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Voltaire,die Wissenschaftund ein Todesfall
Wie die Affäre Calas zumJahrhundertskandal wurde,
warum sie als Sieg der Toleranz überden Fanatismus gilt – und was wir
über sie tatsächlich wissen.
Von Caspar Hirschi
Affäre Calas
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Kein Skandal des 18. Jahrhunderts strahlt inder europäischen Erinnerungskultur so hell wiedie Affäre Calas. Sie steht für den Sieg des auf-klärerischen Säkularismus über den religiösenFanatismusundstellt inFrankreich seit demTer-roranschlag auf die Redaktion des Satiremaga-zins Charlie Hebdo im Januar 2015 wieder einenBezugspunkt erstenRangesdar.DieberühmtesteSchrift, die der Skandal hervorgebracht hat, Vol-taires Traité sur la tolérance von 1763, avancierteimNuvomLongseller zumBestseller (Abb. 1). DieVerkaufszahlen in Frankreich stiegen von 11500im Jahr 2014 auf 185 000 Exemplare ein Jahr spä-ter, und gleichzeitig brachte Suhrkamp eine Neu-auflage fürdendeutschsprachigenMarktheraus.
Was macht die gewaltige Strahlkraft desSkandals aus? Einen ersten Hinweis gibt seineSchilderung in den Europäischen Erinnerungs-orten, einem publizistischen Gemeinschafts-werk, das die Affäre Calas 2012 ins «gemeinsameErbe» unseres Kontinents aufgenommen hat.«Anfang der 1760er Jahre», steht da geschrieben,«kam es in Frankreich zu einem öffentlichenSkandal, der in ganz Europa Widerhall fand: diesogenannte Affäre Calas. Ein protestantischerTuchhändler aus Toulouse, Jean Calas, wurdezum Tod verurteilt, weil er seinen Sohn, der zumKatholizismus übertreten wollte, ermordet habe.Die Umstände der Verurteilung und die Verurtei-lung selbst offenbarten die Rückständigkeit undBarbarei des französischen Justizapparats unddes geltenden Strafrechts sowie den Fanatismuseiniger religiöser Orden in Toulouse. Voltaire er-fuhr vom jüngeren Sohn Calas’ selbst, was ge-schehenwar, undkonnte sichdavonüberzeugen,dass es ein Justizskandal und Justizmord war,denn der Sohn hatte Selbstmord begangen. Dar-aufhin appellierte Voltaire an die Öffentlichkeit.Er publizierte, was man damals streng geheimhielt, diePièces originales concernant lamort dessieurs Calas, die die himmelschreiende Partei-lichkeit des Gerichts offenbarten. Damit gewanner den Kampf um die öffentliche Meinung. DerKönig verfügte die Rehabilitierung Calas’.» DerSkandal mündete demnach in einen TriumphdesprogressivenGeistesüberdie reaktionäreGe-
Abbildung 1: Erste Seite derOriginalausgabe von Voltairesanonym erschienenem Traité surla tolérance von 1763. Der Traktatbeginnt mit dem Satz: «Der Mord anJean Calas, begangen in Toulousemit dem Schwert der Justiz am9. März 1762, ist eines der einzig-artigsten Ereignisse, welche dieAufmerksamkeit unseres Zeitaltersund der Nachwelt verdienen.»
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walt: «Ein Schriftsteller hatte kraft seinermorali-schen Kompetenz in eine öffentliche Angelegen-heit eingegriffen und gewonnen.» Mit VoltairesIntervention sei einneuerDenkertyp entstanden,der erst Ende des 19. Jahrhunderts einen eigenenNamen erhalten sollte: der Intellektuelle.
Die Schilderung in den Europäischen Erin-nerungsorten entspricht der populären Nach-erzählung der Affäre Calas in Schulbüchern,Theaterstücken, Dokumentar- und Spielfilmen,die sichwiederumaufDarstellungendes 19. Jahr-hunderts, vor allem auf jene in den Causescélèbres, stützt (Abb. 2). Allerdings hat sie sichin ihrer sozialen Sinnstiftungsfunktion vomhistorischen Ereignis weitgehend gelöst. Die Er-zählung verkündet geschichtlicheGewissheiten,die es nicht gibt, blendet Ereignisse und Perso-nen aus, ohne die es nie zur Rehabilitierung vonJean Calas gekommen wäre, und verkehrt histo-rische Tatsachen ins Gegenteil.
Abbildung 2: Die Causes célèbresde tous les peuples sind eine
illustrierte Sammlung von detailliertnacherzählten Sensationsprozessen,
die zwischen 1858 und 1867 inmehreren Bänden mit hoher Auflage
publiziert wurden. Auf dem Titelblattvon 1859 ist eine Schlüsselszene derAffäre Calas abgebildet: Jean Calas,
ein hugenottischer Bürger vonToulouse, wird 1762 wegen
angeblichen Mordes an seinem Sohnauf dem Rad hingerichtet. Die
Darstellung folgt der Interpretation,die Voltaire den Ereignissen in seiner
berühmten Intervention gegeben hat.Hier wird ein unschuldiger Mann
Opfer des religiösen Fanatismus,verkörpert vom katholischen Priester,
der ein falsches Geständnis aus ihmherauspressen will.
Um das Wichtigste vorwegzunehmen: Vol-taire hat in seinen «Originalstücken» nichts Ge-heimes veröffentlicht, dafür viel Selbstfabrizier-tes. Die Pièces originaleswaren für den Ausgangder Affäre Calas unwesentlich. Da sich der Skan-dal in einer Abfolge von Gerichtsprozessen ent-faltete, kam den Schriften von juristischen undforensischenExperten, die indas Prozessgesche-hen eingriffen, eine höhere Bedeutung zu. Vol-tairewar sichdessendurchaus bewusst, weshalber die besten Anwälte von Paris auf den Fall an-setzte und sogar für ihrHonorar aufkam. Schautman sichnundie Schriftender Experten genaueran, verflüchtigt sich die Gewissheit über das Ge-schehen, das am Ursprung des Skandals lag. So-viel die Experten auch über menschliche Todes-arten im Allgemeinen und gerichtliche Verfah-rensfehler im Besonderen ans Tageslicht brach-ten: ob Marc-Antoine Calas, der Sohn von JeanCalas, durchMordoder Selbstmord, durchErhän-
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gen oder Erdrosseln gestorben ist, lässt sich ausihren Schriften nicht eruieren (Abb. 3 und 4). Tat-sächlich ermöglichten die Experten eine gericht-licheLösungdesFalles, ohne ihn faktischgeklärtzu haben. Darin liegt die grosse Ironie der AffäreCalas, die in der öffentlichen Erinnerung völliguntergegangen ist. Schöpftman aus dem reichenFundus an Originalquellen, erstrahlt das ver-meintlich so eindeutige Jahrhundertereignis ineiner faszinierenden Vieldeutigkeit.
Die Affäre Calas verliert dadurch nichts vonihrer historischen Bedeutung, im Gegenteil,diese tritt noch klarer hervor. Anstatt des Dra-mas eines grossen Denkerhelden, der in magi-scher Eigenregie Gerechtigkeit schafft, entfaltetsich die Geschichte einer kollektiven Aktion, inder sich das Engagement von Personen mit kom-plementärenKompetenzen in einer sehrmodernanmutenden Kampagne zu maximaler Wirkungvereinigt. Diese Geschichte beginnt bereits vor
Voltaires Intervention, und sie lässt erst das volleAusmass seines strategischen Geschicks erken-nen, mit dem er den Skandal dorthin steuerte,wo er ihn haben wollte.
Was gab der gerichtlichen Untersuchungdes Todes von Marc-Antoine Calas das Potenzialfür eine der grössten Justizaffären des AncienRégime? Es war, anders als man aus der populä-ren Nacherzählung der Affäre Calas schliessenmüsste, weder die religiöse Intoleranz gegen dieProtestanten noch die dünne Beweislage für einMordkomplott noch die grausame Hinrichtungvon Jean Calas. Parallel zum Gerichtsprozessgegen die Familie Calas fand in Toulouse einweiteres Verfahren gegen einen reformiertenPastor sowie mehrere Landadlige und Bauernstatt, deneneinAngriffaufdasÖrtchenCaussadezur Last gelegt wurde. Der Angriff hatte gröss-tenteils inder Phantasie der katholischenBewoh-ner stattgefunden, angeregt vom verunglückten
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VersuchwenigerBauern, den illegal predigendenPastor aus dem Gefängnis zu befreien. Das Ge-richt verhängtedieTodesstrafe gegendenPfarrerwegen Verbreitung des protestantischen Glau-bens und gegen drei Adlige wegen bewaffnetenAufruhrs. Nicht einmal drei Wochen vor derHinrichtung von JeanCalaswurdeder Pfarrer ge-hängt, und den übrigen Verurteilten schlugmanstandesgemäss den Kopf ab. Obwohl das Verfah-renblutiger endeteund imLanguedoc für grösse-res Aufsehen sorgte als die Affäre Calas, blieb dasInteresse im übrigen Frankreich gering. Voltairewar schon vor der Urteilsvollstreckung über denFall informiert und gebeten worden, sich beimGouverneur des Languedoc für eine Begnadi-gungdurchdenKönig einzusetzen. Er tat es, abernurhalbherzigundohneeinZeichenvonSympa-thie für «diese Lümmel vonHugenotten».
Wenn es zwischen dem Calas-Prozess undeinemanderenStrafverfahren inToulousederart
Abbildungen 3 und 4: Die zweiIllustrationen aus den Causes
célèbres de tous les peuples präsen-tieren die Version des Tathergangs,die Jean Calas, sein Sohn Pierre und
Gaubert Lavaisse ab der zweitenEinvernahme vertraten, nachdemsie sich in der ersten noch wider-
sprochen, in der Zwischenzeit aberschriftliche Instruktionen von ihremAnwalt erhalten hatten. In der erstenDarstellung findet Pierre den toten
Bruder, der sich in einem technischenKabinettstück an der Flügeltür
zwischen Laden und Magazin derTuchhändlerfamilie mithilfe eines
Rundholzes für Stoffballen erhängthaben soll. Auf dem Boden liegtder umgestossene Schemel, aufden sich Marc-Antoine gestellt
habe, um sich die Schlinge um denHals zu legen. Die zweite Darstellung
zeigt die verzweifelten Eltern beider Ankunft des ChirurgengehilfenGorsse, der mit Pierre zusammen
durch die Tür tritt, während das Volkbereits misstrauisch von aussen
hereinschaut. Schlinge, Schemel undHolz liegen intakt neben der Leiche.
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auffällige Parallelengab, sprichtwenigdafür, denAuslöser der Affäre im gerichtlichen Vorgehengegen Jean Calas und seine Mitangeklagten zusuchen. So voreingenommen und grausam dieVertreter des Gerichts auf moderne Betrachterwirkenmögen, ihr Verhalten entsprachüberwei-te Strecken damaliger Normalität. Es war üblich,das Gesetz im Zweifel gegen den Angeklagtenauszulegen, und die Richter durften dafür aufbreite Zustimmung zählen. Wie der HistorikerDavid Bien nachgerechnet hat, verurteilte dasParlement von Toulouse, das höchste Gericht derRegion, zwischen 1750 und 1778 236 Personenzum Tode, 78 von ihnen allein wegen Diebstahls.In manchen Strafprozessen kam es auch zurFortsetzung der religiösen Verfolgung mit ande-renMitteln,wobei es konjunkturelle Spitzengab,so zum Beispiel in den Jahren nach 1760.
Wo ist das auslösende Moment der AffäreCalaszusuchen,wennnicht imgerichtlichenVor-gehen selbst? Entscheidende Bedeutung kam derPublizistik zu, die den Prozess am Parlement be-gleitete. In den drei Monaten, die das Verfahrendauerte, erschien mehr als ein halbes DutzendMemoranden, die Mehrheit davon aus der Federvon juristischen Spezialisten. Das war ausser-gewöhnlich und nur deshalb möglich, weil dieCalas in ihrem Bekanntenkreis mehrere Juristenhatten und weil mit Gaubert Lavaisse der Sohneines der angesehensten Anwälte der Stadt mit-angeklagt war. Die Autoren der Schriften hattensich intensivmitdenTodesumständenvonMarc-Antoine Calas und deren Aufarbeitung durch dasGericht befasst. Es gelang ihnen,mit detailliertenEinwänden unter den gebildeten Bürgern derRegion eine Diskussion über die Inkohärenzendes Verfahrens auszulösen. Reisende und Kor-respondierende trugen die Diskussion ins Landhinaus,undsodauerteesnurwenigeWochen,bisPersonen mit dem nötigen Netzwerk in anderenTeilendesKönigreichs über denCalas-Prozess in-formiert waren. Einer von ihnen warVoltaire.
Schon 67 Jahre alt, aber literarisch unver-ändert produktiv, lebte Voltaire in Ferney beiGenf, wo er sich 1758 ein Schlösschen mit allenAnnehmlichkeiten des gehobenen Landlebensgekauft hatte. Im März 1762 machte ein Kauf-
mann aus Marseille, der auf dem Weg von Tou-louse nach Genf war, bei ihm Zwischenhalt undberichtete ihm von der Hinrichtung von JeanCalas. Voltaires erste Reaktion war nicht von Mit-leid für den Toten, sondern von Verachtung fürdie Calvinisten geleitet. In den Jahren zuvor hatteer sich heftige Auseinandersetzungen mit GenferTheologengeliefert, die sichgegenAufführungenseiner Theaterstücke in der Stadt gewehrt hatten.In einem Brief an einen Richter in Dijon ver-mischte er die Neuigkeiten aus dem fernen Tou-louse mit den Enttäuschungen aus dem nahenGenf. Ironisch nannte er Jean Calas einen «refor-mierten Heiligen», der geglaubt habe, eine guteTat zu vollbringen, indem er seinen Sohn durchStrangulation vom Glaubensabfall abhalte. SeinvorläufigesFazit lautete: «Wir sindnicht vielwert,aber die Hugenotten sind schlimmer als wir, unddarüber hinaus wettern sie gegen die Komödie.»
Die Nähe zu Genf führte dann aber Voltairesraschen Meinungsumschwung herbei. «Man be-hauptet hier», schrieb er nur drei Tage später demKardinal de Bernis über Jean Calas, «dass er sehrunschuldig ist, und dass er Gott zum Zeugen ge-nommen hat, als er sein Leben aushauchte.» Zu-dem habe man ihm gesagt, drei Richter hättengegen das Urteil protestiert. Voltaire war da nochunschlüssig, «was ich vom schrecklichen Schick-saldiesesCalashaltensoll». Emotional aber zeigteer sichschon tiefbetroffen: «DiesesSchicksal gehtmir ans Herz, es trübt meine Freuden, es verdirbtsie.» Und auch die Lesart, die er den Ereignissengeben würde, kündigte sich bereits an: «Ich willwissen», schrieb er gleichentags einemburgundi-schen Adligen, «von welcher Seite der Schreckendes Fanatismus kommt.»
Wie und wo holte sich Voltaire das Wissen,das ihm in kurzer Zeit die Sicherheit gab, dieFamilie Calas als unschuldig zu erklärenunddieKatholiken vonToulouse für den «fanatismehor-rible» verantwortlich zumachen?Er verliess sichauf Genfer Calvinisten, die ihn dank ihren Kom-munikationskanälen zu den Glaubensbrüdernim Languedoc ebenso ausgiebig wie einseitiginformierten. So erfuhr er bald, dass nicht nurdrei, sondern fünf Richter gegen das Todesurteilwaren, was ihn im Eindruck bestärkte, es sei
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nicht mit rechten Dingen zugegangen. Er inter-essierte sich bald nur noch für Informationen,die zur Erzählung eines Justizmords aus religiö-sem Fanatismus passten.
Aufschlussreich ist hier ein Brief an d’Alem-bert. Zuerst führte Voltaire genüsslich aus, wie erden Genfer Theologen ein Schnippchen geschla-gen hatte, als er sein Theaterstück Cassandre an-statt in der Stadt in seinem Schloss aufführenliess: «Die Pfarrer wagten nicht zu kommen, abersie haben ihre Töchter geschickt. Ich habe Genferund Genferinnen fünf Akte lang weinen sehen.»Nach der Aufführung lud er die 200 Zuschauerzum Essen mit anschliessendem Ball ein. Die
grosszügige Geste war eine Boshaftigkeit gegendie abwesenden Prediger: «So habe ich mich ge-rächt.» Nach den Ausführungen zumAbend kamVoltaire aufdenCalas-Prozess zu sprechen,wobeier als Überleitung dieHinrichtung des reformier-tenPastorsbenutzteundbeideEreignisse in ihrerBedeutung für die Genfer Calvinisten schilderte:«Kurz zuvor hatte man einen ihrer Prediger inToulouse gehängt, das hat sie milder gestimmt.Soebenhatmanaber einen ihrer Brüder gerädert,der angeklagt war, seinen Sohn aus Hass gegenunsere heilige Religion erhängt zu haben.» Vol-taire ergänzte, die Stadt Toulouse sei «viel düm-merund fanatischer alsGenf»;manhabeausdemSohn einen Märtyrer gemacht, ohne zu überprü-fen, ob er sich selbst aufgehängt habe.
Im Brief an d’Alembert erhielten die beidenGerichtsprozesse trotz ihren Parallelen konträreBewertungen. Ob der reformierte Prediger und
seine mitangeklagten Aristokraten schuldigoder unschuldig gestorben waren, interessierteVoltaire nicht. Stattdessen schrieb er der Voll-streckung des Todesurteils die heilsame Wir-kung zu, den religiösen Eifer der Calvinistengeschwächt zu haben. In seinen Augen sass hierder Fanatismus auf der Anklagebank, verkörpertvon einem reformierten Geistlichen, währender im Calas-Prozess auf dem Richterstuhl Platznahm, angetrieben von katholischen Klerikern.
Wie gelangte Voltaire zu diesenWertungen?Ein Teil der Antwort ist: Er liess sich von seinemantiklerikalen Affekt leiten. So wie er die Bevöl-kerung von Genf in kunstliebende Bürger undverstockte Theologen einteilte, unterschied erbei den Hingerichteten von Toulouse zwischendem«bonbourgeois» Calas unddemschädlichen«prédicant». Der andere Teil der Antwort lautet,dass Voltaire Jean Calas nicht als eines untervielen Justizopfern darstellen konnte, wenn eraus seiner Hinrichtung einen Skandal machenwollte. Hätte er ihm dazu noch einen Pastor, derklandestin im Languedoc gepredigt hatte, alsSchicksalsgenossen zur Seite gestellt, wäre esihm kaum möglich gewesen, aus Calas einenMärtyrer der aufklärerischen Toleranz zu ma-chen (Abb. 5). Genau diese Rolle hatte ihm Vol-taire aber zugedacht, sie begründete sein Inter-esse am Fall. Voltaire glaubte eine Geschichtegefunden zu haben, an der er den religiösenFanatismus in seiner ganzen Destruktivität undDebilität blossstellen und für die aufklärerischeToleranz eine Bresche schlagen konnte.
Wie früh Voltaire das Mobilisierungspoten-zial der Geschichte auslotete, wird aus demBriefan d’Alembert ebenfalls ersichtlich. Er verliehdem Tod von Jean Calas eine neue Dimension:die einer nationalen Schande. Voltaire hatte sichseineVersionder Ereignisse zurechtgelegt, langebevor er mit den überlebenden Mitgliedern derFamilie Calas Bekanntschaft machte oder dieDruckschriften der Juristen von Toulouse zurKenntnis nahm. Der Vorteil der frühen Fest-legung lag darin, dass Voltaire seinen Stoff freiergestalten konnte. So schuf er ein neues Narrativmit maximalem Skandalisierungseffekt, den erfür seine Reformanliegen nutzenwollte.
Voltaire verlieh dem Tod vonJean Calas eine neue Dimension, dieeiner nationalen Schande. Er hattesich seine Version der Ereignissezurechtgelegt, lange bevor er
die Fakten kannte. So konnte erseinen Stoff freier gestalten und ein
neues Narrativ mit maximalemSkandalisierungseffekt schaffen.
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Die Unterschiede zu den publizierten Memo-randen aus Toulouse waren frappant. Voltaireargumentierte nicht rechtlich und anatomisch,sondern politisch und zivilisatorisch; er vertei-digte Jean Calas nicht gegen den katholischenFanatismusvorwurf an die Protestanten, sondernattackierte die Toulouser Katholiken als Fanati-ker; erhielt sichnichtmitdenpraktischenProble-men des Selbstmordszenarios auf, sondern be-tonte die physische Unmöglichkeit eines Mordesdurch den Vater; er sah im Prozess keinen lokalenJustizirrtum, sondern eine nationale Schande;underzogdieFrontlinienicht amOrtdesGesche-henszwischendemGerichtundseinenKritikern,sondernquerdurchEuropazwischenProvinziali-tät und Urbanität, Barbarei und Zivilisation, Fins-ternis und Aufklärung.
Mit seiner Neuauslegung enthob Voltaire dieAffäre Calas dem Kompetenzanspruch der Juris-
Abbildung 5: Eine weitere Illustrationaus den Causes célèbres de tous lespeuples: Jean Calas wird als Märtyrerder Toleranz mit einem Strick umden Hals zur Hinrichtungsstättegefahren. Er bittet darum, auf derKarre knien und sein Haus auf derVorbeifahrt segnen zu können.
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ten und Forensiker und erklärte sie zu seinerpersönlichen Wissensangelegenheit. Kein anderer Autor der französischen Aufklärung hattesich in vergleichbarer Weise einen Namen alsReligionskritiker gemacht. Für die erste Kontroverse auf diesem Gebiet hatte er 1734 mit denLettres philosophiques gesorgt, als er die protestantischen Kirchen Grossbritanniens beschriebund dabei nicht nur ein Kontrastbild der katholischen Kirche zeichnete, sondern auch einenZusammenhang zwischen konfessioneller Toleranz, politischer Stabilität und wirtschaftlicherWohlfahrt in einem Land herstellte. Noch inCandide ou l’optimisme, dessen Erstausgabe 1759erschien, liess er geistliche Würdenträger alsJustizmörder und Volksverdummer auftreten,wie in der berühmten Szene nach dem ErdbebenvonLissabon 1755, inder «dieWeisendesLandes»empfehlen, «dem Pöbel ein schönes Autodafé»zu bieten, und die Kleriker an der «UniversitätCoimbra» zum Schluss gelangen, das wirkungsvollste Mittel, ein weiteres Erdbeben zu verhindern, bestehe darin, «ein paar Personen auf kleinem Feuer zu verbrennen». Mit seinem Engagement in der Affäre Calas führte Voltaire seineRolle als aufklärerischer Religionskritiker inneuer Radikalität fort.
Der berühmte Name und die eingespielteRolle allein reichten aber nicht, um der neuenErzählung über Jean Calas’ Tod die notwendigeWahrhaftigkeit zu verleihen. Voltairewar zuweitweg von den Ereignissen, um bei ihrer Deutungals Autorität aufzutreten. DiesesDefizit liess sichbeheben, wenn er mit den Stimmen der direktBetroffenen sprach oder sich als unmittelbarerBeobachter ausgab. Bevor er seine Skandalisierungsstrategie von der Briefkorrespondenz aufden Buchdruck ausweitete, liess er sich dieMemoranden der Toulouser Juristen besorgen.Mit deren Detailwissen ausgestattet, veröffentlichte er Ende Juni Briefe von AnneRose undihremSohnDonat Calas, die er alsPièces origina-lesherausgab. DerTitelwar indoppelterHinsichtirreführend:Mindestens eines der beiden «Originaldokumente», der Brief von Donat, stammtevon Voltaire selbst, und es ging in ihnen nichtnur um den Tod der zwei Männer, sondern vor
allem um das weitere Vorgehen zur Rehabilitierung der Familie und zur Reformierung des Gerichtswesens. Das Schreiben der Mutter enthielteine detaillierte Schilderungder Todesnacht vonMarcAntoine, mit der Voltaire die Absicht verfolgte, dem Pariser Publikum jeden Zweifel ander Unschuld der Angeklagten zu nehmen. DerBrief des Sohnes war als Antwort darauf konzipiert, wobei Voltaire aus Donat einen aufgeklärten Mann machte, der die «glückliche Toleranz»zu seiner «heiligen Maxime» erklärte. Der Zweckdes Schreibens bestand in der Solidarisierungder Pariser Eliten mit Voltaires Anliegen, das erDonat in den Mund legte und AnneRose zur
Ausführung übertrug. Zum Publikationszeitpunkt der Pièces originales war Voltaire nur mitDonat persönlich in Kontakt gekommen. EndeApril hatte er ihn inFerney empfangen.DaDonatin der Todesnacht von MarcAntoine nicht zuHause gewesen war und sich während des Prozesses nach Genf abgesetzt hatte, eignete er sichallerdings kaum als Gewährsmann (Abb. 6).
Raffinierter, aber auch riskanter war Voltaires Vorgehen mit dem Traité sur la tolérance,den er im Winter 1762/1763 verfasste (Abb. 1).Voltaire sah sich hier in einem Zielkonflikt zwischen System und Einzelfallkorrektur. Er befürchtete, mit seiner Religionskritik die Rehabilitation der Verurteilten zu gefährden, zumal erdas Christentum als die militanteste aller Weltreligionen und den Katholizismus als seine intoleranteste Spielformdarstellte. Voltaire konntesich ausrechnen, mit dem Frontalangriff auf die
Für Voltaire war der Prozess keinlokaler Justizirrtum, sondern einKampf zwischen den KräftenProvinzialität und Urbanität,
Barbarei und Zivilisation, Finsternisund Aufklärung. Mit seiner
Neuauslegung enthob er die AffäreCalas dem Kompetenzanspruch der
Juristen und Forensiker.
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Ereignisse in Toulouse, wobei Voltaire die Exakt-heit der Eindeutigkeit opferte. Aus Marc-AntoineCalas wurde ein Melancholiker, «unruhig, düsterund hitzig», der sich vor seinem Tod «alles, wasjemals über den Selbstmord geschriebenwurde»,zu Gemüte geführt hatte. Jean Calas seinerseitsverwandelte sich in einen 68-jährigen Greis mitschwachen, geschwollenenBeinen, physisch aus-serstande, seinenkräftigenSohnzustrangulierenund an der Flügeltür aufzuknüpfen. Tatsächlichhatten die Angeklagten bei Marc-Antoine keineZeichen von Lebensmüdigkeit ausgemacht. JeanCalaswiederumwarbeimTodseinesSohnes fünfJahre jünger gewesen, und niemand hatte ihn alsgebrechlich beschrieben.
Voltaire brauchte die Eindeutigkeit der Ereig-nisse, um eine Empörungswelle zu erzeugen, dieseine Adressaten an der Macht von der gericht-lichenRevision bis zur politischenReform tragen
französische Staatsreligion bei einem Gutteilder Hofleute, Minister und Richter den Kredit,den er sichmit seiner Kampagne für die FamilieCalas erworben hatte, gleich wieder zu verspie-len.Wie liess sich das eine Zielmit demanderenverbinden? Voltaire liess die Schrift in Genfanonym drucken, aber vorerst nicht veröffent-lichen. Er verschickte nur wenige Exemplare anhochgestellte Persönlichkeiten, denen er Ein-fluss am Hof sowie Empfänglichkeit für einestarke Dosis Religionskritik zubilligte. Madamede Pompadour, die sich damals auf dem Höhe-punkt ihrer informellen Macht befand, wurdezur Hauptadressatin erkoren. Erst gegen Ende1763, als das Revisionsverfahren nicht mehraufzuhalten war, entschied sich Voltaire, diegedruckte Schrift auch zu veröffentlichen, gabsich aber weiterhin nicht als Autor zu erkennen.Die Schrift setzte einmit einer Rekapitulationder
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würde. Unmöglich wäre eine Umsetzung der For-derungen nicht gewesen, denn je konkreter siewurden, desto bescheidener gerieten sie. Voltairepräsentierte sie nicht als eigenes Anliegen, son-dern als Ersuchen rückkehrwilliger Protestantenaus dem Exil. Laut ihm wünschten sie bloss dieAnerkennung ihrer Ehen, ihrer Kinder und ihresErbes; sie beanspruchten keine Kirchen, keinePosten in der Gemeinde, kein Recht auf Ämter.Das war weniger, als Heinrich IV. den Protestan-ten 1598 im Edikt von Nantes zugestanden hatte,und doch zu viel, um die Unterstützung von Lud-wig XV. und seinenMinistern zu erhalten.
Voltaires Triumph in der Affäre Calas bliebauf die RevisiondesGerichtsurteils unddieReha-bilitierung der Verurteilten beschränkt. Sein Rufnach Toleranz konnte dafür umso länger nach-hallen. Knapp zehn Jahre nach Voltaires Tod undzwei Jahre vor Ausbruch der Revolution erliess
LudwigXVI.dasToleranzedikt vonVersailles,mitdemdie bescheidenenReformforderungenReali-tät wurden. Kaum in Kraft, wirkten die neuen Be-stimmungen aber schon nicht mehr zeitgemäss;an ihre Stelle trat indenerstenRevolutionsjahreneine umfassendere Religionsfreiheit. Von diesemZeitpunkt anwarenVoltaires Vorstellungen einergesetzlich verankerten Minimaltoleranz histo-risch überholt, aber der Rezeption seiner Schrifttat das keinen Abbruch. Mit ihrer Beschwörunguniverseller Werte bot sie sich immer wieder alsReferenz an, wenn es galt, ein Zeichen gegen reli-giösmotivierte Gewalt zu setzen.
Voltairehatmit seinempublizistischenFurorder Jahre 1762/63 die Affäre Calas im GedächtnisderNachwelt festgehalten, aber fürdie juristischeKorrektur des Gerichtsurteils war sein Engage-ment hinter den Kulissen wichtiger. Es bestandausderVerbindungvonbreiterMobilisierungmitgezielter Intervention. Ersteres kostete ihn Zeit,Letzteres Geld. Um die Unterstützung einfluss-reicher Persönlichkeiten im In- und Ausland zugewinnen, schrieb er Hunderte von Briefen anFürstenundHofleute,Minister undBischöfe, Ge-lehrte und Journalisten. Deren Wort im Ohr desKönigs und seiner wichtigsten Berater brachteabernochkeinRevisionsverfahren inGang.Dafürbrauchte es ein rechtliches Argumentarium, dasdenMitgliedern des Conseil du roi einen offiziel-len Grund gab, um das Urteil eines «souveränenGerichtshofs», wie das Parlement von Toulouseeiner war, zu überprüfen. Voltaire setzte zweirenommierte Anwälte auf den Fall an: PierreMariette aus dem Conseil du roi und Jean-Bap-tiste-Jacques Elie de Beaumont, einen Advokatenreformierter Herkunft, der sich wegen stimm-licherProblemeschon frühaufdaspublizistischePlädieren verlegt und mit öffentlichen Verteidi-gungsschriftenAufsehen erregt hatte.
Die Aufgabe der Anwälte wurde durch einenFaktorerschwert, denVoltaire schongeahnthatte,als er im Sommer 1762 die Forderung nach Revi-sion mit dem Ruf nach Transparenz verknüpfte.Um den Conseil du roi von der Notwendigkeiteines Revisionsverfahrens zu überzeugen, muss-ten die Anwälte Belege für grobe Fehler vorlegen,aber da die Prozessakten vomGerichtshof inTou-
Abbildung 6: Eine Szene in Ferneybei Genf, die es nie gegeben hat:Der alte Voltaire empfängt dieüberlebenden Mitglieder der FamilieCalas und verspricht ihnen, seineSchreibfeder hochhaltend, publizistische Unterstützung im Kampf umGerechtigkeit. Der Stich stammt vonCharles Philibert de Lasteyrie nacheiner um 1800 entstandenen Vorlagevon PierreNolasque Bergeret.
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louse unter Verschluss gehalten wurden, fehlteoriginales Beweismaterial. Hier kamen nun dieMemoranden der Juristen aus Toulouse wiederins Spiel. Dank ihnen verfügten die Anwälte überInformationen aus den Federn von direkt Beteiligten und unmittelbaren Beobachtern.
Inhaltlich wichen Mariette und Elie de Beaumont nur wenig voneinander ab, strategisch aberumso mehr. Mariette übernahm die formellwichtigere Aufgabe: Er beantragte die Eröffnungdes Revisionsverfahrens im Namen der WitweCalas und vertrat sie vor Gericht. Elie de Beau
mont vertrat die Familie Calas vor der PariserJuristenöffentlichkeit. Mit seinen Memorandenbetrieb er Meinungsbildung der Meinungsführer.
Es dauerte mehr als zwei Jahre, bis die königliche Gerichtsbarkeit die Affäre Calas abschliessend beurteilte, und in dieser Zeit vermehrtesich das Wissen in Paris über die Vorgänge inToulouse markant. Die reichste Quelle war dasGericht von Toulouse, nur sprudelte sie nichtfreiwillig. Der Conseil du roi ordnete mit der Annahme des Revisionsantrags die Überweisungder Gerichtsunterlagen aus Toulouse an. Elie deBeaumont verarbeitete zudem gekonnt neuesExpertenwissen, das von einem angesehenenWissenschafter stammte, der den Fall wie andere Beobachter aus eigenem Antrieb untersuchteund nach einer Reihe von Experimenten seineErkenntnisse veröffentlichte. Seine Publikationsorgte dafür, dass Elie de Beaumont die Selbstmordthese neu begründen und dabei wissenschaftliche Beweise ins Feld führen konnte, die
den Schein der Unumstösslichkeit besassen.Autor der Expertise war der Chirurg AntoineLouis, Mitglied derAcadémie royale de chirurgieund Mitautor der Encyclopédie von Diderot undd’Alembert. Die entscheidende Frage der AffäreCalas war für ihn keine religionspolitische, geschweige denn eine zivilisatorische, sonderneine forensische: Wie liess sich an der Leicheeiner strangulierten Person zweifelsfrei feststellen, ob sie durch Mord oder durch Selbstmord umgekommen war?
Antoine Louis präsentierte seine Erkenntnisse Mitte April 1763, einen Monat nach der Annahme des Revisionsantrags (Abb. 7). Gleich zuBeginn stellte er den Bezug zur Affäre Calas her.Die Öffentlichkeit sei über den Vorfall, der sichin Toulouse zugetragen und ganz Europa dasbetrüblichste Spektakel geboten habe, überinformiert. Die Ungewissheit aber, ob ein Verbrechen vorliege oder nicht, bleibe bestehen. Louisbehauptete nicht, er werde sie mit seinem Expertenwissen beheben; dafür hätte er die LeicheMarcAntoine Calas’ oder zumindest die Untersuchungsberichte der lokalen Experten sehenmüssen. Er beanspruchte vielmehr, Gewissheitfür künftige Fälle zu schaffen. Wie auch immerdas Urteil des obersten Gerichts ausfallen werde,es könne nicht verhindern, dass genau das Gleiche wieder passiere, wenn ein Mensch erhängtaufgefunden werde und sich zufällig Leute amgleichen Ort befänden, an dem die Tat verübtworden sei. Daher verkündete Louis in Voltairescher Unbescheidenheit: «Es ist also die Sachealler Menschen, für die ich mich einsetze, indemich Forschungen und Experimente veröffentliche, mit denen ich beabsichtige, Prinzipien auseinem Fall abzuleiten, der leider nicht so seltenist, wie man denken könnte.»
Wie Voltaire trat Louis als Agent des zivilisatorischen Fortschritts auf, verankerte diesenaber nicht im Engagement gegen den Fanatismus, sondern in der Förderung der Wissenschaft. Das wirksamste Mittel zur Eindämmungvon Kontroversen war ihm gemäss die Ausweitung des Wissens. Seine Expertise begann mitder Frage, wie man an der Leiche einer strangulierten Person erkennen könne, ob der Tod durch
Wie Voltaire trat der Chirurg AntoineLouis als Agent des zivilisatorischenFortschritts auf, verankerte diesenaber nicht im Engagement gegenden Fanatismus, sondern in der
Förderung der Wissenschaft. Daswirksamste Mittel zur Eindämmungvon Kontroversen war ihm gemäss
die Ausweitung des Wissens.
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eigene oder fremde Gewalt erfolgt sei. Um siezu beantworten, habe er die Fachliteratur durch-forstet, Scharfrichter befragt sowie Experimentean toten Menschen und lebenden Tieren durch-geführt. Aus seinen Nachforschungen zog er alsErstes die Erkenntnis, dass sich die Mehrheitder Autoren irrte, wenn sie die Strangulation derKlasse der Erstickungstode zuordneten: «Die Er-hängten sterben nicht an Atemnot; das heisst,die Ursache ihres Todes rührt nicht, wieman ge-meinhin glaubt, vonderUnterbindungderAtem-wege durch den Strang her, der ihnen den Halszuschnürt. Diese Funktion besteht bis zumEnde, und sie sterben tatsächlich apoplektisch,durch die Kompression der Halsvenen.» Mit derDiagnose eines tödlichen Schlaganfalls, die erstim 19. Jahrhundert forensisches Standardwissenwurde, verband Louis nicht die Absicht, einenSelbstmord von Marc-Antoine Calas auszu-schliessen. Es ging ihm darum, die Diskussionauf ein forensisch solideres Fundament zustellen. Dafür engte er die Fragestellung «Mordoder Selbstmord?» auf «Erdrosseln oder Erhän-gen?» ein. Einerseits sei es unmöglich, sichselbst zu erdrosseln, andererseits brauche es«eine zu grosse Apparatur», um jemandenlebend zu erhängen.
Darüber hinaus formulierte er forensischeStandards, die für alle Fälle dieser Art Gültigkeithaben sollten. Nach ihm mussten Experten im-stande sein, aneinerLeiche sowohlMerkmale fürErdrosselnundErhängenals auch fürprämortaleundpostmortale Verletzungen zuunterscheiden.Einen horizontal verlaufenden Abdruck desStrangs auf demHals interpretierte er als ZeichenfüreinenMorddurchErdrosseln;mehrereStrang-marken waren ihm zumindest verdächtig, vorallemwenneinerBlutergüsseaufwiesundderan-derenicht.Esempfehlesich,dieSpurenamStrangmit den Spuren amKörper zu vergleichen. Gäbendie äusseren Zeichen auf der Leiche keinen Auf-schluss, schaffe eine Sektion Klarheit, denn beieiner Selbsttötung seien die inneren Verletzun-gen weniger gravierend als bei einem Mord. Eskomme weder zu einer Luxation der Halswirbelnoch zu einer Zerstörung des Knorpelgewebes,und das Sterben dauere länger. Louis beschrieb
Abbildung 7: Titelblatt deranatomischen Studie von
Antoine Louis zur Frage, wie aneinem erhängt aufgefundenen
Menschen zu erkennen sei, ob essich um Selbstmord oder Mordhandle. Ähnlich wie Voltaire im
Traité sur la tolérance nahm Louisdie Affäre Calas zum Anlass, ein
allgemeines Problem zu erörtern.Dabei gab er nicht nur neue
Hinweise zur möglichen Todesartvon Marc-Antoine Calas, sondern
klärte auch einen weit verbreitetenIrrtum zur Todesursache bei
Strangulation. Die Schrift erschien1763, rechtzeitig vor der Aufnahmedes Revisionsverfahrens in Paris.
Affäre Calas
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denTodeskampfvonErhängtenunterVerweis aufältere Traktate und seine eigenen Tierexperimente; der Körper scheide Urin und Kot aus undalleMuskelnwürden vonKontraktionen erfasst.
Aus seinen Ausführungen leitete er denSchluss ab: «Es scheint nach allem, was gesagtworden ist, festzustehen, dass man mittels angemessener Forschungen über die Zeichen, dieeinenSelbstmordvoneinemMordunterscheidenlassen, entscheiden kann.» Ging es um strangulierte Leichen, gab es für Louis keine unlösbarenFälle, nur unqualifizierte Experten. Erst derenUnterlassungen oder Ungenauigkeiten konnteneinen Fall unlösbar machen, sobald sich die Leiche zersetzt oder der Tatort verändert hatte.
Kaum veröffentlicht, wurde über AntoineLouis’ Studie in Paris intensiv diskutiert. Ein JahrspäterwurdeLouis zumSekretärderAcadémie dechirurgie ernannt, und nochmals ein Jahr späterfand seine Studie ihren Niederschlag in Elie deBeaumonts letztemPlädoyer fürAnneRoseCalasund ihre Kinder. Im Vergleich zu Elies erstemPlädoyer war die Argumentation zu den Todesumständen von MarcAntoine Calas kaum wiederzuerkennen.Anstelle einerBastelei ausentlastenden Szenarien für die Angeklagten erstellteElie de Beaumont eine geschlossene Beweiskettefür einen Selbstmord. Er griff die Fragen vonAntoine Louis auf, ohne ihn namentlich zu erwähnen,undbeantwortete sie fürdieAffäreCalasmithilfe der forensischen Berichte. Wo die Texteauf seine Argumente nicht zugeschnitten waren,stutzte er sie zurecht, bis sie passten.
MarcAntoineCalas, behauptete er, sei «nichterst erdrosselt und dann aufgehängt» worden,denn der forensische Bericht aus Toulouse haltefest, er sei «lebendig erhängt worden, durch sichselbst oder durch andere». Die Erklärung werdedurch den Tatbestand selbst bewiesen, dennmanhätte bei einemErdrosselten undnachträglich Erhängten zwei Strangmarken finden müssen, die eine «perfekt horizontal» als Folge derStrangulation, die andere «nachhinten bis in dieHaare aufsteigend» als Folge der Suspension. DieForensiker hätten aber, wie ihr Bericht bestätige,nur einen Abdruck gefunden. Der «Tatbestand»des Anwalts war das Ergebnis zweier subtiler
Uminterpretationen. Antoine Louis hatte die horizontale Strangmarke zu einer hinreichendenBedingung fürdieFeststellungeinesMordsdurchErdrosseln erklärt; Elie deBeaumont präsentiertenun das Fehlen einer horizontalen Strangmarkeals hinreichende Bedingung für Erhängen undunterschlug damit alle unklareren Fälle, für dieLouiseineSektiondesHalsesgeforderthatte.Under unterschlug eine Erwähnung im forensischenBericht aus Toulouse, den er in seiner Stellungnahme erstmals abdruckte: dass sich der Striemen am Hals der Leiche auf jeder Seite in zweiStränge aufgeteilt habe.
Ähnlich verfuhr der Anwalt, um eine gewaltsame Erhängung MarcAntoines durchmehrere Mörder auszuschliessen. Das Fehlenvon Spuren der Gewalt auf dem Körper und denKleidern des Toten sei ein sicheres Zeichen füreinen Selbstmord, weil ein Mord ohne Gegenwehr unmöglich sei: «Der Widerstand ist materiell, maschinell, er ist der unbewusste Akteines Lebewesens, das sich gegen die Zerstörung auflehnt.» Solche Kausalgesetze fandensich bei Antoine Louis nicht, denn Spuren äusserer Gewalt waren für ihn kein notwendiges,sondern ein hinreichendes Kriterium fürMord.
Damit erreichte dieBehauptung eines Selbstmords von MarcAntoine Calas den Schein einerwissenschaftlichbewiesenenTatsache, zumal esin der Pariser Öffentlichkeit keinen Juristen oderForensiker gab, der Einspruch gegen die Ausführungen von Elie de Beaumont erhob oder aufdie Abweichungen seiner Argumente von jenendes berühmten Forensikers hinwies. Am 9.März1765, auf den Tag genau drei Jahre nach der Hinrichtung von Jean Calas, kam das Verfahren inParis zumoffiziellenAbschluss. Das «souveräne»Urteil erfolgte einstimmig. Es wurde verkündet,aber nicht begründet. Erwartungsgemäss wurden alle Angeklagten vollständig rehabilitiert.Zudemsprach ihnendasGericht hoheEntschädigungssummen für das erlittene Unrecht zu. DieRichter betonten, Jean Calas sei in voller Integrität und ohne Schuld für das Verbrechen, dasman ihm fälschlicherweise angelastet habe, gestorben. Wie aber sein Sohn umgekommen war,darüber schwiegen sie sich aus. |G |
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