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Seminararbeit zur LV 210082 SE M3b: SpezialiserungsSE Politische Manifeste WiSe 2014
Wien, 28.02.2015 Seite 1 von 21
A storm in a tumbler?
1
Lehrveranstaltungsleiter:
Mag. Dr. Günther Sandner
Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien
Eingereicht von: Werner Schrittesser
Matrikelnummer: 0802034 / Studienkennzahl: 066 824
1 © W. Schrittesser Collage mittels © Lizenzfreie Stockbilder. http://de.dreamstime.com/lizenzfreie-stockbilder-
sturm-tornado-maskottchen-zeichen-image19378639 (16.01.2015).
Seminararbeit zu WiSe 2104
© Werner Schrittesser Wien, 28.02.2015 Seite 2 von 21
Inhaltsverzeichnis
Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 3
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 3
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 4
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 5
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 6
Optik und Haptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 6
Die ManifestantInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 7
Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 11
Inhalt des Manifestos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 12
Ein politisches Manifest? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 15
Wirksamkeit des Manifestos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 17
Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 18
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 19
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 20
Zur Einleitung
Der politisch historische Aspekt des 1967 NEW LEFT MAY DAY MANIFESTO (1967MDM)
lässt sich mit der spezifischen Situation des – im Sinne Bourdieus – politisch linken Feldes der
späten 1960er Jahre in Großbritannien skizzieren. Die als oppositionelle Kraft innerhalb des
linken Feldes positionierte New Left postulierte das 1967MDM aus einer Situation heraus, in
welcher sie die Labour Party als neoliberalen Büttel und revisionistischen Verräter
sozialistischer Ideologie sah. Zu den Akteuren des 1967MDM zählten fast
70 ManifestantInnen, überwiegend aus dem universitären Feld. Die intellektuellen Speer-
spitzen des 1967MDM waren die Herausgeber Stuart Hall, Raymond Williams und Edward P.
Thompson. Außergewöhnlich war, dass ein Designer, Anthony Ronald Hunnybun, das Layout
des Manifests unter Verwendung der Schriftart Futura gestaltete. In Würdigung des
1967MDM habe ich diese Seminararbeit daher in dieser Schriftart verfasst.
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1967 war in vielen Facetten auch jenes Jahr, in welchem sich die
Ereignisse des Jahres 1968, das einer Epoche und einer ganzen
Generationseinheit2 einen Namen geben sollte, ankündigten.
Diese Zeit ist im kulturellen Gedächtnis als eine Zeit der
progressiven Revolten zu Musik, Kleidung, Demonstrationen,
Gewalt und Sex geblieben.3 In den USA kam es mit dem „Summer of Love“ zum Höhepunkt
der Hippiebewegung und zum gesellschaftspolitischen Tiefpunkt mit landesweiten
Rassenunruhen. Dem US-amerikanischen Boxweltmeister im Schwergewicht, Muhammad Ali,
wurde sein Titel aberkannt, weil er wegen des Vietnamkrieges den Wehrdienst verweigerte
(„Kein Việt cộng nannte mich je Nigger“). Eine neue Dimension von Geschlechterkampf
eröffnete Valerie Solanas mit ihrem SCUM Manifest: „destroy the male sex“.4 In Bolivien fand
die linke Revolution ein jähes Ende, nachdem Che Guevara erschossen wurde. In Europa
stand der Kommunismus in der Tschechoslowakei mit dem „Prager Frühling“, begleitet von
Studentenprotesten, an der Kippe. Auf der Kippe stand die Souveränität Israels, die sich aber
im Sechstagekrieg gegen seine Nachbarn festigen konnte. Im geteilten Deutschland wurde
der Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen das iranische Schah-Regime in
West-Berlin erschossen; ein Auslöser der westdeutschen Studentenbewegung und Radikali-
sierung der außerparlamentarischen Opposition.5 Auf der anderen Seite feierte die
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands die Einführung der Fünf-Tage-Woche und die
Abschaffung von fünf kirchlichen Feiertagen als sozialistische Errungenschaften. In Österreich
wurde Bruno Kreisky in einer Kampfabstimmung Parteivorsitzender der Sozialistischen Partei
Österreichs; mit seinem Reformprogramm „Für ein modernes Österreich“ stellte er die
Weichen in eine spätere sozialistische Regierung. In Großbritannien waren die kulturellen
Ereignisse die Veröffentlichung des Beatles – Albums Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band
und der Gewinn des Eurovision Song Contests durch Sandie Shaw mit Puppet on a String.
Kirchliche Feiertage, wie in der DDR, wurden zwar nicht abgeschafft, dafür aber das Verbot
des Fleischverzehrs am Freitag von den katholischen Bischöfen aufgehoben.
2 Im Sinne von Karl Mannheim. Vgl. Neckel et al, 2010: S. 139. 3 Vgl. Woodhams, 2010: S. 57. 4 Solanas, 1967: S. 1. 5 Vgl. Der Standard vom 18.02.2015. http://derstandard.at/2000011867499/Stasi-Agent-nimmt-Schuss-auf-
Ohnesorg-mit-ins-Grab (26.02.2015).
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Außenpolitisch gesehen zeichnete sich das Ende der britischen Kolonialherrschaft nun auch
unerbittlich im Südjemen durch Ausrufung der Republik Südjemen ab. Innenpolitisch kam es
zur Neuverstaatlichung der Stahlindustrie, um Arbeitsplätze zu sichern. Ein auch von Bruno
Kreisky favorisiertes „Arbeitsplatzsicherungsmodell“. Was macht nun das Jahr 1967 so
besonders, dass sich zivilgesellschaftliche6 Teile des politisch linken Feldes öffentlich in Form
eines Manifests äußern? Nun, seit 1966 war, nach langer Zeit konservativer Regierungen,
endlich die Labour Party mit einer komfortabelen Mehrheit im Parlament ausgestattet.7 Die
Erwartungen der New Left wurden aber in einem Ausmaß enttäuscht, dass fast siebzig
ManifestantInnen8 ein intellektuelles Bollwerk gegen eine als neoliberal und revisionistisch
empfundene politische Entwicklung Großbritanniens verfassten.
Die britische Neue Linke entstand aus einer tiefen Desillusionierung, Enttäuschung und
Frustration linksintellektueller Kreise über die Entwicklung des Labour-Sozialismus einerseits
und des Kommunismus sowjetischer Prägung, repräsentiert durch die Communist Party of
Great Britain (CPGB), andererseits. Äußere Ereignisse der 1950er Jahre wie die Suez-Krise,
der Ungarnaufstand oder die Demotage Stalins trieben viele Intellektuelle aus ihren
bisherigen Stammparteien Labour Party oder CPGB in die jenseits parteipolitischer Strukturen
organisierte New Left, die ihren Namen einer französischen Wortschöpfung verdankte.9 Zur
Enttäuschung über die Entwicklungen der Labour Party und der CPGB kam noch eine
besonders harte Nuss: nicht nur der westliche Kapitalismus, verkörpert durch die USA,
sondern auch das kommunistische und sozialistische Establishment forcierten, angeheizt durch
den kalten Krieg, die atomare Rüstung, welche beispielsweise in Deutschland durch die
„Göttinger Erklärung“10 von 1957 verhindert wurde. In Großbritannien formierte sich als
Gegenbewegung die Campaign for Nuclear Disarment (CND), welche eng mit der New Left
verschränkt war. Die New Left war aber keine Partei, sonden eine heterogene, stark von
Individuen geprägte Bewegung.11
6 Vgl. Klatt & Lorenz, 2011: S. 11ff. 7 Nach einer bereits seit 1964 bestehenden Minderheitsregierung. 8 1967MDM, S. 45. 9 Vgl. Hall, 1989: S. 14-15. In Chun, 1996: S. 12. 10 Lorenz, in Klatt & Lorenz, 2011, S. 199ff. 11 Vgl. Chun, 1996: S. 12.
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Mediale Diskussionsplattform der New Left war, seit 1960 bis heute, die New Left Review
(NLR), in welcher die politische Agenda der New Left, durchaus mit heftigen Meinungs-
verschiedenheiten innerhalb der New Left, verhandelt wurde. Diese Dissonanzen sind auf die
unterschiedlichen Hauptströmungen in der New Left zurückzuführen, welche einen dissidenten
Kommunismus, einen theoretischen Marxismus, einen unabhängigen Sozialismus, eine
revolutionäre christliche Philosophie oder eine sozialistisch-feministische Denkrichtung
umfasste.12
Der May Day ist über alle Gruppierungen im linken Feld so etwas wie ein gemeinsamer,
identitätsschaffender Code, ein Symbol. Daraus ist sowohl der Name im Manifest als auch
der Zeitpunkt der Veröffentlichung erklärbar. Der Begriff des May Day ist ein klassisches
Beispiel für das Encoding – Decoding Modell von Stuart Hall13: entweder man identifiziert
sich mit dem Code May Day (preferred reading) oder man identifiziert sich eben nicht
(oppositioning reading). Für die weiteren Ausführungen im 1967MDM gilt das nicht, denn der
Kodierungsvorgang kann nicht bestimmen, welche Art von Dekodierung zur Anwendung
kommt.14 Daher können sich auch die unterschiedlichen Strömungen in der New Left mit dem
1967MDM identifizieren. Aber zumindest sind die potentiellen AdressatInnen des 1967MDM
umrissen: all jene, für die der May Day positiv identifizierende Bedeutung (preferred
reading) hat. Am 1. Mai 1967 wurde das 1967MDM öffentlich in der Caxton Hall präsentiert,
wobei Raymond Williams vorsorglich schon einige Tage früher einen Artikel in der
„traditional left paper Tribune“15 geschrieben hatte, in dem er die Veranstaltung in der
Caxton Hall ankündigte, den Geist und die Agenda des 1967MDM der Öffentlichkeit
nahebrachte und die LeserInnen aufforderte, die Themen des Manifesto offen und öffentlich
zu diskutieren.16 Der ehemalige stellvertretende Herausgeber der Tribune, Mervyn Jones
(*1922 †2010), war ebenfalls Manifestant des 1967MDM17, zu diesem Zeitpunkt aber schon
stellvertretender Herausgeber des linksgerichteten New Statesman.18
12 Vgl. Chun, 1996: S. 12. 13 Vgl. Hall, 1999: S. 92ff. 14 Vgl. Hall, 1999: S. 106. 15 Woodhams, 2010: S. 59. 16 Vgl. Woodhams, 2010: S. 59. 17 1967MDM, S. 45. 18 NewStatesman. http://www.newstatesman.com (15.02.2015).
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Optik und Haptik
ist vermutlich selten eine Kategorie in der Analyse eines Manifests – auch
Klatt und Lorenz widmen in „Manifeste“19 der Optik und Haptik von
Manifesten keine Zeile. Beim 1967MDM ist sie jedoch auffällig. Der
eingangs schon erwähnte Designer A. R. Hunnybun hat zwei optische
Designelemente, welche auch im Bauhaus-Manifest von 191920 explizit
ausgewiesen sind, im 1967MDM verankert. Erstens die Schrifttype Steile
Futura, von Paul Renner 1927 kreiert. Die Futura, so der politische Anspruch, sollte Signet für
eine neue demokratische Zukunft sein21. In Anspielung an die New Left: Für eine neue linke
demokratische Zukunft? Zweitens findet sich eine monochrome Abbildung im Op Art Stil, der
sich aus den experimentiellen Traditionen des Bauhauses ableitet. Ob es nur ein grafisches
Statement für die Moderne sein soll oder eine spezifische Bedeutung hat, ist
nicht zu entschlüsseln. Op Art wurde in den 1960er Jahren vor allem durch
Victor Vasarely bekannt. Darstellungen wie auf dem fahlgelben 1967MDM
Cover, in der er ein regelmäßiges Gitter so verformt wird, dass es optisch
den zweidimensionalen Raum verlässt (auch eine Art „Dritter Weg“), sind
typische Op Art Repräsentationen.22 Viel symbolischer Interaktionismus am
Cover des 1967MDM also – und dies just in jenem Jahr 1967, in dem Herbert
Blumer an der University of California, Berkeley, emeritierte. Weiters fällt noch die solide,
pergamentartige Anmutung des Papiers auf, die eine besondere Haptik des 1967MDM
auszeichnet. Die fühlbare Wertigkeit suggeriert zeitlose Gültigkeit. Innen links (!) gibt es auf
jeder Seite einen außergewöhnlich breiten freien Raum von ca. einem Drittel der Seite,
vermutlich für Anmerkungen, Randnoten oder Vermerke freigehalten. Dies legt schon vor der
Rezeption den Schluss nahe, dass es sich um ein Diskussionspapier handelt, was
schlussendlich auch mehrfach mit „Discussion of the manifesto“23 angesprochen wird.
Auffallend ist der am Cover UND auf der Rückseite ausgewiesene Preis von 2 shillings
sixpence, welcher 1967 in etwa dem Preis von zwei Glas (pint) Bier entsprach. 19 Klatt & Lorenz, 2014. 20 Gropius, 1919: S. 3: Punkt f) Entwerfen von Ornamenten und g) Schriftzeichnen. 21 Vgl. Leinthaler, 2008: S. 75. Zitiert Newark, Quentin: Was ist Grafik-Design? Singapur 2006, S. 20. 22 Vgl. Abb. links © Visual Art Encyclopedia http://www.wikiart.org/en/victor-vasarely (09.11.2014). 23 1967MDM , S. 46.
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Die ManifestantInnen
„Engagierte Wissenschaft - damit werden für gewöhnlich politisch oder sozial ambionierte
Intellektuelle und deren Arbeit assoziiert, die sich für Ziele der gesellschaftlichen
Veränderung, die auch utopischen Charakter tragen können, einsetzen.“24 Das 1967MDM
wird durch eine Vielzahl solch engagierter Wissenschaftlerinnen repräsentiert, welche aus
ganz unterschiedlichen Strömungen innerhalb der New Left kommen. Auch wenn Männer als
Manifestanten beim 1967MDM bei weitem überwiegen, habe ich nachstehende Auswahl im
politisch immer beliebter werdenden Reißverschlussprinzip und einem überwiegenden
Frauenanteil konzipiert. Ladys first:
Peggy Duff25 (*1910 †1981) war Mitbegründerin und 1967 General-
sekretärin der CND, die sich auch als Aktivistin der Anti-Vietnam-
kriegbewegung engagierte. Die Vietnampolitik Harold Wilsons veranlasste
sie, die Labour Party 1967 zu verlassen.26 Noam Chomsky bezeichnete
Peggy Duff als “one of the people who really changed modern history" und
"one of those heroes who is completely unknown“27
Was beim Reißverschluss der Schieber, der die Krampen zusammenfügt, war
beim 1967MDM der 46jährige Waliser Raymond Williams28 (*1921 †1988).
Er gilt als „the mantel of speaker and organizer“29 des 1967MDM und
verfasste auch selbst den Großteil des Manifestos.30 Williams vertrat als
„one of the founding fathers of cultural studies“31 eine kulturalistische
Auffassung von Politik. Das bedeutet, dass Bedeutungen und Werte in bestimmten
Lebensweisen Kultur ist: „a whole way of life“32. Politik hat sich, nach Williams, mit den
ständigen kulturellen Veränderungen auseinanderzusetzen, wie sie sich gerade in den
1950/1960er Jahren mit neuen Jugendkulturen etablierten.
24 Sandner, 2006: S. 1. 25 Abb. © The Washington Nuclear Museum http://www.toxipedia.org/display/wanmec/Peggy+Duff
(11.11.2014). 26 Vgl. ebenda. 27 Chomsky, 1995. 28 Abb © Suplemento Cultura http://www.lanacion.com.ar/215907-lengua-historia-y-sociedad (09.11.2014). 29 Woodhams, 2010: S. 57. 30 Vgl. Woodhams, 2010: S. 59. 31 Horak & Seidl, 2010: S. 1. 32 Williams, 1958.
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Williams war zunächst Mitglied der CPGB und später der Labour Party, welche er aber aus
Protest gegen die britische Vietnampolitik verließ und fürderhin die New Left unterstützte.33
Catherine Hall34 (*1946) war Professorin of Modern British Social and
Cultural History at University College London. Als feministische Historikerin
interpretierte sie die britische Geschichte des 19. Jhdts., insbesonders die
Wechselbeziehung zwischen der Metropole und den Kolonien neu und
publizierte dies auch in der NLR.35 Über die Zusammenhänge von
Feminismus, race, Klasse und Geschichte publizierte Hall 1992 in White, Male And Middle-
Class: Explorations In Feminism And History. Verheiratet war sie mit Stuart Hall.
Der aus Jaimaika stammende Stuart Hall36 (*1932 †2014), ebenfalls
Proponent des britischen CS der zweiten Generation, lag auf einer Line mit
Williams, was den Kulturalismus betraf. Gemeinsam mit Williams war auch
seine Karriere als Scholarshipboy, womit Absolventen britischer
Eliteuniversitäten etikettiert werden, welche nicht über die Wege der
etablierten britischen Oberschicht, sondern über ein Stipendium Aufnahme
fanden. Halls politische Bekenntnisse reichen über mannigfaltige Äußerungen in der
Universities & Left Review und später in der NLR. Bei beiden Medien war er Mitbegründer
und Herausgeber. Die politische Programmatik der New Labour von Tony Blair, manifestiert
im Schröder-Blair-Papier von19993738, kritisierte er scharf.39 Seinen 1967MDM und 1968MDM
sollte 2014 noch das Kilburn Manifesto folgen, in welchem er die Auswirkungen des
Thatcherism, einem von ihm geprägten Begriff,40 geißelte und sich der Frage, was nach dem
Neoliberalismus kommen würde, zuwandte.41
33 Vgl. Woodhams, 2010: S. 59. 34 Abb. © University College London http://www.ucl.ac.uk/history/people/academic-staff (12.11.2014). 35 ZB „Rethinking Imperial Histories: The Reform Act of 1867“, New Left Review I/208, Nov-Dec 1994. 36 Abb. © Morley & Schwarz, 2014: S. 1. 37 Englische Fassung: Europe: The Third Way. http://web.archive.org/web/19990819090124/
http://www.labour.org.uk/views/items/00000053.html (12.01.2015). Deutsche Fassung: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. http://www.glasnost.de/pol/schroederblair.html (12.01.2015).
38 Das Schröder-Blair-Papier ist heute weder auf der Website der Labour Party noch der SPD zu finden. 39 Blackburn, 2014: S. 76. 40 Vgl. Morley & Schwarz, 2014: S. 4. 41 Vgl. Hall & Massey & Rustin, 2014. Cover.
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Dorothy Thompson42 (*1923 † 2011) war eine britische Historikerin. Seit
ihrem Studium ab 1942 in Cambridge war sie Aktivistin der am
Sowjetkommunismus orientierten CPGB und engagierte sich in der
Communist party historians' group, wie auch ihr späterer Ehemann Edward P.
Thompson.43 1956 war sie Teil einer DissidentInnengruppe in der CPGB und
Mitbegründerin des New Reasoner, Vorläufermedium der NLR, in dem sie auch von Anfang
an publizierte.44
Edward P. Thompson45 (*1924 †1993), Historiker und ehemals Mitglied,
Vordenker und Theoretiker der CPGB vertrat einen dissidenten Kommunismus.
Diesen begann er aus Anlass der Rede Nikita Chrustschows 1956 über die
Verbrechen Stalins, auch zu publizieren, vorwiegend im The Reasoner.46
Sowohl für Dorothy als auch Edward P. Thompson lautet der Befund der
Nachwelt, dass ihre Arbeit „always been informed by a passionate radicalism and a deep
sympathy for the underdog.“47
Dorothy Wedderburn48 (*1925 †2012) war Ökonomin und Soziologin, die
auch durch ihre signifikante Rolle bei der Reorganisation der University of
London bekannt wurde. Sie kämpfte in verschiedenen Interessensgruppen für
die Gleichstellung von Männern und Frauen, insbesondere für gerechte,
geschlechterunabhängige Entlohnung49 und publizierte auch in der NLR.50
42 Abb. © The Guardian http://www.theguardian.com/books/2011/feb/06/dorothy-thompson-obituary
(12.11.2014). 43 Vgl. ebenda. 44 ZB „Farewell to the welfare state“, New Left Review I/4, July-August 1960. 45 Abb. © Wermod and Wermod Publishing Group.
http://www.wermodandwermod.com/newsitems/news280820140001.html (08.11.2014). 46 Ebenda. 47 Ebenda. 48 Abb. © The Times. http://www.thetimes.co.uk/tto/opinion/obituaries/article3549274.ece (12.11.2014). 49 Vgl. The Times. http://www.thetimes.co.uk/tto/opinion/obituaries/article3549274.ece (12.11.2014). 50 ZB „Pensions, Equality and Socialism“, New Left Review I/24, March-April 1964.
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Michael Rustin51 (*1943), Secretary des May Day Manifesto Committee,
organisierte die Herausgabe des 1967MDM und auch dessen Nachfolger
1968MDM im Jahr darauf.52 In Lessons of the May Day Manifesto wird Rustin
55 Jahre später53 die Bedeutung des 1967MDM als holistische Analyse der
kapitalistisch- imperialistisch verfassten Gesellschaftsordnung betonen, welche
auch im Jahre 2013 noch Gültigkeit hat. Er war auch einer der Autoren des
Kilburn Manifesto. Mit seiner Frau Margaret54, Kinder-Psychotherapeutin und
ebenfalls Unterzeichnerin des 1967MDM, engagiert er sich bis heute in der
British Psychoanalytical Society und verfasste mehrere Bücher über Themen
der Psychoanalyse.
Terry Eagleton55 (*1943), „The Mother Of All Academic Bombs“56 ist
marxistischer Literaturtheoretiker und vertrat eine christliche Richtung in der
New Left. Er verfasste neben einer Reihe theologischer Artikel in der New Left
Review das Buch The New Left Church.57 Eagleton schrieb, wie Raymond
Williams auch, im linkskatholischen Magazin Slant (1964-1970).
Iris Murdoch58 (*1919 †1999), eine anglo-irische Schriftstellerin und
Philosophin, die in Oxford studiert hatte und von 1938 (ihrem ersten Jahr in
Oxford) bis 1942 Mitglied der CPGB war.59 Als irische Protestantin wandelte
sie sich von „a romantic, Marxist nationalist to a hardline Unionist“.60 Ihre
schriftstellerische Arbeit wurde häufig in der NLR diskutiert.
Ich wollte allen hier angeführten ManifestantInnen, entgegen üblicher Gepflogenheiten61, ein
Gesicht geben, bei Suzy Benghiat bin ich allerdings gescheitert, ein Bild war nicht zu
recherchieren und im nichts vergessenden Netz scheint sie fast vergessen zu sein.
51 Abb. © Brent & Kilburn Times http://www.kilburntimes.co.uk (11.11.2014). 52 Williams, 1968. 53 Vgl. Rustin, 2013a: S. 1ff. 54 Abb. © Institute of Psychoanalysis. http://couchandscreen.org (11.11.2014). 55 Abb. © Eamonn MacCabe in The Guardian.
http://www.theguardian.com/books/booksblog/2007/oct/04/eagletonvamisanacademicst (28.02.2015). 56 Ebenda. 57 Vgl. Eagleton, 1966. 58 © Mark Gerson. National Portrait Gallery. http://www.npg.org.uk/collections/search/portrait/mw12633/Iris-
Murdoch (11.11.2014). 59 Vgl. The Guardian. http://www.theguardian.com/books/2001/sep/08/irismurdoch (11.11.2014). 60 Ebenda. 61 Vgl. Klatt & Lorenz, keine Abbildungen.
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Was ich fand, war die Dissertation von Caroline Bamford über die Early
New Left. Bamford interviewte Suzy Benghiat, „who did a lot of
administrative work for the Universities and Left Review and the New Left
Review“.62 Diese administrative Arbeit war beispielsweise die Organisation
des „Universities and Left Review Club“ in London, in welchem sich die
UnterstützerInnen der New Left zu Diskussionsrunden trafen. Bei der ersten
Versammlung trafen sich an die 600 TeilnehmerInnen und „Suzy Benghiat [...] opened the
hall and collected entrance money for four weeks, without anyone speaking to her at all“.63
Motivation64
Die Motivationen der ManifestantInnen hier auszuführen, würde den Rahmen der Arbeit
sprengen. Exemplarisch sei Raymond Williams angeführt, zu dem ich bereits in einer anderen
Arbeit drei Motivationslagen für politisches Engagement beschrieben habe:
1. Sein Herkunftsmilieu als Sohn einer Eisenbahnerfamilie und als Angehöriger der Arbeiter-
klasse. Schon sein Vater war in der Labour Party engagiert.65 Seine Mitgliedschaft beim
lokalen Left Book Club hat möglicherweise schon früh seine spätere mannigfaltige
Autorenschaft in verschiedenen politischen Publikationen befeuert.
2. Seine Karriere als Scholarship Boy, die Williams die in England immer schon privilegierte
Welt des Geistes66 erschloss und ihn wohl auch zu seinem leidenschaftlichen Engagement
in der Erwachsenenbildung, der Workers´ Educational Association, motivierte. Für das
politische Engagement war es die in Culture and Society geprägte Erklärung von Kultur als
„umfassende Lebensweise“, in welche er sich selbst als Intellektueller einbrachte.
3. Nach Pierre Bourdieu stehen Intellektuelle in ihrem intellektuellen Kräftefeld in einer
Verbindung zum kulturellen Kräftefeld, das ein System von Problem- und Themen-
beziehungen ist.67 In ihrer Positionierung gegenüber den Instanzen, welche die Ordnung
des Feldes bestimmen, verweisen kulturelle Äußerungen implizit immer auf die
Orthodoxie.68 Mit anderen Worten: Die Ordnung des Feldes wird zum einen durch die
62 Bamford, 1983: S. 19. 63 Bamford, 1983: S. 171. 64 Der gesamte Abschnitt „Motivation“ stammt - gekürzt - aus meiner Seminararbeit über Raymond Williams. 65 Smith, 2008: 59-60. 66 Sandner, 2006: S. 48. 67 Bourdieu, 1997: S. 76. 68 Bourdieu, 1997: S. 110. In Sandner, 2006: S.57.
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orthodoxen, monolithische Strukturblocks der Universitätsdisziplinen bestimmt; hier kontert
Raymond Williams mit dem Projekt der Cultural Studies als postdisziplinäres Feld. Die
Ordnung des Feldes wird zum anderen durch politische Macht und Ordnungsprozesse
bestimmt. Hier positioniert sich Raymond Williams durch politisches Engagement in der
New Left sowohl gegen eine revisionistische Labour Party als auch gegen eine orthodoxe
CPGB. Damit verbleibt er im Kräftefeld jener Instanzen (Labour, CPGB), welche die
Ordnung des „politisch linken“ Feldes bestimmen und verweist in seinen, vorzugsweise in
der New Left Review getätigten Äußerungen, auf die Orthodoxie. Wobei ich bei Ordnung
des „politisch linken“ Feldes noch präzisiere, dass nach Francis Mulhern, Mitherausgeber
der New Left Review, Williams kein linker Akademiker, sondern ein sozialistischer
Intellektueller sei.69
Inhalt des Manifestos
Schon ein erster Blick auf eine quantitative Analyse der ca. 25.000 Wörter im 1967MDM
zeigt drei Dimensionen70: Erstens der Hauptadressat: die Labour Party. Zweitens die
geografische Adresse: Neben Großbritannien ist das 1967MDM auch auf internationale
Themen ausgerichtet. Drittens lassen sich noch die Schwerpunkte Kapitalismus, Imperialismus,
Kononialismus und Militarismus erkennen. Dies sind beileibe nicht alle Themen im 1967MDM,
sie vermitteln aber doch einen Überblick über die Grundzüge des 1967MDM.
69 Horak, 2002: S. 31. 70 Abb. © W. Schrittesser.
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Der Einleitung eines Manifests kommt als Aufmerksamkeitswecker große Bedeutung zu. Das
Manifest der Kommunistischen Partei beginnt mit einem düsteren „Ein Gespenst geht um in
Europa [...]“71. 120 Jahre später beginnt das 1967MDM mit einem positiv anmutenden „For
nearly eighty years, the international labour movement has taken May Day as a festival: an
international celebration and commitment.“72 Dann allerdings, vergleichbar mit dem
Heidelberger Manifest „Mit großer Sorge [...]“73 oder der Enzyklika von Papst Pius XI. „Mit
brennender Sorge [...]“74 widmete sich das 1967MDM mit „deeply concerned and serious
recognition“75 dem Gefühl eines Versagens linker Politik, da es unter Labour paradoxerweise
Einschnitte im Sozialstaat und Beschneidung des Lebensstandards einfacher BürgerInnen in
Verbindung mit dem Schutz der kapitalisten Ökonomie und der Finanzwirtschaft gab.76 Auch
die Veränderung der politischen Sprache und der damit einhergehenden Verharmlosung
gesellschaftlicher Zustände wurde kritisiert, beispielsweise wurde die Umbenennung des
Begriffs „Arbeitslose“ in „Reservekapazitäten“ angeprangert.77 Dieser sprachliche Trend zu
bürokratischen Bezeichnungen sollte sich auch in anderen sozialdemokratischen Regierungen
wie beispielsweise jener von Gerhard Schröder fortsetzen, ein Blick in die Hartz IV-
Bestimmungswelt zeugt davon. Auch die VertreterInnen der CND formulierten ihr Befremden
über die unter Labour munter weiterlaufende, kostenintensive atomare Rüstung, welche auch
zum champagnergetränkten gesellschaftlichen Ereignis mutierte: „In an economic crisis. with
the wages of millions of workers frozen, the wife of a Labour minister launches a Polaris
nuclear submarine.“78 Nach der Einleitung gliedert sich das 1967MDM in fünf Hauptthemen
bzw. Schwerpunkte79, wie sie auch in obiger Wortwolke erkennbar sind. Ein detailliertes
Eingehen würde den Rahmen dieser Seminararbeit sprengen, daher habe ich die Themen
teilweise nur kurz angerissen.
1. Anklage der Labour Party und des Neuen Kapitalismus und wie sie einander stützen: A
Labour Government in Britain as an agent of the familiar priorities of money and power.80
71 Marx, 1848: S. 3. 72 1967MDM S.1. 73 Zeit Online. http://www.zeit.de/1982/06/heidelberger-manifest (12.11.2014). 74 Pius, 1937. 75 1967MDM S.1. 76 Vgl. Williams, 1968: S. 13. 77 Vgl. Williams, 1968: S. 13. 78 1967MDM, S.1. Es handelte sich um die 1996 wieder ausgemusterte HMS Renown. 79 Abb. © W. Schrittesser. 80 Vgl. 1967M: S. 1.
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2. Die sozialen Ungleichheiten und ihre Realitäten, wie Armut und Arbeitslosigkeit,
Verschlechterung des Gesundheitswesens, der Fürsorge und eine destaströse
Bildungspolitik (Atomwaffen vor Bildung), werden umfassend problematisiert.
3. Der Neue Imperialismus als verkappter Kolnonialismus im Kleid der Entwicklungshilfe. Am
Beispiel des Kongo wird ausgeführt, was der US-amerikanische Imperialismus unter
Demokratie versteht: Regime, die der kapitalistischen Verfasstheit der USA nützen.
Problematisiert wird die besonders schwierige Situation von SozialistInnen im Kampf
gegen den Kommunismus stalinistischer Prägung, da sie zwangsläufig in eine Allianz mit
jenen kommen, welche Sozialismus in jedweder Form ablehnen. Die alte Regel, dass der
Feind meines Feindes mein Freund ist, wird als untauglich gebrandmarkt.
4. Das Kapitel War and Peace widmet sich dem Militarismus im Angesicht des Kalten
Krieges und dem daraus abgeleiteten Geschäft in den Kolonien, welche nun Entwicklungs-
länder heißen. The „Cold War“81 befasst sich mit dem Ausstieg aus dem von der Labour
Party mit unterstützten Nuklearprogramm, wobei Vietnam „an international test case“82
sein sollte. In „The Ring of Bases“83 (gemeint ist Asien–Lateinamerika–Afrika) geht es
darum, dass der Westen für viele Länder definiert, was unter Demokratie zu verstehen sei,
wer sie repräsentiert, welche ökonomischen Reformen (!) diese Demokratie befördern und
welche zwischenstaatlichen Beziehungen dieser Demokratie zuträglich sind. Hinter allem
steht die weltweite kapitalistische Ökonomie. D. h. es ging nicht meht darum, mit eigenen
Truppen ein Land auszubeuten, sondern dies mit befreundeten und als demokratisch
anerkannten Kräften („the colonial brigade of the former days“84) zu bewerkstelligen,
und zwar über äußerst profitable „military contracts“85. In anderen Worten: Demokratie
als Deckblatt für das Schreckblatt des Kapitalismus.
5. Misserfolge und Erfolge sozialistischer Politik und der Gewerkschaften werden offen
angesprochen, durchaus auch mit kritischer Reflexion der New Left selbst.
81 1967MDM: S. 27. 82 1967MDM: S. 29. 83 1967MDM: S. 29. 84 1967MDM: S. 29. 85 1967MDM: S. 30.
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Die Komplexität der Themen und den holistischen Zugang der New Left zur Analyse der
britischen und internationalen Politik soll diese Abbildung86 zur inhaltliche Struktur zeigen:
Im Abschluss des 1967MDM sind zwar „The Next Stages“87 ausgeführt, die Zielperspektive
fehlt aber noch. Diese wird dann im May Day Manifesto 1968 (1968MDM), wenn auch nur
vage, formuliert: „This is our serious programme, but we shall only be satisfied when a Left
has been built that is at once contemporary in experience, educated in method, democratic in
organization, and strong in action“88 (Strong in action sollte sich aber nicht mehr einstellen.89)
Überdies liest sich der Text, wenn man „democratic in organization“ weglässt, wie ein Text
aus einem Emissionsprospekt aus dem Reich des imperialistischen Kapitalismus.
Ein politisches Manifest?
Die politisch-sprachliche Ausdrucksweise des 1967MDM lässt sich in drei Dimensionen
beschreiben:
1. Die journalistische Dimension, welche an den Sprachstil in der NLR erinnert.
2. Die analytische Dimension mit einer durchgängigen Argumentationsstruktur, welche
politisch-gesellschaftliche Problemlagen erläutert, ohne in polemische Ausritte zu verfallen.
3. Die wissenschaftliche Dimension, welche den Hauptautor Raymond Williams nicht
verleugnet und apodiktische oder suggestive Formulierungen vermeidet.
86 © Werner Schrittesser. 87 1967MDM: S. 46. 88 Williams, 1968: S. 189. 89 Sandner, 2006: S. 81.
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Der für Manifeste typische Appell kommt erst am Schluss, dafür aber mehrfach in Form eines
Aufrufes zu breiten Diskussionen des Manifests. Diese fanden, in von der New Left
organisierten Zusammenkünften in „Left Clubs“, im ganzen Land statt. So gesehen kann das
1967MDM also durchaus auch als Start einer Kampagne verstanden werden. Die Ergebnisse
der Diskussionen wurden schlussendlich im 1968MDM publiziert. Apelle in Form eines
Aufrufes zu konkreten gesellschaftlichen Veränderungen, Umstürzen oder Demonstrationen
finden sich NICHT im 1967MDM. Zutreffend finde ich die Zuordnung zur Textsorte politische
Manifeste, die „auch als Grundsatzerklärung und politische Programmatik verstanden werden
müssen“.90 Eines fällt im 1967MDM besonders auf: weder das britische Königshaus noch die
britische Aristokratie wurden thematisiert. Dies ist umso mehr erstaunlich, da an vielen Stellen
unterschiedliche Armutsverhältnisse kritisiert werden, die finanziellen Zuwendungen an das
Königshaus aber mit keinem Wort erwähnt werden. Von einem auch nur irgendwie
vergleichbaren „Aufruf der Intellektuellen zur Enteignung der Fürsten“91, wie in der Weimarer
Republik 1926, kann keine Rede sein.
In welcher Form treffen nun die vier Kriterien, nach welchen sich ein politisches Manifest von
anderen Manifesten oder öffentlichen Textformen unterscheidet,92 zu?
1. Die öffentliche Zugänglichkeit. Sie trifft zu, das 1967MDM konnte erworben werden.
2. Eine aus Sicht der Manifestanten unkonventionelle und nicht berufsmäßige
Ausdrucksform. Sie trifft teilweise zu, immerhin verfassten viele ManifestantInnen auch
Artikel in der NLR und anderen Medien, wenn auch nicht hauptberuflich.
3. Die Kritik an Gegenwartszuständen sowie der Aufforderung zu alternativem Handeln.
Sie trifft zu, wenn die Diskussionsrunden als alternatives Handeln verstanden werden.
4. Die namentliche Signatur einer Gruppe oder von einzelnen Personen. Sie trifft zu.
Für mich ist das 1967MDM zweifelsfrei ein politisches Manifest im Sinne von Klatt und Lorenz,
nicht nur nach o. a. vier Kriterien, sondern auch weil es sich bei der New Left um keine Partei,
sondern um eine zivilgesellschaftliche Bewegung handelt und das „Manifesto“ daher auch
nicht als Parteiprogramm klassifiziert werden kann.
90 Sandner, 2014: LV-Beschreibung. Suchfunktion. http://online.univie.ac.at (20.02.2015). 91 Lorenz, in Klatt & Lorenz, 2011, S. 135ff. 92 Vgl. Lorenz & Klatt, 2014: S. 253.
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Wirksamkeit des Manifestos
Klatt und Lorenz beschreiben drei Erfolgsfaktoren für politische Manifeste:93 1. Medialer
Erfolg, 2. Politisch-inhaltlicher Erfolg und 3. Geschichtlicher Erfolg.
1. Medialer Erfolg: Über das Ausmaß und den Umfang der Rezeption des 1967MDM in den
Medien ist wenig bekannt. Raymond Williams war überzeugt, dass das 1967MDM
„inspired progress around the world in the 1970s“94. Überdies wurde es in mehrere
Sprachen übersetzt und hat sich sehr gut verkauft: „The Manifesto [...] enjoyed large
international sales.“95 Bemerkenswert ist, dass sich in den Ausgaben der NLR aus 1967
kein einziger Artikel zum 1967MDM findet. Victor Paananen recherchierte einen Reprint:
„The first edition was reprinted and slightly reedited for American readers in The New Left
Reader, ed. Carl Oglesby. New York: Grove Press, 1969, pp. 11-43.“96 Eine
tiefergehende Rezeptionsanalyse würde eine Recherche britischer Tageszeitungen und bei
der BBC erfordern sowie Interviews der noch lebenden ManifestantInnen nahelegen. Eine
Emailanfrage an Michael Rustin vom 08.11.2014 blieb leider unbeantwortet.
2. Politisch-inhaltlicher Erfolg, d. h. dass die im Manifest postulierten Ziele erreicht werden,
kann dem 1967MDM wie auch dem 1968MDM nicht zugeschrieben werden.
3. Geschichtlicher Erfolg, d. h. zumindest Erwähnung in Lexika oder Fachbüchern und somit
historisch erfolgreich, ist dem 1967MDM abzusprechen. Relevante wissenschaftliche
Literatur zum 1967MDM lässt sich selbst von Tischlern, die bekanntlich einige Finger
weniger haben, an zwei Händen abzählen. Selbst Google findet nur 512 Einträge, wenn
der genaue Wortlaut "1967 New Left May Day Manifesto" gesucht wird. Das "Scum
Manifesto" verzeichnet da schon 85.500 Einträge und sogar das deutschsprachige
„Heidelberger Manifest“ verzeichnet 2.470 und die "Göttinger Erklärung" 8.240 Einträge.
93 Vgl. Klatt & Lorenz, 2011: S. 411. 94 Woodhams, 2010: S. 67. 95 Woodhams, 2010: S. 67. 96 Paananen, 2000: S. 217.
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Resümee
Die Wirksamkeit des 1967MDM, nach den Kriterien von Klatt und Lorenz, kann nur mit
„überaus gering“ klassifiziert werden. Ich bin mir aber sicher, dass diese Kriterien etwas zu
kurz greifen. Das 1967MDM hatte innerhalb der New Left große Bedeutung, meine ich, da es
Diskussionsprozesse anstieß bzw. am Laufen hielt. Hätte es die New Left zu einer parlamen-
tarisch verankerten Kraft geschafft, so mutmaße ich, wäre das 1968MDM als Nachfolger des
1967MDM zwar nicht zu einem Parteiprogramm, aber zu einem zentralen politischen
Dokument97 geworden. So aber verhallten die Debatten letztendlich ohne praktische Wirkung
und das 1967MDM blieb ein Wortgewitter am Horizont der Theorie.98 Auch für Günther
Sandner blieb das 1967MDM „ohne nennenswerten Einfluss auf die politischen Ereignisse“.99
Die turbulenten Ereignisse ab 1968 ließen das 1967MDM und 1968MDM ohnehin in
Vergessenheit geraten. Denn „es folgte eine Revolution, die das Vorstellungsvermögen dieses
Manifests überstieg.“100 Michael Rustin drückte dies ähnlich aus: „Indeed the Manifesto was
rather swept away by this tsunami.“101
Damit wäre eigentlich Schluss, aber Michael Rustin meinte 2012: „Some of the themes of the
Manifesto of 1967 remain current today.“102 Deshalb kommt noch ein kurzer Ausblick mit
dem Kilburn Manifesto.103
97 Sandner, 2006: S. 81. 98 Vgl. Chun, 1996. 99 Sandner, 2006: S. 81. 100 Chun, 1996: S. 157. 101 Rustin, 2012. http://www.independentlabour.org.uk/main/2012/07/23/lessons-of-the-may-day-manifesto/
(12.11.2014). 102 Ebenda. 103 Hall & Massey & Rustin, 2014.
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Ausblick
Das 1967MDM als Wortgewitter der New Left104 schein fast in Vergessenheit geraten zu sein.
Das eine oder andere Donnergrollen ist aber noch zu vernehmen. Beispielsweise 2008, als
Martin Bright im New Statesman in einem kurzen Artikel die Frage stellte, ob es Zeit für ein
„New New Left Manifesto“105 sei und dies in seinem Blog mit „We need a new Manifesto“
weiter begründete, indem er mehrere Passagen des 1967MDM zitierte, welche aus seiner
Sicht auch für 2008 zutrafen.106 Konkretisiert wurde dies aber erst sechs Jahre später:
Ein ideologischer Nachfolger zum 1967MDM findet sich im 2014
veröffentlichten Kilburn Manifesto107 wieder, herausgegeben von Doreen
Massey, seit 1990 Mitherausgeberin der NLR, und den beiden 1967MDM
Manifestanten Stuart Hall und Micheal Rustin108. In sprachlich ähnlichem
Stile wie das 1967MDM geht das Kilburn Manifesto analytisch an die
gesellschaftspolitischen Verhältnisse und an die ökonomische Krise der
Gegenwart heran. Dabei fragen die AutorInnen, was an dieser Phase des
Kapitalismus neu ist und welche Bedeutung neue Technologien, die globale
Vernetzung und und der neue Finanzkapitalismus haben. Dabei wird die
Rolle der Troika kritisch angesprochen: „They thus set peoples against
peoples, provoking dangerous nationalisms“109. Auch die neu aufstrebenden
Volkswirtschaften wie die BRICS-Staaten110 werden im Kontext zu einem
globalen Neoliberalismus und Kapitalismus hinterfragt. Die grundsätzliche
Frage lautet dabei: „What is ‘the economy’ and what is it for?“111 Ob das
Kilburn Manifesto politische Veränderungen anstoßen oder wie das
1967MDM „A Storm in a tumbler“ bleiben wird, bleibt abzuwarten.
104 Chun, 1996. 105 Bright, 2008a. 106 Bright, 2008b. 107 Video vom Kilburn Manifesto Launch: https://www.youtube.com/watch?v=mIVxeJX-3qU&feature=youtu.be
(22.02.2015). 108 Abb. Doreen Massey links oben, darunter Stuart Hall und darunter Micheal Rustin. © Soundings. A journal of
politics and culture. http://www.lwbooks.co.uk/journals/soundings/manifesto.html (11.11.2014). 109 Hall & Massey & Rustin, 2014: S. 7. Chapter: After neoliberalism: analysing the present. 110 Akrynom für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Wortschöpfung von Terence J. O’Neill,
Ökonom bei Goldman Sachs. In: Die Presse vom 13.04.2011. http://diepresse.com/ (26.02.2014). 111 Hall & Massey & Rustin, 2014: S. 4. Chapter: Whose economy? Reframing the debate.
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