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Antje Klinge
Kulturelle Bildung im Kinder- und Jugendsport: Wiederbelebung einer vernachlässigten
Dimension von Bildung
1. Einleitung
Die derzeitige Aufbruchsstimmung in unserer Gesellschaft für eine veränderte Schule und
ein erweitertes Bildungsverständnis zeigt sich auch in Programmen und Projekten der
Kulturellen Bildung, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.
„Kultur.Forscher!“, „Kulturagenten für kreative Schulen“, „Jedem Kind ein Instrument“ oder
„schule@museum“ sind nur einige Beispiele, die den hohen Stellenwert und die Hoffnungen,
die mit solchen Programmen verbunden sind, deutlich machen. Ziel ist es, allen Kindern und
Jugendlichen einen Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen und damit Teilhabechancen
an der Gesellschaft zu eröffnen, die sie zu gestaltungsfähigen Mitbürgern machen. Dabei
wird der Anspruch erhoben, dass die Künste, die künstlerischen Sparten wie Bildende Kunst,
Musik, Theater, Tanz, Literatur, Film und Neue Medien „für eine verbesserte Teilhabe und
Partizipation an Bildung“ (Zimmermann, 2005, 5) besonders geeignet seien, mit der
Begründung, dass sie die Sinne unmittelbar ansprechen und praktische Fertigkeiten wie
gestalterische Fähigkeiten fördern.
Bewegung, Spiel und Sport scheinen zunächst nicht dazu zu gehören. Zu dominant ist das
öffentliche Bild des Sports als Wettkampf- und Leistungssport, als dass man ihn mit Kunst
und Kultur in Verbindung bringen könnte. Allerdings gibt es Ansätze, sowohl im Schulsport
als auch in den Sportverbänden, die die pädagogischen Möglichkeiten des Sports auf
ästhetische und kreative Handlungsfelder ausweiten. Dies gibt Anlass zu der Frage, inwiefern
solche Ansätze Anschlussmöglichkeiten zu den Konzepten der Kulturellen Bildung liefern und
welchen potenziellen Beitrag das Feld Körper, Bewegung, Spiel und Sport zur Kulturellen
Bildung leisten kann.
Um diese Fragen beantworten zu können wird zunächst herausgearbeitet, was unter
Kultureller Bildung heute verstanden wird und welche Programme und Projekte initiiert und
durchgeführt werden (1). In einem zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, welches
Potenzial Körper, Bewegung, Spiel und Sport mitbringen, um einen für die Ansprüche der
Kulturellen Bildung relevanten Beitrag leisten zu können. Dabei werden vorhandene Ansätze
des Schulsports wie der Sportverbände im Hinblick auf ihre Anschlussfähigkeit für die
Kulturelle Bildung untersucht (2). Auf dieser Basis werden Zugangsweisen und Prinzipien
erläutert, die im Sinne einer Orientierungshilfe Anregungen für Praxisentwürfe liefern sollen,
in denen der Körper und die Bewegung einen zentralen Ansatz für die Bildungsarbeit unter
einer kulturellen Perspektive darstellen (3).
in Aschebrock/Beckers/Pack (Hrsg.) (2014), Bildung braucht Bewegung. Vom Bildungsverständnis zur Bildungspraxis im
Kinder- und Jugendsport. (S. 512-530). Aachen: Meyer & Meyer
2
2. Kulturelle Bildung: Akzentuierung der ästhetisch-expressiven Dimension von Bildung
Der Begriff der kulturellen Bildung geht auf Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert
zurück, die in der Jugendbewegung, den verschiedenen Lebensreformbewegungen und
Entwürfen der Reformpädagogik ihren Anfang nahmen. In den 1970er Jahren gingen sie in
Konzepte der ästhetischen, künstlerischen, musischen oder auch soziokulturelle Bildung
über und fanden schließlich unter dem Dach der Kulturellen Bildung eine neue Heimat (vgl.
Fuchs, 2009). Im Zentrum aller historischen wie gegenwärtigen Strömungen stand bzw. steht
der kreative Umgang des Menschen mit sich und der Welt durch die Begegnung mit Kunst,
Kultur und Künstlern. Betont wird die ästhetisch-expressive Dimension von Bildung vor dem
Hintergrund eines dominierenden Nützlichkeitsdenkens in der Gesellschaft. Dieses auf das
Ästhetische, die sinnliche Wahrnehmung und Hervorbringung ausgerichtetes
Bildungsverständnis ist nicht neu. Nach Phasen der Rationalität und Formalisierung von
Lernen und Denken sind das Ästhetische und die Künste immer wieder als „Gegenpol zur
Intellektualisierung von Bildungs- und Erziehungsprozessen“ (Ehrenspeck, 2001, S. 12)
gesetzt worden. Von ihnen wurde und wird erwartet, dass sie den Menschen in seiner
Gesamtheit ansprechen und die Sinne als einen unverzichtbaren Zugang zur Welterfassung
und zum Weltverstehen ins Zentrum von Bildung und Vermittlung stellen1.
Die phantasievolle Auseinandersetzung mit Kunst, Kultur und Alltag ist auch im Kinder- und
Jugendplan des Bundes verankert. Kulturelle Bildung
„… soll das gestalterisch-ästhetische Handeln in den Bereichen Bildende Kunst, Film,
Fotografie, Literatur, elektronische Medien, Musik, Rhythmik, Spiel, Tanz, Theater,
Video u. a. fördern. Kulturelle Bildung soll die Wahrnehmungsfähigkeit für komplexe
soziale Zusammenhänge entwickeln, das Urteilsvermögen junger Menschen stärken
und sie zur aktiven und verantwortlichen Mitgestaltung der Gesellschaft ermutigen“
(BMFSFJ 2012).
Mit der Akzentuierung künstlerischer Verfahrensweisen wird der explorative, sinnlich-
expressive Zugang zur Welt betont, der kreative, ungewohnte und ungewöhnliche,
ergebnisoffene Gestaltungsprozesse initiiert und fördert. Von daher wird in den
Programmen zur Kulturellen Bildung verstärkt auf den Einsatz von Künstlern und
Künstlerinnen gesetzt. Erfahrungsberichten zufolge2 gelingt es ihnen aufgrund vorhandener
künstlerischer Praxis und Expertise einen besonderen Zugang zu den Jugendlichen zu
erzeugen. Sie gehen – auch weil sie keine Bewertungsfunktion übernehmen müssen – mit
einer hohen Wachheit für den Prozess und v.a. für die Belange der Kinder und Jugendlichen
ungewohnte Wege, suchen das Neue, Unbequeme, indem sie die Sinne einbeziehen und
eine Vielfalt an Wahrnehmungen erzeugen. Künstlerische Zugänge helfen, diese Vielfalt von
Blickwinkeln einzunehmen und bieten von daher eine besondere Chance für den Menschen,
1 Neben der sinnlich-ästhetischen Zugangsweise zur Welt hat Baumert anknüpfend an Humboldts klassisches
Bildungsverständnis verschiedene Modi der Welterfassung gekennzeichnet, die sich wechselseitig ergänzen aber nicht ersetzen können: die kognitiv-instrumentelle, die normativ-evaluative und die kognitiv-rationale Zugangsweise zur Welt (BMBF, 2007, 66f.).
2 Der Mangel an empirischen Belegen für die Arbeitsweisen und Wirkungen von Künstlern ist ein in der Fachdebatte
erkanntes Problem, auf das derzeit zahlreiche Förderprogramme reagieren, so z.B. durch das BMBF, die Mercator-Stiftung.
3
„die Entdeckung der eigenen Einzigartigkeit, die bewusste und angstfreie
Auseinandersetzung mit dem Irrationalen und den Impuls, eigenverantwortlich zu handeln“ -
so der bildende Künstler Daniel Hoernemann (http://www.walbrodt.org/3.html).
Die Orientierung an den Künsten und der künstlerischen Auseinandersetzung hat
zunehmend Eingang gefunden in die Debatten um eine Öffnung und Reform von Schule. Die
Enquete-Kommission des Bundes „Kultur in Deutschland“ unterstreicht bereits 2007 die
Notwendigkeit kultureller Bildungsangebote an allgemeinbildenden Schulen (Deutscher
Bundestag, 2007). Neben der Tatsache, dass die Schule der einzige Ort sei, an dem alle
Kinder und Jugendlichen bis 16 Jahren unabhängig von sozialer Herkunft und Schulart
erreicht werden können, geht Ties Rabe, KMK-Präsident 2012, davon aus, dass ihr
umfassender Bildungs- und Erziehungsauftrag „nur mit vielfältigen Bildungsangeboten im
kulturellen/musisch-ästhetischen Bereich erfüllt werden kann“ (Pressemitteilung 079/2012
des BMBF).
Zahlreiche Förderprogramme sind ins Leben gerufen worden, die die Kulturelle Bildung an
Schulen nachhaltig stärken wollen. So verfolgt die Fachstelle „Kultur macht Schule“ – eine
Einrichtung der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) – den Ausbau
umfassender lokaler Bildungslandschaften3. Über die Programme der Länder hinaus
beteiligen sich zudem diverse Stiftungen an der Stärkung kultureller Bildungsangebote an
Schulen (so z.B. die Kulturstiftung des Bundes durch das Programm „Kulturagenten für
kreative ‚Schulen“4, die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung gemeinsam mit der PwC-
Stiftung durch das Programm „Kultur.Forscher!“5 oder die Montag-Stiftung Jugend und
Gesellschaft durch das Programm „Ästhetische Bildung“6).
Alle Initiativen und Programmen vereint die Überzeugung, dass Schule den notwendigen
Wandel nicht aus sich selbst heraus bewerkstelligen kann. Betont wird der Bildungswert von
dritten Lernorten neben Schule und Familie wie Kindertagesstätten, Jugendhilfe- und
Kultureinrichtungen, Musik- und Kunstschulen7, die der ästhetisch-expressiven Dimension
von Bildung eine besondere Aufgabe zuschreiben. Und hier kommt der Beitrag von
Bewegung, Spiel und Sport ins Spiel.
3 Lokale Bildungslandschaften (ein vom Kinder- und Jugendbericht 2005 eingeführter Begriff) sind „langfristige,
professionell gestaltete, auf gemeinsames, planvolles Handeln abzielende, kommunalpolitisch gewollte Netzwerke zum Thema Bildung, die – ausgehend von der Perspektive des lernenden Subjekts – formale Bildungsorte und informelle Lernwelten umfassen und sich auf einen definierten lokalen Raum beziehen“ (Durdel & Bleckmann 2009).
4 „Kulturagenten für kreative Schulen“ ist ein Modellprogramm der gemeinnützigen Forum K&B GmbH, initiiert und
gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und die Stiftung Mercator in den Bundesländern Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen in Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien, der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V., der conecco UG – Management städtischer Kultur und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (vgl. http://www.kulturagenten-programm.de).
5 „Kultur.Forscher!“ ist ein gemeinsames Programm der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und der PwC-Stiftung Jugend – Bildung – Kultur. Ausgangspunkt ist die Kooperation von Schulen mit Kulturinstitutionen. Lehrkräfte entwickeln gemeinsam mit Experten aus dem Kulturbereich Vorhaben und Projekte, in denen Kinder und Jugendliche kulturelle Phänomene erforschen. Die Vernetzung von Alltagserfahrungen, künstlerischen und wissenschaftlichen Methoden steht im Mittelpunkt (vgl. www.kultur-forscher.de).
6 Das Aus- und Weiterbildungsangebot „Ästhetische Bildung“ richtet sich an Studierende der Pädagogik und des Lehramts, aber auch an Künstler & Multiplikatoren und konzentriert sich auf den Erwerb von Schlüsselqualifikationen im kreativen und pädagogischen Bereich (vgl. http://www.montag-stiftungen.de/jugend-und-gesellschaft/projekte-jugend-gesellschaft/aesthetische-bildung.html).
7 Siehe http://www.kultur-macht-schule.de, Zugriff am 20.5.2013
4
Bislang kann nur ansatzweise auf Praxen aus dem Bereich von Bewegung, Spiel und Sport
zurückgegriffen werden, die das ästhetisch-expressive Potenzial deutlich machen. Vielmehr
sind es Vorschläge auf einer eher konzeptionellen, ideellen Ebene, die zur „musisch-
kulturellen Arbeit“ (Sportjugend NRW, 2005, 19) oder „ästhetischen Erziehung“ (s.
Rahmenvorgaben für den Schulsport NRW, 1999, XXXVI) anregen.8 Demgegenüber sind für
die Praxis Kultureller Bildung Zugangsweisen und Prinzipien kennzeichnend, die einen
kreativen und künstlerischen Umgang mit den Dingen der Welt deutlich machen, der für das
Feld von Körper, Bewegung, Spiel und Sport fruchtbar gemacht werden kann. Voraussetzung
ist, sich die die ästhetisch-expressive Dimensionen von Körper, Bewegung, Spiel und Sport
vor Augen zu führen.
3. Körper, Bewegung, Spiel und Sport: Potenziale und Voraussetzungen für die Praxis
Kultureller Bildung
Sowohl aus philosophischer wie aus bildungs- und erkenntnistheoretischer Sicht sind die
ästhetischen Potenziale herausgearbeitet worden (Gebauer 1995; Beckers 1985, 1997,
Franke & Bannmüller 2003; Franke 2008; Nebelung 2008). Neben Literatur, Musik und Kunst
subsummiert Tenorth (2008) in Anlehnung an Baumert Sport unter dem Begriff der
„physischen Expression“ und kennzeichnet ihn als „ästhetisch-expressiven“ Gegenstand
(S.168). Als Alleinstellungsmerkmal wird die körperlich-leibliche Fundierung von Erfahrungen
sowie die Besonderheit der Präsentativität von Wissen hervorgehoben (Franke 2008, 200
ff.). Die Rehabilitierung des Körpers bzw. Leibes als Vermittler zwischen Ich und Welt und
damit als „unverzichtbare Erkenntnisquelle“ (Beckers in diesem Band, /Grundlagenbeitrag
Schulen und Sportvereine - Manuskript, S. 19) findet in der sportpädagogischen Diskussion
weitestgehend Zustimmung. Allerdings hat die Debatte vornehmlich auf einer theoretischen
Ebene stattgefunden und nur selten Transferhilfen zur praktischen Umsetzung und
Verankerung im Bildungssystem angeboten.9
In den Rahmenvorgaben für den Schulsport wird zwar die Legitimationsbasis für eine
Öffnung des Faches im Hinblick auf den allgemeinen Erziehungs- und Bildungsauftrag von
Schule und seinen Beitrag zum Schulprogramm zugrunde gelegt, Hinweise und Anregungen
für die Praxis bleiben jedoch aus (s. Rahmenvorgaben, 1999, XLIX f.). Eine konkrete
Vorstellung liefert die pädagogische Konzeption der Sportjugend NRW (2005, 2010). Hier
wird Kreativitätsförderung als ein pädagogisches Handlungsfeld neben z.B.
Gesundheitsförderung, Förderung des Interkulturellen Lernens oder der Mitgestaltung und
Mitbestimmung dargestellt. Der Akzent wird auf das „(Aus)Probieren und Finden eigener
Lösungen in und mit Bewegung“ (Sportjugend 2010, 62), das Verfremden, Verändern und
„auf den Kopf stellen“ (63) sowie das Präsentieren und Zeigen des Selbstentwickelten gelegt,
8 Eine Ausnahme liefert der Bereich Tanzen, Darstellen und Gestalten – Bewegungskünste, der mit dem Einzug des Tanzes
in den Schulsport seit den 1980er Jahren konkrete Praxen und entsprechende didaktisch-methodische Hilfen vorweisen kann. Allerdings muss auch hier eingeräumt werden, dass die professionsspezifischen Voraussetzungen größtenteils fehlen und eine ästhetisch-künstlerische Praxis im Fach Sport von Seiten der Lehrkräfte wie Schülerschaft immer wieder auf Widerstand gestoßen ist.
9 Eine Ausnahme bildet allerdings die Tanzpädagogik, die auf der Grundlage ästhetischer Bildungstheorien zahlreiche Praxisentwürfe und -beispiele vor allem für den Schulsport aufweist (z.B. Haselbach, 1976; Fritsch, 1990; Klinge, 2013).
5
womit die Absicht deutlich wird, die eigenen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und
Verhaltensweisen zu entdecken und „alte (möglicherweise) einseitige Denk- und
Verhaltensmuster [zu] sprengen“ (ebd.). Die Konzeption betont, dass das „wie“ und „was“
des Angebots sowie das Selbstverständnis der Pädagogen für die Initiierung solche Prozesse
entscheidend sei.
Damit legt die Sportjugend NRW einen Ansatz vor, der durchaus Anschlussfähigkeiten zu den
Konzepten der Kulturellen Bildung aufweist. Aufgrund ihrer Geschichte und Verortung in
Kunst und Kultur wurde der Schwerpunkt der kulturellen Bildungspraxen immer schon auf
künstlerische Verfahrensweisen gelegt. Diese gilt es im Hinblick auf mögliche Orientierungen
für die Praxis im Feld von Bewegung, Spiel und Sport darzustellen (s. Kap. 4). Doch zunächst
wird es darum gehen das „was“ zu beschreiben und damit die ästhetisch-expressive
Dimension von Körper, Bewegung, Spiel und Sport. Dabei wird zwischen einer ästhetischen,
einer ludischen und einer symbolischen Dimension unterschieden.
3.1. Die ästhetische Dimension von Bewegung, Spiel und Sport
Die neuen Praxisformen von Bewegung, Spiel und Sport (wie Skateboarding, Free Running,
Parcours, Streetdance, Streetball, Biken, Flash Mobs, Martial Arts, Yoga oder Capoeira)
verweisen nicht nur auf die Aufweichung eines traditionell sportiven Kerns, sondern auch auf
eine neue Verbindung sportiver Elemente mit künstlerischen, ästhetischen Elementen.10 Im
Zentrum stehen die „sinnlich wahrnehmbaren ästhetischen Eigenschaften sportlicher
Aktivitäten“ (Witt in Nebelung 2008, 58). Sie verweisen auf die phänomenologische Figur der
Einheit des ‚gelebten‘ und ‚erlebten Leibes‘ (Grupe & Krüger 1997, 194) und damit auf das
besondere Erfahrungspotenzial, das durch Bewegung, Spiel und Sport gegeben ist. Es betont
die ästhetische Erfahrung, die Duncker (1999) als das Erleben einer besonderen,
außergewöhnlichen Situation beschreibt, welche ein Staunen oder Wundern hervorbringt,
das Neugierde erzeugt, das Besondere erfassen zu wollen11. Das Erlebnis wird als
Wahrnehmung bewusst und eröffnet damit eine neue, ggf. andere Perspektive und
Interpretation von Welt. Die symbolische Verarbeitung dieser Erfahrung vollzieht sich als
eine Art Übersetzung in eine Handlung, ein Spiel, einen Ausdruck, ein Bild, einen Ton oder
eine Bewegungsform und hebt den produktiven, performativen Aspekt einer ästhetischen
Erfahrung hervor.
3.2 Die ludische Dimension von Bewegung, Spiel und Sport
10 Schwier (2008) beschreibt z.B. Virtuosität, kreatives Samplen, Eventorientierung und Styling als Kennzeichen neuer
Bewegungskulturen, die das Artifizielle und Ästhetische hervorheben.
11 „Wo reizhaltige Umgebungen gewählt und gestaltet werden, wo sich Staunen und Faszination ausbreiten, wo Schönes
und Erhabenes aufgesucht und in Wiederholungen durchlebt wird, wo Situationen ins Extreme gesteigert und Grenzerfahrungen provoziert werden – in all solchen Momenten verbinden sich ästhetische Erfahrungen nicht nur mit Lernbedürfnis und Erkenntnisabsicht, sie spitzt sich zu im Verlangen, das Leben selbst auszukosten und ihm mehr als übliche Routine abzugewinnen“ (Duncker, 1999, S.9).
6
Als vom ‚Ernst des Lebens‘ entlasteter Raum (Alkemeyer, 2012, 118) bietet der Sport in
seiner Ausprägung als Spiel ein besonders geeignetes Feld für ästhetische Erfahrungen. In
der Sphäre von Zweckfreiheit können sinnliche Erlebnisse und Erfahrungen vertieft werden,
denn „wenn wir spielen, lassen wir uns ganz auf die Gegenwart ein. Wenn wir ästhetisch
spielen, lassen wir uns ganz auf die Anschauung einer Gegenwart ein“ (Seel in Nebelung,
2008, 118). Das Spielen bildet die Basis dafür, andere Wirklichkeiten, „neue Assoziations-
und Beziehungsordnungen“ (Sutton-Smith, 1987, 89) zu erfahren, Veränderungen
wahrzunehmen und das Kunstförmige von der sozialen Wirklichkeit zu unterscheiden.
Sanktionen sind nicht zu befürchten, Um- und Irrwege erlaubt, Verunsicherungen und
Grenzerfahrungen möglich wie Zufälliges und vermeintlich Fehlerhaftes ausdrücklich
erwünscht ist. Bewegung, Spiel und Sport liefern das „Experimentier- und Lernfeld des
Handelns unter Unsicherheit“ (Alkemeyer, 2012, 118), in dem die Widerständigkeit, die in
den Dingen liegt, wahrgenommen werden kann. Neue Qualitäten des Miteinanders oder
Gegeneinanders, des Artistischen oder Artifiziellen, des Kraftvollen oder Kämpferischen
treten neben die etablierten gebundenen Formen des Sports. In Veränderungen des
Gewohnten und Eingespielten liegt die Chance, Diskrepanzerfahrungen zu machen, die den
Blick für die Zugänge zur Welt sowie ihre Ver- und Behinderungen schärfen (Beckers, 2000,
Klinge, 2000).
3.3 Die symbolische Dimension von Bewegung, Spiel und Sport
Schließlich bietet der Aufführungscharakter von Bewegung, Spiel und Sport eine Plattform,
um einverleibte, verkörperte gesellschaftliche Strukturen zu lesen wie auch individuelle
Erfahrungen zum Ausdruck und zur Darstellung zu bringen und anderen mitzuteilen.
Eingeübte Bewegungsmuster, Spielformen und Sportarten sind sowohl als Spiegel
gesellschaftlicher Entwicklungen zu verstehen (wie z.B. die Erfolgsorientierung und
Kommerzialisierung im großen Sport) wie auch gesellschaftliche Entwicklungen mit Hilfe von
Bewegung sichtbar, angestoßen und gestaltet werden können (z.B. die Eroberung anonymer
urbaner Räume durch spontane flash-mobs, Streetdance oder Parcours). Die Art und Weise,
wie die Körper sich bewegen und verhalten, macht sowohl Vorhandenes und Bekanntes
deutlich wie auch Neues und Unbekanntes durch die Erkundungen des Körpers entdeckt
werden kann. Bewegung, Spiel und Sport werden in diesem Sinne als performative, aus- und
aufführende Phänomene verstanden, die Körper- und Bewegungspraxen sowohl erzeugen
als wiederspiegeln.
Mit dieser Auslegung von Bewegung, Spiel und Sport als ästhetische Erfahrung,
Experimentier- und Spielfeld sowie Plattform für Ausdruck und Darstellung individueller und
sozialer Erfahrungen wird der grundsätzlich offene Charakter hervorgehoben. Im
Vordergrund steht die Suche nach noch nicht besetzten Räumen möglicher
Bewegungsweisen, das Herantasten an (Disziplin-)Grenzen und Überschreiten impliziter
Normen sowie die Hervorbringung neuer, individuell wie sozial sinnvoller Formen. Ein so
gestalteter Zugang zu und Umgang mit Körper und Bewegung zeigt gewisse Parallelen zu
künstlerischen Verfahrensweisen. Sie beginnen mit sinnlichen Explorationen, suchen und
provozieren Widerstandserfahrungen und setzen sich in Erprobungen des Ungewohnten
7
fort. „Künstlerische Gestaltung ist Vermuten, Vertauschen, Probieren, Hinzutun,
Wegnehmen, Zerstören, Neuzusammensetzen, Verkleinern, Vergrößern, Verfremden und
Verwandeln. Dann wieder warten. Zeit haben und es passieren lassen - ähnlich wie in der
Kindheit.“ (Bree, 2007, ). Der explorative Umgang mit Bewegung, Spiel und Sport (Freytag &
Sinning, 2010) unterscheidet sich hiervon nicht. Die Aufmerksamkeit ist auf den Prozess
gerichtet, ein Ergebnis oder Produkt wird nicht angestrebt und bleibt zunächst
nebensächlich.
4. Suchen und Explorieren: Künstlerische Zugangsweisen zur Praxis kultureller Bildung im
Kinder- und Jugendsport
Um solche Prozesse des Suchens und Explorierens in Gang zu setzen, können Anleihen bei
Künstlern und künstlerischen Zugangsweisen hilfreich sein. Dies soll im Folgenden in der
Absicht geschehen, Anregungen für eine Praxis zu liefern, in der die bekannten und
vertrauten Formen und Umgangsweisen mit dem Körper (s. Beckers in diesem Band,
Grundlagenbeitrag) bewusst überschritten und die ästhetisch-expressiven Potenziale von
Bewegung, Spiel und Sport aufgedeckt und ausgelotet werden.
4.1 Ästhetisches Forschen - Fragen stellen mit allen Sinnen
Mit dem beschriebenen Probe- und Experimentiercharakter von Bewegung, Spiel und Sport
wird der Prozess des Erforschens, Sammelns und Erkundens und immer wieder
Fragenstellens hervorgehoben. Fragen stellen ist ein zentrales methodisches Mittel, den das
Konzept des ästhetischen Forschens verfolgt (Leuschner & Knoke 2012). Ausgangspunkt für
individuelle Erkundungen sind lebensweltliche Bezugssysteme, die einen Rahmen für
Begegnungen, praktische, künstlerische und theoretische Auseinandersetzungen liefern.
„Anstatt Fragen und Ziele vorzugeben, werden Rahmungen, Institutionen und Orte
vorgegeben“ (ebd., S. 10), die die Heranwachsenden dazu anregen, sich inspirieren zu lassen,
Umwege zu gehen, auf das Ungewohnte, Neue einzulassen, ohne immer gleich zu wissen,
wohin es führen kann. So können Fragen an den Raum (wo stehe ich im Raum? Welche
Ecken sind mir bekannt, welche kenne ich nicht? Wie riecht der Raum? Welche Farben
nehme ich wahr? Welche Geräusche macht der Raum?), an Materialien (welche Funktion hat
die Treppe? Was kann ich mit, auf einer Treppe machen? Welche Geräusche macht die
Treppe? Kann ich Geräusche erzeugen?) oder an andere Personen (wie viele Menschen
nehme ich wahr, wen sehe ich? Wo stehe ich im Verhältnis zu den anderen?) mit dem
eigenen Körper und seinen Bewegungsmöglichkeiten sowohl gestellt als auch beantwortet
werden. Das assoziative Suchen und Erforschen mit allen Sinnen ist überall möglich. Sicher
gestellt werden muss der Freiraum für diese Art ästhetischen Forschens, die nicht von einem
Thema ausgeht, sondern dies erst allmählich wachsen lässt. Entscheidend ist die Vielfalt der
sinnlichen Zugangs- und Erkenntnisweisen, die selten durch nur eine Person abgedeckt
werden kann, sondern von der Zusammenarbeit und dem Zusammenwirken verschiedener
Partner wie Künstlern, Bewegungsexperten, Lehrern, Theater-, Museums- oder
Sozialpädagogen lebt.
8
4.2 Site-Specific-Art
Eine weitere Art, Fragen auszulösen, bietet sich mit dem Prinzip der Dekontextualisierung
aus der Site-Specific-Art an. Site-Specific umfasst eine Kunstrichtung, die in den 1960er
Jahren entstanden ist. Dabei handelt es sich um Kunstprojekte, die aus den etablierten
Kunsträumen wie Museen, Galerien oder Theatern bewusst heraustreten, um auf die
Begrenzung der Wahrnehmung durch Orte oder Kontexte hinzuweisen. Gleichzeitig werden
mit dem bewussten Verlassen der geschützten, vom Alltag weitestgehend abgeschotteten
Räume die Überwindung oder zumindest Thematisierung von Grenzen und die Verankerung
eines Werkes oder Gegenstands im Raum angeregt. Die Künstler betonen die Wichtigkeit des
‚Hier und Jetzt‘; die zufällig vorbeigehenden Passanten und Zuschauer werden zu Komplizen,
die die Formen und Plätze ihrer Umgebung wahrnehmen, die sie sonst vielleicht übersehen
haben. Im Mittelpunkt stehen die körperliche und sinnliche Herausforderung und das
Bewusstmachen, dass jeder Ort, jeder soziale Raum aktiv gestaltet werden und ihm damit
eine neue, individuelle wie soziale Bedeutung gegeben werden kann. Es geht um die
Auseinandersetzung mit räumlichen Besonderheiten, ihren Bedingungen, Grenzen und
Freiheiten und um den Dialog zwischen Körper, Bewegung und Ort (BV Tanz in Schulen,
2013).
4.3. Dekonstruieren
Der Sportdidaktiker Ehni hat bereits 1977 einen ähnlichen Ansatz herausgearbeitet. Er greift
das Zerlegen und Dekonstruieren als Prinzip zur Erzeugung von Mehrperspektivität heraus
und greift dafür auf den Begriff der „strukturalistischen Tätigkeit“ (S. 134 f.) zurück. Durch
das Zerlegen vorhandener Ganzheiten, wie z. B. einer Sportart, einer überlieferten
Bewegungsform oder einem Spiel, werden gewachsene Strukturen aufgedeckt. Mit einer
veränderten oder anderen Zusammenstellung der Fragmente wird Neues, Eigen-Sinniges
entworfen und konstruiert. Im Spielen werden „die unbewussten Strukturen, die
Selbstverständlichkeiten und die in ‚Fleisch und Blut’ übergegangenen Verhaltensweisen (…)
ein Stück weit auf Distanz gebracht und damit auch für neue Erfahrungen verfügbar“ (S.
137). Der selbsttätige, sinnliche Umgang mit der Perspektivenvielfalt und Heterogenität von
Bewegung, Spiel und Sport liefert das Fundament für ein reflektiertes
Wiederzusammenlegen der Einzelteile zu einem Ganzen, das nun in seiner Komplexität
theoretisch wie praktisch verstanden werden kann. Damit verweist Ehni auf ein
methodisches Prinzip, das sowohl die Differenzierung der Sinne fördert als auch ihre
Erkenntnisfähigkeit betont.
4.4 ‚Mapping the school‘ - Räume entdecken, Räume erschließen
Diese Idee geht auf ein Kunstprojekt in einer Schule zurück, in dem eine etwas andere
Vermessung und Kartierung des Schulgebäudes stattfand. Dieses Mapping stützte sich auf
die Wahrnehmung des Raumes mithilfe von Bewegung, indem typische Raumwege der
Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer definiert wurden, z.B. aus dem
9
Wechsel von einem in einen anderen Unterrichtsraum oder aus dem Gang zur Toilette
entstehen. Lieblingsorte und auch ‘Unorte’ wurden damit aufgezeigt. Die Ausgangsfrage
„Was braucht ein Raum, damit Menschen sich darin entwickeln können?“ ist die Grundlage
der Idee des Künstlerpaares Jennifer Hoernemann & Walbrodt. Jedes System, und so auch
jede Schule, brauche einen eigenen Künstler. Bei weiteren Terminen in der Schule bewegten
sich die beiden Künstler nonverbal und improvisierend in den Räumen des Schulgebäudes
und irritierten die Schüler und Lehrer, indem sie gewohnte Raumwege mit Gegenständen
oder ihrem Körper versperrten und damit veränderte Körperbewegungen oder auch neue
Wege eröffneten. Eine auf dem Boden platzierte lange Holzlatte beispielsweise lud zum
Balancieren ein – an eine Säule gelehnt forderte sie zum Ducken auf, um unter ihr
durchgehen zu können. Im Laufe des Projektes entstanden aus diesen Einzelbegegnungen
komplexere Bewegungsanordnungen, die in einem Tanz endeten.
Die Nicht-Planbarkeit des Ergebnisses und Sensibilität für den Prozess ist Grundlage der
Zusammenarbeit zwischen den Künstlern und der Schule: „Für das Gelingen des Projektes
sind das Vertrauen und die Offenheit des Systems Schule Grundvoraussetzungen. Dabei ist
der intensive, kontinuierliche Kontakt mit unserem Ansprechpartner und Sympathisanten,
einem Kunstlehrer, genauso wichtig, wie unsere stetige künstlerische Präsenz vor Ort.“ (BV
Tanz in Schulen, 2013, S.13)
5. Freiwilligkeit, Partizipation und Netzwerken: Parameter gelingender kultureller
Bildungsarbeit
In den diversen Projektpraxen kultureller Bildung haben sich gewissermaßen Prinzipien
heraus kristallisiert, die – auch hier stehen die entsprechenden empirischen Befunde noch
aus – entscheidende Parameter gelingender Bildungsarbeit ausmachen. Freiwilligkeit,
Partizipation und Netzwerken. Die außerunterrichtlichen Settings der Angebote im Ganztag
sowie die Projekte außerschulischer Einrichtungen wie Jugendkunstschule,
Jugendhilfeeinrichtungen, Sportvereinen ermöglichen das erste Prinzip der Freiwilligkeit. Die
notwendigen Kooperationen zwischen Schule, Kultureinrichtungen, Vereinen und
informellen Gruppen erfordern eine Begegnung ‚auf Augenhöhe‘ – sowohl auf
institutioneller wie auch auf zwischenmenschlicher Ebene. Die „Teilhabe bzw.
Mitbestimmung von jungen Menschen an den sie betreffenden Entscheidungen“
(Bundesjugendkuratorium, 2009, 6) kommt dem entgegen. Ihre aktive Teilhabe und
Mitgestaltung ist Bedingungen und Ziel zugleich. Die Jugendlichen entscheiden nicht nur
über mögliche Inhalte und Themen mit, sondern vereinbaren auch deren
Herangehensweisen. Auch das setzt Freiwilligkeit voraus. In dem Maße, wie
Teilhabemöglichkeiten von institutionellen Bedingungen und Erwartungen befreit sind, steigt
die Bereitschaft aktiver Mitgestaltung. Die subjektiv wahrgenommenen
Beteiligungsmöglichkeiten werden „umso größer […], je weiter die Beteiligungsthemen vom
eigentlichen Unterrichtsgeschehen und von der Notengebung entfernt sind“ (ebd., 15).
Freiwilligkeit und Partizipation sind letztlich auch Voraussetzungen für gelingende
Kooperationen und Netzwerke, in denen die Akteure von Anfang an an der Planung beteiligt
werden, z.B. eine Schule mit einem Sportverein, einem Theater und/oder einer
10
Jugendhilfeeinrichtung. Die thematische Ausrichtung sollte sich an den Wünschen der
Beteiligten und Bedarfe der Region orientieren. So können besonders benachteiligte
Stadtteile oder ‚Unorte‘ aufgedeckt und mit Bewegungsaktionen bekannt, anerkannt und
aufgewertet oder Sport- und Spielfeste mit einem multikulturellen Schwerpunkt entwickelt
werden. Ein Zustand „situativer Gemeinschaftlichkeit“ (Pfadenhauer, 2012, 223) kann
entstehen, der zwar nicht immer über Milieugrenzen, aber zumindest über Klassen und
Schichten hinweg Zusammengehörigkeit und ein identitätsstiftendes Erlebnis von Einheit
trotz Verschiedenheit erzeugen kann.
Die Grenzen von Partizipation und Netzwerken sind allerdings weniger bei den Kindern und
Jugendlichen als vielmehr bei den Erwachsenen zu suchen. Top-Down Maßnahmen sind von
daher nicht erfolgversprechend. Eine kommunikative Aushandlung aller Beteiligten und
Akteure und damit die Anerkennung unterschiedlicher kultureller Praktiken, sozialer
Umgangsformen, individueller Interessen und Vorlieben sowie Bewegungs- und
Geschmackskulturen sollte wahr und ernst genommen werden – eine Aufgabe und
Herausforderung, die eingeübt werden muss. Lehrer, Übungsleiter, Trainer, Künstler,
Betreuer und Begleiter benötigen diesbezüglich eine ausgeprägte Sensibilisierung, die auf
eigene Erfahrungen im Umgang mit ungewohnten Wegen und unvorhersehbaren
Ergebnissen aufbauen.
6. Fazit und Perspektiven
Mit der Hervorhebung der ästhetisch-expressiven Dimension von Bildung wurde zum einen
eine in der Bildungsdebatte und -praxis chronisch vernachlässigte Dimension beschrieben
und zum anderen eine Perspektive, der sich Konzepte und Programme der Kulturellen
Bildung widmen. Dabei wird auf die künstlerischen Sparten und kunstbezogenen Bereiche
als besonders geeignete Zugänge und Medien Kultureller Bildung zurückgegriffen. Die
Künste bieten das Feld für ungewöhnliche Explorationen und Experimente und stellen die
Sinne ins Zentrum ihrer Expeditionen stellen. Die Analyse des ästhetisch-expressiven
Potenzials körper-, bewegungs- und spielbezogener Aktivitäten hat gezeigt, dass dieses Feld
in gleicher Weise wie die Künste Voraussetzungen für sinnliche Explorationen liefert. Die
Anleihen bei Künstlern und deren vornehmlich kreativen Verfahrensweisen dürfen von
daher als Hilfen zur Erweiterung des Feldes (des „was“) und zur Öffnung der
Vorgehensweisen (des „wie“) verstanden werden.
Um solche Orientierungen auch in konkrete Praxen einmünden zu lassen, die den Kindern
und Jugendlichen über die ästhetisch-expressive Dimension von Bildung einen Zugang zur
Erschließung der Welt eröffnen, sollten entsprechende Praxiserfahrungen in die
Qualifizierung von Vermittlern - in universitärer Lehrerausbildung ebenso wie in
Fortbildungen für Übungsleitern, Trainer, Sozialpädagogen - eingebunden werden. Die
Fähigkeit und Bereitschaft, dabei über den eigenen Tellerrand zu blicken und die
mitgebrachte Expertise - ob aus Sportverein, Jugendzentrum, Schule oder Sportunterricht -
zugunsten der Kinder und Heranwachsenden einbringen und als Beitrag gemeinsamer
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Vorhaben zur Verfügung stellen, ist Voraussetzung und Ziel gelingender Bildungspraxis
zugleich.
Dass solche Vorstellungen nicht nur Visionen bleiben müssen und auch die Chancen einer
gewissen Alltagstauglichkeit haben, zeigt ein Blick in die Anfänge der offenen
Ganztagsentwicklung sowie in bisherige Einzelprojekte der Deutschen Sportjugend bzw. der
Sportjugend NRW. Die mit dem neuen Schulgesetz von 2005 einhergehende
Herausforderung, außerunterrichtliche und überfachliche Angebote in offenen
Ganztagsschulen bereit stellen zu müssen, rief innovative und kreative Konzepte hervor, die
die ‚Leerstelle‘ zwar noch auf wackligen Füßen, aber durchaus konstruktiv zu nutzen
wussten. Großprogramme und Projekte, die heute das Feld Kultureller Bildung bestimmen
und von Bund wie Ländern mit nicht unerheblichen Mitteln gefördert werden, wie z. B.
„Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“, „Kultur macht Schule“ oder „Kultur und Schule“
gehen letztlich auf solche Einzelinitiativen zurück.
Für den Bereich des Kinder- und Jugendsports sind solche Programme noch eher ungewohnt
und singulär. Die Sportjugend NRW hat 2012 einen ersten Versuch mit ihrem Projekt
„JugendkultTour“ unternommen, indem sie mit ‚jungen‘ Angeboten wie HipHop, Slackline,
Parcours oder Skaten die Jugendlichen vor Ort zu Workshops einlud
(netzwerkjungeohren.de). Ein anderes Projekt hatte im Rahmen des Achtbrückenfestivals in
Köln 2012 Premiere. „Fluxus trifft Flashmob“ hieß die Aktion im öffentlichen Raum, zu der
Sportjugend NRW und Köln, Landesmusikart und KölnMusik aufgerufen hatten (netzwerk-
sportjugend.de). Die Deutsche Sportjugend nimmt allerdings mit ihrem bundesweit
ausgeschriebenen Programm „Sport: Bündnisse! Bewegung-Bildung-Teilhabe“ eine
potenzielle Vorreiterrolle für die Öffnung des Sports ein. Mit den zwei Modulen
„ErlebnisRAUMerfahrung“ und „Sport.Art – Kinder- und Jugendsportshow“ will sie zur
kreativen Auseinandersetzung mit dem sozialen und kulturellem Umfeld sowie dem
gesellschaftlichen Wandel beitragen, die sportliche Betätigung bewusst durch kulturelle und
künstlerische Elemente erweitern wie auch Sport als ästhetische Ausdrucksform erfahrbar
machen (Deutsche Sportjugend, 2012). Ausgangspunkt der Projekte ist der kreative Umgang
mit Bewegung in Bezug auf die Erkundung und Nutzung neuer Räume sowie die gemeinsame
Gestaltung von Aufführungen.
Es bleibt abzuwarten, wie die Angebote von den Akteuren umgesetzt und den Jugendlichen
angenommen werden und ob die mit dem Kinder- und Jugendsport befassten
Organisationen in der Lage sein werden, die noch unentdeckten Chancen von Körper,
Bewegung, Spiel und Sport zu entfalten und um ihre sinnlichen, expressiven und
künstlerischen Dimensionen zu erweitern. Die hier skizzierten Beispiele und Zugangsweisen
können dabei Impulse liefern für eigene innovative Vorhaben sein.
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