tern. Auch betonten mehrere Häftlinge aus Produktionslagern, dass qualifizierte Kräfte von der SS nicht geschont wurden und eventuelle Gratifikationen über Prämien gering ausgefallen seien.7 Für die These spricht hingegen, dass im Au-

6 Herbert/Orth/Diekmann, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, S. 20f.7 Der französische Überlebende Henry le Druillenc betonte beispielsweise, dass im Au-

ßenlager Wilhelmshaven der beste Schweißer unter den Häftlingen nach vier Wochen verstarb: Aussage Henry le Druillenc vor dem britischen Militärgericht (1946), in: Freundeskreis (Hg.), Curiohaus-Prozeß, Band 1, S. 303.

Schlussbetrachtung

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ßenlager Lütjenburg, wo hochspezialisierte Häftlinge bei der Produktion von V2-Bestandteilen arbeiteten, nur ein einziger Häftling starb.

Die angewandten quantitativen Methoden stoßen hier an ihre Grenzen. Erst eine qualitative Auswertung der Häftlingsberichte ermöglicht es, weitergehende Begründungszusammenhänge aufzuzeigen. Es wurde in der Studie hervorgeho-ben, dass die osteuropäischen, insbesondere die sowjetischen Häftlinge das Le-ben mit Mangelernährung eher gewohnt waren als westeuropäische Häftlinge und dass sie kreativ in der Beschaffung von Nahrungsersatz waren, die bei west-europäischen Häftlingen in der Regel eher Ekel auslösten (z. B. Insekten oder Maden). Des Weiteren zeigte sich, dass die osteuropäischen stärker als die west-europäischen Häftlinge Gewalt als Mittel einsetzten, um zusätzliche Nahrungs-mittel oder auch Funktionsposten zu erkämpfen. Besonders signifikant war dies im Außenlager Porta Westfalica-Barkhausen, in dem die große ukrainische Häftlingsgruppe mehrfach die dänischen Häftlinge überfiel und deren Rote-Kreuz-Pakete plünderte. Während in den anderen Außenlagern die Sterblichkeit der dänischen Häftlinge durch die ihnen zugestellten Pakete vergleichsweise niedrig war, stieg sie im Außenlager in Porta Westfalica deutlich an. Gleichzeitig war die Sterblichkeit unter den ukrainischen Häftlingen dort vergleichsweise gering. Insgesamt ist zu beobachten, dass der Mangel an Nahrungsmitteln der häufigste Grund für Gewaltanwendungen unter den Häftlingen war.

Was die Gründe für die niedrigere Sterblichkeit der weiblichen Häftlinge an-belangt, war dafür neben der unterschiedlichen Behandlung durch die SS und die Bewachungsmannschaften, noch ein weiterer Grund verantwortlich. Die Überlebendenberichte zeigen auf, dass die Frauen stärker als die Männer in der Lage waren, die Vorteile, die sie durch die bessere Behandlung erfuhren, nicht nur individuell, sondern zu Gunsten der Gruppe zu nutzen. So waren die weib-lichen Funktionshäftlinge nur selten bereit, Gewalt gegen ihre Mithäftlinge ein-zusetzen. Zwar kam es auch bei den weiblichen Häftlingen bei der Verteilung knapper Nahrungsmittel zum Streit, doch während dieser in den Männeraußen-lagern in der Regel durch den Einsatz von Gewalt entschieden wurde, lösten die Frauen die Konflikte häufig kreativ und kompromissorientiert. Es entstanden zwar auch Differenzen und Hierarchien zwischen den einzelnen Frauen oder ihren Gruppen, aber Ausmaß und Konsequenzen waren weitaus geringer als bei den Männern.

Die Heterogenität der Täter

Vor dem Krieg bestanden die KZ-Wachmannschaften aus jungen Männern, die kaserniert und aus ihrem sozialen Umfeld gerissen worden waren. Ihnen wurde die Gewaltausübung in den Lagern von bereits im KZ sozialisierten Gewalttä-tern beigebracht. In der Truppe entwickelte sich häufig eine Kameradschaft der Gewalt. Man(n) verstand sich als Elitetruppe. Die Wachmannschaften in den

Schlussbetrachtung

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Außenlagern des KZ Neuengamme waren dagegen eine heterogene Gruppe aus SS-Männern, älteren und z.T. invaliden Wehrmachtssoldaten und Zollbeamten sowie jungen Frauen.

Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass der Anteil lagererfahrener reichs-deutscher SS-Männer am Bewachungs- und Führungspersonal hier sogar noch sehr viel geringer war, als bislang in der Forschung vermutet. Im Frühjahr 1945 stellten diese schätzungsweise nur noch etwa 10% des Personals aller Außenlager. Man könnte vermuten, dass sich unter diesen Umständen die dortigen Verhält-nisse gebessert hätten. Dies war zum Teil auch der Fall. Die Häftlinge beschrie-ben die neuen Bewacher in der Regel als weniger brutal als die SS. Der Großteil der neuen Wachmannschaften war jedoch erst im Sommer/Herbst 1944 in ein KZ-Außenlager zum Dienst eingeteilt worden, und ab dem November 1944 stieg die Sterblichkeit in den meisten Männeraußenlagern deutlich an. Die neuen Wachmannschaften sorgten letztlich nicht für eine Verbesserung, son-dern waren Teil einer dramatischen Verschärfung der Situation. Wie lässt sich dies erklären?

Anders als in den Einsatzgruppen wurde von den KZ-Bewachungsmann-schaften nur selten ein direkter Tötungsakt gefordert. Auch Gewaltanwendun-gen gegenüber den Häftlingen waren nicht zwangsweise verordnet. In den aus-gewerteten Akten der Prozesse gegen Mitglieder der Bewachungsmannschaften lassen sich kaum Aussagen über eine Verordnung zur Gewaltausübung finden – obwohl sie dies entlastet hätte. In der Regel scheinen die SS-Offiziere bzw. Unteroffiziere der Außenlager den neuen Bewachungsmannschaften eine Ein-führungsrede gehalten zu haben, in der gefordert wurde, scharf gegen die Häft-linge vorzugehen. Zudem enthielt diese Rede oft die Behauptung, alle Häftlinge seien Verbrecher und deshalb nicht zu schonen. Die Briefe zweier Wehrmachts-soldaten und das Vorgehen der Marinebaudirektoren im Außenlager Wilhelms-haven zeigen, dass die Kategorisierung der Häftlinge als gefährliche Volks- und Reichsfeinde oft übernommen und beibehalten wurde.

Es ist davon auszugehen, dass den Wachmannschaften anfangs die grundsätz-lichen Regeln der Häftlingsbewachung von der SS vermittelt wurden, die kon-krete Auslegung der Richtlinien vor Ort dann aber weitgehend ihnen überlassen blieb. Sie konnten, mussten aber nicht, körperliche Züchtigungen einsetzen, um Häftlinge zu disziplinieren oder zu bestrafen. Das Beispiel des Außenlagers Hamburg-Spaldingstraße zeigt, dass mitunter nur ein vergleichsweise geringes Maß an körperlicher Gewalt »notwendig« war, um ein tödliches Terrorregime aufrechtzuerhalten. Aus den wenigen Berichten aus dem Lager wird deutlich, dass vor allem der SS-Rapportführer Hans Fiekers brutale körperliche Gewalt ausübte und Häftlinge bewusstlos schlug. Die Bewachungsmannschaft bestand ansonsten vor allem aus älteren Zöllnern und Wehrmachtssoldaten. Zugleich ließ sich für dieses Außenlager seit dem Dezember 1944 ein Massensterben fest-stellen, das auf ein Zusammenspiel aus Unterernährung, kaltem Wetter und schwerer Arbeit zurückzuführen war. Direkte körperliche Gewalt spielte bei den

Schlussbetrachtung

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Todesfällen eine vergleichsweise geringe Rolle. Sie war in erster Linie als bestän-dige Bedrohung präsent. Die Aufgabe der Wachmänner bestand vor allem darin, die Flucht der Häftlinge zu verhindern und diese von der Besorgung von Nah-rungsmitteln ab- und zur Arbeit anzuhalten. Zur letzteren Aufgabe konnten je-doch auch die Kapos eingesetzt werden. Insgesamt kann festgehalten werden, dass den Wachmannschaften erhebliche Handlungsoptionen zur Auswahl stan-den.

An einer Veränderung der Umstände zu Gunsten der Häftlinge hatten auch diejenigen Bewacher kein Interesse, die nicht SS-Mitglieder waren. Um die Situ-ation der Häftlinge zu verbessern und den Tod aufzuhalten, hätte es mehr be-durft, als lediglich keine körperliche Gewalt mehr auszuüben. Die meisten der Wachmänner stellten sich die Frage nach der Verbesserung der Lebensumstände jedoch gar nicht. Der Tod der Häftlinge war ihnen egal. Die Briefe zweier vor-maliger Wehrmachtssoldaten zeigen, dass die Wachmannschaften bis in die letz-ten Kriegstage reichlich zu essen hatten, während neben ihnen die Häftlinge verhungerten. Sie illustrieren auch, dass das sozialpsychologische Kollektiv der Deutschen bis kurz vor Kriegsende zusammen hielt. Der Krieg wurde als »un-ser«, als eigener Krieg verstanden und nicht als der Krieg »von denen da oben« (ganz im Gegensatz zu den Verhältnissen am Ende des Ersten Weltkrieges). Man hoffte noch im Frühjahr 1945 auf eine Kriegswende und war bereit, seine Auf-gabe bis zum bitteren Ende auszuführen.

Die Briefe der Wachmänner zeigen weiterhin, dass die heterogene Zusam-mensetzung der Wachmannschaften für deren Zusammenarbeit und gemein-same Handlungsweise auch Vorteile mit sich brachte.8 Das Regelwerk wurde vergleichsweise wenig streng gehandhabt. Die individuell geschaffenen Frei-räume bei der Wachtätigkeit waren in gewissen Grenzen geduldet. Den Wach-männern war es möglich, sich in kleineren Gruppen untereinander zu solidari-sieren. Die große Anzahl fast täglich geschriebener Briefe zeigt auch, dass den Männern Freiräume und Rückzugsorte blieben. Allerdings brachte die Hetero-genität in der Zusammensetzung der Wachmannschaften auch zusätzliche An-lässe für Konflikte mit sich. In mehreren Außenlagern kam es zu mitunter hefti-gen Streits zwischen Lagerführern, die von der Wehrmacht überstellt worden waren, und den ihnen unterstellten erfahrenen SS-Männern. Häftlinge konnten diese Streitigkeiten in manchen Fällen zu ihren Gunsten nutzen.

Auch wenn die körperliche in den Außenlagern eine geringere Rolle spielte als die strukturelle Gewalt, stellte deren Einstellung oder Abnahme für die Häft-linge eine deutliche Verbesserung ihrer Situation und ihrer Überlebenschancen dar. In den ausgewerteten Materialien zu den Außenlagern des KZ Neuengamme finden sich vor allem zwei Gründe, die ausschlaggebend dafür waren, dass auf die Ausübung von Gewalt verzichtet wurde. Das erste Motiv war eine Art Grund-ethik bei einigen Wachmännern und KZ-Aufseherinnen, die daran festhielten,

8 Ähnlich: Lüdtke, Gewaltformen, S. 162; Welzer, Täter, S. 131.

Schlussbetrachtung

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dass Menschen nicht geschlagen werden sollten. Der zweite Grund war soziale Nähe. Sobald es Häftlingen gelang, Kontakt zu ihren Bewachern herzustellen, wurde in der Regel der Gewalteinsatz geringer. Wichtige Möglichkeiten, Kon-takte aufzubauen, bildeten Arbeitsmodalitäten, persönliche Sympathien oder – bei männlichen Bewachern von weiblichen Häftlingen – paternalistische Schutz-gefühle.

Trotz der Heterogenität der Wachmannschaften, manchen Streits und einigen Hilfeleistungen für Häftlinge, konnte die Neuengammer Kommandantur gesi-chert davon ausgehen, dass die Häftlinge überwacht, zur Arbeit gezwungen und Fluchtversuche weitgehend verhindert wurden. Das System funktionierte letzt-lich bis in die letzten Kriegstage hinein. Maßgeblich dafür verantwortlich waren auch die altgedienten SS-Männer, die zwar nur 10% des Personals der Außenla-ger stellten, aber die zentralen Positionen besetzten und in der Mehrzahl der Außenlager die dominanten Kräfte blieben.

Harald Welzer ist zuzustimmen, dass Biografik und Sozialgeschichte nicht alle Fragen hinsichtlich der NS-Täter beantworten können, weil keine Gruppe immun gegen die Beteiligung an den Verbrechen war.9 Aber es existiert in vielen Fällen doch eine soziale Aufteilung von Gewalttaten. Die Konzentra tionslager-SS setzte sich fast ausschließlich aus Angehörigen der mittleren und un teren Mittel-schicht und in deutlich geringerem Maße der Unterschicht zu sammen. Ange-hörige der oberen Mittelschicht und in der gesellschaftlichen Stratifikation Da-rüberstehende stellten in der Konzentrationslager-SS eine Ausnahme dar, was im Wesentlichen durch die schlechte Bezahlung und durch das Tätigkeitsprofil im Allgemeinen bedingt war. Die Mitglieder der Konzentra tionslager-SS haben nur wenige Ego-Dokumente hinterlassen, diese Gruppe schwieg sich weitgehend über ihre Motive, ihr Denken und Handeln aus.10

Eine genauere Beschreibung und Charakterisierung der Täter ist aus diesem Grund nur durch die Analyse ihres Verhaltens im Lager möglich. Die Untersu-chung ergab, dass etwa fünfzig notorische Gewalttäter und fünfzig bis hundert SS-Führer, die maßgeblich die Verwaltung des Lagers und die Außen-Kommu-nikation übernahmen, eine zentrale Rolle dabei spielten, die etwa 40.000 KZ-Häftlinge zu terrorisieren. Wesentlich für ihr Handeln war die Position, die sie in der Diensthierarchie besetzten. Zugleich muss betont werden, dass auch in-nerhalb dieses hierarchischen Gefüges große individuelle Gestaltungsräume ge-nutzt werden konnten.

Das höchste Maß an Gewaltaffinität und Gewaltausübung konnte für die Position des Rapportführers nachgewiesen werden. Da der Rapportführer die täglichen Appelle abnahm, die Häftlinge zur Arbeit einteilte und bei deren Rückkehr die Bestrafung von Beschuldigten übernahm, war er in all jenen Situ-ationen der Verantwortliche, die Gelegenheiten boten, brutale Gewalt auszu-

9 Welzer, Täter, S. 43.10 Orth, Konzentrationslager-SS, S. 299.

Schlussbetrachtung

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üben. Die Stützpunktleiter, die mehrere Außenlager verwalteten, wurden hinge-gen meist derart von der Verwaltungsarbeit in Beschlag genommen, dass sie kaum noch in den Kontakt mit Häftlingen kamen. Auch wenn einige von ihnen in ihren vorherigen Positionen durch extreme Gewalt aufgefallen waren, übten sie in der Funktion des Stützpunktleiters keine körperliche Gewalt aus. Auch die Lagerführer der großen Außenlager beschäftigten sich häufig nur noch mit de-ren Verwaltung. Bei ihnen zeigten sich jedoch größere Differenzen. Einige be-sonders gewalttätige Lagerführer übernahmen beispielsweise regelmäßig die Ab-nahme von Appellen, so dass sie sich explizit Möglichkeiten zur Gewalttätigkeit schufen, die sie qua ihres Tätigkeitsfeldes nicht unbedingt hatten. Andere Lager-führer hielten sich davon fern und überließen die Gewaltausübung dem Rap-portführer.

In mehreren Außenlagern verzichteten sogar Rapportführer weitgehend dar-auf, unmittelbare Gewalt auszuüben. Die Züchtigungen und Misshandlungen übernahmen dann häufig die Blockführer. Für einzelne kleine Männeraußen-lager und wenige Frauenaußenlager ließen sich sogar überhaupt keine un-mittelbaren körperlichen Bestrafungsaktionen ermitteln. Prinzipiell kann aber festgehalten werden, dass sich gewaltbereite SS-Männer im Rahmen der KZ-Außenlager eine Vielzahl von Möglichkeiten boten, z.T. exzessive Gewalt aus-zuüben. Demgegenüber muss hervorgehoben werden, dass es mit wenigen Aus-nahmen (Flucht eines Häftlings oder Schutz der eigenen Person) keine für Wachmänner und Aufseherinnen geltende Anweisung gab, selbst körperliche Gewalt anzuwenden. Während für die KZ-Hauptlager im Sinne Hans Momm-sens von einem Tatkollektiv gesprochen werden kann, welches durch Gruppen-druck und Kameraderie eine gemeinsame Gewaltkonformität herstellte, war dies in den Außenlagern nur zum Teil gegeben. Eine homogene, durch KZ-Ge-walt sozialisierte Gruppe bestand hier nicht mehr. Die wenigen SS-Offiziere und SS-Männer arbeiteten mit einer kleinen Gruppe von Wachleuten mit langjähri-gen Erfahrungen innerhalb des KZ-Systems zusammen. Vermutlich entschieden sie sich, Gewalt gegen die Häftlinge in den dargestellten extensiven Formen fort-gesetzt anzuwenden, da es ihren erlernten Vorstellungen entsprach, wie Ord-nung herzustellen sei. Die Häftlinge wurden innerhalb dieses Denksystems als »Verbrecher« betrachtetet, die es zu disziplinieren galt.

Die von Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann herausgearbeitete Typo-logie von fünf Tätertypen im Nationalsozialismus (williger politischer Konfor-mist, Weltanschauungstäter, Exzesstäter, Schreibtischtäter sowie ein Mischtyp aus Schreibtisch- und Direkttäter)11 scheint zumindest für die Charakterisie-rung des KZ-Personals wenig hilfreich zu sein. Ein Mann wie beispielsweise der Stützpunktleiter Arnold Strippel war in seiner frühen KZ-Zeit sowohl Weltan-schauungs- als auch Exzesstäter. Mit seiner Beförderung zum Stützpunktleiter wandelte er sich zum Weltanschauungs- und Schreibtischtäter. Die Untersu-

11 Paul/Mallmann, Sozialisation, Milieu und Gewalt.

Schlussbetrachtung

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chung ergab, dass es entscheidend ist, die jeweilige Position des Täters innerhalb des Tatkomplexes zu betrachten. Zugespitzt könnte man formulieren: Die Rol-len waren mitunter stabiler als die Personen, die sie besetzten. Anhand des Ver-gleiches von Tätern in gleichen Positionen konnte jedoch auch gezeigt werden, dass diese über eine Vielfalt von Handlungsoptionen verfügten und in einigen Fällen sehr unterschiedlich agierten. Dies macht besonders deutlich, dass in der Regel die Gewaltanwendung aus einer freien Entscheidung des Täters erfolgte.

Die neue herrschende Klasse? Hamburg als ein Fall besonders weitreichender Kooperation zwischen den lokalen Wirtschaftsrepräsentanten und den Vertretern der Nazi-Partei

Franz Neumann ging in der erweiterten Fassung seines Werkes »Behemoth« von 1944 davon aus, dass in der letzten Phase des Nationalsozialismus die Tendenz zur Herausbildung einer neuen herrschenden Klasse festzustellen sei. Diese setze sich aus vier Gruppen zusammen: der Naziführung, der Industriehierarchie, der Wehrmachtsführung und der Ministerialbürokratie, wobei Neumann den Ein-fluss der Ministerialbürokratie 1944 für weitgehend eliminiert hielt. Die letzte Entwicklung beschreibt er wie folgt: »Eine kleine Gruppe mächtiger Industrie-, Finanz- und Agrarmonopolisten verschmilzt mehr und mehr mit einer Gruppe von Parteihierarchen zu einem einzigen Block, der über die Mittel der Produk-tion wie die Mittel der Gewalt verfügt.«12 Auch heißt es dort: »Die Praktiker der Gewalt werden mehr und mehr zu Unternehmern und die Unternehmer Praktiker der Gewalt.«13

Neumanns Theorie der vier Säulen wurde später von der Geschichtswissen-schaft aufgenommen, ebenso wie die bei ihm angelegte Polykratie-These weiter ausgearbeitet wurde. Das Problem besteht darin, dass die definierten Säulen re-lativ trennscharfe Kategorien bilden, obwohl auch Neumann Amalgamierungs-prozesse beschrieb. Ein Nachteil der bisherigen Forschung liegt darin, dass zu einseitig die negativen Seiten der Polykratie betont wurden.14

In Hamburg gruppierten sich nach dem verheerenden Luftangriff im Som-mer 1943 die Netzwerke der Macht neu. Die alte Stadtbürokratie, das Militär und das Handelskapital verloren partiell an Macht, während die Großindustrie, die lokalen Parteispitzen und zum Teil auch die SS an Einfluss gewannen. Damit kamen die Strukturen in gewisser Weise der Neumann’schen Analyse von der Verschmelzung der Monopolisten mit den »Parteihierarchen, zu einem einzigen Block, der über die Mittel der Produktion wie die Mittel der Gewalt verfügt«, recht nahe. Allerdings erscheint es mir auch hier bedeutsam, sich von der

12 Neumann, Behemoth, S. 661.13 Ebd., S. 660.14 Gruner/Nolzen, Editorial.

Schlussbetrachtung

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Neumann’schen Diktion zu lösen: In Hamburg bildete ein eng geknüpften Netzwerk zwischen Industrievertretern und NS-Parteispitze das neue Zentrum der Macht. Sie verschmolzen jedoch keineswegs und wären auch in der Lage gewesen, sich ob verändernder Gegebenheiten wieder neu zu gruppieren. In Hamburg blieb diese Konstellation jedoch bis Kriegsende bestehen.

Für die Analyse des Umganges der Hamburger Führungsriege mit den KZ-Häftlingen ist aber Neumanns Aussage, dass »die Praktiker der Gewalt [..] mehr und mehr zu Unternehmern und die Unternehmer [zu] Praktiker[n] der Gewalt« werden, anregend. Diese Charakterisierung scheint für die Hamburger Netzwerke der letzten zwei Kriegsjahre in hohem Maße zutreffend. Nach der Operation Go-morrha bildete das Führungsnetzwerk aus Industriemagnaten und Parteispitze eine radikale Ideologie des Wiederaufbaus um jeden Preis und der unbedingten Rüstungssteigerung aus. Hier zeigte sich ein fanatischer Durchhaltewillen, der bis zum beginnenden Zusammenbruch im Herbst 1944 anhielt. Dabei waren die lo-kale Rüstungsindustrie und die Parteispitze von Beginn an bereit, Gewalt einzuset-zen, wie sie es in den Städten und Betrieben in Deutschland im 20. Jahrhundert nicht gegeben hatte. Schon die Zwangsarbeiter wurden nach dem verheerenden Bombenangriff auf Hamburg im Sommer 1943 mit großer Brutalität behandelt, doch das Ausmaß der Gewalt gegenüber den KZ-Häftlingen überstieg diese noch beträchtlich. Ab dem Herbst 1944 sollte die Gewalt, an der sich Hamburgs Unter-nehmen beteiligten, letztendlich die Stufe zum Massenmord überschreiten. An diesem beteiligten sie sich auch, als sie in letzter Minute die KZ-Häftlinge durch die SS und ihre Hilfstruppen aus der Stadt schaffen ließen, damit sie sich gegen-über den Alliierten möglichst gut präsentieren konnten.

Fast keines der untersuchten Unternehmen äußerte Bedenken, die KZ- Häftlinge als Sklavenarbeiter im eigenen Betrieb einzusetzen. Die »Moral der Effizienz«15 war auf Produktivität und Rentabilität ausgerichtet und machte moralische Abwägungen nur selten notwendig. Das der Maxime der Wertfrei-heit verbundene unternehmerische Handeln setzte von sich aus kaum ethische Maßstäbe, die der Degradierung und Ausnutzung von Menschen bis hin zum Tode im Wege gestanden hätten.16 Die Situation in Hamburg stellt ein beson-ders prominentes Beispiel für die enge Verquickung von Partei und Wirtschaft dar. Die deutsche Wirtschaft hatte sich in ihrer Gesamtheit dem nationalsozia-listischen Krieg verschrieben. Es waren keineswegs nur einige wenige, besonders ehrgeizige junge Unternehmer, die sich in den Stäben des Rüstungsministeriums hervortaten, wie Adam Tooze ausführte,17 sondern fast das gesamte Who is Who der deutschen Industrie. Selbst wenn es, wie im Fall von Rudolf Blohm, zu Inte-ressensdivergenzen kam, er als Industrieller abgesetzt wurde und sich das Rüs-tungsministerium von ihm abwandte, führte dies nicht dazu, dass Blohm sich

15 Budraß/Grieger, Moral der Effizienz.16 Ähnlich: Priemel, Flick, S. 784.17 Tooze, Wages. Ausführlich dazu meine Kritik in: WerkstattGeschichte (2008) 1.

Schlussbetrachtung

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vom NS-System distanzierte. Vielmehr kämpfte er in Hamburg bis zur letzten Minute für die Aufrechterhaltung der Rüstungsproduktion.

Die weitgehend gewissenlose Ausbeutung von KZ-Häftlingen blieb jedoch nicht auf die Industrie beschränkt. Die anderen Herrschaftsgruppen in NS-Deutschland profitierten ebenfalls vom aufgebauten System der maximalen Ausbeutung von Arbeitskraft und dessen lebensvernichtenden Folgen. Sowohl die städtischen Verwaltungen als auch die Wehrmachtsstellen forderten genau wie die Privatwirtschaft KZ-Häftlinge an und behandelten sie nicht besser. Die Sterblichkeit bei den SS-Baubrigaden in Osnabrück und Bremen war sehr hoch, und die zuständigen Stadtverwaltungen taten nichts, um die lebensbedrohlichen Situationen in den Lagern zu verbessern.18 Die Marinebaudirektoren der Kriegswerft in Wilhelmshaven forderten ihre Untergebenen sogar auf, die KZ-Häftlinge mit allen Mitteln zur kriegswichtigen Arbeit anzutreiben, da sie beim Tod durch neue Häftlinge ersetzt würden. Auch die Ingenieure und Architekten des Bauprojekts U-Boot-Bunker »Valentin« betrachteten das vor allem durch Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge errichtete Gebäude nur durch die Brille des Stolzes über ihre eigenen Planungen und hatten wenig Inte-resse an den Arbeitskräften, die beim Bau zugrunde gingen. Sie waren getrieben von einem technisch-rationalen Machbarkeitswahn.19

Der zentrale Vertreter im Rüstungsministerium für den Rüstungseinsatz der KZ-Häftlinge war Walther Schieber. Er war ein ausschließlich an Effizienz und Leistung interessierter Techniker, der gleichzeitig überzeugter Nationalsozialist war und sich seiner Aufgabe im Rüstungsministerium mit vollster Hingabe wid-mete. Ähnliche Typen wie Schieber waren einige der jungen Techniker und Bü-rokraten im WVHA.20 In organisationsanalytischer Perspektive lässt sich zu-sammenfassen, dass die Dynamik moderner Organisationen aus der Identifikation der Manager, Bürokraten, Ingenieure und Techniker mit ihren Aufgaben stammt. An den untersuchten Schaltstellen der Macht in den Außenlagern saßen eben-solche Überzeugungstäter, Techniker und Planer, die zur Dynamik des Systems erheblich beitrugen.21

Einige Historiker, die die Modernität des Nationalsozialismus bestreiten, ten-dieren dazu, dies zu übersehen. Sie verstehen den Nationalsozialismus als ein ineffizientes und auf den Zerfall zusteuerndes System.22 Der Nationalsozialis-

18 Ähnlich: Fings, Krieg, S. 311f.19 Buggeln/Marszolek, Der Bunker, S. 282. Ähnlich: Wagner, Produktion, S. 577; Glau-

ning, Entgrenzung, S. 407.20 Allen, Business of Genocide, S. 275.21 Daneben gab es ohne Zweifel auch Karrieristen und Opportunisten, die sich den vor-

gegebenen Zielen der Organisation anpassten und sie ohne emotionale Verbundenheit und Überzeugung ausführten. Für das WVHA: Schulte, Zwangsarbeit, S. 448f.

22 Letzteres tat er in gewisser Weise, aber die Zerstörung erfolgte durch äußere Kräfte. Für die Lesart des Nationalsozialismus als antimodernen und zerfallenden Staat: Momm-sen, Mythos von der Modernität; Sofsky, Ordnung; Wagner, Produktion.

Schlussbetrachtung

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mus besaß aber viel eher eine spezifische Staatlichkeit, die auf die Herstellung einer rassistischen Volksgemeinschaft und das Funktionieren der Kriegswirt-schaft ausgerichtet war. In dieser Hinsicht erwies sich der NS-Staat mit seinen ausgeweiteten Sondervollmachten durchaus als effektiv.23 Der Jägerstab konnte beachtliche Produktionserfolge verzeichnen. Das RSHA erreichte eine hohe Ef-fektivität bei der Gegnerverfolgung.24 Während die NS-Führung und die SS einerseits von menschenverachtenden und irrationalen Zielen angetrieben wur-den, waren sie anderseits mehr als bereit, moderne Organisationsformen und zweckrationale Mittel zur Erreichung ihrer Ziele einzusetzen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die in den Konzentrationslagern eingeführte Statistik erfolgreich die Sterblichkeit der Häftlinge regulierte, während diese gleichzeitig in einigen der modernsten Fabriken Deutschlands Sklavenarbeit zugunsten der Kriegswirtschaft verrichteten.

23 Hachtmann/Süß, Editorial; Seibel, Staatsstruktur und Massenmord.24 Wildt, Generation, S. 858; Reemtsma, Vertrauen und Gewalt, S. 404.

Schlussbetrachtung