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1 Antje Klinge Kulturelle Bildung im Kinder- und Jugendsport: Wiederbelebung einer vernachlässigten Dimension von Bildung 1. Einleitung Die derzeitige Aufbruchsstimmung in unserer Gesellschaft für eine veränderte Schule und ein erweitertes Bildungsverständnis zeigt sich auch in Programmen und Projekten der Kulturellen Bildung, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. „Kultur.Forscher!“, „Kulturagenten für kreative Schulen“, „Jedem Kind ein Instrument“ oder „schule@museum“ sind nur einige Beispiele, die den hohen Stellenwert und die Hoffnungen, die mit solchen Programmen verbunden sind, deutlich machen. Ziel ist es, allen Kindern und Jugendlichen einen Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen und damit Teilhabechancen an der Gesellschaft zu eröffnen, die sie zu gestaltungsfähigen Mitbürgern machen. Dabei wird der Anspruch erhoben, dass die Künste, die künstlerischen Sparten wie Bildende Kunst, Musik, Theater, Tanz, Literatur, Film und Neue Medien „für eine verbesserte Teilhabe und Partizipation an Bildung“ (Zimmermann, 2005, 5) besonders geeignet seien, mit der Begründung, dass sie die Sinne unmittelbar ansprechen und praktische Fertigkeiten wie gestalterische Fähigkeiten fördern. Bewegung, Spiel und Sport scheinen zunächst nicht dazu zu gehören. Zu dominant ist das öffentliche Bild des Sports als Wettkampf- und Leistungssport, als dass man ihn mit Kunst und Kultur in Verbindung bringen könnte. Allerdings gibt es Ansätze, sowohl im Schulsport als auch in den Sportverbänden, die die pädagogischen Möglichkeiten des Sports auf ästhetische und kreative Handlungsfelder ausweiten. Dies gibt Anlass zu der Frage, inwiefern solche Ansätze Anschlussmöglichkeiten zu den Konzepten der Kulturellen Bildung liefern und welchen potenziellen Beitrag das Feld Körper, Bewegung, Spiel und Sport zur Kulturellen Bildung leisten kann. Um diese Fragen beantworten zu können wird zunächst herausgearbeitet, was unter Kultureller Bildung heute verstanden wird und welche Programme und Projekte initiiert und durchgeführt werden (1). In einem zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, welches Potenzial Körper, Bewegung, Spiel und Sport mitbringen, um einen für die Ansprüche der Kulturellen Bildung relevanten Beitrag leisten zu können. Dabei werden vorhandene Ansätze des Schulsports wie der Sportverbände im Hinblick auf ihre Anschlussfähigkeit für die Kulturelle Bildung untersucht (2). Auf dieser Basis werden Zugangsweisen und Prinzipien erläutert, die im Sinne einer Orientierungshilfe Anregungen für Praxisentwürfe liefern sollen, in denen der Körper und die Bewegung einen zentralen Ansatz für die Bildungsarbeit unter einer kulturellen Perspektive darstellen (3). in Aschebrock/Beckers/Pack (Hrsg.) (2014), Bildung braucht Bewegung. Vom Bildungsverständnis zur Bildungspraxis im Kinder- und Jugendsport. (S. 512-530). Aachen: Meyer & Meyer

Antje Klinge Kulturelle Bildung im Kinder-und Jugendsport: Wiederbelebung einer vernachlässigten Dimension von Bildung 1. Einleitung

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Antje Klinge

Kulturelle Bildung im Kinder- und Jugendsport: Wiederbelebung einer vernachlässigten

Dimension von Bildung

1. Einleitung

Die derzeitige Aufbruchsstimmung in unserer Gesellschaft für eine veränderte Schule und

ein erweitertes Bildungsverständnis zeigt sich auch in Programmen und Projekten der

Kulturellen Bildung, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.

„Kultur.Forscher!“, „Kulturagenten für kreative Schulen“, „Jedem Kind ein Instrument“ oder

„schule@museum“ sind nur einige Beispiele, die den hohen Stellenwert und die Hoffnungen,

die mit solchen Programmen verbunden sind, deutlich machen. Ziel ist es, allen Kindern und

Jugendlichen einen Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen und damit Teilhabechancen

an der Gesellschaft zu eröffnen, die sie zu gestaltungsfähigen Mitbürgern machen. Dabei

wird der Anspruch erhoben, dass die Künste, die künstlerischen Sparten wie Bildende Kunst,

Musik, Theater, Tanz, Literatur, Film und Neue Medien „für eine verbesserte Teilhabe und

Partizipation an Bildung“ (Zimmermann, 2005, 5) besonders geeignet seien, mit der

Begründung, dass sie die Sinne unmittelbar ansprechen und praktische Fertigkeiten wie

gestalterische Fähigkeiten fördern.

Bewegung, Spiel und Sport scheinen zunächst nicht dazu zu gehören. Zu dominant ist das

öffentliche Bild des Sports als Wettkampf- und Leistungssport, als dass man ihn mit Kunst

und Kultur in Verbindung bringen könnte. Allerdings gibt es Ansätze, sowohl im Schulsport

als auch in den Sportverbänden, die die pädagogischen Möglichkeiten des Sports auf

ästhetische und kreative Handlungsfelder ausweiten. Dies gibt Anlass zu der Frage, inwiefern

solche Ansätze Anschlussmöglichkeiten zu den Konzepten der Kulturellen Bildung liefern und

welchen potenziellen Beitrag das Feld Körper, Bewegung, Spiel und Sport zur Kulturellen

Bildung leisten kann.

Um diese Fragen beantworten zu können wird zunächst herausgearbeitet, was unter

Kultureller Bildung heute verstanden wird und welche Programme und Projekte initiiert und

durchgeführt werden (1). In einem zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, welches

Potenzial Körper, Bewegung, Spiel und Sport mitbringen, um einen für die Ansprüche der

Kulturellen Bildung relevanten Beitrag leisten zu können. Dabei werden vorhandene Ansätze

des Schulsports wie der Sportverbände im Hinblick auf ihre Anschlussfähigkeit für die

Kulturelle Bildung untersucht (2). Auf dieser Basis werden Zugangsweisen und Prinzipien

erläutert, die im Sinne einer Orientierungshilfe Anregungen für Praxisentwürfe liefern sollen,

in denen der Körper und die Bewegung einen zentralen Ansatz für die Bildungsarbeit unter

einer kulturellen Perspektive darstellen (3).

in Aschebrock/Beckers/Pack (Hrsg.) (2014), Bildung braucht Bewegung. Vom Bildungsverständnis zur Bildungspraxis im

Kinder- und Jugendsport. (S. 512-530). Aachen: Meyer & Meyer

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2. Kulturelle Bildung: Akzentuierung der ästhetisch-expressiven Dimension von Bildung

Der Begriff der kulturellen Bildung geht auf Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert

zurück, die in der Jugendbewegung, den verschiedenen Lebensreformbewegungen und

Entwürfen der Reformpädagogik ihren Anfang nahmen. In den 1970er Jahren gingen sie in

Konzepte der ästhetischen, künstlerischen, musischen oder auch soziokulturelle Bildung

über und fanden schließlich unter dem Dach der Kulturellen Bildung eine neue Heimat (vgl.

Fuchs, 2009). Im Zentrum aller historischen wie gegenwärtigen Strömungen stand bzw. steht

der kreative Umgang des Menschen mit sich und der Welt durch die Begegnung mit Kunst,

Kultur und Künstlern. Betont wird die ästhetisch-expressive Dimension von Bildung vor dem

Hintergrund eines dominierenden Nützlichkeitsdenkens in der Gesellschaft. Dieses auf das

Ästhetische, die sinnliche Wahrnehmung und Hervorbringung ausgerichtetes

Bildungsverständnis ist nicht neu. Nach Phasen der Rationalität und Formalisierung von

Lernen und Denken sind das Ästhetische und die Künste immer wieder als „Gegenpol zur

Intellektualisierung von Bildungs- und Erziehungsprozessen“ (Ehrenspeck, 2001, S. 12)

gesetzt worden. Von ihnen wurde und wird erwartet, dass sie den Menschen in seiner

Gesamtheit ansprechen und die Sinne als einen unverzichtbaren Zugang zur Welterfassung

und zum Weltverstehen ins Zentrum von Bildung und Vermittlung stellen1.

Die phantasievolle Auseinandersetzung mit Kunst, Kultur und Alltag ist auch im Kinder- und

Jugendplan des Bundes verankert. Kulturelle Bildung

„… soll das gestalterisch-ästhetische Handeln in den Bereichen Bildende Kunst, Film,

Fotografie, Literatur, elektronische Medien, Musik, Rhythmik, Spiel, Tanz, Theater,

Video u. a. fördern. Kulturelle Bildung soll die Wahrnehmungsfähigkeit für komplexe

soziale Zusammenhänge entwickeln, das Urteilsvermögen junger Menschen stärken

und sie zur aktiven und verantwortlichen Mitgestaltung der Gesellschaft ermutigen“

(BMFSFJ 2012).

Mit der Akzentuierung künstlerischer Verfahrensweisen wird der explorative, sinnlich-

expressive Zugang zur Welt betont, der kreative, ungewohnte und ungewöhnliche,

ergebnisoffene Gestaltungsprozesse initiiert und fördert. Von daher wird in den

Programmen zur Kulturellen Bildung verstärkt auf den Einsatz von Künstlern und

Künstlerinnen gesetzt. Erfahrungsberichten zufolge2 gelingt es ihnen aufgrund vorhandener

künstlerischer Praxis und Expertise einen besonderen Zugang zu den Jugendlichen zu

erzeugen. Sie gehen – auch weil sie keine Bewertungsfunktion übernehmen müssen – mit

einer hohen Wachheit für den Prozess und v.a. für die Belange der Kinder und Jugendlichen

ungewohnte Wege, suchen das Neue, Unbequeme, indem sie die Sinne einbeziehen und

eine Vielfalt an Wahrnehmungen erzeugen. Künstlerische Zugänge helfen, diese Vielfalt von

Blickwinkeln einzunehmen und bieten von daher eine besondere Chance für den Menschen,

1 Neben der sinnlich-ästhetischen Zugangsweise zur Welt hat Baumert anknüpfend an Humboldts klassisches

Bildungsverständnis verschiedene Modi der Welterfassung gekennzeichnet, die sich wechselseitig ergänzen aber nicht ersetzen können: die kognitiv-instrumentelle, die normativ-evaluative und die kognitiv-rationale Zugangsweise zur Welt (BMBF, 2007, 66f.).

2 Der Mangel an empirischen Belegen für die Arbeitsweisen und Wirkungen von Künstlern ist ein in der Fachdebatte

erkanntes Problem, auf das derzeit zahlreiche Förderprogramme reagieren, so z.B. durch das BMBF, die Mercator-Stiftung.

3

„die Entdeckung der eigenen Einzigartigkeit, die bewusste und angstfreie

Auseinandersetzung mit dem Irrationalen und den Impuls, eigenverantwortlich zu handeln“ -

so der bildende Künstler Daniel Hoernemann (http://www.walbrodt.org/3.html).

Die Orientierung an den Künsten und der künstlerischen Auseinandersetzung hat

zunehmend Eingang gefunden in die Debatten um eine Öffnung und Reform von Schule. Die

Enquete-Kommission des Bundes „Kultur in Deutschland“ unterstreicht bereits 2007 die

Notwendigkeit kultureller Bildungsangebote an allgemeinbildenden Schulen (Deutscher

Bundestag, 2007). Neben der Tatsache, dass die Schule der einzige Ort sei, an dem alle

Kinder und Jugendlichen bis 16 Jahren unabhängig von sozialer Herkunft und Schulart

erreicht werden können, geht Ties Rabe, KMK-Präsident 2012, davon aus, dass ihr

umfassender Bildungs- und Erziehungsauftrag „nur mit vielfältigen Bildungsangeboten im

kulturellen/musisch-ästhetischen Bereich erfüllt werden kann“ (Pressemitteilung 079/2012

des BMBF).

Zahlreiche Förderprogramme sind ins Leben gerufen worden, die die Kulturelle Bildung an

Schulen nachhaltig stärken wollen. So verfolgt die Fachstelle „Kultur macht Schule“ – eine

Einrichtung der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) – den Ausbau

umfassender lokaler Bildungslandschaften3. Über die Programme der Länder hinaus

beteiligen sich zudem diverse Stiftungen an der Stärkung kultureller Bildungsangebote an

Schulen (so z.B. die Kulturstiftung des Bundes durch das Programm „Kulturagenten für

kreative ‚Schulen“4, die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung gemeinsam mit der PwC-

Stiftung durch das Programm „Kultur.Forscher!“5 oder die Montag-Stiftung Jugend und

Gesellschaft durch das Programm „Ästhetische Bildung“6).

Alle Initiativen und Programmen vereint die Überzeugung, dass Schule den notwendigen

Wandel nicht aus sich selbst heraus bewerkstelligen kann. Betont wird der Bildungswert von

dritten Lernorten neben Schule und Familie wie Kindertagesstätten, Jugendhilfe- und

Kultureinrichtungen, Musik- und Kunstschulen7, die der ästhetisch-expressiven Dimension

von Bildung eine besondere Aufgabe zuschreiben. Und hier kommt der Beitrag von

Bewegung, Spiel und Sport ins Spiel.

3 Lokale Bildungslandschaften (ein vom Kinder- und Jugendbericht 2005 eingeführter Begriff) sind „langfristige,

professionell gestaltete, auf gemeinsames, planvolles Handeln abzielende, kommunalpolitisch gewollte Netzwerke zum Thema Bildung, die – ausgehend von der Perspektive des lernenden Subjekts – formale Bildungsorte und informelle Lernwelten umfassen und sich auf einen definierten lokalen Raum beziehen“ (Durdel & Bleckmann 2009).

4 „Kulturagenten für kreative Schulen“ ist ein Modellprogramm der gemeinnützigen Forum K&B GmbH, initiiert und

gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und die Stiftung Mercator in den Bundesländern Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen in Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien, der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V., der conecco UG – Management städtischer Kultur und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (vgl. http://www.kulturagenten-programm.de).

5 „Kultur.Forscher!“ ist ein gemeinsames Programm der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und der PwC-Stiftung Jugend – Bildung – Kultur. Ausgangspunkt ist die Kooperation von Schulen mit Kulturinstitutionen. Lehrkräfte entwickeln gemeinsam mit Experten aus dem Kulturbereich Vorhaben und Projekte, in denen Kinder und Jugendliche kulturelle Phänomene erforschen. Die Vernetzung von Alltagserfahrungen, künstlerischen und wissenschaftlichen Methoden steht im Mittelpunkt (vgl. www.kultur-forscher.de).

6 Das Aus- und Weiterbildungsangebot „Ästhetische Bildung“ richtet sich an Studierende der Pädagogik und des Lehramts, aber auch an Künstler & Multiplikatoren und konzentriert sich auf den Erwerb von Schlüsselqualifikationen im kreativen und pädagogischen Bereich (vgl. http://www.montag-stiftungen.de/jugend-und-gesellschaft/projekte-jugend-gesellschaft/aesthetische-bildung.html).

7 Siehe http://www.kultur-macht-schule.de, Zugriff am 20.5.2013

4

Bislang kann nur ansatzweise auf Praxen aus dem Bereich von Bewegung, Spiel und Sport

zurückgegriffen werden, die das ästhetisch-expressive Potenzial deutlich machen. Vielmehr

sind es Vorschläge auf einer eher konzeptionellen, ideellen Ebene, die zur „musisch-

kulturellen Arbeit“ (Sportjugend NRW, 2005, 19) oder „ästhetischen Erziehung“ (s.

Rahmenvorgaben für den Schulsport NRW, 1999, XXXVI) anregen.8 Demgegenüber sind für

die Praxis Kultureller Bildung Zugangsweisen und Prinzipien kennzeichnend, die einen

kreativen und künstlerischen Umgang mit den Dingen der Welt deutlich machen, der für das

Feld von Körper, Bewegung, Spiel und Sport fruchtbar gemacht werden kann. Voraussetzung

ist, sich die die ästhetisch-expressive Dimensionen von Körper, Bewegung, Spiel und Sport

vor Augen zu führen.

3. Körper, Bewegung, Spiel und Sport: Potenziale und Voraussetzungen für die Praxis

Kultureller Bildung

Sowohl aus philosophischer wie aus bildungs- und erkenntnistheoretischer Sicht sind die

ästhetischen Potenziale herausgearbeitet worden (Gebauer 1995; Beckers 1985, 1997,

Franke & Bannmüller 2003; Franke 2008; Nebelung 2008). Neben Literatur, Musik und Kunst

subsummiert Tenorth (2008) in Anlehnung an Baumert Sport unter dem Begriff der

„physischen Expression“ und kennzeichnet ihn als „ästhetisch-expressiven“ Gegenstand

(S.168). Als Alleinstellungsmerkmal wird die körperlich-leibliche Fundierung von Erfahrungen

sowie die Besonderheit der Präsentativität von Wissen hervorgehoben (Franke 2008, 200

ff.). Die Rehabilitierung des Körpers bzw. Leibes als Vermittler zwischen Ich und Welt und

damit als „unverzichtbare Erkenntnisquelle“ (Beckers in diesem Band, /Grundlagenbeitrag

Schulen und Sportvereine - Manuskript, S. 19) findet in der sportpädagogischen Diskussion

weitestgehend Zustimmung. Allerdings hat die Debatte vornehmlich auf einer theoretischen

Ebene stattgefunden und nur selten Transferhilfen zur praktischen Umsetzung und

Verankerung im Bildungssystem angeboten.9

In den Rahmenvorgaben für den Schulsport wird zwar die Legitimationsbasis für eine

Öffnung des Faches im Hinblick auf den allgemeinen Erziehungs- und Bildungsauftrag von

Schule und seinen Beitrag zum Schulprogramm zugrunde gelegt, Hinweise und Anregungen

für die Praxis bleiben jedoch aus (s. Rahmenvorgaben, 1999, XLIX f.). Eine konkrete

Vorstellung liefert die pädagogische Konzeption der Sportjugend NRW (2005, 2010). Hier

wird Kreativitätsförderung als ein pädagogisches Handlungsfeld neben z.B.

Gesundheitsförderung, Förderung des Interkulturellen Lernens oder der Mitgestaltung und

Mitbestimmung dargestellt. Der Akzent wird auf das „(Aus)Probieren und Finden eigener

Lösungen in und mit Bewegung“ (Sportjugend 2010, 62), das Verfremden, Verändern und

„auf den Kopf stellen“ (63) sowie das Präsentieren und Zeigen des Selbstentwickelten gelegt,

8 Eine Ausnahme liefert der Bereich Tanzen, Darstellen und Gestalten – Bewegungskünste, der mit dem Einzug des Tanzes

in den Schulsport seit den 1980er Jahren konkrete Praxen und entsprechende didaktisch-methodische Hilfen vorweisen kann. Allerdings muss auch hier eingeräumt werden, dass die professionsspezifischen Voraussetzungen größtenteils fehlen und eine ästhetisch-künstlerische Praxis im Fach Sport von Seiten der Lehrkräfte wie Schülerschaft immer wieder auf Widerstand gestoßen ist.

9 Eine Ausnahme bildet allerdings die Tanzpädagogik, die auf der Grundlage ästhetischer Bildungstheorien zahlreiche Praxisentwürfe und -beispiele vor allem für den Schulsport aufweist (z.B. Haselbach, 1976; Fritsch, 1990; Klinge, 2013).

5

womit die Absicht deutlich wird, die eigenen Bewegungs-, Wahrnehmungs- und

Verhaltensweisen zu entdecken und „alte (möglicherweise) einseitige Denk- und

Verhaltensmuster [zu] sprengen“ (ebd.). Die Konzeption betont, dass das „wie“ und „was“

des Angebots sowie das Selbstverständnis der Pädagogen für die Initiierung solche Prozesse

entscheidend sei.

Damit legt die Sportjugend NRW einen Ansatz vor, der durchaus Anschlussfähigkeiten zu den

Konzepten der Kulturellen Bildung aufweist. Aufgrund ihrer Geschichte und Verortung in

Kunst und Kultur wurde der Schwerpunkt der kulturellen Bildungspraxen immer schon auf

künstlerische Verfahrensweisen gelegt. Diese gilt es im Hinblick auf mögliche Orientierungen

für die Praxis im Feld von Bewegung, Spiel und Sport darzustellen (s. Kap. 4). Doch zunächst

wird es darum gehen das „was“ zu beschreiben und damit die ästhetisch-expressive

Dimension von Körper, Bewegung, Spiel und Sport. Dabei wird zwischen einer ästhetischen,

einer ludischen und einer symbolischen Dimension unterschieden.

3.1. Die ästhetische Dimension von Bewegung, Spiel und Sport

Die neuen Praxisformen von Bewegung, Spiel und Sport (wie Skateboarding, Free Running,

Parcours, Streetdance, Streetball, Biken, Flash Mobs, Martial Arts, Yoga oder Capoeira)

verweisen nicht nur auf die Aufweichung eines traditionell sportiven Kerns, sondern auch auf

eine neue Verbindung sportiver Elemente mit künstlerischen, ästhetischen Elementen.10 Im

Zentrum stehen die „sinnlich wahrnehmbaren ästhetischen Eigenschaften sportlicher

Aktivitäten“ (Witt in Nebelung 2008, 58). Sie verweisen auf die phänomenologische Figur der

Einheit des ‚gelebten‘ und ‚erlebten Leibes‘ (Grupe & Krüger 1997, 194) und damit auf das

besondere Erfahrungspotenzial, das durch Bewegung, Spiel und Sport gegeben ist. Es betont

die ästhetische Erfahrung, die Duncker (1999) als das Erleben einer besonderen,

außergewöhnlichen Situation beschreibt, welche ein Staunen oder Wundern hervorbringt,

das Neugierde erzeugt, das Besondere erfassen zu wollen11. Das Erlebnis wird als

Wahrnehmung bewusst und eröffnet damit eine neue, ggf. andere Perspektive und

Interpretation von Welt. Die symbolische Verarbeitung dieser Erfahrung vollzieht sich als

eine Art Übersetzung in eine Handlung, ein Spiel, einen Ausdruck, ein Bild, einen Ton oder

eine Bewegungsform und hebt den produktiven, performativen Aspekt einer ästhetischen

Erfahrung hervor.

3.2 Die ludische Dimension von Bewegung, Spiel und Sport

10 Schwier (2008) beschreibt z.B. Virtuosität, kreatives Samplen, Eventorientierung und Styling als Kennzeichen neuer

Bewegungskulturen, die das Artifizielle und Ästhetische hervorheben.

11 „Wo reizhaltige Umgebungen gewählt und gestaltet werden, wo sich Staunen und Faszination ausbreiten, wo Schönes

und Erhabenes aufgesucht und in Wiederholungen durchlebt wird, wo Situationen ins Extreme gesteigert und Grenzerfahrungen provoziert werden – in all solchen Momenten verbinden sich ästhetische Erfahrungen nicht nur mit Lernbedürfnis und Erkenntnisabsicht, sie spitzt sich zu im Verlangen, das Leben selbst auszukosten und ihm mehr als übliche Routine abzugewinnen“ (Duncker, 1999, S.9).

6

Als vom ‚Ernst des Lebens‘ entlasteter Raum (Alkemeyer, 2012, 118) bietet der Sport in

seiner Ausprägung als Spiel ein besonders geeignetes Feld für ästhetische Erfahrungen. In

der Sphäre von Zweckfreiheit können sinnliche Erlebnisse und Erfahrungen vertieft werden,

denn „wenn wir spielen, lassen wir uns ganz auf die Gegenwart ein. Wenn wir ästhetisch

spielen, lassen wir uns ganz auf die Anschauung einer Gegenwart ein“ (Seel in Nebelung,

2008, 118). Das Spielen bildet die Basis dafür, andere Wirklichkeiten, „neue Assoziations-

und Beziehungsordnungen“ (Sutton-Smith, 1987, 89) zu erfahren, Veränderungen

wahrzunehmen und das Kunstförmige von der sozialen Wirklichkeit zu unterscheiden.

Sanktionen sind nicht zu befürchten, Um- und Irrwege erlaubt, Verunsicherungen und

Grenzerfahrungen möglich wie Zufälliges und vermeintlich Fehlerhaftes ausdrücklich

erwünscht ist. Bewegung, Spiel und Sport liefern das „Experimentier- und Lernfeld des

Handelns unter Unsicherheit“ (Alkemeyer, 2012, 118), in dem die Widerständigkeit, die in

den Dingen liegt, wahrgenommen werden kann. Neue Qualitäten des Miteinanders oder

Gegeneinanders, des Artistischen oder Artifiziellen, des Kraftvollen oder Kämpferischen

treten neben die etablierten gebundenen Formen des Sports. In Veränderungen des

Gewohnten und Eingespielten liegt die Chance, Diskrepanzerfahrungen zu machen, die den

Blick für die Zugänge zur Welt sowie ihre Ver- und Behinderungen schärfen (Beckers, 2000,

Klinge, 2000).

3.3 Die symbolische Dimension von Bewegung, Spiel und Sport

Schließlich bietet der Aufführungscharakter von Bewegung, Spiel und Sport eine Plattform,

um einverleibte, verkörperte gesellschaftliche Strukturen zu lesen wie auch individuelle

Erfahrungen zum Ausdruck und zur Darstellung zu bringen und anderen mitzuteilen.

Eingeübte Bewegungsmuster, Spielformen und Sportarten sind sowohl als Spiegel

gesellschaftlicher Entwicklungen zu verstehen (wie z.B. die Erfolgsorientierung und

Kommerzialisierung im großen Sport) wie auch gesellschaftliche Entwicklungen mit Hilfe von

Bewegung sichtbar, angestoßen und gestaltet werden können (z.B. die Eroberung anonymer

urbaner Räume durch spontane flash-mobs, Streetdance oder Parcours). Die Art und Weise,

wie die Körper sich bewegen und verhalten, macht sowohl Vorhandenes und Bekanntes

deutlich wie auch Neues und Unbekanntes durch die Erkundungen des Körpers entdeckt

werden kann. Bewegung, Spiel und Sport werden in diesem Sinne als performative, aus- und

aufführende Phänomene verstanden, die Körper- und Bewegungspraxen sowohl erzeugen

als wiederspiegeln.

Mit dieser Auslegung von Bewegung, Spiel und Sport als ästhetische Erfahrung,

Experimentier- und Spielfeld sowie Plattform für Ausdruck und Darstellung individueller und

sozialer Erfahrungen wird der grundsätzlich offene Charakter hervorgehoben. Im

Vordergrund steht die Suche nach noch nicht besetzten Räumen möglicher

Bewegungsweisen, das Herantasten an (Disziplin-)Grenzen und Überschreiten impliziter

Normen sowie die Hervorbringung neuer, individuell wie sozial sinnvoller Formen. Ein so

gestalteter Zugang zu und Umgang mit Körper und Bewegung zeigt gewisse Parallelen zu

künstlerischen Verfahrensweisen. Sie beginnen mit sinnlichen Explorationen, suchen und

provozieren Widerstandserfahrungen und setzen sich in Erprobungen des Ungewohnten

7

fort. „Künstlerische Gestaltung ist Vermuten, Vertauschen, Probieren, Hinzutun,

Wegnehmen, Zerstören, Neuzusammensetzen, Verkleinern, Vergrößern, Verfremden und

Verwandeln. Dann wieder warten. Zeit haben und es passieren lassen - ähnlich wie in der

Kindheit.“ (Bree, 2007, ). Der explorative Umgang mit Bewegung, Spiel und Sport (Freytag &

Sinning, 2010) unterscheidet sich hiervon nicht. Die Aufmerksamkeit ist auf den Prozess

gerichtet, ein Ergebnis oder Produkt wird nicht angestrebt und bleibt zunächst

nebensächlich.

4. Suchen und Explorieren: Künstlerische Zugangsweisen zur Praxis kultureller Bildung im

Kinder- und Jugendsport

Um solche Prozesse des Suchens und Explorierens in Gang zu setzen, können Anleihen bei

Künstlern und künstlerischen Zugangsweisen hilfreich sein. Dies soll im Folgenden in der

Absicht geschehen, Anregungen für eine Praxis zu liefern, in der die bekannten und

vertrauten Formen und Umgangsweisen mit dem Körper (s. Beckers in diesem Band,

Grundlagenbeitrag) bewusst überschritten und die ästhetisch-expressiven Potenziale von

Bewegung, Spiel und Sport aufgedeckt und ausgelotet werden.

4.1 Ästhetisches Forschen - Fragen stellen mit allen Sinnen

Mit dem beschriebenen Probe- und Experimentiercharakter von Bewegung, Spiel und Sport

wird der Prozess des Erforschens, Sammelns und Erkundens und immer wieder

Fragenstellens hervorgehoben. Fragen stellen ist ein zentrales methodisches Mittel, den das

Konzept des ästhetischen Forschens verfolgt (Leuschner & Knoke 2012). Ausgangspunkt für

individuelle Erkundungen sind lebensweltliche Bezugssysteme, die einen Rahmen für

Begegnungen, praktische, künstlerische und theoretische Auseinandersetzungen liefern.

„Anstatt Fragen und Ziele vorzugeben, werden Rahmungen, Institutionen und Orte

vorgegeben“ (ebd., S. 10), die die Heranwachsenden dazu anregen, sich inspirieren zu lassen,

Umwege zu gehen, auf das Ungewohnte, Neue einzulassen, ohne immer gleich zu wissen,

wohin es führen kann. So können Fragen an den Raum (wo stehe ich im Raum? Welche

Ecken sind mir bekannt, welche kenne ich nicht? Wie riecht der Raum? Welche Farben

nehme ich wahr? Welche Geräusche macht der Raum?), an Materialien (welche Funktion hat

die Treppe? Was kann ich mit, auf einer Treppe machen? Welche Geräusche macht die

Treppe? Kann ich Geräusche erzeugen?) oder an andere Personen (wie viele Menschen

nehme ich wahr, wen sehe ich? Wo stehe ich im Verhältnis zu den anderen?) mit dem

eigenen Körper und seinen Bewegungsmöglichkeiten sowohl gestellt als auch beantwortet

werden. Das assoziative Suchen und Erforschen mit allen Sinnen ist überall möglich. Sicher

gestellt werden muss der Freiraum für diese Art ästhetischen Forschens, die nicht von einem

Thema ausgeht, sondern dies erst allmählich wachsen lässt. Entscheidend ist die Vielfalt der

sinnlichen Zugangs- und Erkenntnisweisen, die selten durch nur eine Person abgedeckt

werden kann, sondern von der Zusammenarbeit und dem Zusammenwirken verschiedener

Partner wie Künstlern, Bewegungsexperten, Lehrern, Theater-, Museums- oder

Sozialpädagogen lebt.

8

4.2 Site-Specific-Art

Eine weitere Art, Fragen auszulösen, bietet sich mit dem Prinzip der Dekontextualisierung

aus der Site-Specific-Art an. Site-Specific umfasst eine Kunstrichtung, die in den 1960er

Jahren entstanden ist. Dabei handelt es sich um Kunstprojekte, die aus den etablierten

Kunsträumen wie Museen, Galerien oder Theatern bewusst heraustreten, um auf die

Begrenzung der Wahrnehmung durch Orte oder Kontexte hinzuweisen. Gleichzeitig werden

mit dem bewussten Verlassen der geschützten, vom Alltag weitestgehend abgeschotteten

Räume die Überwindung oder zumindest Thematisierung von Grenzen und die Verankerung

eines Werkes oder Gegenstands im Raum angeregt. Die Künstler betonen die Wichtigkeit des

‚Hier und Jetzt‘; die zufällig vorbeigehenden Passanten und Zuschauer werden zu Komplizen,

die die Formen und Plätze ihrer Umgebung wahrnehmen, die sie sonst vielleicht übersehen

haben. Im Mittelpunkt stehen die körperliche und sinnliche Herausforderung und das

Bewusstmachen, dass jeder Ort, jeder soziale Raum aktiv gestaltet werden und ihm damit

eine neue, individuelle wie soziale Bedeutung gegeben werden kann. Es geht um die

Auseinandersetzung mit räumlichen Besonderheiten, ihren Bedingungen, Grenzen und

Freiheiten und um den Dialog zwischen Körper, Bewegung und Ort (BV Tanz in Schulen,

2013).

4.3. Dekonstruieren

Der Sportdidaktiker Ehni hat bereits 1977 einen ähnlichen Ansatz herausgearbeitet. Er greift

das Zerlegen und Dekonstruieren als Prinzip zur Erzeugung von Mehrperspektivität heraus

und greift dafür auf den Begriff der „strukturalistischen Tätigkeit“ (S. 134 f.) zurück. Durch

das Zerlegen vorhandener Ganzheiten, wie z. B. einer Sportart, einer überlieferten

Bewegungsform oder einem Spiel, werden gewachsene Strukturen aufgedeckt. Mit einer

veränderten oder anderen Zusammenstellung der Fragmente wird Neues, Eigen-Sinniges

entworfen und konstruiert. Im Spielen werden „die unbewussten Strukturen, die

Selbstverständlichkeiten und die in ‚Fleisch und Blut’ übergegangenen Verhaltensweisen (…)

ein Stück weit auf Distanz gebracht und damit auch für neue Erfahrungen verfügbar“ (S.

137). Der selbsttätige, sinnliche Umgang mit der Perspektivenvielfalt und Heterogenität von

Bewegung, Spiel und Sport liefert das Fundament für ein reflektiertes

Wiederzusammenlegen der Einzelteile zu einem Ganzen, das nun in seiner Komplexität

theoretisch wie praktisch verstanden werden kann. Damit verweist Ehni auf ein

methodisches Prinzip, das sowohl die Differenzierung der Sinne fördert als auch ihre

Erkenntnisfähigkeit betont.

4.4 ‚Mapping the school‘ - Räume entdecken, Räume erschließen

Diese Idee geht auf ein Kunstprojekt in einer Schule zurück, in dem eine etwas andere

Vermessung und Kartierung des Schulgebäudes stattfand. Dieses Mapping stützte sich auf

die Wahrnehmung des Raumes mithilfe von Bewegung, indem typische Raumwege der

Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer definiert wurden, z.B. aus dem

9

Wechsel von einem in einen anderen Unterrichtsraum oder aus dem Gang zur Toilette

entstehen. Lieblingsorte und auch ‘Unorte’ wurden damit aufgezeigt. Die Ausgangsfrage

„Was braucht ein Raum, damit Menschen sich darin entwickeln können?“ ist die Grundlage

der Idee des Künstlerpaares Jennifer Hoernemann & Walbrodt. Jedes System, und so auch

jede Schule, brauche einen eigenen Künstler. Bei weiteren Terminen in der Schule bewegten

sich die beiden Künstler nonverbal und improvisierend in den Räumen des Schulgebäudes

und irritierten die Schüler und Lehrer, indem sie gewohnte Raumwege mit Gegenständen

oder ihrem Körper versperrten und damit veränderte Körperbewegungen oder auch neue

Wege eröffneten. Eine auf dem Boden platzierte lange Holzlatte beispielsweise lud zum

Balancieren ein – an eine Säule gelehnt forderte sie zum Ducken auf, um unter ihr

durchgehen zu können. Im Laufe des Projektes entstanden aus diesen Einzelbegegnungen

komplexere Bewegungsanordnungen, die in einem Tanz endeten.

Die Nicht-Planbarkeit des Ergebnisses und Sensibilität für den Prozess ist Grundlage der

Zusammenarbeit zwischen den Künstlern und der Schule: „Für das Gelingen des Projektes

sind das Vertrauen und die Offenheit des Systems Schule Grundvoraussetzungen. Dabei ist

der intensive, kontinuierliche Kontakt mit unserem Ansprechpartner und Sympathisanten,

einem Kunstlehrer, genauso wichtig, wie unsere stetige künstlerische Präsenz vor Ort.“ (BV

Tanz in Schulen, 2013, S.13)

5. Freiwilligkeit, Partizipation und Netzwerken: Parameter gelingender kultureller

Bildungsarbeit

In den diversen Projektpraxen kultureller Bildung haben sich gewissermaßen Prinzipien

heraus kristallisiert, die – auch hier stehen die entsprechenden empirischen Befunde noch

aus – entscheidende Parameter gelingender Bildungsarbeit ausmachen. Freiwilligkeit,

Partizipation und Netzwerken. Die außerunterrichtlichen Settings der Angebote im Ganztag

sowie die Projekte außerschulischer Einrichtungen wie Jugendkunstschule,

Jugendhilfeeinrichtungen, Sportvereinen ermöglichen das erste Prinzip der Freiwilligkeit. Die

notwendigen Kooperationen zwischen Schule, Kultureinrichtungen, Vereinen und

informellen Gruppen erfordern eine Begegnung ‚auf Augenhöhe‘ – sowohl auf

institutioneller wie auch auf zwischenmenschlicher Ebene. Die „Teilhabe bzw.

Mitbestimmung von jungen Menschen an den sie betreffenden Entscheidungen“

(Bundesjugendkuratorium, 2009, 6) kommt dem entgegen. Ihre aktive Teilhabe und

Mitgestaltung ist Bedingungen und Ziel zugleich. Die Jugendlichen entscheiden nicht nur

über mögliche Inhalte und Themen mit, sondern vereinbaren auch deren

Herangehensweisen. Auch das setzt Freiwilligkeit voraus. In dem Maße, wie

Teilhabemöglichkeiten von institutionellen Bedingungen und Erwartungen befreit sind, steigt

die Bereitschaft aktiver Mitgestaltung. Die subjektiv wahrgenommenen

Beteiligungsmöglichkeiten werden „umso größer […], je weiter die Beteiligungsthemen vom

eigentlichen Unterrichtsgeschehen und von der Notengebung entfernt sind“ (ebd., 15).

Freiwilligkeit und Partizipation sind letztlich auch Voraussetzungen für gelingende

Kooperationen und Netzwerke, in denen die Akteure von Anfang an an der Planung beteiligt

werden, z.B. eine Schule mit einem Sportverein, einem Theater und/oder einer

10

Jugendhilfeeinrichtung. Die thematische Ausrichtung sollte sich an den Wünschen der

Beteiligten und Bedarfe der Region orientieren. So können besonders benachteiligte

Stadtteile oder ‚Unorte‘ aufgedeckt und mit Bewegungsaktionen bekannt, anerkannt und

aufgewertet oder Sport- und Spielfeste mit einem multikulturellen Schwerpunkt entwickelt

werden. Ein Zustand „situativer Gemeinschaftlichkeit“ (Pfadenhauer, 2012, 223) kann

entstehen, der zwar nicht immer über Milieugrenzen, aber zumindest über Klassen und

Schichten hinweg Zusammengehörigkeit und ein identitätsstiftendes Erlebnis von Einheit

trotz Verschiedenheit erzeugen kann.

Die Grenzen von Partizipation und Netzwerken sind allerdings weniger bei den Kindern und

Jugendlichen als vielmehr bei den Erwachsenen zu suchen. Top-Down Maßnahmen sind von

daher nicht erfolgversprechend. Eine kommunikative Aushandlung aller Beteiligten und

Akteure und damit die Anerkennung unterschiedlicher kultureller Praktiken, sozialer

Umgangsformen, individueller Interessen und Vorlieben sowie Bewegungs- und

Geschmackskulturen sollte wahr und ernst genommen werden – eine Aufgabe und

Herausforderung, die eingeübt werden muss. Lehrer, Übungsleiter, Trainer, Künstler,

Betreuer und Begleiter benötigen diesbezüglich eine ausgeprägte Sensibilisierung, die auf

eigene Erfahrungen im Umgang mit ungewohnten Wegen und unvorhersehbaren

Ergebnissen aufbauen.

6. Fazit und Perspektiven

Mit der Hervorhebung der ästhetisch-expressiven Dimension von Bildung wurde zum einen

eine in der Bildungsdebatte und -praxis chronisch vernachlässigte Dimension beschrieben

und zum anderen eine Perspektive, der sich Konzepte und Programme der Kulturellen

Bildung widmen. Dabei wird auf die künstlerischen Sparten und kunstbezogenen Bereiche

als besonders geeignete Zugänge und Medien Kultureller Bildung zurückgegriffen. Die

Künste bieten das Feld für ungewöhnliche Explorationen und Experimente und stellen die

Sinne ins Zentrum ihrer Expeditionen stellen. Die Analyse des ästhetisch-expressiven

Potenzials körper-, bewegungs- und spielbezogener Aktivitäten hat gezeigt, dass dieses Feld

in gleicher Weise wie die Künste Voraussetzungen für sinnliche Explorationen liefert. Die

Anleihen bei Künstlern und deren vornehmlich kreativen Verfahrensweisen dürfen von

daher als Hilfen zur Erweiterung des Feldes (des „was“) und zur Öffnung der

Vorgehensweisen (des „wie“) verstanden werden.

Um solche Orientierungen auch in konkrete Praxen einmünden zu lassen, die den Kindern

und Jugendlichen über die ästhetisch-expressive Dimension von Bildung einen Zugang zur

Erschließung der Welt eröffnen, sollten entsprechende Praxiserfahrungen in die

Qualifizierung von Vermittlern - in universitärer Lehrerausbildung ebenso wie in

Fortbildungen für Übungsleitern, Trainer, Sozialpädagogen - eingebunden werden. Die

Fähigkeit und Bereitschaft, dabei über den eigenen Tellerrand zu blicken und die

mitgebrachte Expertise - ob aus Sportverein, Jugendzentrum, Schule oder Sportunterricht -

zugunsten der Kinder und Heranwachsenden einbringen und als Beitrag gemeinsamer

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Vorhaben zur Verfügung stellen, ist Voraussetzung und Ziel gelingender Bildungspraxis

zugleich.

Dass solche Vorstellungen nicht nur Visionen bleiben müssen und auch die Chancen einer

gewissen Alltagstauglichkeit haben, zeigt ein Blick in die Anfänge der offenen

Ganztagsentwicklung sowie in bisherige Einzelprojekte der Deutschen Sportjugend bzw. der

Sportjugend NRW. Die mit dem neuen Schulgesetz von 2005 einhergehende

Herausforderung, außerunterrichtliche und überfachliche Angebote in offenen

Ganztagsschulen bereit stellen zu müssen, rief innovative und kreative Konzepte hervor, die

die ‚Leerstelle‘ zwar noch auf wackligen Füßen, aber durchaus konstruktiv zu nutzen

wussten. Großprogramme und Projekte, die heute das Feld Kultureller Bildung bestimmen

und von Bund wie Ländern mit nicht unerheblichen Mitteln gefördert werden, wie z. B.

„Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“, „Kultur macht Schule“ oder „Kultur und Schule“

gehen letztlich auf solche Einzelinitiativen zurück.

Für den Bereich des Kinder- und Jugendsports sind solche Programme noch eher ungewohnt

und singulär. Die Sportjugend NRW hat 2012 einen ersten Versuch mit ihrem Projekt

„JugendkultTour“ unternommen, indem sie mit ‚jungen‘ Angeboten wie HipHop, Slackline,

Parcours oder Skaten die Jugendlichen vor Ort zu Workshops einlud

(netzwerkjungeohren.de). Ein anderes Projekt hatte im Rahmen des Achtbrückenfestivals in

Köln 2012 Premiere. „Fluxus trifft Flashmob“ hieß die Aktion im öffentlichen Raum, zu der

Sportjugend NRW und Köln, Landesmusikart und KölnMusik aufgerufen hatten (netzwerk-

sportjugend.de). Die Deutsche Sportjugend nimmt allerdings mit ihrem bundesweit

ausgeschriebenen Programm „Sport: Bündnisse! Bewegung-Bildung-Teilhabe“ eine

potenzielle Vorreiterrolle für die Öffnung des Sports ein. Mit den zwei Modulen

„ErlebnisRAUMerfahrung“ und „Sport.Art – Kinder- und Jugendsportshow“ will sie zur

kreativen Auseinandersetzung mit dem sozialen und kulturellem Umfeld sowie dem

gesellschaftlichen Wandel beitragen, die sportliche Betätigung bewusst durch kulturelle und

künstlerische Elemente erweitern wie auch Sport als ästhetische Ausdrucksform erfahrbar

machen (Deutsche Sportjugend, 2012). Ausgangspunkt der Projekte ist der kreative Umgang

mit Bewegung in Bezug auf die Erkundung und Nutzung neuer Räume sowie die gemeinsame

Gestaltung von Aufführungen.

Es bleibt abzuwarten, wie die Angebote von den Akteuren umgesetzt und den Jugendlichen

angenommen werden und ob die mit dem Kinder- und Jugendsport befassten

Organisationen in der Lage sein werden, die noch unentdeckten Chancen von Körper,

Bewegung, Spiel und Sport zu entfalten und um ihre sinnlichen, expressiven und

künstlerischen Dimensionen zu erweitern. Die hier skizzierten Beispiele und Zugangsweisen

können dabei Impulse liefern für eigene innovative Vorhaben sein.

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