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Deutsche Ausgabe
April 2014
04/20. Jahrgang
Deutschland: 3,90 EUR
Ausland: 4,20 EUR
Wahltheaterin Algerienvon Jean-Pierre Séréni
Europa
ist mehr als der Euro.
Etienne Balibar verteidigt ein
einzigartiges Projekt gegen
Technokraten und PopulistenS. 12/13
Max Weber
wird am 21. April 150. Ob er
der Vordenker der sogenannten
Sachzwangpolitik ist, fragt
Bruno PreisendörferS. 2
China
baut in Afrika ein Fußball-
stadion nach dem anderen. Sie
sind hässlich und komplett
überflüssig, sagt Elliot RossS. 9
Venezuela
ist ein Land ohne Mitte. Man
ist Chavist oder Anti-Chavist.
Mäßigung hat keine Chance,
befindet José NatansonS. 21
Bürger Snowden
hat es ans Licht gebracht: US-
Spione hören ihre Landsleute
ab. Obama schweigt verdächtig,
meint William GreiderS. 23
Untitled, 2008, C-Print, 130 x 150 cm
(zur Künstlerin siehe Seite 3)
Schon wieder
ie Preise für Eigenheime stei-gen! Die Baukonjunkturspringt wieder an! Die Kriseist überwunden! Seit einiger
Zeit bejubeln die Medien in den USA diewundersame Wiederauferstehung derImmobilienmärkte. Was sich hinterdem ganzen Tamtam verbirgt, erfährtman nicht. In der Branche breitet sichseit knapp zwei Jahren eine komplettneue Strategie des schnellen Reichtumsaus.
Heimlich, still und leise habenHedgefonds und Private-Equity-Unter-nehmen inzwischen ein wahres Impe-rium von Mietimmobilien angehäuft. InAtlanta schnappen sie sich viktoriani-sche Anwesen aus dem 19. Jahrhundert,in Chicago verklinkerte Bungalows undin Phoenix, Arizona, Villen im spani-schen Kolonialstil. Insgesamt habendiese zahlungskräftigen Investorenmehr als 200000 kostengünstige, vor-wiegend zwangsversteigerte Häuser auf-gekauft.
Die an der Wall Street ausgelösteImmobilienkrise hat seit Herbst 2007mehr als 10 Millionen Menschen um ihrWohneigentum gebracht. Dadurch istein paradoxes Problem entstanden:Während Millionen leerstehender Häu-ser, die in Bankbesitz übergegangensind, die Vorstädte verwaisen lassenund die Kriminalitätsrate in die Höhetreiben, sind Millionen obdachlos ge-wordener US-Bürger auf der Suche nacheiner sicheren Unterkunft.
Zum Glück hat man an der WallStreet jetzt eine Lösung gefunden: Dieneuen Investoren bieten den ehemali-gen Eigentümern die Chance, in ihrezwangsverkauften Häuser zurückzuzie-hen – als Mieter. Als Vehikel dient dabeiein neuer Typ verbriefter Wertpapiere,der allerdings das ganze Konzept in dieLuft sprengen könnte. Wie schon ein-mal.
DSeit Beginn des neuen Kaufrauschs
hat kein Unternehmen mehr Häuser er-worben als das größte Private-Equity-Unternehmen der Welt: die BlackstoneGruppe. Über ihre Tochterfirma „Invita-tion Homes“ hat sie bei Zwangsverstei-gerungen, über lokale Makler und di-rekt von den Banken massenweise Häu-ser aufgekauft. In Atlanta hat InvitationHomes auf einen Schlag 1400 Häusererworben. Bis November 2013 hatBlackstone insgesamt 7,5 MilliardenDollar für 40000 zumeist zwangsverstei-gerte Objekte im ganzen Land ausgege-ben, macht seit Oktober 2012 pro Wo-che 100 Millionen Dollar. Vor Kurzemkündigte das Unternehmen an, manwerde sich auf diesem Gebiet auch in-ternational engagieren. Als Einstiegs-markt ist Spanien vorgesehen, woZwangsversteigerungen zum Alltag ge-hören.
Außerhalb des Finanzsektors istder Name Blackstone bislang kaum einBegriff. Dabei besitzt die Gruppe diemeisten vermieteten Einfamilienhäuserin den USA. Hinzu kommen (ganz oderteilweise) die Hilton-Hotelkette, dasbritische Gesundheits- und Pflegeunter-nehmen Southern Cross Healthcare,der TV-Wettersender TWC (The Whea-ther Channel), das US-UnternehmenSea World (Betreiber von Meeres-The-menparks), die Kaufhauskette Mi-chael’s (Kunst und Handwerk) und Dut-zende weiterer Unternehmen.
Nach Angaben der US-Börsenauf-sichtsbehörde SEC verfügte die Black-stone Group im Jahr 2012 über Vermö-genswerte in Höhe von 210 MilliardenDollar. Zu den institutionellen Anlegerndes börsennotierten Unternehmens ge-hören fast alle namhaften Finanzinsti-tute, die im Zusammenhang mit derSubprime-Krise auf der Anklageliste
Neues Geschäftsmodell mit US-Immobilien
von Laura Gottesdiener
ergangenen Sommer wurdenin Algerien zehn Minister ent-lassen, darunter die derSchlüsselressorts Inneres,
Auswärtiges, Verteidigung und Justiz.Sie alle – mit Ausnahme des Außenmi-nisters Medelci, der zum Präsidentendes Verfassungsrats gemacht wurde –bekamen beim Abschiedstreffen mitdem damaligen MinisterpräsidentenSellal zu hören: „Deine Leistungen ste-hen außer Frage, aber …“ In den höchs-ten politischen Kreisen sei geradezuPanik ausgebrochen, erzählt einer derExminister. „Innerhalb weniger Tagewurden Regierung, Partei, Geheim-dienst und Armee komplett auf denKopf gestellt.“
In aller Eile und gegen den aus-drücklichen Willen des Zentralkomi-tees wurde ein neuer Generalsekretär andie Spitze der ehemaligen Einheitspar-tei FLN (Nationale Befreiungsfront) ge-setzt. Doch auch dieser neue Chef, AmarSaïdani, war kein unbeschriebenesBlatt: Vor sieben Jahren hatte er wegenundurchsichtiger Machenschaften, dieniemals aufgeklärt wurden, vom Amtdes Parlamentspräsidenten zurücktre-ten müssen.
Saïdani legte sich gleich mit demebenso geheimnisvollen wie ewigenChef des algerischen Geheimdienstes
V
DRS (Département du renseignement etde la sécurité) an: General MohamedMediène, genannt „Toufik“, wurde vonSaïdani öffentlich „ausgezogen“, was imalgerischen Sprachgebrauch so viel wie„gedemütigt“ bedeutet. Wichtige Unter-abteilungen der DRS wurden dem Ge-heimdienst entzogen und unter die Auf-sicht des Generalstabs der Armee ge-stellt oder direkt der Präsidentschaft zu-geordnet.1
Angefangen hatte alles im August2013 mit einem Skandal, der in Mailandans Licht kam. Ein Manager des italieni-schen Unternehmens Saipem, einerTochter des Energiekonzerns Eni, hatteausgepackt: Knapp 200 Millionen Dol-lar hätte Saipem an algerische Mittels-männer gezahlt – als Gegenleistung fürAufträge in einer Höhe von 11 Milliar-den Dollar. Einen Monat zuvor warPräsident Bouteflika zurückgekehrt,nachdem er wegen eines Schlaganfallsdrei Monate in Paris behandelt wordenwar.
Palastintrigen und
ein Korruptionsskandal
Was die Regierung beunruhigte, war we-niger die hohe Geldsumme als die Tat-sache, dass zum ersten Mal Richter inItalien, Frankreich und den USA eine al-gerische Korruptionsaffäre untersuch-ten. Das war etwas vollkommen anderesals die Skandale, die in den vergange-nen fünf Jahren Anlass zu allerlei Gere-de gegeben, aber nie zu einem Gerichts-verfahren geführt hatten. Die algerischeJustiz ist an Gehorsam gewöhnt. „Wennich in einem heiklen Verfahren verkün-de, dass sich das Gericht nun zur Bera-tung zurückzieht, heißt das in Wahr-heit, dass wir im Hinterzimmer sitzen,Kaffee trinken und so lange warten, bisder Anruf kommt, der uns mitteilt, wiedas Urteil zu lauten hat“, erzählt der
Vorsitzende Richter eines Landgerichtsim Westen alles andere als stolz.
Am 1. September 2013, dem Tag sei-ner Inthronisation als Generalsekretärder FLN, suchte Saïdani JustizministerMohamed Charfi auf. Der neue Partei-chef wollte ihn zwingen, einen Namenaus den Untersuchungsakten zu tilgen:Chakib Khelil, ehemaliger Energiemi-nister und enger Vertrauter von Präsi-dent Bouteflika. Sollte sich Charfi wei-gern oder irgend etwas schiefgehen,werde er seinen Posten verlieren. ElfTage später wurde der Justizminister ge-schasst – und mit ihm neun weitere Mi-nister.
Die Spitze des Regimes deutet nun,im Hinblick auf die bevorstehendenPräsidentschaftswahlen, den MailänderKorruptionsskandal als Destabilisie-rungsversuch, vergleichbar mit der ver-hängnisvollen Tonbandaffäre des türki-schen Ministerpräsidenten Erdogan.Die Anstifter sitzen im Ausland, heißt esin den staatlichen Medien, Namen wer-den jedoch nicht genannt. Und, so wirdweiter angedeutet, sie könnten auchVerbündete in Algerien haben.
Der Geheimdienst DRS ist zwangs-läufig in die Angelegenheit verwickelt,schließlich ist er für Ermittlungen imBereich Korruption zuständig und hatbereits mehrere Affären aufgedeckt. diefür das Umfeld des Präsidenten überauspeinlich sind. Eine davon, genannt „So-natrach I“, betraf ebenfalls den Ölsek-tor; eine andere den Bau der großen Ost-West-Autobahn, bei dem die Vergabevon Aufträgen an chinesische und japa-nische Firmen unter zwielichtigen Um-ständen zustande gekommen war. Eswurde also höchste Zeit, den oberstenGeheimdienstchef, General Toufik, zu„neutralisieren“.
Mit dieser Aufgabe wurde eineGruppe von Männern von betraut, die
Am17. April wird in Algerien
ein neuer Präsident gewählt.
Aussichtsreichster Kandidat ist
der schwerkranke Staatschef
Bouteflika. Umdie tatsächliche
Macht im Land kämpfen
Geheimdienst,Militär und
eine ominöse Viererbande.
Lynne Cohen
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Fortsetzung auf Seite 22
Fortsetzung auf Seite 6
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PIETER BRUEGEL d.Ä.
13. April bis 6. Juli 2014
Theaterplatz 1 | 09111 Chemnitzwww.kunstsammlungen-chemnitz.de
Die Imker, 1566–68, Feder in Braun, 203 x 309 mm, Staatliche Museen zu Berlin,Kupferstichkabinett, © bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Jörg P. Anders
2 LE MONDE diplomatique | April 2014
20 Herr Modi aus Gujarat
Indien wählt einen neuen
Ministerpräsidenten
vonChristophe Jaffrelot
21 Venezuela, Land ohne Mitte
von JoséNatanson
22 Schon wieder
USA: Neue Immobiliengeschäfte
Fortsetzung von Seite 1
vonLauraGottesdiener23 Spione im Weißen Haus
vonWilliamGreider
Auch zum Hören unter:
www.monde-diplomatique.de
3 Zeugen und Erzeugen
Die Zukunft der menschlichen
Reproduzierbarkeit
von JacquesTestart
4 Zentralafrika erstickt am Hass
vonSimoneSchlindwein
6 Wahltheater in Algerien
Fortsetzung von Seite 1
von Jean-Pierre Séréni7 Warten in Ouargla
Der Süden Algeriens hat Öl,
aber keine Jobs für junge Leute
vonPierreDaum
14 Die Verteidigung Ungarns
vonCorentin Léotard15 Jobbik und die Liebe
zu den Turkvölkern
vonCorentin Léotard
16 Albaniens neues Gesicht
von Justus vonDaniels17 Eine mühselige Nachbarschaft
Griechen, Albaner und
die Last der Geschichte
vonNielsKadritzke
18 Aufruhr in Kambodscha
vonPhilippeRevelli
8 Tunesiens kleines Glück
vonSergeHalimi
9 Stadien der Freundschaft
China baut in Afrika eine
Fußballarena nach der anderen
vonElliot Ross
11 Schwergewichte aus Donezk
Die Revolution in der Ukraine
ist eher ein Oligarchenwechsel
von J.-A.DérensundL.Geslin
12 Europa, aber richtig
vonÉtienneBalibar
In dieser Ausgabe | 04
Die Vernunft des Orakels
Bewertungsverfahren zufriedenzuge-ben, die unterhalb der ‚rationalen‘Ebene bleiben.“
Der Sachzwang ist das moderneOrakel, der Experte der delphische Deu-ter, die Öffentlichkeit der Tempel. Einesgeradezu religiösen Frevels macht sichschuldig, wer an diese Rationalität nichtglaubt und Alternativen sucht. Kurioser-weise wird das Verleugnen und Ver-leumden von Alternativen selbst miteiner solchen gerechtfertigt: der von Ge-sinnungs- und Verantwortungsethik.
1919, der Krieg war für Deutschlandverloren und der abgedankte Kaiserhackte Holz in Holland, behaupteteMax Weber in seinem Vortrag „DerBeruf zur Politik“: „Politik wird mit demKopfe gemacht, nicht mit anderen Tei-len des Körpers oder der Seele.“ Ach,wenn es doch nur so wäre. In diesemVortrag erklärte Weber zum Entweder-oder, „dass alles ethisch orientierteHandeln unter zwei voneinander grund-verschiedenen, unaustragbar gegen-sätzlichen Maximen stehen kann: eskann ‚gesinnungsethisch‘ oder ‚verant-wortungsethisch‘ orientiert sein.“
Die sogenannten Realpolitiker neh-men bis auf den heutigen Tag für sich inAnspruch, verantwortungsethisch zuhandeln, und schieben den „Idealisten“oder den „Gutmenschen“ eine Gesin-nungsethik unter, was nahelegen soll,die mit der Gesinnung seien verantwor-tungslos und unverständig. Weber hatte
sind für Toller gerade keine Gegensätze.Allerdings ist das Gewissen auch einrechter Windbeutel – oder ein linker. Je-denfalls kann sein Ruf aus sehr ver-schiedenen Richtungen erschallen, ge-rade woher eben der Wind weht.
Umgekehrt müssen sich die Sach-zwangethiker fragen lassen, wie Verant-wortung im strengen Sinn überhauptmöglich sein soll bei der Gellner’schen„Unmöglichkeit, in komplexen Situatio-nen Entscheidungen auf rationalemWeg herbeizuführen“. Wo soll die ratio-nale Einsicht in den Zwang denn her-kommen, wenn die Sache unbegreiflichist? Und wie soll Rationalität organisiertwerden, wenn sie immer nur auf einenZweck oder einen Wert hin bestimmtwerden kann, und wenn des Weiterenweder Zweck noch Wert die Mittel heili-gen? Rationalität auf einen Zweck hinkann sich sehr irrational auf andereZwecke auswirken; was hinsichtlicheines Wertes rational ist, kann sich füreinen anderen als Katastrophe erwei-sen. Aufklärung wirft immer Schatten.Eben dies war die Einsicht der „Dialek-tik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno, die wiederum von Webers Ra-tionalitätsanalyse beeinflusst war.
Zu einer geschlossenen Theorie hatWeber es dabei nicht gebracht, obwohlsein posthum von der Gattin kompilier-tes Hauptwerk „Wirtschaft und Gesell-schaft“ so tut. Er macht es sich (und derLeserschaft) nicht leicht. Um es öster-lich auszudrücken: Er eiert ziemlichherum. Das lag nicht etwa an einerSelbstüberforderung Webers durchseine spezielle Begriffssoziologie, son-dern hat mit der generellen Selbstüber-forderung des Menschen beim Begrei-fen der Gesellschaft zu tun. Was wirhandelnd anfassen, können wir meis-tens erst im Nachhinein denkend be-greifen. Rationalität ist oft nur Rationa-lisierung, eine den vorgeschobenenSachzwängen hinterhergetragene Ver-nünftigkeit.
Doch selbst wenn Verantwortungim Großen rational nicht möglich ist,muss sie aus emotionalen Gründenübernommen werden. Die Menschenhalten es nicht aus, wenn etwas schief-geht und niemand ist daran schuld.Eine rationalisierende Befreiung ausdieser emotionalen Zwangslage bietetdie sogenannte politische Verantwor-tung. Berufspolitiker übernehmen sie,und nehmen sie bei Rücktritten auchmit sich fort. Dann können die Zurück-bleibenden im Prinzip weitermachenwie bisher. There Is No Alternative. Esgibt bloß Webers harte Bretter: „Die Po-litik bedeutet ein starkes, langsamesBohren von harten Brettern mit Leiden-schaft und Augenmaß zugleich.“ Nurwenn Revolution ist, wird die Bretterbu-de eingerissen. Und manchmal brichtsie einfach zusammen.
© Le Monde diplomatique, Berlin
von Bruno Preisendörfer
Waswir handelndanfassen, könnenwir meistens erstimNachhineindenkend begreifen
„
„
ina ist überall: Sie fällt von hin-ten in den Rücken, steht vorneim Weg, hetzt von rechts, ei-fert von links und breitet sich
schamlos in der Mitte aus. Zu Tina gibtes keine Alternative, sie ist das Akronymder Alternativlosigkeit: There Is No Al-ternative! Die größte Virtuosin des Tina-Prinzips war Baroness Thatcher. DiesesPrinzip war gewissermaßen der Revol-ver in der Handtasche, den sie heraus-zog, wann immer ihr jemand in dieQuere kam. Mit Tina lässt sich Kritik alsBedenkenträgerei verunglimpfen, Inte-ressenpolitik als Sachzwang darstellenund das Faktische zur Norm erheben: Esist, was es ist. Wie die Liebe in einem Ge-dicht von Erich Fried: „Es ist Unsinn /sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagtdie Liebe.“ Der Philosoph Hegel rief ineiner Vorlesung erschrocken aus: „DieLiebe ist der ungeheuerste Wider-spruch, den der Verstand nicht lösenkann.“
Für den am 21. April vor 150 Jahrengeborenen Soziologen Max Weber„weiß sich der Liebende in den jedemrationalen Bemühen ewig unzugängli-chen Kern des wahrhaft Lebendigeneingepflanzt, den kalten Skeletthändenrationaler Ordnungen ebenso völlig ent-ronnen wie der Stumpfheit des Allta-ges“. Und der Sozialanthropologe Er-nest Gellner bemerkt nüchtern: „Für dieWahl eines Ehepartners gibt es keine ra-tionalen Kriterien, die sich sinnvoll an-wenden ließen. Die Auswahlkriteriensind zu vielfältig und widersprüchlich,um sich formalisieren zu lassen. [...]Wie in anderen Zusammenhängen ka-schiert auch hier die Berufung auf einOrakel (in diesem Fall ein internes) dieUnmöglichkeit, in komplexen Situatio-nen Entscheidungen auf rationalemWeg herbeizuführen.“
Ganz genauso ist es auf der höchs-ten Ebene politischer oder ökonomi-scher Entscheidungen, wie Gellner inseinem Buch „Pflug, Schwert und Buch“betont: „Die Rationalität, die der Ar-beitsteilung korrespondiert, hat unsereWelt verändert, wird sich aber nie aufjene allumfassende und von Natur ausvielsträngigen Optionen erstreckenkönnen, bei denen es um die Entschei-dung zwischen unvereinbaren Alterna-tiven geht.“ Eben deshalb halten dieTina-Leute denjenigen, die mit ihrenEntscheidungen nicht einverstandensind, jedes Mal entgegen, es gebe dieseAlternativen gar nicht, jedenfalls nicht,wenn man sich den Sachzwängen stelle.Wie sich der Verliebte auf das Orakeldes inneren Gefühls beruft, so beruftsich der Entscheider auf das der äuße-ren Sachzwänge. Und zwar, nach Gell-ner, mit umso weniger Recht, je höherdie Machtebene ist, auf der entschiedenwird. „Umfassende Entscheidungenstellen vor Probleme, die zwangsläufigkompliziert sind und bei denen Erfolgoder Misserfolg von vielen verschiede-nen und auch von miteinander unver-einbaren Gesichtspunkten abhängen.In Ermangelung eines einheitlichenKriteriums sind wir gezwungen, uns mit
T
zwar zunächst betont: „Nicht daß Gesin-nungsethik mit Verantwortungslosig-keit und Verantwortungsethik mit Ge-sinnungslosigkeit identisch wäre.Davon ist natürlich keine Rede.“ AmEnde aber dann doch: „Politik wird zwarmit dem Kopf, aber ganz gewiss nichtnur mit dem Kopf gemacht. Darinhaben die Gesinnungsethiker durchausrecht.“ Aber er habe den Eindruck, dassman es bei den Gesinnungsethikern „inneun von zehn Fällen mit Windbeutelnzu tun habe“.
Professor Weber hielt seinen Vor-trag in München, und wer in den Tagender Räterepublik den 26-jährigenSchriftsteller Ernst Toller als roten Mili-tärkommandeur auf weißem Pferddurch die Stadt hatte reiten sehen, wird– selbst bei anderen Zählergebnissen –das mit den Windbeuteln verstandenhaben. Weber bestritt ihnen jedes„sachliche Verantwortungsgefühl“.
Nach der von Weber begrüßten blu-tigen Niederschlagung von „diesemKarneval, den man mit dem stolzenNamen einer ‚Revolution‘ schmückt“,wurde auf Toller ein Kopfgeld von zehn-tausend Mark ausgesetzt. Er wurdeschnell verhaftet. Nach einer erstenFestnahme im Februar 1918, also vorder Revolution, hatte sich Weber für denjungen Dichter eingesetzt. Auch dies-mal sagte er für ihn aus, wie MarianneWeber im „Lebensbild“ ihres Manneserzählt: „Weber charakterisiert ihn imVerhör als ‚Gesinnungsethiker‘, der denpolitischen Realitäten gegenüber welt-fremd sei und sich unbewusst an diehysterischen Instinkte der Massen ge-wendet habe. ‚Gott im Zorn hat ihn zumPolitiker gemacht.‘“
Diesmal kam Toller nicht frei, son-dern wurde im Juli 1919 zu fünf JahrenFestungshaft verurteilt. Im Gefängnisschrieb er: „Das ist eine der furchtbarenCharakterschwächen der Deutschen:dieses Sichgewöhnen an alle Einrich-tungen des Ungeistes, dieses Sichunter-ordnen unter die Gesetze der Un-menschlichkeit, dieses Sichwohlfühlenin der Knechtschaft, diese Scheu vor derVerantwortung, dieses Nichthören aufden Ruf des eigenen Gewissens.“ Ver-antwortungsbereitschaft und Gewissen
Maggie und ihre Allzweckwaffe
HO/reuters
Ruanda: 20 Jahren danach
Wie immer bei runden Jahrestagen
hat das Getriebe des Gedenkens ein-
gesetzt. Was vor zwanzig Jahren in
Ruanda geschah, ist aus vielen Grün-
den ein gedenkwürdiges Geschehen.
Nicht zuletzt hat es dazu geführt, das
Projekt einer internationalen Strafge-
richtsbarkeit zu beschleunigen. Ande-
rerseits zeigt die Abwesenheit der
französischen Regierung bei den Fei-
erlichkeiten in Kigali, dass die Diskus-
sion über die Verantwortung für den
Völkermord an den Tutsi immer noch
nicht abgeschlossen ist. Zu beiden As-
pekten bietet unser Archiv wichtige
Aufschlüsse und Informationen.
Welche Bedeutung der „Fall Ruanda“
für die rechtliche Diskussion um den
Tatbestand Völkermord hat, analy-
siertMichelGaly inLeMonde diploma-
tique in der Januarausgabe 2014 in
seinem Beitrag „Ist es Völkermord?“
Über die Rolle, die Frankreich vor 20
Jahren in Ruanda gespielt hat, infor-
mieren zwei Artikel, die schon länger
zurückliegen. Unter dem Titel „Täter,
Opfer, Kolonialisten“ legt André-Mi-
chel Essoungou im Januar 2009 dar,
worum es bei der Kontroverse zwi-
schen Paris und der Regierung Kaga-
me vor dem Völkermordtribunal ging.
Und Charlotte Braeckman erklärte
schon im Januar 2007, worum es da-
mals im Streit zwischen der französi-
schen Justiz und dem ruandische
Staatschef Kagame gegangen ist und
was der Streit um die „Opération Tur-
quoise“ des französischen Militärs be-
deutet, der bis heute noch nicht beige-
legt ist.
Bruno Preisendörfer ist Schriftsteller. Zuletzt er-
schien sein Roman „Die Schutzbefohlenen“, Gießen
(Psychosozial Verlag) 2012; www.fackelkopf.de.
Klima: Keine Entwarnung
Ende März hat der Weltklimarat IPCC
den ersten Teil seines neuen Reports
vorgelegt. Er enthält dramatische Be-
funde, vor allem was die Folgen der
Erderwärmung für die Entwicklungs-
länder, also den Süden unserer Erde
betrifft. Wie sich der Klimawandel im
äußerstenNordenäußert, erfährtman
aus dem Bericht von drei schwedi-
schenNaturwissenschaftlerinnen, der
im November 2013 in Le Monde diplo-
matique erschienen ist. „Augen im
Eis“ von Miyase Christensen, Annika
E. Nilsson und Nina Wormbs ist zu-
gleich eine Reflexion über den Begriff
des „Anthropozän“, der ein neues,
erstmals „maßgeblich von Menschen
geformtes Erdzeitalter“ bezeichnet.
Dieser Begriff wird uns – auch in die-
ser Zeitung – noch lange beschäfti-
gen.
LE MONDE diplomatique | April 2014 3
Zeugen und Erzeugen
eit der Geburt des ersten „Retor-tenbabys“ im Jahr 1978 in Groß-britannien sind fünf MillionenKinder durch künstliche Be-
fruchtung (In-vitro-Fertilisation) zurWelt gekommen. In den Industrielän-dern werden heute drei Prozent allerKinder auf diese Weise gezeugt. Dietechnische Entwicklung schreitetimmer weiter voran, während die bio-ethische Gesetzgebung stets hinterher-hinkt beziehungsweise angepasst wird.Irgendwann wird die Reproduktions-medizin möglicherweise dazu dienen,den Menschen tatsächlich zu „optimie-ren“. Klonen oder universeller Erzeuger– der Fantasie sind keine Grenzen ge-setzt.
Zwei nur scheinbar entgegenge-setzte Methoden stehen dabei für einspezielles Verständnis von Alterität, indem der andere praktisch keine Rollemehr spielt: die sogenannte autonomeFortpflanzung oder die Zeugung mitHilfe eines anonymen Partners. Tat-sächlich ist aber die sogenannte Autore-plikation, bei der sich Menschen voll-kommen identisch reproduzieren, ohneihr eigenes Genom mit dem eines Part-ners zu „verunreinigen“, in der biologi-schen Realität unmöglich. Echtes Klo-nen setzt voraus, dass die Gesamtheitaller biologischen Bestandteile iden-tisch reproduziert wird, und das ge-schieht nur, wenn der Embryo sich teilt,um eineiige Zwillinge hervorzubringen.
Bei der anderen Variante, also derReproduktion mit Hilfe eines anony-men Erzeugers, hätten einzelne Männerdank ihrer seltenen – möglicherweisedurch Genmanipulation (Transgenese)erlangten – Qualitäten die Aufgabe, dienachfolgenden Generationen zu zeu-gen. Das ist technisch möglich, wie dieindustrielle Selektion von Zuchttierenzeigt: Nur fünf Stiere sind die Väter vonMillionen über die ganze Welt verteiltenHolsteiner Kühen. Eine solche Eugenikließe sich auch in dem System, das wirals Demokratie bezeichnen, umsetzen.Für ein effizientes Funktionieren wärenallerdings Kontroll- und Zwangsmecha-nismen nötig. Mit anderen Worten, au-toritäre Maßnahmen, die selbst dieFans einer solchen Eugenik nicht gut-heißen dürften.
Dabei werden sogenannte weicheeugenische Methoden bereits ange-wandt, zum Beispiel in Fertilitätsklini-
Sken, die in ihren Karteien nach gene-tisch passenden Samenspendern su-chen oder Embryonen mittels einer –aus medizinischer Sicht nicht immer er-forderlichen – Genomanalyse, der Prä-implantationsdiagnostik (PID), selek-tieren. Was sich als Einsatz der techni-schen Möglichkeiten mit Zustimmungaller Beteiligten – ein trauriger Aufgussvon Freiheit also – bezeichnen ließe,könnte unmerklich zu einer Biopolitikwie in Aldous Huxleys Roman „Schöneneue Welt“ führen, in dem program-mierte Individuen im Labor gezeugtwerden.
Wir brauchen die Fiktion, die weitweg in einer diktatorisch regierten Weltspielt, gar nicht, weder für die Gegen-wart noch für die Zukunft. Uns reichtschon die Ausweitung der künstlichenBefruchtung aus „gesellschaftlichenGründen“. Solche Gründe sind zu hin-terfragen: Was bedeutet es, das Rechtauf ein – mit medizinischer Unterstüt-zung gezeugtes – Kind einzufordern, vorallem, wenn gar nicht die Unfruchtbar-keit der Eltern der Anlass dafür ist? Stattauf vergleichsweise natürliche Metho-den zurückzugreifen, wie etwa die Sa-menübertragung (Insemination), wirdgleich nach dem ganzen biomedizini-schen Apparat verlangt, als halte er dieeinzige Lösung bereit. Möglicherweiselässt sich der in den reichen Industrie-ländern fast schon obligatorische Kin-derwunsch mit dem für unsere Epochebezeichnenden Konsumdrang nachallen möglichen Objekten vergleichen.
Fünf Stiere sind die Väter von
Millionen Holsteiner Kühen
Die gewinnorientierte Gesellschaft hatsich, im Widerspruch zum Selbstbe-stimmungsrecht ihrer Bürger, in eineMaschinerie zur Bedürfniserzeugungverwandelt, vom alterslosen Körper biszum idealen Kind. Wenn man Eltern-schaft für alle fordert und zu diesemZweck Leihmutterschaft oder künstli-che Befruchtung zulässt, könnte mandieses egalitäre Argument auch einenSchritt weitertreiben und damit den An-spruch auf ein „passendes“ Kind be-gründen. Das zöge wiederum eine Kon-trolle erwünschter Geburten und dieÜberwachung erwünschter Verhaltens-weisen nach sich.
Eine solche Revolution desmenschlichen Verhaltens ist nur im di-gitalen Zeitalter denkbar. Wie alle ande-ren Ereignisse wird auch die Zeugungkünftig von Algorithmen gesteuert, umdas Ei von Beginn an zu untersuchenund zu bewerten, und auf diese ersteVorsichtsmaßnahme werden alle weite-ren folgen. Was passiert, wenn neueTechniken auf den Markt kommen, dieheute schon an Tieren erforscht wer-den, wie etwa die Fortpflanzung zweierLebewesen des gleichen Geschlechtsoder die Herstellung einer beliebigenAnzahl weiblicher Keimzellen – unddamit Embryonen – aus einfachen, „re-programmierten“ Zellen?
Eine Selektion (mittels PID) unterden so gewonnenen zahllosen Embryo-nen wäre dann generell erforderlich,zumal man den Wunscheltern damitdie bei der künstlichen Befruchtung bis-lang nötigen Mehrfachversuche erspa-ren könnte. Sofern nichts Unvorherge-sehenes passiert, würden bis Ende die-ses Jahrhunderts alle Kinder in den Rea-genzgläsern der Genetiker ausgewähltwerden, auch wenn der Anspruch aufein „normales“ Kind noch unvereinbarzu sein scheint mit dem, was den Men-schen als Menschen ausmacht. Damitkönnte sich jede und jeder fortan alleVerhütungsmaßnahmen sparen undsich gleich sterilisieren lassen, weil ihreoder seine Keimzellen entweder unnützwären oder in der Samenbank aufbe-wahrt würden.
Durch den Einfluss von Ärzten, pri-vaten Interessengruppen und indus-triellen Lobbys setzen sich nach undnach neue Praktiken durch. Und dietreffen, wie im Fall der Präimplanta-tionsdiagnostik, auf die Anliegen vonVersicherungen, Gesundheitspolitikernund Anhängern des freien Wettbe-werbs. Das neoliberale System ist in derLage, alle notwendigen ethischen Zuge-ständnisse zu machen, auf dass jederder Meister seines Vergnügens und sei-ner Wünsche sei. Da auch hier der Wett-bewerb im Vordergrund steht, muss dieQualität des Produkts Kind von öffentli-chen Einrichtungen kontrolliert wer-den. Deshalb ist eine Definition derMenschenrechte so dringend nötig, diedie Gesamtheit aller menschlichenWesen einschließt, um deutlich zu ma-chen, dass unsere Entscheidungen Fol-gen für die gesamte Gattung haben wer-
den. Vielleicht kann die Bioethik hiereinen sinnvollen Beitrag leisten.
Im Bereich der künstlichen Be-fruchtung, die dank der Präimplanta-tionsdiagnostik mit der Analyse geneti-scher Merkmale möglich wurde, ist esnicht gelungen, international verbindli-che Regeln zu verabreden, wie beispiels-weise der zunehmende Medizintouris-mus zeigt. Inzwischen ist sie längst zueinem ökonomischen und ideologi-schen Faktor geworden. Die künstlicheBefruchtung dient heute nicht mehr nurdazu, ein Handicap wie Unfruchtbarkeitauszugleichen, sondern sie verwandeltsich in ein Instrument, um bestimmteEigenschaften unserer Spezies zu über-winden, von der sexuellen Differenz biszum Altern. Am Ende wird sie eine allge-mein verfügbare Alternative zur natürli-chen, seit jeher vom Zufall abhängigenZeugung darstellen.l
Vom alterslosen Körper
zum idealen Nachwuchs
So erscheint die künstliche Befruchtungimmer mehr wie ein Bestandteil desTranshumanismus, nach dessen Lehreder „erweiterte“ Mensch mit intelligen-ten Maschinen zu Mensch-Maschine-Kombinationen verschmilzt, die vonGewalt und Sex befreit und in der Lagesein werden, sich selbst zu reproduzie-ren.2 Dieser erweiterte Mensch wirdnotwendigerweise das Geschöpf einesPolizeistaats sein, in dem wir mit denheute schon bekannten Methoden, wiedem genetischen Fingerabdruck, denallgegenwärtigen Überwachungskame-ras oder der automatischen Identifika-tion per RFID (Radio Frequency Identifi-cation) unter Kontrolle gehalten wer-den. Wie sehr werden wir uns bis dahinverbogen haben, um nach dem empfoh-lenen Profil einer empathischen, aberalles beherrschenden Biomedizin Kin-der zu produzieren und uns auf die gefü-gige Verwaltung unserer Körper und deretikettierten DNA einzulassen!
Am 28. Januar 2013 demonstriertenSchafzüchter im französischen Departe-ment Drôme gegen die neuerdings inEuropa vorgeschriebenen RFID-Chipsanstelle der bislang üblichen Plastik-kennzeichnungen für ihre Tiere. Kurzzuvor war eine andere Neuregelung inKraft getreten, die sie verpflichtete, ihre
Tiere gegen die Blauzungenkrankheitzu impfen, obgleich sie diese Krankheitim Griff haben und keine Ansteckungs-gefahr für den Menschen besteht. Kurzdarauf stand eine weitere neue Vor-schrift ins Haus, nach der sie nichtmehr ihre eigenen Zuchtböcke einset-zen durften, sondern die Samen von ge-netisch ausgewählten Schafböcken be-nutzen mussten.
Von solchen Vorgaben profitierennur die Elektronik-, Impfstoff- undSpermahersteller. Der Verfechter einerWachtumsrücknahme, Serge Latouche,hat diesen Fortschritt einmal als „Mega-maschine“ bezeichnet.3 Was wir denTieren antun, werden wir bald auch denMenschen antun. Es ist kein Zufall, dassauch der Tod zunehmend medikalisiertwird. Zeugung, Orgasmus und Todkönnten sich den zwischenmenschli-chen Vereinbarungen entziehen undsind deshalb von der alles normieren-den und verrechtlichenden Maschinegefürchtet.
Es ist anzunehmen, dass nicht bio-ethische Gesetze dieser Hybris von der„Überwindung des Menschlichen“ einEnde setzen werden, sondern der Rück-gang des Wirtschaftswachstums. Dochder Funke klaren Verstandes, der ir-gendwann den festen Willen, zu han-deln, hervorbringt, wird vielleicht erstüberspringen, wenn sich die materiel-len und sozialen Bedingungen drama-tisch verschlechtert und wir deshalb alleRegeln menschlicher Gemeinwesenaufgegeben haben. Sollte das Bewusst-sein für die tragische Sackgasse, in derwir uns befinden, zu spät erwachen,wird die Zeit für Aufstände günstig sein,aber die werden nur winzig kleinenGruppen etwas nützen.
1 Vgl. Jacques Testart, „Des hommes probables. De
la procréation aléatoire à la reproduction norma-
tive“, Paris (Seuil) 1999.2 Siehe Philippe Rivière, „Dann werden wir alle un-
sterblich“, in: Le Monde diplomatique, Dezember
2009.3 Serge Latouche, „La méga machine“, Paris (La
Découverte) 2004.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Jacques Testart ist Biologe, Pionier der In-vitro-Fer-
tilisation sowie Honorar-Forschungsdirektor am
französischen Nationalinstitut für Gesundheit und
medizinische Forschung (Inserm). Zuletzt erschien
von ihm „Faire des enfants demain“, Paris (Seuil)
2014.
Ein Blick in die Zukunft der menschlichen Reproduzierbarkeitvon Jacques Testart
Lynne Cohen
Die Künstlerin, 1944 in Racine (Wiscon-
sin) geboren, und heute in Montreal le-
bend, fotografiert keineswegs nur Stühle,
auch wenn unsere hier gezeigte Auswahl
dies nahelegen könnte. Die Aufnahmen
sind jedoch insofern repräsentativ für ihr
Werk, als Cohen ausschließlich öffentli-
che und private Interieurs fotografiert.
Menschen sind so gut wie nie zu sehen,
und dennoch kann man gar nicht anders,
als sich vorzustellen, wer wohl diese Inte-
rieurs eingerichtet hat und wer sie nutzt.
Die Arbeiten zeichnen sich durch eine for-
male Strenge aus und haben dabei gleich-
zeitig etwas Unheimliches undmanchmal
sogar Groteskes. Bis zum 11. Mai 2014
zeigt die FundaciónMapfre inMadrid eine
Einzelausstellung der Künstlerin. In
Deutschland wird Lynne Cohen von der
Galerie Wilma Tolksdorf, Frankfurt, ver-
treten. Wir danken der Galerie für das
Bildmaterial, dessen Copyright bei Lynne
Cohen liegt: www.wilmatolksdorf.de und
www.lynne-cohen.com.
Wilhelm Werthern
Untitled, 2008, C-Print, 130 x 150 cm
4 LE MONDE diplomatique | April 2014
Meldungen des Monats
Schlechte NachrichtenDie Fotojournalistin Anja Niedringhaus
wurde 4. April im Osten Afghanistansermordet. Ein Polizist erschoss die für
Associated Press arbeitende Deutsche
in ihrem Auto, ihre kanadische AP-Kol-
legin Kathy Gannon wurde schwer ver-
letzt. Schon im März waren zwei Jour-
nalisten getötet worden: der schwe-
disch-britische Rundfunkjournalist Nils
Horner am 11. März durch gezielte
Kopfschüsse, der afghanische AFP-Re-
porter Sardar Ahmad am 21. März bei
einem Anschlag auf ein Hotel in Kabul.
Seit 2002 sind in Afghanistan 19 Me-
dienarbeiter umgekommen. Seit Be-
ginn des Präsidentschaftswahlkampfs
Mitte Februar wurden mindestens 20
Journalisten bedroht oder angegriffen.
Die Regierung in Swasiland betrachtet
kritischen Journalismus als Sicher-
heitsrisiko. BhekiMakhuba, Chefredak-
teur der unabhängigen Monatszeitung
The Nation,musste nach zweiwöchiger
Haft in Fußketten vor Gericht erschei-
nen – „aus Sicherheitsgründen“. Auf
die FragenachdenGründenantwortete
der Regierungssprecher, die müssten
geheim bleiben: „Sicherheit ist etwas
sehr Geheimes. Wenn ich also enthül-
len würde, wie, warum und wem wir
Fußeisen anlegen, könnte das unsere
Sicherheit gefährden.“ Makhuba wird
wegen „Missachtung der Justiz“ ange-
klagt, weil er den obersten Richter des
Landes, Michael Ramodibedi, kritisiert
hat. Da der Journalist zuvor auch den
Richter kritisiert hatte, der jetzt über
ihn urteilen soll, müsste dieser eigent-
lich wegen Befangenheit abgelöst wer-
den. Swasiland ist die einzige absolute
Monarchie Afrikas und liegt in der neu-
esten RoG-Rangliste der Pressefreiheit
an 156. Stelle (von 180 Ländern).
Am 28. März wurde in Ägypten die
Journalistin Mayada Ashraf in Aus-
übung ihrer Arbeit erschossen. Die Re-
porterin für die Tageszeitung al-Dostor
wurde von einer Kugel in den Kopf ge-
troffen, als sie die gewaltsamenAusein-
andersetzungen beobachtete, die im
Stadtbezirk Ain-Chams im Osten Kai-
ros zwischen Anhängern der Muslim-
bruderschaft und der Polizei ausgebro-
chen waren. Für den Tod der Journalis-
tin machen sich die Polizei und die De-
monstranten gegenseitig verantwort-
lich. Bei den Zusammenstößen kamen
insgesamt vier Personen ums Leben.
Nach Angaben von RoG werden Me-
dienarbeiter seit der Absetzung von
Präsident Mohammed Mursi am 3. Juli
2013 bei Demonstrationen von Mursi-
Anhängern systematisch von der Poli-
zei unter Feuer genommen. Seitdem
hatte es schon vor Mayada Ashraf fünf
weitere Todesopfer gegeben.
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Zentralafrika erstickt am Hass
b man die Bibel oder denKoran liest, ob man als Hals-schmuck eine Kette mitKreuzanhänger oder eine
Misbaha trägt, kann in der Zentral-afrikanischen Republik über Lebenoder Tod entscheiden. Antimuslimi-sche Milizen haben in den vergangenenWochen grausame Verbrechen an dermuslimischen Minderheit begangen.Tausende Menschen, schätzt dieMenschenrechtsorganisation HumanRights Watch (HRW), wurden seit demerneuten Ausbruch der Gewalt im De-zember 2013 brutal ermordet.1
Die letzten noch verbliebenen Mus-lime packen ihre Habseligkeiten zu-sammen und fliehen in den Norden. IhrAuszug gleicht einer Völkerwanderung.Der Süden des Landes um die Haupt-stadt Bangui wird von marodierendenJugendbanden beherrscht. Der Staat istnicht mehr existent, die Übergangsre-gierung handlungsunfähig, das Landfaktisch zweigeteilt. Doch das, was sichim Herzen des Kontinents abspielt, istnur auf den ersten Blick ein Religions-krieg. In diesem erbitterten Konflikt,der eine brandgefährliche Eigendyna-mik entwickelt hat, geht es vor allem umMacht und Ressourcen.
Die Zentralafrikanische Republikist seit jeher zweigeteilt, und zwar in to-pografischer und wirtschaftlicher, aberauch in kulturell-religiöser Hinsicht:Hier grenzt die wüstenartige Sahelzonemit ihren muslimischen Nomaden-stämmen an die subsaharische Savan-ne, in der christliche, sesshafte Bauernsiedeln. Markiert wird die Grenze vonSümpfen, die in der sechsmonatigenRegenzeit praktisch unpassierbar sind.
Zentralafrika ist ein bettelarmesLand: Der Human Development Index(HDI) der UN führt die Republik unter187 Staaten an 180. Stelle. Der einzigeOrt, wo es Strom und Internet gibt, istdie Hauptstadt Bangui. Aber das Zen-trum der Macht und der Vetternwirt-schaft ist auch zutiefst katholisch.
Am 24. März vorigen Jahres wurdedie Regierung des autoritären Regimesvon François Bozizé durch die Séléka,eine Koalition muslimischer Rebellenaus dem Norden, gestürzt. Präsident Bo-zizé flüchtete samt seinen Anhängernins Ausland.2 An seiner Stelle instal-lierte die Séléka – das Wort bedeutetschlicht „Allianz“ – Michel Djotodia, derdamit zum ersten muslimischen Präsi-denten der Zentralafrikanischen Repu-blik wurde. Die im September 2012 ge-
Ogründete Allianz hatte ihr Ziel erreicht:nach Bangui zu marschieren, die Regie-rung zu stürzen und endlich die eigenenVertreter an die Macht zu bringen.
Seit Jahrzehnten waren die Völkerdes Nordens von der Macht ausge-schlossen, die in der Hauptstadt unddamit im Süden konzentriert war. Dievon Bangui weit entfernt liegenden Pro-vinzen sind eine Art Niemandsland, woder Staat faktisch nicht existent ist.Oder genauer, wo er sich weigert, exis-tent zu sein: Es gibt in dieser Gegendpraktisch keine Infrastruktur, keineSchulen, keine Krankenhäuser, keinebefestigten Straßen.
Doch ausgerechnet in diesem ver-nachlässigten Norden liegen die Reich-tümer des Landes: Diamanten, Erdölund Uran. Die Zentralafrikanische Re-publik ist einer der größten Diamanten-produzenten des Kontinents. Viele derDiamantenhändler sind Muslime, diesich nicht länger mit ihrer rein wirt-schaftlichen Rolle zufriedengeben. Siewollen auch an politischen Entschei-dungen teilhaben, zum Beispiel überdie Ausbeutung der Rohstoffe.
Jugendliche auf Droge gegen
schwer bewaffnete Kämpfer
Was als klassischer Konflikt zwischenZentrum und Peripherie begann, entwi-ckelte sich zu einer Rebellion der musli-mischen Minderheit. Und die schafftees im März 2013, den durch Korruptionausgehöhlten Staat im Handstreich zuerobern. Doch in der Folge scheitertendie Rebellen an der Aufgabe, eine funk-tionierende Regierung und Verwaltungeinzusetzen. Dieses Scheitern setzteeine neue Dynamik in Gang.
Die Séléka-Rebellen verfügten überkeine einheitliche Führung, keine klareKommandostruktur, keine innere Diszi-plin und vor allem über kein politischesKonzept. Ihrem Monate dauerndenMarsch nach Bangui hatten sich immermehr Männer und auch Frauen ange-schlossen, die mit dem Regime unzu-frieden waren. Als die Rebellengruppenam 24. März 2013 in die Hauptstadt ein-zogen, hatten sie mehrere tausend Mit-läufer im Gefolge.
Während sich die Anführer im na-gelneuen Fünfsternehotel Ledger ein-quartierten und begannen, um die Mi-nisterposten zu feilschen, zogen Tau-sende ihrer muslimischen Kämpferdurch Bangui. In der katholischen
Hauptstadt wurden diese Gestalten mitihren Gebetsketten und den ledernen,mit arabischen Schriftzeichen verzier-ten Riemen um den Oberkörper alsfremde Besatzer wahrgenommen.
Es war ein gigantischer Raubzug:Ministerien, Universitäten, Schulen, Ge-schäfte, Privathäuser, Warenlager wur-den geplündert. Die Eindringlinge nah-men alles mit, was nicht niet- und nagel-fest war. Die meisten einfachen Séléka-Kämpfer sind ungebildete junge Män-ner aus dem Busch, die vorher Ziegenund Kühe gehütet hatten. Viele habenlediglich eine Koranschule besucht.Daher sprechen sie besser Arabisch alsSango, das seit 1991 neben Französischdie Amtssprache der Republik ist. DieseLeute hatten noch nie einen Lichtschal-ter angefasst oder ein Handy benutzt:Sie steckten auch die Fernbedienungender Klimaanlagen ein, weil sie jedeselektronische Gerät mit Display undTasten für ein Telefon hielten.
Für die Bevölkerung der 700000-Einwohner-Stadt war es ein gewaltigerSchock, als ihnen die fremdartigen„Buschmänner“ mit Waffengewalt ihrewenigen Habseligkeiten wegnahmen.
Die muslimischen Stadtviertel vonBangui blieben von den Plünderungenverschont. Vor dem Einmarsch der Sélé-ka waren weniger als 10 Prozent derHauptstädter Muslime. Aber in derneuen Séléka-Regierung bekamen vieleMuslime gute Posten, die Christen hat-ten das Nachsehen. Aber nicht nur ausdiesem Grund fühlten sich die Christenals Opfer. Denn die Séléka regierte mitTerrormethoden: Willkürliche Erschie-ßungen und Vergewaltigungen warenan der Tagesordnung. Zahlreiche Mit-glieder der alten Regierung verschwan-den spurlos. Später entdeckten interna-tionale Truppen Massengräber in denKasernen von Bangui.
Bald formierte sich Widerstandgegen die Willkürherrschaft der musli-mischen Rebellen. Organisiert und ma-nipuliert von den alten Machtfigurendes Bozizé-Regimes entstanden, die so-genannten Anti-Balaka: Banden von Ju-gendlichen, die sich als Bürgerwehr auf-spielen. Der Name leitet sich ab von„Anti-Balle-AK47“, also „gegen die Ge-wehrkugeln der AK47“. Aber „Balaka“bedeutet auf Sango auch „Machete“.3
Viele Jugendliche nehmen Drogen,die sie sich aus gemahlenen Kokablät-tern und stimulierenden Kräutern zu-sammenmischen. Tausende dieser jun-gen Leute – auf Droge und nur mit leich-
von Simone Schlindwein
Seit einem Jahr versinkt die
Republik imHerzen Afrikas in
einemnicht endenwollenden
Bürgerkrieg. Derzeit wird
dermoribunde Staat von
ausländischen Truppen
amLeben erhalten. Doch
die sind jenseits der
Hauptstadt Bangui kaum
präsent und können
den inneren Konflikt
allenfalls neutralisieren.
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LE MONDE diplomatique | April 2014 5
ten Waffen ausgerüstet – begannen imDezember letzten Jahres gegen die Ma-schinengewehre der Séléka-Rebellenanzurennen.
Nach blutigen Kämpfen zog sichdie Séléka aus der Hauptstadt zurück.Als auch ihr Präsident Djotodia im Janu-ar nach internationalen Druck abtretenmusste, wurde eine Übergangsregie-rung installiert. Doch die schaffte esebenfalls nicht, eine funktionierendeAutorität zu errichten. Seitdem herr-schen Bürgerkrieg und Anarchie.
Die aufgehetzten Anti-Balaka rich-teten ihren Hass alsbald auch gegenmuslimische Zivilisten. Sie beschuldig-ten schlichtweg alle Muslime, mit denAngehörigen der Séléka verwandt zusein oder sie zumindest unterstützt zuhaben. Es kam zu extremen Gewaltak-ten: Muslime wurden bei lebendigemLeib verbrannt, auf offener Straße wur-den ihnen Gliedmaßen abgehackt, unddas menschliche Fleisch wurde vor lau-fender Kamera gegessen. All diese Bil-der gingen um die Welt. Der UN-Sicher-heitsrat sprach von völkermordähnli-chen Zuständen. Die Zahl der Totenwird auf mehrere tausend geschätzt.Das Rote Kreuz sammelt noch immertäglich Leichen auf.
Wie sind solche Gewaltexzesse zuerklären? Junge Männer gehören inZentralafrika, wie in vielen afrikani-
schen Ländern, zu den vernachlässigtenGruppen der Gesellschaft. Bei der an-haltend hohen Geburtenrate könnendie Eltern ihre vielen Kinder häufignicht einmal mit dem Lebensnotwendi-gen versorgen, von einer Ausbildungganz zu schweigen. Zur Schule oder garzur Universität zu gehen, ist viel zu teu-er. Seit Ausbruch des Bürgerkriegs sinddie wenigen staatlichen Schulen desLandes ohnehin geschlossen. Der Staatist der größte Arbeitgeber des Landes,aber einen Job bekommt man nur mit-hilfe entsprechender Beziehungen.
Die Séléka-Kämpfer gehören eben-so zu den Verlierern des korrupten Sys-tems wie ihre Gegner, die Anti-Balaka.Junge Männer zu rekrutieren ist ein Kin-derspiel: Die Miliz oder Rebellengruppebietet den Verlierern das Erlebnis vonZusammengehörigkeit, die Macheteoder Kalaschnikow verleiht ein Gefühlvon Macht, im Akt der Gewalt entlädtsich die aufgestaute Wut.
Viele Jugendliche entwickeln einenstarken Hass als Folge extremer Ernied-rigung oder Bedrohung, erklärt der Psy-chologe Pierre Ibor. Der Kongolese ar-beitet für eine Nichtregierungsorgani-sation namens ADSE (Association pourle développement social et la sauveg-arde de l’environnement), die sich fürUmwelt und Soziales engagiert. Ibor hatzuvor Kindersoldaten im Ostkongo be-handelt, jetzt wurde er in die Flücht-lingslager an der Grenze zu Zentralafri-
ka geschickt, um dort Jugendliche zutherapieren.
Diese extreme Form von Gewalt seiein Instrument, um wieder Macht aus-zuüben, und zwar in übersteigerterForm, erklärt Ibor: „Man ist nicht nurmächtig genug, einen anderen Men-schen zu töten, man kann ihm auch denKopf abhacken und damit Fußball spie-len.“ Diese Zurschaustellung der Gewaltsei eine Art Hilferuf an die Gesellschaft.Er besagt: Seht her, Leute, ich habe sosehr gelitten, und niemand hat mir ge-holfen, da musste ich mich eigenhändigwehren, und jetzt bin ich genauso brutalwie die, die mir das angetan haben.“
Der Kampf „Christen gegen Musli-me“ ist die Endphase eines Machtkon-flikts, in dessen Verlauf alle staatlichenStrukturen wie ein Kartenhaus zusam-mengefallen sind und mit ihnen auchdas Gewaltmonopol des Staats. Die na-tionale Armee ist beim Séléka-Staats-streich 2013 davongelaufen. Bis heutestehen die Kasernen leer. Die Ohn-macht des Staats ermöglichte eine Spi-rale der brutalen, von Rachsucht ange-triebenen Gewalt nach dem schlichtenMotto: Wie du mir, so ich dir.
Die Spirale der Gewalt dreht sichunablässig weiter. Schon kommt esüberall zu Kämpfen zwischen den ver-schiedenen Anti-Balaka-Gruppen. Da-bei geht es unter anderem auch um die
Macht in verschiedenen Vierteln vonBangui und in den umliegenden Dör-fern, wobei die Milizen oder einzelneihrer Fraktionen im Auftrag verschiede-ner Hintermännern agieren.
Die größte Anti-Balaka-Miliz wurdevon Angehörigen des Bozizé-Klans auf-gerüstet. Ihr Chefkoordinator ist PatrickEduard Ngaissona, ehemals Jugend-und Sportminister unter ExpräsidentBozizé und Chef des nationalen Fuß-ballverbands. Er floh im März 2013 mitBozizé vor der Séléka nach Kamerun.Sein Haus im Viertel Boy-Rabe in Banguiwurde später zum Gründungslokal undHauptquartier der Anti-Balaka.
Ebendieser Stadtteil war früher derWahlbezirk des gestürzten Präsidenten.Hier lebten seine entfernten Verwand-ten, die Familien seiner Leibwächter,Soldaten und politische Verbündete.Hier hatte die Séléka mehrfach Raubzü-ge unternommen, willkürlich Men-schen erschossen und Frauen vergewal-tigt. Und in diesem Viertel formiertesich die stärkste Anti-Balaka-Miliz.
Im Stadtviertel Combattant nahedem Flughafen herrscht dagegen eineAnti-Balaka, die von Bozizés ErzrivalenJean-Jacques Demafouth angeführtwird. Diese Truppe liegt jetzt in Fehdemit der Bozizé-treuen Anti-Balaka inBoy-Rabe.
Die im Januar gebildete Übergangs-regierung hat den Auftrag, noch in die-sem Jahr Neuwahlen zu organisieren. In
ihr sind alle Seiten vertreten, auch dieSéléka hat drei Ministerposten erhalten.Allerdings sind sämtliche Ministeriengeplündert, oft gibt es nicht einmalStühle. Die Verwaltung ist nach wie vorlahmgelegt. Die Übergangsregierungmuss als Erstes ein Budget verabschie-det, damit neue Einrichtungen ange-schafft und die Beamtengehälter be-zahlt werden können. Die Armeefüh-rung hat angekündigt, die Soldaten erstdann in die Kasernen zurückzurufen,wenn Geld da ist, um ihnen ihren rück-ständigen Sold auszuzahlen.
Am 20. Januar wählte das Über-gangsparlament eine neue Präsidentin:Cathérine Samba-Panza. Die 59-jährigeAnwältin, die in Frankreich studiert hat,ist eine von beiden Seiten geachtete Per-sönlichkeit. Obwohl sie Christin ist,wurde sie von der früheren Séléka-Re-gierung zur Bürgermeisterin von Banguiernannt. Schon am Ende des Bürger-kriegs von 2007 hatte sie sich als Ver-mittlerin betätigt.4
Doch bereits bei ihrer Antrittsrede,die Frau Samba-Panza vor Angehörigender ehemaligen und jetzt neuen Armeehielt, zeigte sich auf tragische Weise,dass der neue Staat eine Totgeburt ist.Einige der angetretenen Soldaten grif-fen sich einen Mann, den sie für einenMuslim hielten, und lynchten ihn vorlaufender Kamera. Die Präsidentin
agiert seitdem sehr zurückhaltend undist viel im Ausland unterwegs, um finan-zielle Unterstützung für ihr Land zu or-ganisieren.
Die Gendarmerie ist wieder auf derStraße, allerdings unbewaffnet. Im De-zember 2013 haben die UN ein Waffen-embargo verhängt. So wagen sich dieUniformierten kaum in die umkämpf-ten Viertel. Stattdessen kontrollieren siein der Innenstadt Führerscheine, ummit dem Bußgeld ihr Salär einzutreiben.Seit sechs Monaten hat der Staat keineinziges Gehalt mehr ausbezahlt.
Die Hälfte des Landes
ist auf der Flucht
Der moribunde Staat wird derzeit vonausländischen Truppen am Leben ge-halten. Auf Beschluss des UN-Sicher-heitsrats wurden bis zu 6000 Soldateneiner Mission der Afrikanischen Union(Misca) nach Zentralafrika entsandt. Siewerden von rund 2000 französischenSoldaten (Operation „Sangaris“) unter-stützt.5 Die beiden Missionen werdenzwar auf Generalstabsebene koordi-niert, doch es herrscht trotzdem ein no-torisches Durcheinander. FranzösischePatrouillenfahrzeuge passieren unan-gemeldet Gebiete, in denen Misca-Trup-pen stehen. Und wer in der Kommando-hierarchie letztlich das Sagen hat, bleibtebenfalls unklar.
Auch unter den Misca-Truppenherrscht nicht immer Einigkeit. Aufdem Papier scheint es eine klare Aufga-benteilung zu geben. Verschiedene Na-tionen sind für verschiedene Regionendes Landes zuständig: Tschads Truppenstehen im Norden, Soldaten der Repu-blik Kongo und Kameruns im Westen,und die Armee der Demokratischen Re-publik Kongo ist für den Südosten zu-ständig – jede Nation also nahe derGrenze zu ihrer eigenen Heimat. Solda-ten aus Ruanda und Burundi, die keinegemeinsame Grenze mit der Zentralafri-kanischen Republik haben, sind in derHauptstadt Bangui stationiert. Beide Ar-meen haben Erfahrungen aus Friedens-missionen in Darfur und in Somalia.
Die Misca hat die Aufgabe, Zivilis-ten zu schützen, Milizen und Rebellenzu entwaffnen sowie zu gewährleisten,dass Hilfseinsätze etwa des Welternäh-rungsprogramms oder des UN-Flücht-lingshilfswerks (UNHCR) die bedürfti-gen Vertriebenen erreichen können.
Die Kampagne zur Entwaffnungwar, wie man inzwischen offiziell zu-gibt, eine sehr riskante Mission, die an-fangs zahlreiche Todesopfer forderte.Denn sobald die eine Seite entwaffnetwar, griff die andere Seite wieder an.Diese Operationen wurden deshalb vor-erst eingestellt. Die UNO will jetzt einEntwaffnungs- und Demobilisierungs-programm erstellen. Derweil konzent-rieren sich die Misca-Truppen auf einfa-che Aufgaben: Sie bieten Geleitschutzfür die militärischen Konvois mit Hilfs-gütern, die auf dem Weg von Kamerunnach Bangui die Straßensperren derAnti-Balaka passieren müssen.
Jenseits der Hauptstadt Banguisind die Misca-Truppen kaum präsent.Ihnen fehlt schlicht das Benzin. Im Süd-westen werden die Dörfer und die weni-gen Straßen von Anti-Balaka kontrol-liert, die ihre Organisation und Koordi-nation laufend verbessern. Sie benutzensogar Funkgeräte, mit denen sie Befehleaus ihrer Kommandozentrale in Boy-Rabe empfangen.
Die Séléka hat sich in den Nord-osten zurückgezogen. Die Frontlinieverläuft rund 200 Kilometer von Banguientfernt quer durch das Land. Die Sélé-ka kontrolliert den Nordosten, die Anti-Balaka den Südwesten. Die Séléka sollinzwischen ebenso gespalten sein wiedas ganze Land: Die einen wollen einenneuen Vorstoß nach Süden wagen, dieanderen wollen sich ergeben oder ineine neue nationale Armee eintreten.
Inzwischen warnen Menschen-rechtsorganisationen vor einer humani-tären Katastrophe. Nach ihren Angabenwurde etwa die Hälfte der 4,5 MillionenEinwohner (mindestens zeitweilig) ver-trieben und ist von Hilfslieferungen ab-hängig. 90 Prozent der Bauern, so dasUN-Welternährungsprogramm (WFP),können nicht aussähen, obwohl die Re-genzeit naht. In dem eigentlich frucht-baren Land droht eine Hungersnot. DieWirtschaft liegt am Boden. Die Händlersind geflohen, da die meisten von ihnenMuslime sind. Auf den Märkten gibt eskaum noch etwas zu kaufen.
Dabei ist das Land reich an Rohstof-fen. Ein Großteil des Staatsbudgetsstammt aus den Exportsteuern für Dia-manten. Doch nach dem Staatsstreichder Séléka wurde die Zentralafrikani-sche Republik aus dem Kimberly-Pro-zess, dem internationalen Selbstregu-lierungsmechanismus der Diamanten-industrie, vorübergehend ausgeschlos-sen. Die Begründung lautete, Diaman-ten dürften keine bewaffneten Gruppenfinanzieren. Damit verloren abertau-sende Schürfer, meist junge Männer, inden zahlreichen Diamantenminen ihreinziges Einkommen. Viele schlossensich danach entweder den Anti-Balakaoder der Séléka an.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moonhat den Sicherheitsrat Anfang März auf-gerufen, eine 12000 Mann starkeFriedensmission mit einem robustenMandat nach Zentralafrika zu entsen-den. Bis die Blauhelmtruppe in Banguieintrifft, können noch Monate verge-hen.
1 Siehe den letzten Human Rights Watch Report
vom 24. März 2014: www.hrw.org/news/2014/03/
23/central-african-republic-country-turmoil.2Vgl. Vincent Munié, „Verspätete Hilfe für Bangui“,
Le Monde diplomatique,Oktober 2013.3Schon in den 1990er Jahren hatten sich im ganzen
Land ähnliche Milizen gebildet, um den Schutz von
Dörfern sicherzustellen, da es so etwas wie eine Po-
lizei nicht gab.4 Zur Person der Präsidentin siehe die Analyse der
International Crisis Group (ICG) vom 21. Januar
2014: „Central African Republic: The Third Govern-
ment in ThirteenMonths Gets UnderWay“.5Zusätzlich soll eine 800 Mann starke EU-Militär-
mission (Eufor RCA) bis EndeMai einsatzbereit sein
und nach Bangui verlegt werden.
Simone Schlindwein ist Auslandskorrespondentin
der taz.die tageszeitung in Afrika in der Region der
Großen Seen.
Bangui im Februar 2014 JEROME DELAY/ap
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Sibut
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Kago-Bandoro
Bambari
Bria
Mobaye
Bangassou
Obo
Ndélé
Birao
Bangui
N'Djamena
TSCHAD
KAMERUN
REPUBLIK KONGO
DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO
SÜDSUDAN
SUDAN
ZENTRALAFRIKANISCHE REPUBLIK
100 km
D
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Hauptstadt Konfliktgebiet(Ende März 2014)Flüchtlinge
Provinzhauptstadt
Hauptstraße(überwiegend nicht befestigt)
Wasserkraftwerk
Präsenz der MISCA-Truppen
internationaler FlughafenDiamantenförderung
Uranvorkommen
Goldförderung
Erdölvorkommen
U
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Le Monde diplomatique, Berlin | Adolf Buitenhuis
Binnenflüchtlinge
Flüchtlinge
Flüchtlinge in Tausend*
in Prozent der Gesamtbevölkerung
KamerunTschad
Dem. Rep. KongoRepublik Kongo
*Schätzung, Ende März 2014. Quellen: IOM, UNHCR, OCHA.
625
150
90
64
15
21
© Le Monde diplomatique, Berlin
6 LE MONDE diplomatique | April 2014
Fortsetzung von Seite 1
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das persönliche Vertrauen des ge-schwächten Präsidenten besitzt, eine al-gerische Version der „Viererbande“.2
Die Rolle, die Maos Witwe Jiang Qing1976 in China spielte, hat im heutigenAlgerien Saïd Bouteflika inne, der20 Jahre jüngere Bruder des 77-jährigenPräsidenten. An seiner Seite stehen derLeiter von Bouteflikas Wahlkampagne,Abdelmalek Sellal (der dafür sein Amtals Regierungschef an den Energiemi-nister Yousfi abgab), der FLN-General-sekretär Saïdani sowie der Transportmi-nister Amar Ghoul, der in islamisti-schen Kreisen großen Einfluss besitztund dafür gesorgt hat, dass der Korrup-tionsskandal um die Ost-West-Auto-bahn keine allzu hohen Wellen schlug.
Saïd Bouteflika, offiziell Sonderbe-rater des Präsidenten, fungiert als Kom-munikator zwischen seinem Bruder, derunter medizinischer Betreuung zurück-gezogen in einer Villa außerhalb derHauptstadt lebt, und dem Rest der Welt.„Er ist es, der das Land regiert, und seineinziger Rivale ist der Geheimdienst“,erklärt der pensionierte General HocineBenhadid, der behauptet, im Namenseiner ehemaligen Kameraden zu spre-chen.3 „Alle kriechen vor Saïd Boutefli-ka: die Minister, die Walis [Provinzgou-verneure], die Polizei, hohe Beamte …
Er sitzt am Telefon des Präsidenten,also gehorchen ihm die Leute.“ Inner-halb der Armee werde Saïd von General-stabschef Ahmed Gaïd-Salah unter-stützt. „Aber ich sage ganz klar: Gaïd-Salah als Person – nicht die Armee alsInstitution“, versichert Benhadid. Der74-jährige Gaïd-Salah ist berüchtigt fürseine Brutalität und Kurzschlusshand-lungen. Tatsächlich ist er ein fünftesMitglied der „Viererbande“, und zwei-fellos das mächtigste.
„Seit den abgebrochenen Parla-mentswahlen4 von 1992 entschied eineVersammlung von Militärs über denweiteren Kurs“, erklärt der ehemaligeDRS-Oberst Chafik Mesbah, der zusam-men mit anderen, die weniger wahrge-nommen werden, praktisch die Öffent-lichkeitsarbeit für sein „Haus“ leistet.„Auf der einen Seite gab es den General-stab, die einzelnen Regionalkomman-dos und die Kommandeure der großenEinheiten; und auf der anderen Seiteden Geheimdienst, der als Schnittstellezu den politischen Institutionen fun-gierte. Aber die Entscheidungen wur-den stets im Konsens gefällt.“
Mit der Ernennung von Gaïd-Salahzum Vizeminister für Verteidigung imZuge der Kabinettsumbildung vom11. September 2013 hat Bouteflikaeinen seiner Leute an die Spitze jenesZirkels von Generälen gesetzt, der dieArmee – und teilweise auch das Land –lange Zeit regiert hat. Drei Generälewurden im Januar 2014 in den Ruhe-stand versetzt. Ein vierter, General Ab-delkader Aït Ouarab, der seit 2008 dieAntiterroreinheiten der Armee befehlig-te, weigerte sich zurückzutreten und
wurde vor das Militärgericht in Blida ge-bracht.5 Die anderen halten still. Bis-lang haben sie auf den feierlichen Ap-pell des ehemaligen „Reform“-Regie-rungschefs Hamrouche (1989 bis 1991)vom Februar nicht reagiert: „Ich rufe dieNationale Volksarmee dazu auf, Alge-rien zu retten.“
Die „Viererbande“ inszeniert eineKampagne zur Wiederwahl des Präsi-denten, der seit 15 Jahren an der Machtund dafür selbst zu schwach ist. ImLaufe seiner drei Amtszeiten wurde deralgerische Staat zunehmend durcheinen einzigen Mann beherrscht, derüber fast alles allein entschied. Für Mi-nister und Vertreter der staatlichen In-stitutionen blieb dabei nur die undank-bare Rolle austauschbarer Statisten üb-rig. „Der Umgang mit ihm ist schwer“,sagt ein ehemaliger Regierungschef. „Erist autoritär, pedantisch, argwöhnisch;im Geist ein Bonapartist.“ Bouteflikaversteckt kaum seine Verachtung fürdas mittelmäßige Parlament, das ausdem von ihm geduldeten, wenn nichtsogar geförderten Wahlbetrug hervorge-gangen ist. Der Präsident bevorzugt Ver-ordnungen statt Gesetze, Ernennungenstatt Wahlen, Intrigen statt Debatten.
Der kleine Bruder
und die „Viererbande“
Die Opposition hat ihm dabei bisherkaum Steine in den Weg gelegt. Islamis-ten, Nationalisten und Demokratensind in unzählige verschiedene Strö-mungen, rivalisierende Cliquen undGruppen gespalten. Auch jetzt, im Vor-feld der Präsidentschaftswahlen, be-kämpfen sie sich vor allem untereinan-der. Soll man einen eigenen Kandidatenaufstellen, die Wahl boykottieren oderdie offizielle Kandidatur unterstützen?Alle Positionen sind vertreten. Diedschihadistischen Gruppen, die immer
noch in bestimmten Bergregionen undim Süden des Landes aktiv sind, ma-chen der Bevölkerung mehr Angst alsden Behörden, obwohl sie mit ihremÜberfall auf die Gasförderanlage in InAménas im Januar 2013 der wichtigstenIndustrie Algeriens einen schwerenSchlag versetzt haben.6
Eine herausragende Figur inner-halb der Opposition ist Ali Benflis – erist jemand, dessen Wahlkampf dieseBezeichnung auch wirklich verdient.Der 1944 geborene Politiker hat eine be-wegte Vergangenheit: Im Sommer 1991war er aus Protest gegen die Einrichtungvon Lagern, in denen Angehörige derFIS ohne Prozess festgehalten wurden,als Justizminister zurückgetreten.7
Während der ersten Amtszeit Boutefli-kas (1999 bis 2004) war er Ministerpräsi-dent, überwarf sich aber mit dem Präsi-denten und trat bei den Wahlen 2004gegen ihn an. Bei der manipulierten Ab-stimmung erhielt er 6 Prozent.
Als ehemaliger Präsident der An-waltskammer von Batna hat Benflis ei-nigen Rückhalt in Justizkreisen, ebensoin der FLN, deren Generalsekretär ervon 1999 bis 2004 war. Außerdem ver-fügt er über ein landesweites Netzwerkvon Unterstützern, das bis ins islamisti-sche Milieu reicht. Benflis schlägt vor,den demokratischen Übergang in Alge-rien durch eine nationale Konferenzeinzuleiten, in der alle gesellschaftli-chen Strömungen vertreten sind. Diesesoll eine neue Verfassung ausarbeiten,die Unabhängigkeit der Justiz garantie-ren und der Legislative mehr Gewichtverleihen.
Die Stimmung auf der Straße istderweil so skeptisch wie noch nie. Der37-jährige Anstreicher Chaled sitzt ineinem Café im Viertel Hussein Dey in Al-gier und fasst zusammen: „Bouteflika,der ist abgelaufen! Die Wahl wird nichtsändern, das Drehbuch ist schon vorhergeschrieben. Selbst wenn Barack
Obama zum Präsidenten von Algeriengewählt würde, ändern würde sichnichts.“ Und doch, Algerien verändertsich. Fährt man über die neue sechsspu-rige Ost-West-Autobahn, sieht man eineLandschaft im Wandel und viele Bau-stellen; aus Dörfern werden Städte, undüber das Land breiten sich große neueAgrarbetriebe aus, die mit modernenMaschinen arbeiten. Im Osten des Lan-des, zwischen Bordj Bou Arreridj undSétif, sind die Anfänge einer privatwirt-schaftlich organisierten Industrialisie-rung zu beobachten: Ziegeleien, Limo-nadenhersteller, Steinbrüche, Mühlen,Lebensmittelbetriebe und Montagefa-briken säumen die alte Nationalstraße.Condor, ein Familien-Mischkonzern inBordj mit 6500 Beschäftigten, stellt So-larpaneele, Klimaanlagen, Flachbild-fernseher, Mobiltelefone und Tablet-Computer her. „Wir erweitern die Pro-duktpalette, soweit es rentabel ist“, er-klärt der Geschäftsführer AbdelmalekBenhamadi.
Im äußersten Westen des Landes,in Tlemcen,8 verhandelt ein algerischesUnternehmen mit einem europäischenKonzern über die Verlegung einer Dru-ckerei nach Algerien. Das wäre eine Pre-miere. Die Unternehmer im Land profi-tieren von geringen Personalkosten(durchschnittlich werden 200 Euro mo-natlich bei einer 40-Stunden-Woche ge-zahlt), Darlehen zu besonders günsti-gen Konditionen und billiger Energie.Das große Geschäft wird allerdingsnach wie vor mit öffentlichen Aufträgengemacht (mehrere Milliarden Dollar proJahr), wo man vor allem gute Beziehun-gen zur Regierung braucht.
In Algier sind die neuesten Errun-genschaften der Mittelschicht überallan den Fassaden und auf den Straßen zusehen: Klimaanlagen und Autos. Leiten-de Angestellte brauchen morgens oftüber eine Stunde ins Büro, ebenso amabends für den Weg nach Hause in die
Wahltheaterin Algerien
oft weit außerhalb gelegenen Siedlun-gen inmitten von Brachland, Schafher-den und verstreuten Slums. Die Ansprü-che wachsen, und der Staat kann sienicht erfüllen. Immer mehr privateSchulen und Kindergärten werden ge-gründet. An den Bürgerhäusern der Alt-stadt versprechen Werbeplakate Lehr-gänge und Sprachkurse. Im Viertel DélyIbrahim auf den Hügeln von Algierwurde 2005 die Privatklinik Al Azhar mit100 Betten und 300 Angestellten ge-gründet. „Eine gute Gesundheitsversor-gung wird immer mehr nachgefragt. DieÄrzte der öffentlichen Krankenhäuserschicken viele Patienten zu uns“, erzähltChefarzt Khodja-Bach.
Amira Bouraoui war die Wortführe-rin bei der ersten Demonstration gegenBouteflikas erneute Kandidatur. Sie istebenfalls Ärztin. „Ich bin Gynäkologinin einem öffentlichen Krankenhaus,und ich bin empört darüber, dass sichFrauen nach der Entbindung ein Bettteilen müssen, während sich euer Kan-didat in Paris im Val-de-Grâce behan-deln lässt!“, schleuderte sie in einerTalkshow9 dem FLN-Abgeordneten ent-gegen, der sich für eine vierte AmtszeitBouteflikas starkmachte. Algerien ent-wickelt sich schneller als seine politi-sche Führung.
1 Medienberichten zufolge handelte es sich um die
Abteilungen „Direction centrale de la sécurité de
l’armée“ (DCSA), der die Sicherheit von Armeean-
gehörigen obliegt; „Centre de la communication et
de la diffusion“, gewissermaßen die Presseabtei-
lung desGeheimdienstes; und „Service central de la
police judiciaire“, dem eine entscheidende Rolle bei
Korruptionsermittlungen zukommt.2 Als „Viererbande“wird eineGruppe von Führungs-
personen in der Kommunistischen Partei Chinas
bezeichnet, die nach Mao Tse-tungs Tod im Sep-
tember 1976 großen Einfluss ausübte, jedoch einen
Monat später verhaftet wurde.3 Siehe „La charge du général à la retraite Benhadid
contre Gaïd Salah et Saïd Bouteflika“, Tout sur l’Al-
gérie, 12. Februar 2014: www.tsa-algerie.com.4 Im Januar 1992 unterbrach die algerische Regie-
rung die Parlamentswahlen nach der ersten Runde,
bei der sich ein Erfolg des islamistischen Front Isla-
mique du Salut (FIS) abzeichnete. Das war der Be-
ginn des Bürgerkriegs und des „Schwarzen Jahr-
zehnts“. Siehe auch Kader Abderrahim, „Kleine Re-
volten in Algerien. Der Wechsel von Unruhe und
Stillstand als Dauerzustand“, Le Monde diploma-
tique, Februar 2011.5 Siehe Cherif Ouazani, „Algérie: la présidentielle
minée par la guerre des clans“, Jeune Afrique,
19. Februar 2014: www.jeuneafrique.com/Article/
JA2771p010.xml0/.6 Vgl. Paul Hyacinthe und Jan Puhl, „Die Tore der
Hölle“,Der Spiegel vom 21. Januar 2013.7 Als Reaktion auf die Demonstrationen der FIS
wurde damals ein Dekret erlassen, das es der Ar-
mee erlaubte, tausende FIS-Aktivisten festzuneh-
men und einzusperren. Nach den abgebrochenen
Wahlen vom Januar 1992 kam es dann vor allem im
Süden des Landes zumassenhaften Verhaftungen.8 Siehe Jean-Pierre Séréni, „Viele Baustellen in
Tlemcen“, Le Monde diplomatique, Februar 2010.9 Echourouk TV, 27. Februar 2014.
Aus dem Französischen von Jakob Horst
Promenade in Algier WALTER LUETHI
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Aktuell zum neuen Klimabericht de
r Uno:
Die sozialen Folgen der Naturzerstö
rung
Jean-Pierre Séréni ist Journalist.
LE MONDE diplomatique | April 2014 7
Warten in Ouargla
uargla liegt mitten in der alge-rischen Wüste. Im alten Kino„Le Sedrate“ ist seit mindes-tens zwanzig Jahren kein Film
mehr gelaufen. Es gibt kein Theater,kein Kulturzentrum, keine Bibliothek,keinen Park und auch kein Fußballsta-dion. Es gibt nicht einmal eine Bar, undsei sie noch so winzig, in der man einBier oder billigen Whiskey trinkenkönnte. Nur kaputte Bürgersteige, eineFestungsruine und ein Meer von Satelli-tenschüsseln. Die einzigen lebendigenOrte sind die Cybercafés, in denen Ju-gendliche hocken und die Zeit totschla-gen. Auch der konservative FLN (Frontde la Libération Nationale) hat in seinenBüros ein Internetcafé eingerichtet.
Dabei leben in Ouargla immerhin200000 Menschen. Die Stadt – 750 Kilo-meter von Algier und dem Mittelmeerentfernt – ist sogar das Verwaltungszen-trum der gleichnamigen Wilaya (Verwal-tungsbezirk). Doch sie wurde jahrelangvernachlässigt. Bis heute sind nur dieHauptstraße und ein paar Nebenstra-ßen befestigt, in denen sich aber auchschon wieder tiefe Risse durch den As-phalt ziehen. Ansonsten geht man hierüber staubige Wege aus festgestampfterErde. „Die lassen uns krepieren, wäh-rend direkt nebenan das Öl liegt, dasihnen Milliarden einbringt“, empörtsich der 29-jährige Mabrouk. Der jungeMann mit der schwarzen Haut der Süd-algerier hat „nie gearbeitet“, das heißt,er hatte noch nie eine feste Stelle. DieSchule hat er vor dem Abitur abgebro-chen und danach eine Kurzausbildungals Mechaniker gemacht. Mabroukwohnt mit seiner Frau in einem kleinenZimmer im Haus seiner Eltern.
Arbeitet seine Frau? „Nein.“ Suchtsie denn nach Arbeit? „Nein. Wenn ichnicht arbeite, kann sie auch nicht arbei-ten. Das wäre schlecht für meinen Ruf.Es ist nicht gut für einen Mann, wennseine Frau arbeitet.“ Sie leben von derUnterstützung der Eltern, und ein paarMal im Monat jobbt Mabrouk für500 Dinar (5 Euro) am Tag auf dem Bauoder hilft auf dem Markt aus.1
Jeden Morgen, außer freitags, sit-zen Mabrouk, Omar, Tahar, Abdelma-lek, Tarek, Chaled, Hamza und ein Dut-zend weitere Freunde an den Plastikti-schen der Sedrate-Cafeteria vor dem ge-schlossenen Kino. Sie trinken Kaffee,rauchen und diskutieren stundenlangüber ihre Situation. Keiner von ihnenhat eine richtige Arbeit, alle sind Schul-abbrecher. Und alle haben nur einenTraum: eine feste Stelle in einem derStaatsunternehmen in Hassi Messaoud,der größten Ölförderstätte Algeriens,80 Kilometer östlich von Ouargla.2 Dortlagern 71 Prozent der Rohölreserven desLandes, täglich werden 400000 Barrelaus der Erde gepumpt, Algerien ver-dient damit im Jahr etwa 16 MilliardenDollar.3
„Ich will nicht für ein ausländi-sches Unternehmen arbeiten“, sagtOmar. „Die bezahlen schlecht und kön-nen dich nach drei oder sechs Monaten,oder sogar nach drei Jahren raus-schmeißen, ohne irgendeine Entschädi-gung oder Arbeitslosengeld.“ Wennman in der Wüste lebt, sind 80 Kilome-ter ein Steinwurf. Alle wissen, dass dieArbeit „drüben“ auf dem streng bewach-ten Gelände, wo Ausländer keinen Zu-tritt haben, hart ist, aber gut bezahltwird. Zwölf-Stunden-Tage bei bis zu50 Grad Hitze. „Als Rohrschweißerkannst du leicht 8 Millionen verdie-nen“, erzählt Chaled mit leuchtendenAugen. 8 Millionen Centimes, das heißt80000 Dinar, etwa 800 Euro im Monat.„Und ich kenne einen einfachen Hilfs-arbeiter, der 12 Millionen verdient!“Hamza hat selbst drei Jahre in HassiMessaoud gearbeitet, als Bäcker ineinem Zulieferbetrieb. „Ich hab nur3 Millionen verdient. Das war zu wenig,deshalb hab ich wieder aufgehört.“
Mabrouk, Chaled, Hamza und dieanderen gehören zum Millionenheerder jungen Arbeitslosen in Algerien,über deren Lage die Politiker und Kom-mentatoren in den Medien ständig re-den. Das Land hat 38 Millionen Ein-wohner, von denen 57 Prozent unter
O
30 Jahre alt sind. Laut offiziellen Statis-tiken sind 1,2 Millionen Algerier ar-beitslos – das entspricht einer Quotevon 9,8 Prozent, 70 Prozent von ihnensind unter 30. Diese Zahlen erscheinenerstaunlich niedrig. Sie verschleiern einBeschäftigungsproblem, das in Wahr-heit viel gewaltiger ist. In Algerien geben83 Prozent der Frauen an, nicht auf Ar-beitssuche zu sein. Sie tauchen also inkeiner Arbeitslosenstatistik auf, genauwie die Studenten.
Pseudobeschäftigungen
und leere Versprechen
Im Lauf der letzten zwanzig Jahre sinddie Studentenzahlen von 195000 auf1,2 Millionen gestiegen. Es wurden zwarviele neue Universitäten gebaut, aberdie Qualität der Ausbildung konnte mitdem Ansturm nicht Schritt halten. VieleAbsolventen fanden keine Arbeit. Des-halb hat der Staat 1998 ein spezielles Be-schäftigungsprogramm aufgelegt, das„pré-emploi“. Für ein monatliches Ge-halt von 15000 Dinar (150 Euro), das derStaat zahlt, sollen alle öffentlichen Ein-richtungen die jungen Studienabgängeroffiziell beschäftigen. „Ich kenne denzuständigen Beamten im Rathaus“, er-zählt Murat. „Der schickt mich morgensnach einer Stunde wieder nach Hause.Es gibt sowieso nichts zu tun, und amMonatsende stecke ich die 15000 Dinarein. Ich bin 28 und wohne noch bei mei-nen Eltern, ich brauche nichts.“ Umeine genauere Vorstellung von der Ar-beitslosigkeit in Algerien zu bekom-men, sollte man sich eher die Beschäfti-gungszahlen ansehen: Offiziell gehen10,8 Millionen Algerier einer geregeltenArbeit nach, das sind 28 Prozent der Ge-samtbevölkerung. Wenn man die jun-gen Leute abzieht, die unter das Be-schäftigungsprogramm „pré-emploi“fallen, kommt man auf 25 Prozent.
Im Februar 2011, kurz nach demArabischen Frühling, gründeten Ma-brouk und seine Freunde die erste un-abhängige Arbeitslosenbewegung: dieNationale Koordination für die Verteidi-gung der Rechte der Arbeitslosen (Coor-dination nationale pour la défense desdroits des chômeurs/CNDDC). Taharwar lange Zeit ihr Sprecher und Abdel-malek ihr Vorsitzender.4 Ihr großer Tag
war der 14. März 2013, als sich mehreretausend Menschen – sie selbst sagen10000 – vor dem Gebäude der Regional-verwaltung versammelten. Gleichzeitigunternahmen die lokalen Abgeordne-ten und Notabeln alles, um die Bewe-gung zu zerschlagen. Die Anführer wur-den beschuldigt, für ausländische Inter-essenvertreter zu arbeiten, und die jun-gen Leute aufgefordert, zu Hause zubleiben.
Als die CNDDC-Aktivisten am28. September 2013 zu einem neuen„Tag der Wut“ aufriefen, schlossen sichihnen nur noch ein paar hundert Leutean, um auf die Straße zu gehen. Die Poli-zei wartete bereits auf sie – mit Schlag-stöcken und Sturmhauben. Ali Bouger-ra, der Wali (Provinzgouverneur) vonOuargla, wandte sich in der Presse andie Demonstranten: „Die Kinder der Wi-laya sind unsere Kinder. Dank der gran-diosen Projekte, die das Gesicht ihrerStadt verändern werden, werden die Ar-beitslosen Antworten auf ihre Fragenfinden.“5 Und was sagt Tahar dazu?„Wir haben die Schnauze voll von die-sen paternalistischen Tönen und denleeren Versprechen! Wir wollen eine ge-rechte Verteilung der Reichtümer desLandes und dass das Recht auf Arbeit,das die lokale Bevölkerung gesetzlichbevorzugt, endlich respektiert wird,damit auch die Leute aus Ouargla etwasdavon haben.“
Tatsächlich verpflichtet dieses Ge-setz von 2004 jedes Unternehmen, daseine Stelle zu vergeben hat, sich zuerstan das örtliche Arbeitsamt (Agence na-tionale de l’emploi, Anem) zu wenden.„Aber die Kartei hier ist manipuliert“,sagt ein Anem-Mitarbeiter in Ouargla.Sein Chef ist gerade unterwegs, deshalbkann er offen sprechen: „Wegen derhohen Gehälter, die in Hassi Messaoudgezahlt werden, verschaffen sich tau-sende Arbeitslose aus dem NordenScheinadressen in Ouargla, um hier re-gistriert zu sein. Und auch wenn die Un-ternehmen Leute aus dem Norden ein-stellen, ohne sich vorher an uns zu wen-den, gehen sie kein Risiko ein, denn siewerden nie kontrolliert.“
Kein Wunder, dass die Algerier keinVertrauen in ihren Staat haben. Allegehen davon aus, dass das Gesetz sowie-so nicht zählt und dass es nur aufmaâri-fa ankommt, auf Beziehungen. „Du
brauchst eine Adresse in Ouargla? Duwillst Arbeit in Hassi Messaoud? Duhast ein Darlehen vom Staat bekom-men6 und kannst es nicht zurückzah-len? Kein Problem! Wenn du die richti-gen Leute kennst, ist alles möglich!“,sagt der Chemiestudent Farid und ver-zieht dabei angewidert das Gesicht. Alleseine Freunde, die um ihn herum aufdem Campus stehen, stimmen ihm zu,und jeder hat dazu mindestens eine Ge-schichte auf Lager. In der neuesten Stu-die zur Arbeitslosigkeit stellt das Amtfür Statistik fest, dass „78 Prozent derArbeitslosen angeben, bei der Arbeits-suche auf persönliche Beziehungen zu-rückgegriffen zu haben“.
Ein weiterer Knackpunkt ist dieAusbildung der jungen Leute. Die Fach-hochschulen für Berufe in der Ölbran-che sind im Norden des Landes, in Bou-merdes, Skikda und Oran. Das verstärktbei den Südalgeriern das Gefühl, be-nachteiligt zu werden. Ihre Diskriminie-rung, die auch mit ihrer dunklerenHautfarbe zu tun hat – in Algerien gibtes einen ausgeprägten Rassismus gegenSchwarze –, hat zudem historischeGründe: Die Algerier aus dem Südenstanden schon immer unter dem Ver-dacht, sie seien im Befreiungskrieggegen Frankreich keine „echten Natio-nalisten“ gewesen. Noch heute, fünfzigJahre nach der Unabhängigkeit, stehensie unter dem Druck, ständig ihre Ver-bundenheit mit der Nation beweisen zumüssen.
Letztes Jahr eröffnete der staatlicheÖlkonzern Sonatrach in Hassi Mes-saoud zwei große Ausbildungszentrenfür Schweißer und Bohrer mit 190 Plät-zen – ein Tropfen auf den heißen Stein.Letztendlich wird die wichtigste Maß-nahme des Staats, um auf die Forderun-gen der Jugend im Süden einzugehen,die Eröffnung von Polizeischulen inmehreren Städten gewesen sein: „16000Neueinstellungen im Jahr“,7 kündigteder Direktor der Personalabteilung deralgerischen Polizei, Oberstleutnant Mo-hamed Benaire, auf einer Konferenz an,die im April 2013 an der Universität vonOuargla unter dem Motto „Arbeitsplät-ze in der Region, eine konkrete Realität“stattfand. „Wir wollen Arbeit, und alles,was sie uns anbieten, ist, Bulle zu wer-den!“, zischt Tarek. „Das ist wirklichzum Kotzen!“
Frauen sind bei den morgendli-chen Treffen im Sedrate nicht dabei. Inder ganzen Stadt sieht man sowiesokeine einzige Frau auf der Terrasseeines Cafés sitzen. In Ouargla gehört dieStraße den Männern – ein Phänomen,das hier noch ausgeprägter ist als in an-deren Städten des Landes. „Ich weiß,dass meine Freundin mich unterstützt“,sagt Abdelmalek. „Aber ich kann sienicht mit ins Sedrate nehmen, die ande-ren würden sie nur anstarren, und daswill ich nicht.“ Toufik versucht sich zurechtfertigen: „Es macht nichts, dassdie Frauen nicht da sind, wir vertretendoch auch ihre Interessen.“ Wenn dasGespräch einzuschlafen droht, stecktman sich eine Zigarette an. Viele rau-chen mehr als zwei Schachteln am Tag.Das kostet 40 Euro im Monat. „Füreinen Arbeitslosen ist das viel Geld“,räumt Abdelmalek ein und lacht dabeilaut auf.
1 Der gesetzliche Mindestlohn liegt in Algerien bei
18000 Dinar pro Monat (180 Euro), das Medianein-
kommen bei 30000 Dinar im Monat. Ein Universi-
tätsprofessor verdient etwa 80000 Dinar.2 Siehe Ghania Mouffok, „Die Frauen von Hassi
Messaoud“, Le Monde diplomatique, Juni 2010.3 Insgesamt produziert Algerien 1,6 Millionen Barrel
pro Tag. Damit liegt das Land auf Platz 17 der welt-
größten Ölproduzenten. Es bestreitet etwa 70 Pro-
zent seiner Staatseinnahmen und 97 Prozent seiner
Exportemit Erdöl und -gas (Opec, BP-Statistiken).4 Siehe Adlène Meddi und Mélanie Matarèse, „Chô-
meurs: Le régime fantasme sur un scénario à la
arouch“, El Watan Week-end, Algier, 22.März 2013.5 El Watan Week-end, 27. September 2013.6 Seit 1998 können junge Arbeitslose für die Umset-
zung ihrer Geschäftsidee über ein staatliches Kre-
ditprogrammbis zu 50000 Euro erhalten.7 Liberté, Algier, 25. April 2013.
Aus dem Französischen von Jakob Horst
Der Süden Algeriens hat Öl, aber keine Jobs für junge Leute
von Pierre Daum
Wirtschaftsmodell
ohne Zukunft
Algerien steht vor wirtschaftspoliti-
schen Herausforderungen, die jede
westliche Vorstellung von Struktur-
wandel übersteigen. Seit seiner Unab-
hängigkeit von Frankreich 1962 lebt
das Land hauptsächlich von seinem
Öl- und Gasreichtum. Die nachgewie-
senen Ölreserven betragen etwa
12 Milliarden Barrel. Aber noch wichti-
ger sind die Gasvorkommen: Nach of-
fiziellen Angaben lagern 4,5 Billionen
Kubikmeter unter algerischem Wüs-
tensand. Das sind immerhin 2,4 Pro-
zent der weltweit nachgewiesenen
Vorkommen. Durch den Export dieser
Ressourcen verfügt Algerien zwar
über einen enormen Reichtum
(182 Milliarden US-Dollar Devisenre-
serven im Jahr 2012), doch die Kehr-
seite dieserMedaille ist der Stillstand.
Denn der vermeintliche Segen des Öls
hat dazugeführt, dass sichAlgerien im
Lauf der letzten 50 Jahre vollkommen
vom schwarzen Gold abhängig ge-
macht hat. Seit Langembestreitet das
Land konstant mehr als 95 Prozent
seiner Gesamtexportemit fossilen En-
ergieträgern. Der Staat finanziert sich
zu fast drei Vierteln aus Öl- und Ga-
seinnahmen. Mit anderen Worten: Al-
gerien ist ein lupenreiner „Rentier-
staat“. Seine finanzielle Grundlage be-
steht zum Großteil nicht aus der Be-
steuerung der wirtschaftlichen Tätig-
keiten seiner Bürger, sondern dem
Verkauf von Öl und Gas.
Die jahrzehntelange Konzentration
auf den Energiesektor hat auch dafür
gesorgt, dass andere Industrien fast
ganz verschwunden sind. Der industri-
elle Bereich außerhalb des Öl- und
Gassektors trägt gerade noch 5 Pro-
zent zum algerischen Bruttoinlands-
produkt bei. Der VerarbeitendeSektor
–einwichtigerPfeiler jeder funktionie-
renden Wirtschaft – ist in den vergan-
genen 20 Jahren ummehr als 50 Pro-
zent geschrumpft. Algerien leidet un-
ter einem massiven Deindustrialisie-
rungsprozess, der mit Blick auf die
Zeit „nach demÖl“ dringend gestoppt
werdenmuss. Manchen Analysten zu-
folge könnten Algeriens Öl- und Gas-
quellen schon in 25 Jahren versiegen.
Ein Teil der Renteneinnahmen fließt
über den staatlichen Beschäftigungs-
sektor, Infrastrukturmaßnahmen und
Subventionen mehr oder weniger di-
rekt an die Bevölkerung. Für das Jahr
2014 hat der algerische Staat Perso-
nalausgaben inHöhe von62Milliarden
Dollar eingeplant, unter anderem für
die Schaffung von 10000 neuen Stel-
len bei der Polizei in den Südregionen
des Landes.
Insgesamt machen die Ausgaben für
die Gehälter der Staatsbediensteten
rund60Prozent derGesamtausgaben
aus (in Deutschland etwa 8 Prozent).
Doch ein aufgeblähter staatlicher Be-
schäftigungssektor, der nicht zuletzt
dazu dient, den sozialen Frieden zu er-
kaufen, ist keine nachhaltige Lösung
für das Beschäftigungsproblem. Die
kann nur im Aufbau produktiver und
vom Regime unabhängiger Industrie-
strukturen bestehen. Jakob Horst
Hassi Messaoud, Ölstadt in der Wüste HACKY HAGEMEYER/transparent
Pierre Daum ist Journalist.
8 LE MONDE diplomatique | April 2014
Tunesiens kleines Glück
achdem die arabischen Re-volten weder in Ägypten nochin Syrien oder Libyen eineglückliche Entwicklung ge-
nommen haben, ist Tunesien zum Zu-fluchtsort all derer in der Region gewor-den, die einen Grund zur Hoffnung su-chen. Zwar haben sich auch in Tunesiendie sozialen Bestrebungen vom Beginndes Aufstands im Dezember 2010 alle-samt nicht erfüllt, und innerhalb eineshalben Jahres, in dem das Land am Ab-grund stand, sind zwei linke Abgeordne-te ermordet worden.1 Doch nach derendlos langen Krise gibt es nun eineTechnokratenregierung der nationalenEinheit und eine neue Verfassung, fürdie Ende Januar 200 von216 Abgeordneten gestimmt haben. DieSpannungen haben deutlich nachgelas-sen, eine Schonfrist hat begonnen.
Die Gegner der islamistischen En-nahda hatten befürchtet, sie werde sichim Staatsapparat einnisten und denGrundstein für eine neue Diktatur le-gen. Am Ende haben die Islamisten dieMacht genauso friedlich wieder abgege-ben, wie sie sie errungen hatten, wobeisie vom Internationalen Währungs-fonds (IWF), von Algerien, den westli-chen Staaten, den Arbeitgebern, demGewerkschaftsverband, der revolutionä-ren Linken, den rechten Zentristen undder Menschenrechtsliga höflich aufge-fordert wurden, zu „verschwinden“.
Die Ennahda hat nicht zuletzt des-halb nachgegeben, weil sie begriffenhatte, dass ihre Bilanz wenig vielver-sprechend und das internationale Kräf-teverhältnis für den politischen Islamungünstig war, der in der Türkei unterDruck geriet und in Ägypten vom Militäraus der Präsidentschaft verdrängt wur-de. Laut Artikel 148 der neuen Verfas-sung sollen bis Ende 2014 in TunesienWahlen stattfinden. Revolution stehtnicht mehr auf der Tagesordnung. Aberdas Land kann wieder an den Aufbauseines eigenen kleinen Glücks glauben,eine Hoffnung, die in der arabischenWelt sehr selten geworden ist.
Ist die Integration der Islamistenins politische System also gelungen?Aus Sicht derer, die ihren Eintritt in dieRegierung nicht für eine Reise ohneRückfahrschein halten, lautet die Ant-wort: ja. Dem würden wohl auch dieGegner der Islamisten zustimmen, dieprophezeit hatten, dass diese – einmalan die Macht gekommen – ihren religiö-sen Fanatismus und ihre Inkompetenzin sozialen und wirtschaftlichen Fragenoffenbaren würden. „Mit denen sind wirin die Zeit vor Adam Smith und David Ri-cardo zurückgefallen“, meint HammaHammami, Sprecherin des linken FrontPopulaire (Volksfront), spöttisch. „Diepolitische Ökonomie der Muslimbrüderbesteht aus Rente und Schwarzmarkt.Da geht es nicht um Landwirtschaft, In-dustrie, Infrastruktur oder den Umbaudes Bildungswesens im Namen wirt-schaftlicher, wissenschaftlicher odertechnologischer Ziele.“
Das Entwicklungsmodell der En-nahda bietet, laut Wahlprogramm von2011, tatsächlich eine Aneinanderrei-hung von Leerformeln – „neue Märktefür unsere Güter und Dienstleistungenerschließen“, „Abläufe vereinfachen“,„Investitionen in Richtung der nütz-lichsten Projekte diversifizieren“ –, gar-niert mit blumigen Allgemeinplätzen:„Die tugendhaften Werte wieder aufle-ben lassen, die aus dem kulturellen undzivilisatorischen Erbe der tunesischenGesellschaft und ihrer arabisch-islami-schen Geschichte hervorgegangen sind,die Anstrengung und hochwertige Ar-beit in Ehre halten und Innovation undEigeninitiative fördern.“
„Der Schwachpunkt der Ennahdaist die Wirtschaft“, gibt Houcine Jazirizu, der den beiden letzten Kabinettender Islamisten angehörte. „Wir habenuns mehr in moralische Fragen vergra-ben. Die anderen haben sich viel mehrmit Wirtschaft beschäftigt als wir …
Zum Glück mussten wir, als wir an derRegierung waren, dann doch darübernachdenken.“
Das ist nie eine schlechte Idee.Doch seit drei Jahren haben sich diemeisten Parteien – nicht nur die Ennah-da – um andere Sachen gekümmert. „In
Nder unruhigen Zeit, die hinter uns liegt,wurde vor allem über Tabuthemen dis-kutiert, wie Religion, Glaube, Heiligkeit,Sexualität, Homosexualität und dieRolle der Frau“, erklärt der ÖkonomNidhal Ben Cheikh. „Die Grundlagenunserer Wirtschaftspolitik sind hinge-gen nie diskutiert, geschweige denn in-frage gestellt worden. Mit dem Ergeb-nis, dass in den Provinzen Kef, Kasse-rine, Siliana, Tataouine und Kebili, wodie Revolution anfing, also in der Wiegedes politischen und sozialen Aufstands,immer noch erstaunlich wenig produ-ziert wird.“2
Auch der wichtigste Gegner der En-nahda, Béji Caïd Essebsi, hat das Landnach dem Sturz des Ben-Ali-Regimeseine Zeit lang regiert.3 Statt seine Popu-larität und den Enthusiasmus der ers-ten Monate zu nutzen, um die liberalePolitik seines Vorgängers zu beenden,hat er sich lieber mit konservativen Mi-nistern umgeben, die das alte, vom IWFbeweihräucherte Wirtschaftsmodellfortsetzten. Heute gibt Essebsi selbst zu,dass es „in einigen Regionen, die langevernachlässigt wurden, weil man sichviel stärker um das Schaufenster amMittelmeer gekümmert hat, keine Ver-besserung gab.“
Tatsächlich gilt seit 2011 die Devi-se, das Land in die internationale Ar-beitsteilung einzugliedern, indem manausländischen Investoren gut ausgebil-dete Arbeitskräfte zu lächerlich gerin-gen Lohnkosten anbietet. Ohne eine aufdas eigene Land konzentrierte Entwick-lung, angekurbelt durch öffentliche In-vestitionen und eine zahlungskräftigelokale Nachfrage, können sich die ekla-tanten regionalen Unterschiede jedochnur verfestigen. Dabei besteht die Ge-fahr, dass Schattenwirtschaft undSchmuggel aufblühen, der Staat sich zu-rückzieht und die dschihadistischenZellen davon profitieren. „Die USA, diegrößten Verfechter des Neoliberalis-mus, haben sich in der Krise 2008 er-laubt, Banken zu verstaatlichen, wäh-rend sich Tunesien in einer revolutionä-ren Phase derart revolutionäre Eingriffeverbietet“, bedauert Ben Cheikh.
Subventionierte
Nudeln für Touristen
Wer sowohl dem Ennahda-Chef Rachidal-Ghannouchi als auch dem Gründerund Präsidenten der Bewegung „Ruf Tu-nesiens“ (Nida Tunis) Essebsi zuhört,findet den Mangel an programmati-schem Mut bestätigt. Auf den erstenBlick könnten die beiden Politvetera-nen gar nicht unterschiedlicher sein.Das Büro des Ennahda-Führers ist voll-gestopft mit Fotos, die ihn mit islamisti-schen politischen Führern oder Intel-lektuellen zeigen (der Emir von Katar,Tariq Ramadan, Ägyptens ExpräsidentMohammed Mursi, der türkische Minis-terpräsident Recep Tayyip Erdogan etcetera). Im Büro von Essebsi hingegenist nur ein einziges Motiv zu sehen:Habib Bourguiba.4 Den gibt es aller-dings in mehrfacher Ausführung: alsBüste, auf einem großen Plakat an derWand und als kleines gerahmtes Fotoauf dem Schreibtisch. Für Ghannouchi,den Bourguiba seinerzeit zum Tode ver-urteilen wollte, ist der „oberste Kämp-fer“ und Gründer des modernen Tune-siens derjenige, der „den Krieg gegenden Islam und das Arabertum“5 begon-nen hat.
Wenn man mit ihnen über die gro-ßen wirtschaftlichen Probleme disku-tiert, werden die Unterschiede zwischenden beiden Männern schnell unscharf.Was ist mit der Tilgung der Auslands-schulden, die das Ben-Ali-Regime ge-macht hat, auch um Mitgliedern seinesClans Geld zuzuschustern? „Über dieVerschuldung sprechen wir durchaus.Aber sie ist ja nicht katastrophal hoch,wir sind bei weniger als 50 Prozent“, ant-wortet Essebsi. „Andere, wie Frank-reich, haben 85 Prozent Staatsverschul-dung.“6 Und sofort fügt er hinzu, es seisowieso klar, dass „ein Land, das etwasauf sich hält, seine Schulden bezahlt,egal wer an der Regierung ist. Seit seinerUnabhängigkeit hat Tunesien niemalsdagegen verstoßen.“ Einen Tag zuvor
hat Ghannouchi fast Wort für Wort dasGleiche beteuert: „Tunesien hat immerseine Schulden bezahlt. Das werden wirbeibehalten.“
Für ein armes Land wie Tunesienist der Schuldendienst eine schwereLast; mit 4,2 Milliarden Dinar (etwa 1,9Milliarden Euro) ist er der drittgrößtePosten im Haushalt. Die Caisse généraledes compensations (CGC) bildet denzweitgrößten Posten (5,5 MilliardenDinar im Jahr 2013). Jeder würde dieseAusgaben gern senken, die Frage istnur, wie. Auch in diesem Punkt unter-scheiden sich die Islamisten kaum vonihren Gegnern. Und man kann ihre Zu-rückhaltung verstehen: Es ist ein heik-les Thema.
Die CGC wurde 1970 gegründet –zur Subventionierung von Lebensmit-teln und Energie. Ihre Ausgaben sindmit dem Anstieg der Weltmarktpreisefür Öl und Getreide rapide gewachsen.Der IWF hat wiederholt eine Ausga-bensenkung verlangt und erwartet dieAbschaffung des Kompensationsme-chanismus. Die Parteien fürchten Preis-steigerungen und eine Revolution, soll-ten sie solche Ratschläge befolgen.
Die CGC war keine soziale Errun-genschaft, meint Ben Cheikh. Ihr obers-tes Ziel bestand darin, eine langfristigangelegte, industriefreundliche Politikzu etablieren, indem möglichst billigeArbeitskräfte zur Verfügung gestelltwurden. Um Investoren anzuziehen, ak-zeptierte Tunesien, dass ein Teil der Le-benshaltungskosten seiner Arbeiterund Angestellten aus dem Staatshaus-halt beglichen wurde. So konnten sichdie Tunesier trotz ihrer schlecht bezahl-ten Arbeit im Textilsektor oder in derElektro- und Maschinenindustrie in denvergangenen vierzig Jahren wenigstensimmer Mehl und Benzin kaufen.
In Restaurants und Hotels essenauch die Touristen subventionierte Nu-deln und subventioniertes Semoule, dasBenzin für die großmotorigen libyschenAutos ist subventioniert, wie auch der(meist importierte) Strom für die portu-giesischen und spanischen Zementwer-ke. „Das ist eine Last“, gibt Ghannouchizu. „Wir müssen eine vernünftige Lö-sung finden. Nicht wegen des Drucksder internationalen Institutionen, son-dern weil wir die Ausgaben in dieserHöhe nicht aufrechterhalten können.“Nichts anderes sagt auch Essebsi: „Wirsind jetzt an einem kritischen Punkt an-gekommen. Wir müssen unserenStaatshaushalt besser kontrollieren, umandere Prioritäten zu setzen.“
Aber wie kann man die Ausgabender CGC neu ordnen und in Richtungproduktiver Investitionen in den Regio-nen im Landesinnern lenken, ohnedabei gleichzeitig die hilfsbedürftigstenTunesier zu treffen, denen der Staatkaum anders helfen kann?
Wenn sich Arbeitgeber, Gewerk-schaften, Islamisten oder Nida Tunisdazu äußern (weil sie jemand dazu nö-tigt), zeigt sich eine abwartende Hal-tung. Sie verurteilen den Missbrauch,ohne Gegenmaßnahmen vorzuschla-gen. Auf die Frage, ob die Regierungeines Tages die CGC abschaffen könnte,antwortet Wided Bouchamaoui, Präsi-dentin des Arbeitgeberverbands Utica(Union tunisienne du commerce et del’industrie), vehement: „Niemals! Esgäbe einen Aufstand im Land. Keine po-litische Kraft würde sich das trauen.“Und sie stellt gleich klar: „Das ist nichtunsere Forderung.“
Zwei Drittel der Subventionen flie-ßen ins Benzin. „Aber die meisten Ar-beitslosen und Arbeitnehmer haben garkein Auto“, sagt Houcine Abassi, Präsi-dent des gewerkschaftlichen Dachver-bands UGTT (Union générale tuni-sienne du travail). „Sie profitieren alsonicht von den Energiesubventionen.Und wenn Leute aus der Mittelschichtein Auto mit vier oder fünf Zylindern ha-ben, zahlen sie genauso viel für das Ben-zin (1,57 Dinar pro Liter, umgerechnetetwa 70 Eurocent) wie Familien, die vieroder fünf Luxuslimousinen besitzen“.
Wollte man die Tankfüllungen derMilliardäre nicht mehr subventionie-ren, müsste man Unterschiede machen.„Das liegt in der Verantwortung der Re-gierung“, sagt Abassi. „Wir haben Vor-
schläge, aber wir sind eine Gewerk-schaft. Wir sind nicht der Staat mit sei-nen Möglichkeiten, seinen Expertenund Wissenschaftlern. Es liegt an ihm,eine Strategie zu entwickeln.“
Der Front Populaire hat ein detail-liertes Wirtschaftsprogramm ausgear-beitet. Es beinhaltet die Einstellung vonBeamten im Finanzministerium, umgegen Steuerbetrug und Schmuggel vor-zugehen, eine Fünfprozentsteuer aufdie Gewinne der Ölunternehmen, dieAussetzung der Auslandsschuldentil-gung, bis eine Überprüfung vorliegt, dieNeugestaltung der steuerlichen Bemes-sungsgrundlage, um Niedrigverdienerbesserzustellen, und die Abschaffungdes Bankgeheimnisses. Aber wenn esum die CGC geht, übt man sich auchhier in Zurückhaltung. „Alle wissen,dass man die CGC nicht antasten darf“,sagt Hamma Hammami. Dabei hat dieRegierung längst damit begonnen, dieSubventionen zurückzufahren, vorallem an den Zapfsäulen.
Wie gebannt starren derweil alleauf den nächsten Wahltermin. Politischbedeutet die Unterbrechung der Kon-frontation nach der Bildung der neuenRegierung, dass die Auseinandersetzun-gen auf andere Art fortgesetzt werden.Der aktuelle Konsens beruht auf einemprekären Gleichgewicht der Kräfte. Unddie angehenden Bündnisse nehmen dasungewisse Wahlergebnis vorweg.
Diese Unsicherheit und die regio-nale Instabilität führt Ghannouchi insFeld, um seine oft zweifelnde Anhänger-schaft davon zu überzeugen, dass seinVersöhnungskurs richtig ist. Das Landsei „zu fragil für eine Konfrontation zwi-schen Regierung und Opposition“. DerEnnahda-Chef wünscht sich nun, dassdie kommende Wahl eine „Koalitionsre-gierung unter Einbeziehung aller her-vorbringt, oder, wenn das nicht geht,mit Beteiligung der größtmöglichen An-zahl von Parteien, aber auch der Zivilge-sellschaft, der Gewerkschaften und derArbeitgeberorganisationen. Die Ennah-da wäre dabei.“
Im Vergleich zu Ghannouchi er-scheint Essebsi in einer Position derStärke. Die von ihm angeführte Grup-pierung ist zwar heterogen – eine Mi-schung aus Mitgliedern des alten Ben-Ali-Netzwerks, progressiven Aktivistenund Gewerkschaftern7 –, aber sie be-setzt die zentrale Stelle in der politi-schen Arena. Auf der einen Seite fordertdie Ennahda eine nationale Einigung,bei der niemand ausgeschlossen wird.
Auf der anderen Seite will der Front Po-pulaire vereiteln, was Hammami als„die despotische Gefahr der Ennahda“bezeichnet, und intensiviert dazu dieZusammenarbeit mit Nida Tunis.
Und Nida Tunis selbst? Essebsispricht von seiner Rolle bei der Suchenach einer „Konsenslösung“ mit Ghan-nouchi und lobt gleichzeitig in hohenTönen die aktuelle Regierung, die „vonallen politischen Kräften unterstützt“werde. Wenn man ihm zuhört, könnteman meinen, dass er sich wünscht, dieBasis des nächsten Kabinetts mögeebenso breit gefächert sein. Und die Is-lamisten sollen nicht in die Oppositionverbannt werden? „Das kommt auf dieWahlen an“, antwortet Essebsi. „Aberwir werden das Urteil der Urnen akzep-tieren.“
„Wir haben Angst davor, dass sichNida Tunis mit der Ennahda verbün-det“, sagt Abdelmoumen Belaanes,stellvertretender Generalsekretär derTunesischen Arbeiterpartei (PTT) undMitglied des Front Populaire. „Im Wes-ten herrscht die Vorstellung, in Tune-sien gebe es zwei große Lager, und diemüssten sich zusammentun, um dieStabilität zu wahren.“ Dabei hat dieAngst, dass die Islamisten die Linke be-einflussen könnten, nicht abgenom-men. „Seit ihrer Gründung folgt die En-nahda der gleichen Taktik“, sagt Ham-mami. „Wo sie Widerstand spürt,weicht sie zurück, und wo sie Spielraumhat, geht sie zum Gegenangriff über.Aber ihr Ziel bleibt die Islamisierung,die Durchsetzung der Linie der Muslim-brüder, und die ist rückwärtsgewandtund despotisch.“
Die Strategie, die Hammami vor-schlägt, ergibt sich aus dieser Diagnose:Das antiislamistische Bündnis mit NidaTunis muss weitergeführt werden,indem man den Vorrang der Demo-kratie in den Vordergrund stellt; esmuss klargemacht werden, dass zualler-erst soziale Maßnahmen vorgenommenwerden müssen; und schließlich mussdarauf vertraut werden, dass alle demo-kratischen Kräfte sich „einig sind überdie Notwendigkeit, die Auswirkungender wirtschaftlichen Krise auf die brei-te Masse der Bevölkerung abzufe-dern“.
Aber was denkt die Basis, was den-ken die Aktivisten?, fragt Michel Ayari,Forscher bei der International CrisisGroup (ICG). Was denken die Ennahda-Anhänger, die gesehen haben, wie ihrePartei die Macht abgegeben hat, ohnedass Wahlen verloren wurden? Wasdenken die Mitglieder von Nida Tunis,deren Präsident nicht ausschließt, zu-sammen mit den Islamisten unter demwohlwollenden Blick des IWF zu regie-ren? Was denken die Aktivisten desFront Populaire, die aufgefordert wer-den, die Demokratie zu verteidigen, zu-sammen mit Arbeitgebern und altenBen-Ali-Anhängern? Die Parteichefs he-cken derweil Bündnisse aus, sinnierenüber die Verteilung von Posten und be-ruhigen ihre Geldgeber. Daraus entstehtein politisches Gleichgewicht. Das istvernünftig, ja sogar beneidenswert, ineiner Region, die von politischen Erdbe-ben heimgesucht wird. Aber wie langekann dieses Gleichgewicht halten, wenndrei Jahre nach der „Revolution“ der so-zial- und wirtschaftspolitische Kurs, dersie ausgelöst hat, auf diese Weise fortge-setzt wird?
1 Siehe Serge Halimi, „Harte Fronten in Tunesien“,Le Monde diplomatique,März 2013.2 Laut Ben Cheikh gibt es in Siliana nur 6 mittlereund große Unternehmen, während im 100 Kilome-ter entferntenManouba 322 ansässig sind.3 Zwischen Februar undDezember 2011war EssebsiChef der ersten Übergangsregierung.4 Habib Bourguiba (1903 bis 2000)war eine zentra-le Figur in der Unabhängigkeitsbewegung Tunesi-ens und von 1957 bis 1987 erster Präsident des Lan-des.5 „Rachid Ghannuchi: Islam, nationalisme et isla-misme“, Interview von François Burgat, Egypte/Monde arabe, Nr. 10, Kairo, 1992, S. 109–122.6 Im Jahr 2013 lagen die Auslandsschulden Tunesi-ens bei 46 Prozent des BIPs, in Frankreich waren es93,4 Prozent.7 Der Generalsekretär von Nida Tunis, Taieb Bac-couche, war von 1981 bis 1984 Generalsekretär derUGTT.
von Serge Halimi
Die Politveteranen Essebsi (oben)und GhannouchiHASSENE DRIDI
Aus dem Französischen von Jakob Horst
LE MONDE diplomatique | April 2014 9
Stadien der Freundschaft
er „Garten der Bildhauer“hinter dem Museu Nacionalde Arte auf der Avenida HoChi Minh in Maputo ist zu
einer Art Gefängnishof für die verschie-denen Ozymandiasen1 Mosambiks ge-worden, eine halböffentliche Müllhal-de, auf der koloniale Monumente, dieeinst hochmütig von den besten Aus-sichtspunkten der Stadt herabschauten,vor sich hin modern, nicht länger fähig,noch irgendjemanden mit ihren unver-schämten Ansprüchen zu schikanieren.
Eine Marmordame in dicker Robelehnt dort, Gräser wachsen um ihren So-ckel. Ihr sind beide Arme abgehacktworden, doch ihre amputierte Handstreichelt immer noch den muskulösenBauch eines schwarzen Sklaven, der imLendentuch neben ihr hockt. Gleich da-neben steht eine enthauptete Justitiaeinem kleinem Flecken Unkraut undblanker Erde vor. Keine öffentlicheKunst mehr, aber auch noch nicht ganzMüll, das sind die Monumente, die denPlätzen und Gebäuden der Stadt gezo-gen wurden wie verfaulte Zähne, nach-dem die portugiesische Kolonialherr-schaft endlich beendet war, die zu zer-stören jedoch niemand so richtig übersich bringen konnte.
An einem Augustnachmittag stießich zufällig auf den jüngsten Zuwachsdieser elenden Sammlung. Ein riesigerBronzeengel lag mit dem Gesicht nachunten im Schmutz, die Flügel wie einmassiver vogelartiger Academy Awardhoch über den Kopf gestreckt. Als ichdarum herum zu seinem zerklüftetenFuß ging, ausgerissen, von wo auchimmer er mal verwurzelt war, stellte ichfest, dass die Figur völlig hohl war. ImInnern fand sich eine kleine Plakette,deren chinesische Schriftzeichen ichnicht lesen konnte.
Fasziniert ging ich ins Museum zu-rück und fragte den Mann am Tresen,woher diese riesige Statue gekommenund warum sie hier abgeladen wordenwar. Er antwortete mit der Miene desje-nigen, der einem Idioten geduldig dasOffensichtliche erklärt: Der Engel war2011 von der chinesischen Regierungvor dem neuen Nationalstadion aufge-stellt worden, wo er dem Ort etwas Cha-rakter verleihen und als Treffpunkt die-nen sollte. Als aber die mosambikani-schen Offiziellen sahen, dass die Statue„ein chinesisches Gesicht“ hatte, ent-schieden sie, dass es nicht angehe, vorihrem Nationalstadion einen derartigenEngel stehen zu haben, rissen ihn her-unter und transportierten ihn miteinem Lastwagen in die Stadt, um ihnMaputos übrigen ungewollten kolonia-len Symbolen im „Garten für Bildhauer“beizugesellen.
Ich ging wieder in den Garten undversuchte, der Statue ins beleidigendeGesicht zu sehen, aber das schwere Dingließ sich nicht bewegen. Es wäre schwie-rig genug geworden, die „Rasse“ des En-gels festzustellen, selbst wenn ich es ge-schafft hätte, sein Gesicht zu sehen, unddie Rückseite seines Messingkopfs warvollkommen nichtssagend und bot kei-nerlei Anhaltspunkte.
Das von den Chinesen errichteteNationalstadion, das Estádio Nacionaldo Zimpeto, befindet sich am Rand vonMaputo, unweit des internationalenFlughafens, der ebenfalls von den Chi-nesen gebaut wurde (die in den letztenJahren auch das neue Parlamentsgebäu-de und einen neuen „Justizpalast“ hoch-gezogen haben). Als ich das neue Heimfür Os Mambas2 zum ersten Mal sah,glaubte ich, dass die Außerirdischenaus District 9 ihr Raumschiff endlichwieder flott bekommen und es in Mapu-to geparkt hatten. Vor der riesigen grau-en Betonschüssel steht in roten Buch-staben eine passende intergalaktischeLosung in Mandarin und Portugiesisch:„Amizade entre a China e MoZambiqueirá prevalecer como o céu ea terra“.Übersetzung: Die Freundschaft zwi-schen China und Mosambik wird wieHimmel und Erde ewig bestehen.
Alle wissen über Chinas „Stadiondi-plomatie“ in Afrika und der Karibik Be-scheid. Und auch, wie dieser Trick funk-tioniert. China baut für relativ geringeKosten – Zimpeto kostete Berichten zu-folge gerade einmal 57 Millionen Dollar
D
– eine sterile Nationalarena, die von Prä-sidenten in maßgeschneiderten Anzü-gen, für die Kameras einen Ball kickend,mit langen Reden eröffnet werden kön-nen. Im Gegenzug erhält China leichte-ren Zugang zu natürlichen Ressourcen.Alles im Namen der Freundschaft,selbstverständlich.
In Libreville, der Hauptstadt Ga-buns, steht das Stade de l’Amitié, einweiteres in Cotonou in der Elfenbein-küste. Mosambiks neues Stadion, das2011 fertig wurde, war erst ziemlich spätdran. Bis 2010 waren mit chinesischerRegierungsunterstützung auf dem ge-samten Kontinent über 50 Stadien ge-baut worden, sodass wir uns jetzt demStadiensättigungspunkt nähern. Hättees ein Millenniumsentwicklungsziel fürStadien pro Kopf der Bevölkerung gege-ben, tauchte Professor Jeff Sachs mög-licherweise eines Morgens in einem sei-ner Millenniumsdörfer auf und müsstefeststellen, dass die Shanghai Construc-tion Group ihm über Nacht einen55000-Sitzer neben eines seiner Bohrlö-cher gestellt, das Ding Le Stade de la Fra-ternité getauft und alle Hartholzbäumeaus dem Wald abtransportiert hätte.
Falls die Agenda hinter der Stadion-diplomatie geheim war, dann hatte mansie nicht besonders gut versteckt. Den-noch lag das Interesse auf der nicht be-sonders geheimnisumwitterten Frage,was China im Austausch für all diesenStadien haben wolle, und weniger dar-auf, was diese Beigabe zu tatsächlichjeder afrikanischen Hauptstadt kultu-rell und historisch zu bedeuten hat,ganz zu schweigen, ob es überhauptSpaß macht, sich darin ein Fußballspielanzusehen (eher nicht). Im Großen undGanzen waren jene Orte, die wir als Na-tionalstadien kannten, bevor Anfangdes Jahrhunderts die große Welle derBauprojekte über uns kam, in den1960er Jahren nach der Unabhängigkeitgebaut oder umgebaut worden. In vie-len fanden sogar die Unabhängigkeits-feierlichkeiten statt.
Nach der Unabhängigkeit von Por-tugal wurde Mosambiks altes Stadion inEstádio da Machava umbenannt. Daswar 1968, als Estádio Salazar, mit einemFreundschaftsspiel zwischen Portugal,mit dem schwarzen Spieler Mario Colu-na aus Maputo als Kapitän, und Brasi-lien, unter anderem mit Carlos Albertound Tostao, eingeweiht worden. Spieltes keine Rolle, dass diese Orte, derenTraversen dick mit nationaler Geschich-te belegt sind, abgerissen und durch
seelenlose, platt gedrückte Stadien er-setzt werden, bei denen jeder zugibt,dass es sich um nichts anderes als popu-listisches Schmiergeld mit Flutlichtan-lagen handelt?
Sehen Sie sich heute ein Qualifika-tionsspiel für den Africa Cup of Nationsoder die Weltmeisterschaft an, und Siebefinden sich an einem Ort, der keineErinnerung an öffentlichen Protest oderden nationalen Befreiungskampf mehrhat und stattdessen nur als weitere ar-chitektonische Erinnerung an den chi-nesischen Expansionismus des 21. Jahr-hunderts funktioniert. Überall um sichherum werden Sie leuchtend bunte,leere Sitze sehen, und den Anblick wer-den Sie kaum genießen können.
Von Katar
nach Malawi
In den 1960er Jahren entstanden inLusaka das Independence Stadium undin Blantyre das Kamuzu Stadium. DasIndependence Stadium wurde bereitsdurch das neue Levy Mwanawasa Sta-dium in Ndola ersetzt und wird noch indiesem Jahr erneuert werden. MalawisFlames aber werden ihre Heimspieleschon bald in Lilongwe austragen,nachdem Ken Lipenga (der Dichter, derFinanzminister wurde, aber das ist eineandere Geschichte) ein Geschäft abge-segnet hat, das sich so anhört, als be-deute es den Todesstoß für meinenliebsten Fußballplatz der Welt: das Ka-muzu Stadium in Chichiri.
2006 kommentierte ich aus demKamuzu für TV Malawi live ein Spiel zwi-schen den Big Bullets und den MightyWanderers, ein zerfahrenes 0:0 nachendlosem Elfmeterschießen. Ich saßeingezwängt ganz oben im Rang, vondem aus man den VIP-Bereich einsehenkonnte, der mit kostspielig aussehen-den Stühlen und Sofas vollgestopft war,deren Polster Rückschlüsse auf die rela-tive Macht der Hintern zuließ, die dar-auf saßen. Das Stadion besteht aus einerniedrigen Haupttribüne und sechs mas-siven Betonplatten, in die große Stufenhineingeschnitten sind, und fasst zwi-schen 50000 und 100000 Menschen.
Die Fifa und die Confederation ofAfrican Football schicken in regelmäßi-gen Abständen Inspektoren vorbei, die –bevor sie wieder abreisen – düster mitSchließung und Ausschluss drohen, be-stürzt über die großen Risse im Beton,den zusammengeflickten Rasen und die
fehlende Sicherheit (das Stadion wirdpraktisch durchgehend von gewöhnli-chen Menschen genutzt, die sich da-durch fit halten, dass sie die tausendenBetonstufen hoch und runter laufen).
Es fühlte sich gewiss nicht wie dassicherste Stadion an, in dem ich je gewe-sen bin, aber es hat hier nie eine Kata-strophe gegeben, und die Regelmäßig-keit, mit der die aufgeblasenen interna-tionalen Bürokraten beleidigt verkün-deten, das Ding wäre für seinen Zwecknicht gerüstet, hatte etwas Wundervol-les angesichts des Umstands, dass eseine Woche später Schauplatz eines wei-teren fröhlichen und friedlichen Fuß-ballnachmittags war.
Der französische PhilosophJacques Rancière vertritt die Ansicht,dass der Westen versucht habe, dieMenschenrechte nach Afrika zu ver-schiffen, als wären es alte Kleidungsstü-cke. Nun ist es, so hat es den Anschein,an der Zeit, den Afrikanerinnen und Af-rikanern Stadien zu schicken. Und essind, kaum vorstellbar, noch weitere aufdem Weg – oder werden es zumindestsein, sobald 2022 der World Cup inKatar vorbei ist. Genau. Als Bestandteilihrer komplett verrückten Ansage, dasLieblingssportereignis der Welt aus-richten zu wollen – einschließlich
künstlicher Wolken, landesweiter Kli-matisierung und einem Miniaturproto-typ eines Stadions, der 27 Millionen Dol-lar gekostet hat –, versuchten die Kata-rer den Eindruck zu berichtigen, dass esverschwenderisch sein könnte, Milliar-den in Stadien zu stecken, in denen nie-mand je wieder spielen würde. Deshalbwiesen sie darauf hin, dass man dieseStadien zerlegen würde, als bestündensie aus Lego-Bausteinen, sobald derletzte Ball im World-Cup-Finale gespieltwäre, worauf man sie dorthin verschif-fen würde, wo der Bedarf an Fußballsta-dien am größten sei.
Afrika offensichtlich. Nur: Wo sol-len wir die alle hinstellen?
1 Anspielung auf Shelleys Gedicht „Ozymandias“,
das von Überresten einer Pharao-Statue handelt.2 Kosename für das Nationalteam vonMosambik.
Aus dem Englischen von Thomas Brückner
China baut in Afrika eine Fußballarena nach der anderen
von Elliot Ross
Das Estádio Nacional do Zimpeto kostete China nur 57 Millionen Dollar, dafür darf es Mosambiks Schätze heben J.-H. Wurzel
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Elliot Ross ist Journalist inNewYork undMitbegrün-
der des Blogs „Africa is a country“: africasacoun-
try.com.
© Chimurenga Chronic (Kapstadt), siehe chimu-
rengachronic.co.za. Der vorliegende Beitrag er-
scheint im Mai 2014 in der deutschsprachigen Chi-
murenga Chronic, einer einmaligen Beilage zum
Magazin #22 der Kulturstiftung des Bundes, der wir
für den Vorabdruck danken.
10 LE MONDE diplomatique | April 2014
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LE MONDE diplomatique | April 2014 11
Schwergewichteaus Donezk
as Hotel Donbass Palace,ganz in der Nähe des Lenin-platzes von Donezk, ist das lu-xuriöseste Hotel der gesam-
ten Ostukraine. Hier kostet ein Zimmer350 Euro pro Nacht, weit mehr als eindurchschnittlicher Monatslohn. DerPrachtbau gehört Rinat Achmetow, derein Vertrauter des abgesetzten Präsi-denten Wiktor Janukowitsch war, heutejedoch die neue Regierung unterstützt.Neben zahlreichen Immobilien besitztder reichste Mann der Ukraine Bergwer-ke, Stahlwerke, Fabriken und den Fuß-ballklub Schachtar Donezk. Im Indus-trie- und Kohlebecken des Donezk sinddie reichsten Clans der ukrainischenOligarchie groß geworden.
Der Donbass erstreckt sich über dieOblaste (Verwaltungsbezirke) Donezkund Luhansk und war bereits in derSowjetunion eines der wichtigsten In-dustrie- und Bergbauzentren. Von hierstammen nach wie vor ein Viertel derDeviseneinnahmen der Ukraine, auchwenn nur noch 95 Bergwerke offiziell inBetrieb sind – vor zwanzig Jahren warenes noch 230. In derselben Zeit hat dasLand 7 Millionen Einwohner verloren.Kurz nach der Unabhängigkeit Ende1991, als die ersten Minen geschlossenwurden und die Wirtschaft im Chaosversank, begannen die Leute auf eigeneFaust zu graben, um zu überleben.
„Hier muss man nur einen Metertief gehen, um auf Kohle zu stoßen“,sagt ein alter Kumpel aus der Industrie-stadt Tores – sie trägt noch immer nochden Namen des französischen Kommu-nisten Maurice Thorez.1 In den schlechtund recht mit Holz abgestützten Stollengibt es häufig Unfälle. In der Hoffnungauf die 200 bis 300 Euro, die im Monatzu verdienen sind, nehmen die Bergleu-te ein hohes Risiko in Kauf. Nach Janu-kowitschs Amtsantritt im Jahr 2010haben sich die kopanki, die illegalenBergwerke, organisiert und zu Netzwer-ken zusammengeschlossen.
„Die haben die Kohle aus denKopanki billig an die staatlichen Berg-werke abgegeben, und die haben siedann mit Profit zum Marktpreis weiter-verkauft“, erzählt Anatoli Akimochin,stellvertretender Vorsitzender der Un-abhängigen Bergarbeitergewerkschaftder Ukraine. Zu diesem Profit addiertensich die Subventionen, mit denen dieRegierung die staatseigenen Minenbe-triebe am Leben erhielt. „Ein Großteildes Geldes verschwand in den Taschenvon Regimetreuen“, meint Akimochin.Nach Einschätzung ukrainischer Exper-ten stammten 10 Prozent der in den letz-ten Jahren geförderten Kohle aus denKopanki. Hinter dem ganzen Netzwerksteckt vermutlich Alexander Januko-witsch, der älteste Sohn des ehemaligenPräsidenten, der so den Besitzern priva-ter Bergwerke Konkurrenz machte – inerster Linie also Rinat Achmetow.
„Eine Revolution? Nein, die Kartenwerden einfach nur neu verteilt.“ DerSoziologe Wladimir Ischtschenko, Lei-ter des Sozialforschungszentrums inKiew, zeigt schon wenige Wochen nachder Flucht von Janukowitsch und derAmtsübernahme der neuen Regierungoffen seine Enttäuschung. „Diese Regie-rung steht für dieselben Werte wie dievorige: Wirtschaftsliberalismus undpersönliche Bereicherung. Nicht alleAufstände sind Revolutionen. Es istwenig wahrscheinlich, dass die Maidan-
DBewegung zu tiefgreifenden Verände-rungen führen wird und deshalb wirk-lich als Revolution bezeichnet werdenkann. Der seriöseste Kandidat bei derPräsidentschaftswahl am 25. Mai ist tat-sächlich der ‚Schokoladenkönig‘ PetroPoroschenko, einer der reichsten Män-ner des Landes.“ Während auf dem Mai-dan die Demonstranten noch unter denKugeln starben, wurde in den Vorzim-mern der Macht bereits der Übergangausgehandelt – mit den Unternehmern,die in der Ukraine die Kontrolle besa-ßen.
In den letzten zwanzig Jahren hatdie Ukraine einen speziellen politi-schen Weg eingeschlagen, der manch-mal als „Pluralismus der Oligarchen“beschrieben wird. Viele Geschäftsleute,die nach dem Zusammenbruch derUdSSR Bergwerke oder Fabriken zuSchleuderpreisen erworben und damitein Vermögen gemacht hatten, gingenschließlich in die Politik. Öl- oder Gas-händler wurden Minister und besetztenwichtige Posten in der öffentlichen Ver-waltung. Die frühere PremierministerinJulia Timoschenko, Symbolfigur der„Orangen Revolution“ von 2004 undnach ihrer Verhaftung im August 2011vom Westen zur Märtyrerin stilisiert, hatihr Vermögen in der Gasindustrie erwor-ben. Andere mächtige Unternehmer be-gnügten sich damit, aus dem Hinter-grund Wahlkämpfe von solchen Politi-kern zu finanzieren, die ihre Interessenvertraten. Dieses System, das sich unterPräsident Kutschma (1994 bis 2005) he-rausgebildet hatte, führte zu ständigenpolitischen Wechseln, die den jeweili-gen Bündnissen oder Streitigkeiten dermächtigen Oligarchen und deren kon-kurrierenden Interessen folgten.
Ein paar Schritte vom DonbassPalace entfernt stand auf dem Dach desstattlichen Gebäudes, in dem zwei Fir-men Achmetows (Metinvest und DTEK)untergebracht sind, eine Leuchtrekla-me für Mako, eine Holding mit Sitz inder Schweiz, über die Alexander Januko-witsch die ukrainische Kohle exportier-te. Ein paar Tage nach dem Sturz seinesVaters wurde sie diskret abmontiert, einZeichen, dass es mit dem Bündnis zwi-schen dem Herrn des Donbass und denVertrauten des Präsidenten nunmehrvorbei war.
Das Kohlekartell
von Janukowitsch junior
Präsident Janukowitsch, der seit den1990er Jahren als politischer Vertreterder Interessen des Donezk-Clans galt,legte seit 2010 eine gewisse Unabhän-gigkeit gegenüber seinen mächtigenGönnern an den Tag. Er brachte seineeigenen Vertrauten – die Ukrainer nann-ten sie bald seine „Familie“ – in staatli-che Schlüsselpositionen. Einer vonihnen war Sergei Arbusow, sein persön-licher Bankier, der Ende 2010 die Lei-tung der Nationalbank übernahm. Aufdem Höhepunkt der Krise, nach demRücktritt von Mykola Asarow am 28. Ja-nuar, amtierte er kurz als Ministerpräsi-dent.
Janukowitsch stützte sich auch aufWitali Sachartschenko, einen gutenFreund seines Sohns Alexander, den erim Dezember 2010 zum Leiter der staat-lichen Steuerverwaltung und im Novem-ber 2011 zum Innenminister ernannte.
Und er entschied gleich bei seinemAmtsantritt, die Geschäfte eines ande-ren einflussreichen Mannes zu begüns-tigen, nämlich die des Dmytro Firtasch,der zeitweise das Monopol für die russi-schen Gasimporte besaß, bevor er inden Chemie-, Medien- und Bankensek-tor einstieg. Sachartschenko ist inzwi-schen nach Russland geflohen, wäh-rend Firtasch am 12. März in Wien ver-haftet wurde.
Die „Familie“ förderte auch eineneue Gruppe, die sogenannten JungenOligarchen, mit dem aufstrebendenStar Sergej Kurtschenko an der Spitze.Der 29-jährige Kurtschenko, der vorzwei Jahren in ukrainischen Unterneh-merkreisen als „Entdeckung“ gefeiertwurde, ist der Inhaber der Firma GazUkraine, die 18 Prozent des Flüssiggas-markts kontrolliert und einen Gesamt-umsatz von 10 Milliarden Dollar hat.Kurtschenko gönnte sich 2012 außer-dem die Raffinerie von Odessa sowieden Fußballklub seiner Heimatstadt,Metalist Charkiw. Diesen rasanten Auf-stieg verdankt er vor allem seiner engenBeziehung zum Sohn des ehemaligenGeneralstaatsanwalts Wiktor Pschonka,eines weiteren bedeutenden Mitgliedsder „Familie“. Mit dem Erwerb der Raffi-nerie von Odessa trat der junge Chef vonGaz Ukraine in offene Konkurrenz zuIgor Kolomojskyj, dem drittreichstenMann des Landes, der den Ölmarktstark mitbestimmte. „Der Wettbewerbwar verzerrt“, meint dazu die Journalis-tin Anna Babinets, „denn Kurtschenkohatte die Unterstützung des Regimes.“
Nach dem Sturz der „Familie“ flo-hen Kurtschenko ebenso wie Vater undSohn Pschonka nach Russland. Am2. März 2014 wurde sein Rivale Kolo-mojskyj von der neuen Regierung zumGouverneur der Oblast Dnipropetrowskernannt. Am selben Tag übernahmSergei Taruta, eine der zentralen Figu-ren im Stahlgeschäft und Aufsichtsrats-vorsitzender der Industrieunion Don-bass (IUD), das Amt des Gouverneursder Oblast Donezk. Er war einer der fi-nanziellen Unterstützer der „OrangenRevolution“ gewesen, hatte sich aberstets gehütet, sein politisches Engage-ment an die große Glocke zu hängen.„Taruta und Achmetow waren niemalsFreunde. Aber nach vielen Streitigkeitenhaben sie eine Art Stillhalteabkommengeschlossen, um diese Region zu kon-trollieren“, erklärt der Politologe Walen-tin Kokorski, Professor an der Universi-tät Donezk. „Es ist unvorstellbar, dassAchmetow nicht sein Einverständniszur Ernennung seines Konkurrenten ge-geben hat.“ Der Kampf zwischen denbeiden Männern war lange Zeit sehr hef-tig gewesen, so hatte Achmetow seinePreise erhöht, um Taruta dazu zu zwin-gen, die Kontrolle über seine Unterneh-men abzugeben.
Einer der wenigen Vorteile des olig-archischen Systems hätte darin beste-hen können, das Land vor dem Einflussrussischen Kapitals zu bewahren.2 DochKokorski meint dazu: „Es wäre illuso-risch, zu glauben, die ukrainische Wirt-schaft, vor allem im Donbass, könnteohne Russland auskommen. Unsere ge-samte verarbeitende Industrie ist aufdiesen Markt ausgerichtet, und die Er-zeugnisse entsprechen nicht den Vorga-ben der Europäischen Union. UnsereOligarchen wissen ganz genau, dass dieUkraine ihr Heil nur darin finden kann,
dass sie ihre Rolle als Brücke zwischender Europäischen Union und Russlandnach beiden Seiten spielt.“ So hat etwaRinat Achmetow sein Vermögen imDonbass begründet, aber es erstrecktsich auch auf Russland und mehrereLänder der EU (Bulgarien, Italien, Groß-britannien). Der Oligarch besitzt dortFabriken sowie eine ganze Reihe vonBriefkastengesellschaften und Über-kreuzbeteiligungen.
Sergej Taruta entstammt der grie-chischen Minderheit von der Küste desAsowschen Meers. Seine Heimatstadt,die große Hafenstadt Mariupol, ist eineHochburg der Achmetow-Gruppe: DerMilliardär besitzt dort die Metallkombi-nate Asowstal und Iljitsch sowie dieWaggon- und Lokomotivenfabrik Asow-mach, die fast ihre gesamte Produktionnach Russland exportiert. Einige Tagenach seiner Nominierung fuhr Tarutanach Mariupol, um dort Wirtschaftsver-treter zu treffen.
Das Lächeln
der Polizisten
„Dieser Austausch war fruchtbar. Nie-mand hat ein Interesse daran, dass dieUkraine auseinanderbricht“, versichertNikolai Tokarskyi, Leiter der einflussrei-chen Lokalzeitung Priasowskii Rabot-schii,der ebenfalls an der Sitzung teilge-nommen hatte. Die Zeitung gehört Ach-metows Holding SKM. Tokarskyi istauch Abgeordneter im Parlament derOblast Donezk, wo er als „Unabhängi-ger“ direkt die Interessen der Oligar-chen vertritt. Auch auf die Gefahr hin,ihre Leser zu verschrecken, die äußerstempfänglich für russische Propagandasind, setzt sich Priasowskii Rabotschiifür die „territoriale Integrität der Ukrai-ne“ ein und zeugt so vom Bündnis Ach-metows mit den neuen Machthabern inKiew.
Die Regierung zählt auf die Oligar-chen, um den drohenden Staatsbank-rott und die Auflösung des Staatsappa-rats abzuwenden. Vor allem versuchtsie, die mächtigen Industriellen und Ge-schäftsleute für eine Verteidigunggegen die „russische Bedrohung“ zu ge-winnen, da sie davon ausgehen kann,dass ein lang andauernder Konfliktauch katastrophale Folgen für deren In-teressen hätte. Achmetow und Tarutascheinen sich der Gefahr wohl bewusstzu sein und rufen verstärkt dazu auf,Ruhe zu bewahren. Nach den Scharmüt-zeln vom 13. März, bei denen ein De-monstrant im Zentrum von Donezk umsLeben kam, hat sich Rinat Achmetow zueiner Presseerklärung3 durchgerungen,in der es hieß, Donbass sei „eine verant-wortungsbewusste Region“, in der ein„mutiges und arbeitsames Volk“ lebe,und man solle den „Dämonen der Ge-walt“ nicht nachgeben.
Während des gesamten MonatsMärz lieferten sich prorussische De-monstranten und Ordnungskräfte imOsten der Ukraine eine merkwürdigeSchlacht um die öffentlichen Gebäude:Die Demonstranten besetzten sie, einpaar Tage später eroberte die Polizei siezurück. Als der Sitz der Regionalverwal-tung in Luhansk am 9. März besetzt wur-de, verließen 300 gut ausgerüstete Poli-zisten das Gebäude, das sie eigentlichvor den Eindringlingen hätten schützensollen – unter den Jubelrufen einer
2000-köpfigen Menge, die vor allem ausFrauen und Rentnern bestand. Viele Po-lizisten lächelten, im heimlichen Ein-verständnis mit denjenigen, von denensie gerade vertrieben worden waren. Sol-che Szenen wiederholten sich mehr-mals in der Oblast Donezk. „Die Polizis-ten wissen nicht mehr, wem sie gehor-chen sollen. Ihre Vorgesetzten haben jaden früheren Machthabern gedient“,bemerkte dazu der bekannte BloggerDenis Kasanzki aus Donezk.
Die Befehlsketten bei den Sicher-heitskräften sind unsicher, und zwarauf allen Ebenen. Die mit neuen Kadernbesetzten zentralen Behörden funktio-nieren kaum besser: „Was die Korrup-tion betrifft, da verlässt sich die Staats-anwaltschaft auf Informationen, die wirJournalisten ihnen liefern können,denn die Archive sind verschwunden“,erklärt Anna Babinets. Die ukrainischeArmee verfügt nach Angaben von Über-gangspräsident Alexander Turtschinownur über „6000 Mann in Gefechtsbereit-schaft“. So beschloss das Parlament am13. März die Aufstellung einer National-garde. Diese Truppe, die offenbar selbstradikalste Nationalisten wie etwa dierechtsextreme Gruppe Prawyj Sektor(Rechter Sektor)4 aufnimmt, hat kaumeine Chance, das Sicherheitsproblem zulösen – sie kann höchstens das Miss-trauen der Bevölkerung im Osten weitersteigern. Am 14. März kam es in derStadt Charkiw zu einer tödlichen Ausei-nandersetzung zwischen Aktivisten desRechten Sektors und prorussischenKräften.
Auch wenn der Staat sich geradeselbst zu zerlegen scheint, ist die Ge-schichte der ukrainischen „Revolution“in Wahrheit wohl eher die Geschichteeiner verpassten Chance. AlexanderTkatschenko, Funktionär der Partei derRegionen in der etwa 30 Kilometer vonder russischen Grenze entfernten StadtLuhansk, erzählt, „wie alle Welt“ hättenauch ihn die Bilder von JanukowitschsLuxusvilla mit den berühmten vergolde-ten Toiletten schockiert: „Als wir jungwaren, brachte man uns den altenSpruch ‚Friede den Hütten, Krieg denPalästen‘ bei“, seufzt er. „Aber die Kor-ruption hat das ganze Land unterhöhlt.“
Die Bewohner der Ostukraine hät-ten eine Bewegung gegen Oligarchieund Korruption gemeinsam mit denWestukrainern zweifellos gutgeheißen.Aber der übersteigerte ukrainische Na-tionalismus im Westen hat die russisch-sprachigen Bürger abgestoßen; zudemsorgten die Anhänger des ehemaligenPräsidenten Janukowitsch dafür, dassdas Schreckensbild der „faschistischenBedrohung“ stets präsent blieb. Esbrauchte nur wenige Wochen, um dasLand durch Manipulation solcher Ängs-te und Zugehörigkeitsgefühle an denRand eines Bürgerkriegs zu bringen.
1 Maurice Thorez war von 1930 bis 1964 Generalse-kretär der Kommunistischen Partei Frankreichs.2 Slawomir Matuszak, „The oligarchic democracy:The influence of business groups on Ukrainian poli-tics“, Center for Eastern Studies, Warschau 2012.3 www.kyivpost.com/content/ukraine/statement-regarding-events-in-donetsk-339385.html.4 Siehe Emmanuel Dreyfus, „Stramm national inder Ukraine“, Le Monde diplomatique,März 2014.Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Die Revolution in der Ukraineist eher ein Oligarchenwechselvon Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin
ÖlGas
stillgelegt
Pipelines
Atomkraftwerke
in Betrieb
RohstoffvorkommenEisen Mangan Uran
Ukrainisch
Polen
Bulgaren
Tataren
RussenUkrainer
Ungarn
Rumänen
Minderheiten
industriellesZentrum
Kohlebecken undIndustriegebiet
an ausländische Investoren verkauftes oderverpachtetes Land (1,6 Mio. Ha imMärz 2014)
russischer MilitärstützpunktQuellen: Philippe Rekacewicz; Land Matrix;Staatskomitee für Statistik der Ukraine.
Einwohnerin Tausend
3 000
1 500
750300100
0 200 400 km
Russisch
Sprache (vorwiegend)
Lwiw
LutskRiwne
ChmelnyzkyjWinnyzja
SchytomyrKiew
Tschernihiw
Tschernobyl
Tscherkassy Poltawa
Charkiw
Dnipropetrowsk
Luhansk
Donezk
Mariupol
Kirowograd
Juschno UkrainskKrywyjRih
Mykolajiw
Cherson
SimferopolSewastopol
Kertsch
Odessa
Czernowitz
Uschgorod
Ternopil
Iwano-Frankiwsk
Saporischja
POLEN
WEISSRUSSLAND
RUSSLAND
REPUBLIKMOLDAU
RUMÄNIEN
UNGARN
SLOWAKEI
Sumy
Transnistrien
RUSSLAND
Schwarzes Meer
Asowsches
Meer
Makijiwka
Krim
UKRAINE
AGNÈS STIENNE
Donbass
Galizien
Nach dem Referendumvom 16. März 2014von Russland annektiert
Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin sindJournalisten.
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1 Vgl.
Immanuel W
allerstein, „
World-S
ystems
Analysis: A
n
Intro-duction“,
Durham, N
orth
Carolina
(Duke
University
Press)
2004. 2
David
Harvey, „
Der neue
Imperialismus“,
Hamburg
(V
SA
Ver-lag) 2
005.
3 „Europe’s
Reluctant H
egemon“,
The
Economist,
15. Juni 2
013
. 4
Vgl.
Gérard
Duménil
und
Dominique
Lévy, „
La
Grande
Bifurca-tion. E
n finir
avec
le néolibéralisme“,
Paris
(La
Découverte) 2
014
. 5 „Union
européenne: la
révolution
par en
haut?“,
La
Libération,
21.November 2
011.
6 Vgl.
Jürgen
Haberm
as, „
Zur Verfassung
Europas“,
Berlin
(E
di-tion
Suhrkamp) 2
011.
7 Pierre
Rosanvallon, „La
contre-démocratie. L
a politique
à l’âge
de
la défiance“,
Paris
(Seuil) 2
006.
Aus
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Französischen
von
Raul Z
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Lynne
Cohen, U
ntitled, 2
008, C
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Lynne
Cohen, U
ntitled, 2
007, C
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Étienne
Balibar ist Philosoph. Z
uletzt erschien
von
ihm
„S
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ulture, religion, idéologie“,
Paris
(Galilée) 2
012
.
14 LE MONDE diplomatique | April 2014
Die Verteidigung Ungarns
ei einer Gedenkveranstaltungfür den Volksaufstand von1956 begeisterte der ungari-sche Ministerpräsident Viktor
Orbán am 23. Oktober 2013 auf demHeldenplatz in Budapest seine Anhän-ger mit Sätzen wie diesen: „Der Kampfder Ungarn für die Freiheit hatte seineHelden, aber auch seine Verräter. Alleunsere Kämpfe um Unabhängigkeitwurden vom Ausland niedergeschlagen.Wir wissen, dass es immer Leute gab,die unseren Feinden halfen. […] DieKommunisten haben Ungarn und dasungarische Volk an internationale Fi-nanzhaie und Spekulanten verkauft.Wir wissen, dass sie immer noch bereitsind, Ungarn an die Kolonisatoren zuverkaufen. […] Wir sehen, dass sie sichwieder organisieren, dass sie sich wie-der mit Ausländern gegen uns verbün-den, dass sie wieder Hass, Zwietrachtund Gewalt säen. […] Wir müssen unse-re Truppen in Stellung bringen, wie wires 2010 getan haben. Wir werden vollen-den, was wir 1956 begonnen haben.Wenn wir uns jetzt nicht befreien, wer-den wir niemals frei sein.“
Der Fidesz-Vorsitzende,1 der Un-garn seit 2010 regiert, betrachtet libera-le Linke in Ungarn und ganz Europa alsFeinde – desgleichen die internationa-len Konzerne. Als Beleg dient ihm derim Juli 2013 vom Europaparlament ge-billigte Tavares-Bericht, der die rechts-staatlichen Defizite in Ungarn kritisiert.Fidesz hält das für einen Vorwand, umdie Souveränität Ungarns zu untergra-ben. Hinter diesem Plan stecken angeb-lich mächtige Brüsseler Lobbygruppenund die Ungarische Sozialistische Partei(Nachfolgerin der einstigen Sozialisti-schen Arbeiterpartei) mit ihren neolibe-ralen Neigungen. Als Antwort auf denTavares-Bericht verabschiedete das un-garische Parlament eine Resolution, diees für „inakzeptabel“ erklärte, dass dasEuropaparlament versuche, „zugunstender großen Privatunternehmen Druckauf unser Land auszuüben“.
Ministerpräsident Orbán machtsich Feinde. Als Verfechter des Primatsder Politik über die Wirtschaft und desStaats über die Märkte hat der autoritäreRegierungschef eine Reihe unorthodo-xer Maßnahmen angeordnet: Sonder-
B
steuern für Wirtschaftszweige, die voninternationalen Konzernen kontrolliertwerden (Energie, Banken, Kommunika-tion, Großhandel), Verstaatlichung pri-vater Pensionsfonds mit einem Gesamt-vermögen von 10 Milliarden Euro, De-facto-Verbot von Fremdwährungskredi-ten, Einschränkung der Unabhängig-keit der Zentralbank. Das alles gilt in derEU als Frevel.
In seiner Rede an die Nation erklär-te Orbán am 16. Februar: „Als wir dieMacht übernommen haben, war derKrieg zwischen den internationalenKonzernen und den Konsumenten, zwi-schen den Banken und ihren Schuld-nern in ausländischen Währungen, zwi-schen den Monopolisten und den Fami-lien schon in vollem Gang. Wir waren anallen Fronten die Verlierer. Inzwischenhat sich das Kräfteverhältnis grundle-gend verändert. Wir haben mehrereRunden gewonnen, aber der Kampf istnoch nicht vorbei.“
In seinem letzten Amtsjahr konzen-trierte sich Orbán auf den Kampf gegenBanken und Energieunternehmen.Nachdem der Staat seit den Privatisie-rungen der 1990er Jahre quasi aus demSpiel war, will er in beiden Bereichen,die heute zu 80 Prozent von Tochterun-ternehmen westeuropäischer Konzernebeherrscht werden, wieder Fuß fassen.Die Regierung hat Energiekonzerne wieEon, Eni, Electricité de France und GDF-Suez gezwungen, die Tarife für die priva-ten Verbraucher um 20 Prozent zu sen-ken. Auch strebt sie einen gemeinnützi-gen Sektor unter staatlicher Kontrollean, wofür sie die juristischen Vorausset-zungen schaffen will. Die Banken sollenzudem die Folgekosten der Überschul-dung Hunderttausender Familien über-nehmen, die in den Nullerjahren Kredi-te in Schweizer Franken aufgenommenhatten.
Sozialhilfeempfänger
müssen Straßen kehren
Die Auseinandersetzung mit dem Inter-nationalen Währungsfonds (IWF) zeigtam klarsten, wie weit der Wille zur na-tionalen Unabhängigkeit geht. 2010lehnte Orbán die letzten Tranchen einesKredits von insgesamt 20 MilliardenEuro ab, den Ungarn im Oktober 2008mit IWF, Weltbank und EU ausgehan-delt hatte. Nach zähen Verhandlungenwies er Ende 2012 auch ein zweites An-gebot zurück. In einer aufwendigen PR-Kampagne setzte er auf simple Parolen:„Nein zu Streichungen in der Familien-hilfe! Nein zur Rentenkürzung! Wir un-terwerfen uns nicht dem IWF! Ungarnbleibt unabhängig!“ Im Schutz solcherFreiheitskampf-Rhetorik setzte die Re-gierung ihre Sparpolitik mit Kürzungenim Gesundheits- und Bildungswesenund bei den Sozialleistungen fort.
Von seinen Gegnern wird Orbánwegen seines Antiliberalismus und sei-ner populistischen Klientelpolitik mitHugo Chávez verglichen, wegen seines
autoritären Führungsstils mit WladimirPutin und angesichts des ausgeprägtenPersonenkults mit dem früheren rumä-nischen Diktator Nicolae Ceauescu. DerÖkonom Zoltán Pogatsa charakterisiertden Orbanismus etwas zurückhaltenderals „eine Mischung aus Gaullismus undReaganismus“.
Der Regierungschef hat keineswegsvor, die Überreste des Sozialstaats durchhöhere öffentliche Einnahmen zu fi-nanzieren. Er sieht den „Ausweg aus derSackgasse des westeuropäischen Mo-dells vom Wohlfahrtsstaat“ vielmehr ineiner Gesellschaft, deren Grundlage dieArbeit ist. Im Juli 2012 ließ er ein Gesetzbeschließen, das die Empfänger von So-zialhilfe zu gemeinnütziger Tätigkeitverpflichtet.2 Diese Politik soll vor allemdie Gläubiger (IWF, EU und Weltbank)befriedigen sowie das Haushaltsdefizitunter 3 Prozent des BIPs senken und dieSchulden bei 80 Prozent des BIPs stabi-lisieren (beides entspricht den „Maast-richt-Kriterien“ der Eurozone). Die pro-gressive Einkommensteuer wurdedurch eine Einheitssteuer von 16 Pro-zent ersetzt. Wirtschaftsminister Mi-hály Varga plant für 2015 sogar eine Sen-kung auf 9 Prozent.3
Diese Politik kommt vor allem derMittelschicht zugute, während dieArmut weiter zunimmt. Die Zahl derUngarn, die unter der Armutsgrenze(220 Euro im Monat) leben, ist nach An-gaben der Soziologin Zsuzsa Ferge seit2001 von etwa 3 auf 4 Millionen gestie-gen – eine Zunahme (bei 10 MillionenEinwohnern) um 33 Prozent.
Hinter dem Schleier vorgeblich na-tionaler Interessen zeichnen sichimmer klarer die Formen der neuenPfründen ab, die sich die Parteigrandendes Fidesz und deren Freunde aus „derWirtschaft“ gesichert haben: Lajos Si-micska, ehemals Parteischatzmeisterund Chef der Steuerbehörde, kam wiesein Geschäftspartner Zsolt Nyergesund andere Großunternehmer4 bei deneinträglichsten öffentlichen Aufträgenzum Zuge. Die alte Oligarchie wurde voneiner neuen abgelöst. Und auch diestützt sich auf ein die ganze Gesellschaftdurchsetzendes Klientelsystem, dasdurch Angst genährt und durch Gleich-gültigkeit begünstigt wird. Für die So-ziologin Mária Vásárhelyi hat der „Orba-nismus“ eine „Renaissance des HomoKadaricus“5 bewirkt, also jener unter-würfigen Mentalität, wie sie unter derRegierung János Kádár (KP-Chef von1956 bis 1988) typisch war.
Die filmische Dokumentation„Krieg gegen die Nation“, die mehrfachim staatlichen Sender Duna Televízióausgestrahlt wurde, stellt Ungarn als einLand dar, dass sich praktisch im Belage-rungszustand befindet. In dem Film ste-hen ernsthafte Analysen über die Ver-schiebung des nationalen Reichtumsvom staatlichen zum privaten Sektorneben obskuren Behauptungen überdie Gier der Großmächte. István Je-lenczki stellt seinen Film als Reaktionauf die Intervention des IWF von 2008
dar: „Ich war der Ansicht, dass durchden Kredit des IWF unser Staatsvermö-gen verschleudert wurde und dass es ander Zeit war, die Ungarn über den Kriegaufzuklären, der seit Jahrhunderten umdieses Vermögen geführt wird.“6
Der Soziologe Endre Sik erklärt,woher solche Ressentiments kommen:„Die Bevölkerung glaubt, dass sie schonimmer kolonialisiert und ausgebeutetwurde: von den Türken, den Deutschen,den Russen und heute von der Europäi-schen Union. Die Politiker neigtenimmer dazu, Ausländer als Hintermän-ner einer internationalen Verschwö-rung zu sehen.“ Dass die Volksmeinungfür solche Verschwörungstheorien emp-fänglich ist, sieht Sik in einem größerenZusammenhang: „Ob Juden, Zigeuneroder die EU – alle müssen als Sündenbö-cke herhalten. Und die Politiker spielenmal die eine, mal die andere Karte.“ Undder US-amerikanische Historiker Wil-liam M. Johnston schreibt: „Ihre Fähig-keit zum Träumen hat die Ungarn zu he-rausragenden Advokaten gemacht, stetsbereit, Ungarn als Ausnahme unter denNationen zu verteidigen.“7
Beschwerden in Brüssel
gelten als nationaler Verrat
Der Ministerpräsident gibt zwar zu, dassgegen ihn kein Komplott ausgehecktwurde. Aber er habe Anfang 2012 durchdie Mobilisierung seiner Gefolgschafteinen „Putsch“ verhindert. Damalszogen Hunderttausende in einem „Frie-densmarsch“ nach Budapest; sie kamenaus ganz Ungarn, aber auch aus vormalsungarischen Gebieten, die heute zu Ru-mänien oder zur Slowakei gehören.Diese „Auslandsungarn“ haben seit2011 den Anspruch auf ungarischePässe – und damit das Recht, an Wahlenin Ungarn teilzunehmen, was natürlichder Rechten zugutekommt. Zumal dieAuslandsungarn – anders als im Aus-land lebende „normale“ Ungarn – perBriefwahl abstimmen können.8
„Wir werden keine Kolonie!“, skan-dierten die Demonstranten und „Euro-päische Union gleich Sowjetunion“. Mitsolchen Parolen feierte die Menge dieseit Anfang 2012 gültige neue Verfas-sung. Weil diese die Kompetenzen desVerfassungsgerichts, die Autorität derGerichte und die Unabhängigkeit derZentralbank beschränkt, wurde sie imAusland als Wende zum autoritären Sys-tem wahrgenommen.9 Damals gingauch das Gerücht um, der sozialistischeOppositionsführer Mesterházy habeden Moment der Unsicherheit genutztund Orbán zum Rücktritt aufgefordert.
Die Behauptung, das Ausland ver-suche Ungarn zu destabilisieren, wirdmit großen Nachdruck in einem Buchverbreitet, das im Sommer 2012 er-schien und wochenlang mit großen Pla-katen beworben wurde.10 Der Titel „Wergreift Ungarn an und warum?“ sprichtfür sich – ebenso das Bild auf dem Um-schlag: Jagdflugzeuge über dem Karpa-
tenbecken, Urheimat und Zuflucht desMagyarenvolks. Die Autoren erklären,der Angriff auf die Stabilität sei von Di-plomaten, von ungarischen und US-amerikanischen Politikern, von Intel-lektuellen der liberalen Linken und vomIWF organisiert worden.
Da die ungarische Linke nicht inder Lage ist, die konservative Revolutionaufzuhalten, die der Fidesz im Eiltempodurchzieht, hat sie sich mehrfach anBrüssel gewandt. Für die Regierung wardies ein Verrat, den sie auch dadurch be-wiesen sah, dass linke Ungarn sich kri-tisch in der ausländischen Presse äußer-ten. Auch in Ungarn gibt sich die Rechteals Hort des Nationalismus und Patrio-tismus, während die Linke als kosmo-politisch gilt. Dabei versucht die Linke,„nicht allzu internationalistisch rüber-zukommen“, meint der Soziologe Sik,„aber das gelingt ihr nicht“.
Für viele hat der ausländischeFeind das Gesicht von George Soros. DerNew Yorker Milliardär und Philanthropungarisch-jüdischer Abstammung istbevorzugte Zielscheibe für die regie-rungstreue und erst recht für die rechts-extreme Presse. Seit 1989 hatte derApostel der „offenen Gesellschaft“10 dieEntwicklung demokratischer Bewegun-gen unterstützt, zu denen auch der Fi-desz (Bund Junger Demokraten) gehör-te, der Vorläufer der heutigen Regie-rungspartei. Drei führende Fidesz-Leu-te, Orbán selbst, ParlamentspräsidentLászló Kövér und Verfassungsrichter Ist-ván Stumpf, bezogen einst Stipendienvon der Soros-Stiftung.
Heute fördert das Netzwerk OpenSociety Foundations in Ungarn zahlrei-che linke oder liberale NGOs, die Or-báns Gegner unterstützen. Und derThinktank Center for American Pro-gress, dem Soros nahesteht, finanziertdie Stiftung Haza és Haladás (Vaterlandund Fortschritt), die Basis des Anti-Orbán-Kandidaten Gordon Bajnai. Dieregierungsnahe Wochenzeitung HétiValasz behauptet, 2012 seien 1,7 Millio-nen Euro an die Opposition geflossen.
Ausländische Kritik am Minister-präsidenten war für dessen Anhängerim Inland stets ein gefundenes Fressen.Dabei hat die internationale Presse Or-báns Politik zu oft pauschal verurteilt,ohne danach zu fragen, warum die Un-garn ihn gewählt haben. Sie stimmtengegen „Inkompetenz, interne Zwistig-keiten und die Korruption der früherenRegierungen“ – so fasst es der öster-reichische Journalist ungarischer Ab-stammung Paul Lendvai zusammen,und der ist der heutigen Regierungwahrlich nicht wohlgesinnt. Das inWesteuropa verbreitete Bild Ungarns –als ein Land hinter den Bergen, mitHang zu orientalischem Despotismusund zur Barbarei – hat die historischenKomplexe, die Neigung zu Paranoia undIsolationismus noch verstärkt.
Das fragile Parteibündnis von So-zialisten und Liberalen unter Führungder ehemaligen MinisterpräsidentenFerenc Gyurcsány und Gordon Bajnai
von Corentin Léotard
Bei denWahlen vom6. April
hat die RegierungOrbán
ihre Zweidrittelmehrheit im
Parlament knapp behauptet.
Und die rechtsradikale Jobbik
hat sogar noch zugelegt. Damit
bleibt Ungarn auf seinem
waghalsigen rechten Kurs –
in und gegen Europa zugleich.
Orbán lässt Reagan
als Befreier vom
Kommunismus
feiern und würdigt
mit Horthy einen
Autokraten, der
zwischen 1920 und
1941 Ungarns
Juden verfolgt hat
BELA SZANDELSZKY/ap
LASZLO BALOGH/reuters
LE MONDE diplomatique | April 2014 15
kann deren früheren Fehler nicht verges-sen machen. Die kleine Ökologische Par-tei (7,5 Prozent bei den Wahlen 2010)lehnt jede Allianz ab und setzt mit ihremKampf gegen die Korruption ihr parla-mentarisches Überleben aufs Spiel. Amanderen Ende des Spektrums steht dierechtsextreme Jobbik-Partei (16,7 Pro-zent). Seitdem sie es 2010 ins Parlamentschaffte, hat die nationalistische Rhetorikdes Fidesz der Jobbik allerdings den Windaus den Segeln genommen.
Das Misstrauen gegenüber dem Wes-ten hat sich noch verstärkt, als westlicheMedien Ende 2012 den früheren techno-kratischen Ministerpräsidenten Bajnai alsHerausforderer Orbáns begrüßten. Diespektakulären makroökonomischen Re-sultate, die der frühere Geschäftsmannwährend seiner kurzen Amtszeit von April2009 bis Mai 2010 erzielte, sind in Brüsselund Washington noch in bester Erinne-rung: Bajnai senkte das Haushaltsdefizit,das 2006 noch 9 Prozent des BIPs betragenhatte, bis 2010 auf 4 Prozent.
Diese „Erfolge“ beruhten allerdingsauf einer rigorosen Sparpolitik, wie sie Un-garn seit 1995 nicht mehr erlebt hatte:Kürzung der Sozialausgaben, Abschaf-fung des 13. Monatsgehalts für Rentnerund Angestellte, Einfrieren der Gehälterim öffentlichen Dienst, Erhöhung desRenteneintrittsalters von 62 auf 65 Jahreund Erhöhung der Mehrwertsteuer von 20auf 25 Prozent. Wobei anzumerken ist,dass die Mehrwertsteuer unter Orbánmittlerweile auf 27 Prozent gestiegen ist –ein europäischer Rekord.
Im Ausland erfuhr das Krisenma-nagement Bajnais viel Lob. In Ungarnhielt sich die Begeisterung indes sehr inGrenzen. Damit war für Orbán der Weg zuMacht geebnet. Vier Jahre später sieht esso aus, als hätten die Ungarn nur noch dieWahl zwischen einer technokratischenRegierung, die sich den Interessen der in-ternationalen Konzerne unterordnet, unddem Rückzug in den Nationalismus.
1 Siehe Gáspár Miklós Tamás, „Das eiserne Rückgrat
der Nation“, Le Monde diplomatique, Februar 2012.2 Siehe Roland Mischke, „Ungarn unter Orbán“, Le
Monde diplomatique,Mai 2013.3 Figyelö, Budapest, 19. Dezember 2013.4 ag-friedensforschung.de/regionen/Ungarn/
weg.html und reuters.com/article/2012/04/16/us-
hungary-idUSBRE83F0KG20120416.5 Elet Es Irodalom, Budapest, Dezember 2013.6 Magyar Hírlap, Budapest, 3. Mai 2012.7 William M. Johnston, „The Austrian Mind“, Berkeley
(University of California Press) 1983, zitiert nach Paul
Lendvai, „Die Ungarn“, München (Beck) 1999, S. 451.8 Über die Rolle der Auslandsungarn siehe Laurent
Geslin und Sébastien Gobert, „Jenseits von Schen-
gen“, Le Monde diplomatique, April 2013.9 Da einige der Verfassungsartikel gegen EU-Recht
verstoßen, hat die Europäische Kommission seitdem
mehrere Änderungen durchgesetzt.10 Der Originaltitel: Zárug Péter Farkas, Lentner Csaba
und TóthGy. László, „Kik támadjákMagyarországot és
miért?“, Budapest (Kairosz Kiadó) 2012.11 Das von George Soros gegründete Netzwerk Open
Society Foundations ist benannt nach Karl Poppers
Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
b und zu trägt Gábor Vona, 35,Vorsitzender der Partei „Bewe-gung für ein besseres Ungarn“
(Jobbik), ein Palästinensertuch um denHals. Für den Chef einer Partei, die alsrechtsradikal eingestuft wird, ist das,denkt man, ein eher ungewöhnlichesKleidungsstück. Vona trug die Kufijazum Beispiel im November 2012 in Bu-dapest – bei einer Demonstration gegendie israelischen Militäroperationen imGazastreifen. Zuvor hatte er im Parla-ment eine Resolution vorgelegt, die den„Genozid in Gaza“ anprangerte.
Dazu erklärte der bei Jobbik für in-ternationale Beziehungen zuständigeMárton Gyöngyösi, der auch stellvertre-tender Vorsitzender des auswärtigenAusschusses im ungarischen Parlamentist: „Mit der tagtäglichen Demütigungdes palästinensischen Volkes weckt Is-rael Erinnerungen an die dunkelstenPerioden der Geschichte.“ Wenige Tagespäter forderte er die ungarische Regie-rung auf, die diplomatischen Beziehun-gen zu Israel abzubrechen und eineListe aufzustellen mit „Menschen jüdi-scher Abstammung, die hier leben, ins-besondere Mitglieder des ungarischenParlaments und der ungarischen Regie-rung, die tatsächlich ein nationales Si-cherheitsrisiko für Ungarn darstellen“.
Der Skandal schlug in Ungarn wieim Ausland hohe Wellen. Doch das Ver-halten der Partei resultiert nicht alleinaus ihrer feindseligen Haltung gegen-über Israel. Bei den letzten Wahlen vomMai 2010 hatte Jobbik 16,7 Prozent derStimmen gewonnen und damit 47 von386 Parlamentssitzen errungen. Seithergab die Partei immer wieder Sympathiefür die muslimische Welt zu erkennen.Gábor Vona erklärte gar, er sei vomIslam fasziniert, der für ihn die letzteBastion des Traditionalismus gegen dieGlobalisierung darstellt: „Der Islam istdie letzte Hoffnung der Menschheit inder Finsternis des Globalismus und Li-beralismus“, erklärte er bei einem Be-such türkischer Universitäten im No-vember 2013.
Vona behauptet darüber hinaus:„Unsere nationalen Wurzeln sind in denVölkern des Orients.“ Seine Partei lehntdie von den meisten Wissenschaftlernunterstützte Hypothese ab, die Ungarnseien ein entfernt mit Finnen und Estenverwandtes Volk, das mehrere Assimila-tionsprozesse durchlaufen habe. Sie be-hauptet vielmehr, dass die Ungarn di-rekt von den Hunnen und deren Anfüh-rer Attila abstammen. Der Jobbik-Abge-ordnete Gyöngyösi verkündet: „StrengeWissenschaften wie Genetik, Anthro-pologie, Archäologie, aber auch dieschlichte Beobachtung der volkstümli-chen Traditionen, etwa in Märchen undMythen, in Tänzen, in der Volksmusikund in der Reitkunst, zeigen uns auf,dass wir ohne jeden Zweifel ein turani-sches Volk sind und dass unsere nächs-ten Verwandten in Zentralasien und inder Kaukasusregion leben.“
Die mythischen Ursprünge und der„Panturanismus“, der die Einheit derVölker beschwört, die von den turkspra-chigen Stämmen Zentralasiens abstam-men, werden alljährlich im August miteinem großen Festival namens Nagy-Kurultáj gefeiert. In der Puszta, hundertKilometer südlich von Budapest wollenTausende Zuschauer erleben, wie unga-rische, usbekische, uigurische, türki-sche, aserbaidschanische und kasachi-sche Bogenschützen und Reiter gegen-einander antreten.
Am Rande des Festivals, das auchvon der Regierungspartei Fidesz geför-dert wird,1 gab es Gelegenheit zu diplo-matischen Kontakten. 2013 waren dieBotschafter Kasachstans und Aserbaid-schans und eine türkische Delegationanwesend, 2012 auch ein Vertreter deriranischen Botschaft.
Der Iran steht bei Jobbik ebenfallshoch im Kurs. 2010 hatte die Parteisogar gefordert, die Parlamentswahlennicht nur von ihrer eigenen Miliz, derMagyar Garda, sondern auch von islami-schen Revolutionswächtern überwa-chen zu lassen. Auch in den Jahren, indenen der Iran wegen seines Atompro-gramms international geächtet war,pflegte man enge Beziehungen zu Tehe-ran.
A2011 organisierte Jobbik eine Kon-
ferenz mit iranischen Geschäftsleutenund Staatsvertretern, darunter der Bot-schafter der islamischen Republik inUngarn. Die Delegation wurde anschlie-ßend von mehreren Abgeordneten derRegierungspartei Fidesz und vom Buda-pester Bürgermeister empfangen. „Fürden Iran ist Ungarn der Westen, und fürUngarn ist der Iran das Tor zum Orient“,erklärte Vona nach den Gesprächen.
Am Ortseingang der Kleinstadt Ti-szavasvári, die seit dem Sieg der rechts-radikalen Partei bei den Kommunal-wahlen im Oktober 2010 als „Jobbik-Hauptstadt“ gilt, weist ein kleines Mo-nument auf die Städtepartnerschaft mitdem iranischen Ardabil hin. Wie kam esdazu, dass dieses Nest von 13000 Ein-wohnern mitten in der ungarischenTiefebene eine Partnerschaft mit eineriranischen Stadt mit 500000 Einwoh-nern eingehen konnte? Jobbik ersuchtedie iranische Botschaft, den Kontaktmit einer Stadt zu vermitteln. Die Um-setzung erfolgte dank der „sehr gutenBeziehungen zum Botschafter. Es warein natürlicher Prozess“, erklärt Gyön-gyösi, der auch der Parlamentariergrup-pe für iranisch-ungarische Freund-schaft vorsteht.
Tiszavasvári hat auch eine Partner-schaft mich Yichun in China und Osma-niye in der Türkei. Im zweiten Fall gingdie Initiative laut Gyöngyösi allerdingsvon den Türken aus, die sich auf Vor-schlag des ungarischen Botschafters inAnkara für Tiszavasvári entschieden.Die Stadt wurde von türkischen Ge-schäftsleuten besucht, es folgte eine bi-laterale Konferenz. Aber die „blühen-den kulturellen Beziehungen“ findenauf ökonomischer Ebene noch keinerechte Fortsetzung. Nur ein ungarischesWerk, das Bauteile für die Automobilin-dustrie exportiert, hat sich 2012 in Os-maniye angesiedelt, wobei es auch deniranischen Markt im Auge hat.
Die engen Kontakte zwischen Job-bik und dem Iran beruhen auf den tradi-tionell guten diplomatischen Beziehun-gen zwischen beiden Staaten. Als einzi-ges EU-Land gratulierte Ungarn demIran am 11. Februar 2014 zum 35. Jah-restag der islamischen Revolution.Staatspräsident, Ministerpräsident, Au-ßenminister und Parlamentspräsidentsandten Grußadressen an ihre irani-schen Amtskollegen. So hatte es aller-dings auch schon der Chefdiplomat derletzten, von den Sozialisten geführtenRegierung zum 25. Jahrestag gehalten.Im Dezember 2013 erklärte MadschidTacht-Ravanchi, der für Europa undAmerika zuständige Vizeaußenministerdes Iran, bei einem Treffen in Teheran,sein Land lege besonderen Wert auf dieEntwicklung der Beziehungen zu Un-garn, das er als „unseren traditionellenFreund in Osteuropa“ bezeichnete.
Ravanchis Vorgänger Ali Ahanihatte schon wenige Monate nach demWahlsieg der Fidesz vom Mai 2010einen Antrittsbesuch in Budapest ge-macht, um „die kulturellen und wirt-
schaftlichen Beziehungen zwischenden beiden Ländern zu stärken“ undüber Ungarn Zugang zur EuropäischenUnion zu finden. In einem Gespräch mitAußenminister János Martonyi begrüß-te Ahani den Machtwechsel in Budapestund meinte, die alte Regierung sei zustark auf das Verhältnis zur EU fokus-siert gewesen.
Die Zahl der iranischen Studentenan ungarischen Universitäten wurde2012 auf 3000 geschätzt.2 Seit Beginndes Tauwetters in den Beziehungen zwi-schen dem Iran und dem UN-Sicher-heitsrat im November 2013 wartet Un-garn ungeduldig auf die Lockerung derinternationalen Sanktionen, da derWirtschaftsaustausch zwischen beidenStaaten in den letzten Jahren praktischzum Erliegen gekommen war.
Die geschilderten Initiativen derJobbik passen zur pragmatischen Regie-rungsdoktrin der „Öffnung nach Os-ten“. Diese Politik zielt auf strategischeund handelspolitische Partnerschaftenmit dem Orient, um Ungarns starkewirtschaftliche Abhängigkeit von ande-ren EU-Staaten zu mindern. Derzeitgehen mehr als drei Viertel der Exportein die EU; ein Großteil davon produziertvon Tochterunternehmen westeuropäi-scher Konzerne. Schon die sozialisti-schen Regierungen hatten, wenn auchvorsichtiger, die Rolle Ungarns als geo-strategisches Scharnier zwischen Ostund West betont und versucht, ihr Landals Basis für die Expansion des europäi-schen Markts nach Osten anzudienen.
Unter Viktor Orbán hat sich dieseEntwicklung beschleunigt. Seit Dezem-ber 2013 sind ungarische Diplomaten indie Türkei, nach Aserbaidschan undnach China gereist; in Budapest wurdeder kasachische Außenminister emp-fangen. Jobbik begrüßt die Neuorientie-rung einer Außenpolitik, „die bis 2010sehr stark bis ausschließlich europä-isch-transatlantisch ausgerichtet war“,wie Gyöngyösi mit einiger Übertreibungurteilt. Sein Fazit: „Nach dem Ende derSowjetunion gehörte die Aufnahme indie EU und die Nato3 zu Ungarns vorran-gigsten Zielen. Das war die falscheWahl. Wir müssen unsere eigenen Lö-sungen finden und für die nationalenungarischen Interessen kämpfen, mitden Mitteln der Wirtschaftspolitik, aberauch mittels der Diplomatie und militä-rischer Allianzen.“
Ungarn misstraut der EU und denUSA, von denen es seine Souveränitätbedroht sieht. Mit dem Iran, der Türkeioder auch Aserbaidschan hat das LandHandelspartner gefunden, die sich of-fensichtlich nicht in seine inneren An-gelegenheiten einmischen wollen.
Corentin Léotard
1 Siehe G. M. Tamas, „Das eiserne Rückgrat der Na-
tion“, Le Monde diplomatique, Februar 2012.2 Die meisten von ihnen studieren Medizin. Angaben
nachHéti Válasz,Budapest, 22. Februar 2012.3 Ungarn gehört seit 1999 zurNato und seit 2004 zur
EuropäischenUnion.
Jobbik und die Liebe
zu den Turkvölkern
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Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Corentin Léotard ist Journalist.
monde-diplomatique.ch
Hrsg. von Karoline Bofinger, Berlin 2014,
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16 LE MONDE diplomatique | April 2014
ür albanische Verhältnisse wardie Abfuhr an den US-amerika-nischen Außenminister schonrecht selbstbewusst. Ob die Re-
gierung nicht Interesse habe, die Zer-störung der syrischen Chemiewaffen zuübernehmen, hatte John Kerry im Ok-tober in Tirana anfragen lassen. DasGeschäft mit den Giftwaffen hätte Geldin die Kasse des klammen Staats ge-spült. Aber: Nein, man habe kein Inter-esse, antwortete Albaniens neuer Minis-terpräsident Edi Rama. Früher hätte daskleine Land seiner großen Schutzmachtden Wunsch wohl nicht abgeschlagen.Die Regierung hatte in der Vergangen-heit auch zugestimmt, Häftlinge ausGuantánamo aufzunehmen. Aber Al-banien will nicht mehr die miesenJobs machen, die kein anderer über-nehmen will.
Edi Rama ist ein ziemlich auffälli-ger Typ. Nicht nur aufgrund seiner Grö-ße, die ihm einen Platz in der albani-schen Basketballnationalmannschaftbescherte. Der 49-Jährige tritt lieber imT-Shirt auf statt mit Krawatte. Und beieinem Besuch überreicht er einemgleich sein neues Buch mit Skizzen undZeichnungen. Rama ist nämlich auchKünstler. Im Wahlkampf hatte er sei-nem Land eine „Renaissance“ verspro-chen und klare Worte nicht gescheut:Im Ausland werde Albanien vor allemmit Kriminalität verbunden. Durch unddurch korrupt sei es und kaum ein Staatzu nennen.
Nun soll ein Aufbruch her, und dentrauen die Albaner ihrem neuen Minis-terpräsidenten zu. Gleich nach seinemWahlsieg im vergangenen Septemberhat Rama ein wichtiges Signal gesetzt:Anstatt nur alte Politprofis zu Ministernzu machen, holte er Aktivisten aus derZivilgesellschaft wie Arbjan Mazniku indie Regierung und eröffnete ein Bewer-bungsverfahren für wichtige Verwal-tungsposten. Vor ein paar Monaten lei-tete der 35-jährige Mazniku noch einenVerein für Bildungspolitik, und jetzt ister stellvertretender Bildungsminister.
Vor allem die jungen Albaner set-zen zum ersten Mal Hoffnung in ihre Re-gierung. Rama weiß, wie man politischSymbole setzt. Als er vor 14 Jahren Bür-germeister von Tirana wurde, hat er alsErstes viele Häuser in der grauen Haupt-stadt bunt anmalen lassen. Was aberauch zur Wahrheit seines Wahlsiegs ge-hört: die Koalition mit Ilir Meta, demChef einer Kleinpartei, den Rama vorein paar Jahren noch als typischen Ver-treter für alles, „was in diesem Staat faulist“, bezeichnet hat. Meta war schon inder Vorgängerregierung Außenministerund hat mit seiner Partei die Seiten ge-wechselt.
Jahrzehntelang haben die Albanerihre Antennen heimlich nach Italienausgerichtet. Zur Zeit des Kommunis-mus war der Fernsehsender RAI die ein-zige Verbindung in den Westen. Diemeisten Albaner haben auf diese WeiseItalienisch gelernt, sie haben die Modekopiert und lieben den italienischen Es-presso. Nach der Wende sind viele nachItalien emigriert und nahmen dafür dieeinfachsten Jobs in Kauf. Auch ins be-nachbarte Griechenland sind Hundert-tausende ausgewandert. Viele vonihnen haben Griechisch gelernt oder lie-ßen sich sogar einer unauffälligen Inte-gration zuliebe auf christliche Namentaufen. Ein Drittel der Bevölkerung,etwa eine Million Albaner, hat in denletzten zwei Jahrzehnten das Land ver-lassen. Jetzt kehren einige von ihnen zu-rück.
Nicht nur die Exilanten sollen kom-men, sondern auch Touristen. Die NewYork Times hat Albanien schon als Ge-heimtipp empfohlen, und Reisebloggerpreisen die Gastfreundschaft. Das Landgilt als ursprünglich: Nördlich der grie-chischen Insel Korfu liegen die traum-haften Strände der albanischen Adria-küste, im Hinterland erstreckt sich eineunberührte Berglandschaft. Die Rück-ständigkeit wird gefeiert, als würde manam Mittelmeer noch einmal jenen vomKommerz befreiten Zustand vorfinden,der vor einigen Jahrzehnten den ReizGriechenlands oder Süditaliens ausge-macht hat. Die Touristen erwähnen al-lerdings auch die schlechten Straßen,Stromunterbrechungen und Baurui-nen.
Im ganzen Land lassen sich die äu-ßeren und inneren Fehlentwicklungender letzten Jahrzehnte an den Gebäudenablesen. Die Hauptstadt Tirana ist ge-prägt von klobigen sozialistischen Ein-heitsbauten, die aus einer Zeit stam-men, in der Albanien hoffnungslos iso-liert war. Überall im Land liegen winzige
Fmilitärische Bunker verstreut und be-zeugen die unter Enver Hoxhas jahr-zehntelanger Herrschaft (1944 bis 1985)ängstlich kultivierte Alarmbereitschaft– in Erwartung von Gegnern, die es niegab.
In den letzten Jahren haben vorallem Korruption und organisierte Kri-minalität die Entwicklung des Landesbehindert. Besonders offensichtlichwird das im Baugewerbe. Im GroßraumTirana entstanden ganze Stadtteileohne Baugenehmigung – und ohne jedeInfrastruktur. An den Küsten stehen ge-schmacklose Hotelburgen und Baurui-nen, weil es an einer durchdachten Tou-rismuspolitik fehlte. Zahlreiche dieserBausünden sind das Ergebnis einergroß angelegten Geldwäsche: Die alba-nische Mafia hat ihr Geld aus dem Men-schen- und Drogenhandel in Beton undGlas gesteckt.
Zusammen mit dem Müll, der über-all herumliegt, bietet sich ein tristesBild. Rama setzte mit seiner Anstreich-aktion für Tirana genau an diesemPunkt an. Die Aktion brachte nicht nurFarbe in die Stadt, sie war auch Symboldafür, dass die Albaner bei sich selbstanfangen müssen. Und dass man etwasaus dem machen kann, was da ist. Seitfast 25 Jahren befindet sich das Land ineinem andauernden gesellschaftlichenund staatlichen Wandel. Es gibt mittler-weile eine ganze Generation, die in die-sem Übergang groß geworden ist.
Nach dem Ende des kommunisti-schen Systems waren Staat und Indus-trie komplett zusammengebrochen.Und in den Wirren des Jugoslawien-kriegs kümmerten sich weder die Euro-päische Union noch die USA um dieProbleme in der Nachbarregion. Hierspielten ethnische Konflikte kaum eineRolle, obwohl es unter den 3 MillionenEinwohnern genug Zündstoff gibt. Vorallem die griechische Minderheit mel-det sich gelegentlich lautstark zu Wort,und ein organisierter Angriff von Un-bekannten auf eine Roma-Siedlunghat scharfe Rügen der EU ausgelöst.Von rund 20 Prozent Atheisten undAuskunftsverweigerern abgesehen, istdas Land religiös bunt gemischt. Offizi-ell sind 60 Prozent der Bevölkerungmuslimisch, 10 Prozent katholisch und7 Prozent orthodox. Aber die Spannun-gen aus den Nachbarregionen habensich nicht auf Albanien übertragen.
Aus einem ganz anderen Grundging Albanien 1997 erneut in die Knie.Die „Pyramiden“ brachen zusammen,ein Geldbetrugssystem, in das auch Po-litiker verwickelt waren. Es kam zu ge-waltsamen Protesten, in dessen Folgesich sogar die Armee auflöste. Seitdemkämpft sich das Land mühsam voran.Aber die Reformer kommen gegen dieProbleme nicht an, es bessert sich kaumetwas. Nach wie vor sind Bestechungs-gelder gang und gäbe. Die Korruptionhat die Bevölkerung müde und miss-trauisch gemacht. „Ich wollte hier nichtmehr leben“, sagt Iris Xholli. Als jungeStudentin ging sie vor über zehn Jahrenin die USA und war froh, der depressivenStimmung entkommen zu sein.
Edi Rama baute
allen eine Brücke
Dabei gab es durchaus kleine Erfolge.Außenpolitisch verhielten sich diewechselnden Regierungen pragma-tisch. Das Land, das einst nur Chinazum Freund hatte, wurde 2009 auchdank der Unterstützung der USA in dieNato aufgenommen. Die Amerikanerhatten Albanien nach der Wendeschnell als strategischen Stützpunkt ge-nutzt. Sie unterhielten dort währenddes Jugoslawienkriegs wichtige Flugba-sen und ließen sich durch die guten Be-ziehungen Albaniens zum Kosovo überdie dortige Lage informieren. Die Mit-gliedschaft in der Nato war der Dankdafür und gilt im Land als Beweis, inter-national als vertrauenswürdig aner-kannt zu sein. Für die Nato, ist zu hören,war es ein verkraftbarer Schritt. Und inall den Jahren wurde auch die Annähe-rung an die EU vorangetrieben: Seit2006 gibt es ein Assoziierungsabkom-men. Im Juni wollen die Staats- und Re-gierungschefs der EU endlich darüberentscheiden, ob Albanien den Statuseines Beitrittskandidaten erhält.
Aufgrund der krassen Korruptionwar der Verhandlungsbeginn für einenBeitritt immer wieder verschoben wor-den. Davon abgesehen hatte sich bishersowieso keiner der Schritte in die inter-nationalen Großorganisationen für dieBürger ausgezahlt. Irgendwann war ein
Albaniensneues Gesicht
toter Punkt erreicht, aus dem es nurnoch einen Ausweg gab: ein Neuanfang.Als Edi Rama seine Renaissance ankün-digte, traf er damit genau den richtigenNerv. Die Bevölkerung wollte endlichdie Zeit des Übergangs beenden. Alba-nien sollte endlich ein normales Landwerden. Der neue Ministerpräsidentbaute allen eine Brücke: „Wenn eindeutscher Beamter in Albanien arbeitenwürde, wäre er auch korrupt. Umge-kehrt sehen wir viele Albaner, die insAusland gehen und sich dort an die Re-geln halten.“ Rama gab dem System dieSchuld und nicht den Menschen. Mitdieser Botschaft gewann er die ersteWahl ohne Wahlbetrug.
Ervin Qafmolla hat bisher sein gan-zes Leben in Tirana verbracht und freutsich über die neue Dynamik in der Stadt.„Vor ein paar Jahren ist kaum jemandausgegangen. Es gab nur die Oper undein Theater. Jetzt ist kulturell was los,die Cafés sind voll“, erzählt der 34-jähri-ge Journalist. Die Stadt sei in den letztenJahren normaler geworden, die Men-schen gäben sich offener. „Tirana istnoch längst keine glänzende Haupt-stadt“, sagt Qafmolla, „aber Rama hat il-legale Häuser abreißen lassen, Viertelwurden aufgeräumt. Er hat damit einZeichen gesetzt.“ Kritiker sagen hinge-gen, Rama habe in den elf Jahren alsBürgermeister nur Kosmetik betrieben.Die Stadt leide weiter unter der unzu-länglichen Versorgung mit Wasser undStrom. Baugenehmigungen seien unse-riös erteilt worden, auch Rama sei kor-rupt. Seine Bilanz als Bürgermeistermag nach elf Jahren durchwachsensein, aber die meisten Albaner sehen vorallem, dass Rama etwas in Bewegungsetzen kann.
So wie er in Tirana erst mal äußer-lich für Farbe und Ordnung sorgte, willer jetzt mit einem landesweiten Auf-räumprogramm punkten. Er will die un-glaublich abfallverseuchte Küste säu-bern lassen, Bauruinen sollen beseitigtund illegale Müllhalden geschlossenwerden. Es ist eine Art Therapie für Al-banien: nicht negativ auf die Zuständeblicken, sondern darauf, was entstehenkann. Rama weiß selbst, dass seineGlaubwürdigkeit davon abhängt, was erfür die Rechtssicherheit tut. Außerdemmuss er sich vor allem selbst an die Re-geln halten.
Dass die staatlichen Institutionennicht funktionieren, ist im westlichenBalkan nichts Ungewöhnliches. Dorthat jedes Land seine eigenen Probleme.Sei es, dass es, wie im Kosovo oder inBosnien und Herzegowina, an staatli-chen Strukturen fehlt oder dass, wie inSerbien oder eben Albanien, korrupteEliten keine funktionierende Demokra-tie zulassen wollen.
Dabei ist das Land einfach zu klein,als dass man die Elite und die von ihrdominierte Verwaltung einfach durch
eine andere ersetzen könnte. Die politi-schen Strukturen und wirtschaftlichenKräfte sind immer noch stark von Fami-lienclans geprägt. Edi Rama muss mitdem Dilemma leben: Wenn er die Kor-ruption bekämpfen will, muss er dieje-nigen überzeugen und mit denjenigenzusammenarbeiten, die sie ausüben.
Der Ministerpräsident hat sich ent-schieden, seine Botschaft vom neuen Al-banien Seite an Seite mit der altenMachtelite zu vertreten. Gegen seinenKoalitionspartner Meta sind etliche Vor-würfe erhoben worden, zu denen Ramajetzt nicht mehr Stellung nimmt. Metahat sich dadurch zumindest vorüberge-hend Immunität gesichert. Aber derDeal kann Ramas Aufbruchstimmungauch schnell wieder zunichtemachen.
Der Bürgermeister ist ein
Rückkehrer aus Holland
Einige Auswanderer sind wieder zurück-gekehrt. Was damals das Land ausblu-ten ließ, könnte jetzt zum Vorteil wer-den. Denn die Heimkehrer bringen ihreErfahrungen aus dem Ausland mit.Xholli, die in den USA Politikwissen-schaften studiert hat, suchte vor zweiJahren den Kontakt zu ihrem Heimat-land und bekam einen Job im Ministe-rium für europäische Integration. Siewurde zwar von der Vorgängerregierungeingestellt, aber sie begrüßt den Wech-sel. „Es wird egal sein, wer künftig re-giert“, sagt sie, „denn alle Seiten sindreifer geworden.“
Lulzim Basha, der neue Gegenspie-ler von Edi Rama, ist ebenfalls ein zu-rückgekehrter Emigrant. Der in Hollandausgebildete 39-jährige Jurist war unteranderem beim Jugoslawien-Tribunaltätig und bringt sich jetzt als neuer Bür-germeister von Tirana in Stellung. Er istVorsitzender der größten Oppositions-partei, der Demokratischen Partei (PD),und einer der wichtigsten Politiker desLandes. Basha hatte in der Vorgängerre-gierung schon mehrere Ministerposteninne und war wegen Bestechung ange-klagt, wurde aber aus Mangel an vomGericht akzeptierten Beweismitteln frei-gesprochen. Dennoch steht auch er füreine Normalisierung des Landes.
„Er vertritt die neue Generation“,sagt Albert Rakipi, Leiter des albani-schen Instituts für Internationale Stu-dien. „Basha trägt Streit mit seinemGegner aus, aber es gibt ein professio-nelles Verständnis, dass Politik nichtfeindselig sein muss.“ Die PD hat biszum Regierungswechsel das Land langeJahre dominiert, ohne innenpolitischAkzente zu setzen. „Aber Basha war alsAußenminister erfolgreicher als alle vorihm“, sagt Rakipi. Der Oppositionschefgeht nun auf Konfrontation zu einigenPlänen Ramas, aber er stellt die grund-sätzliche Richtung nicht infrage. Bisher
bestand mit Ramas Sozialistischer Par-tei (PS) und der konservativen PD einstabiles Kräfteverhältnis im ansonstenchaotischen albanischen Parteiensys-tem, in dem sich Dutzende Splittergrup-pen tummeln, die sich im Parlamentum die PS und die PD gruppieren.„Noch ist es zu früh, zu sagen, ob Bashaseine Partei zusammenhalten kann. Erbraucht jetzt Zeit“, sagt Rakipi.
Wirtschaftlich kommt dem Landnun die Verbindung zu Italien zugute.Fast 50 Prozent aller Exporte gehennach Italien, und umgekehrt investie-ren Italiener in Albanien. Ein großerTrumpf sind die Sprachkenntnisse derAlbaner. Wenn ein Italiener im Callcen-ter anruft, landet er mit hoher Wahr-scheinlichkeit auf der anderen Seite derAdria. In Albanien hat sich ein ganzneuer Sektor von Dienstleistungsfirmenentwickelt, die für italienische Auftrag-geber arbeiten. Das Land präsentiertsich gegenüber den Investoren als Bil-liglohnland mitten in Europa. Albanienwirbt zum Beispiel aktiv um die Textilin-dustrie, die sonst eher in Südostasienoder Nordafrika herstellen lässt.
Es sind nur kleine Früchte, abernoch hat Albanien kaum die Kraft,selbst finanzielle Anreize zu schaffen.Fast die Hälfte der Einwohner arbeitetimmer noch in der Landwirtschaft. Arb-jan Mazniku, der neue stellvertretendeBildungsminister, sieht darin die größ-te Herausforderung: „Es wird nicht rei-chen, nur einfache Arbeit anzubieten.Es ist ein langer Weg. Aber wir könnenvon anderen Staaten in der EU, wie Ir-land oder Estland, lernen, dass es nichtso bleiben muss.“
Die Albaner positionieren sich jetztauch selbstbewusster in der Region. DieRegierungen erkennen, dass ihre vielenkleinen Staaten nicht erfolgreich seinkönnen, wenn sie gegeneinander arbei-ten. Der Kosovokonflikt hatte die Bezie-hungen in der Region lange Zeit vergif-tet. Im Januar kündigte Rama nun an,die Annäherung an die EuropäischeUnion stärker mit dem Kosovo zu koor-dinieren, denn auch dort wird im Som-mer über ein eigenes Abkommen mitder EU verhandelt. Und als erster albani-scher Regierungschef seit 1946 reisteRama zu einem Besuch nach Serbien,um die Beziehungen endlich zu norma-lisieren.
Wenn Albanien den Schwung be-hielte, den es gerade hat, wäre schon vielerreicht. Und wenn es, was wahrschein-lich ist, in den nächsten zehn JahrenTeil der EU würde, wäre das der größteTriumph. Dann wird das Land endlichsichtbar werden und eine erkennbareStimme innerhalb Europas bekommen.
Bunte Häuser, Tourismus und Investitionen
von Justus von Daniels
65 Jahre Nordatlantikpakt, und der kleine Balkanstaat ist seit fünf Jahren dabei ARBEN CELI/reuters
Justus von Daniels ist Jurist und arbeitet als freier
Journalist in Berlin.
© Le Monde diplomatique, Berlin
LE MONDE diplomatique | April 2014 17
Eine mühseligeNachbarschaft
er Exdiplomat nahm keinBlatt vor den Mund: Um dieBeziehungen zwischen denbeiden Staaten zu diagnosti-
zieren, seien „eher die Fähigkeiteneines Psychiaters als die eines Diploma-ten gefragt“. Was Alexandros Mallias,ehemals griechischer Botschafter in Al-banien, vor zwei Jahren über die Proble-me zwischen Athen und Tirana sagte,gilt im Grunde für das Verhältnis Grie-chenlands zu all seinen Nachbarn. Unddarüber hinaus für die meisten bilatera-len Beziehungen in Südosteuropa, ausmitteleuropäischer Sicht oft abschätzig„der Balkan“ genannt. Was Malliasmeinte, ist die Überfrachtung der natio-nalen Sichtweisen durch Erinnerungen,die stark auf historische Kriege fixiertsind.
Mallias hatte insbesondere die Bal-kankriege von 1912 und 1913 im Blick.Die waren nicht nur der Prolog zu dengigantischen Völkerschlachten des Ers-ten Weltkriegs2, sondern vor allem Mili-täroperationen zur Vollendung nationa-ler Projekte. „Auf dem Balkan waren diemissionarischen Gefühle vom Traumder territorialen Expansion beflügelt“,schreibt Mark Mazower, einer der bes-ten Kenner der Region. „Alle Staatenkonnten auf ‚unerlöste‘ Brüder verwei-sen oder historische Ansprüche auf Ge-biete jenseits ihrer Grenzen erheben.“3
Im heutigen Südosteuropa, dessenStaaten ausnahmslos der EuropäischenUnion angehören oder den EU-Beitrittanstreben, sind territoriale Forderun-gen anachronistisch geworden. Aber diealten Träume und Traumata sind nochals Schatten präsent, der auch auf dieaktuellen Beziehungen zwischen denNachbarländern Albanien und Grie-chenland fällt.
Kann man von guter Nachbarschaftreden, wenn sich die Nachbarn überden Verlauf des Gartenzauns uneinssind? Im Januar 2010 annullierte das al-banische Verfassungsgericht den neunMonate zuvor unterzeichneten Vertragüber die Abgrenzung der maritimenWirtschaftszonen zwischen der Südküs-te Albaniens und der griechischen InselKorfu. Das Gericht folgte damit dem An-trag der sozialistischen Opposition, dieder damaligen Regierung vorwarf, siehabe den Griechen zu viel Territoriumzugestanden. Nachdem der Sozialist EdiRama den konservativen ParteiführerSali Berisha im September 2013 als Re-gierungschef abgelöst hat, ist die Frageweiter in der Schwebe.
Der Fall illustriert, wie innenpoliti-sche Konflikte das Verhältnis zwischenTirana und Athen strapazieren können.Solange in Albanien zwei unversöhnli-che Lager um Macht und Pfründenkämpfen, werden sie dem jeweiligenGegner den „Verrat an nationalen Inter-essen“ vorwerfen. Auch das hat der Exdi-plomat Mallias im Auge, wenn er gewis-se diplomatische Streitfälle am liebsteneinem Psychiater überlassen würde.
Das jüngste Beispiel: Nach seinemAmtsantritt ging Edi Rama, der für vieleBeobachter der erste demokratisch ti-ckende Regierungschef Albaniens ist,einen großen Schritt auf Athen zu undbezeichnete Griechenland als „strategi-schen Partner Albaniens“, etwa bei derangestrebten Integration des Landes indie EU. Das rief prompt die Gegner eineralbanisch-griechischen Annäherungauf den Plan. In Permet ließen die Be-hörden eine orthodoxe Kirche der grie-chischen Minderheit räumen, um sie inein Kulturzentrum umzuwandeln.
Es folgte die übliche Kettenreak-tion. Die Athener Medien stiegen aufdas Thema ein. Patriotische Journalis-ten erklärten den neuen Regierungschefzum „Satelliten Ankaras“ und streutendas Gerücht, Rama habe verhindert,dass für die griechischen Soldaten, die1941 im Süden Albaniens im Kampfgegen Mussolinis Truppen gefallensind, würdige Friedhöfe angelegt wer-den können. Die albanische Presseschoss zurück und behauptete, Athenwolle den EU-Beitritt Albaniens hinter-treiben. Aus einer lokalen Episode warein diplomatisch-psychiatrischer Fallgeworden.
Der Rohstoff für solche hysteri-schen Wahrnehmungen ist freilich sehrreal. Ein gutes Beispiel ist das Themader Soldatenfriedhöfe. Hier geht es umrivalisierende Interpretationen desKriegsgeschehens von 1940/41. Für dieGriechen ist der Kampf ihrer Armeegegen die aus Albanien einrückendenMussolini-Truppen eine antifaschisti-sche Heldenoper: Das kleine Hellas warfdie Invasoren über die albanische Gren-ze zurück und verfolgte sie bis fast nach
D
Tirana, ehe sich seine Epirus-Armee dernach Griechenland einmarschierendenNazi-Wehrmacht im April 1941 ergebenmusste.
Das von griechischen Truppen ero-berte Territorium war zugleich Sied-lungsgebiet einer griechischen Minder-heit. Seit Gründung des albanischenStaats (1912) war dieses Gebiet aus Athe-ner Sicht der „unerlöste“ Norden desEpirus (Vorios Ipiros). Die albanischeSicht der Dinge ist etwas anders: Da-nach führten die Griechen 1940/41nicht nur einen Abwehrkampf gegendas faschistische Italien, sondern zu-gleich einen irredentistischen Feldzugmit dem Ziel, Südalbanien zu annektie-ren.4 Für die meisten Albaner symboli-siert ein griechischer Soldatenfriedhofalso etwas anderes als für viele Grie-chen, die Südalbanien bis heute „VoriosIpiros“ nennen.
Die Zeiten, da diese irredentisti-sche Sicht der Epirus-Frage in AthenerRegierungskreisen geteilt wurde, liegtnoch nicht lange zurück. Bis 1995 ope-rierte – an der langen Leine des griechi-schen Geheimdienstes EYP – die Unter-grundorganisation Mavi (Befreiungs-front für Nordepirus). Im April 1994überfiel ein Mavi-Kommando eine alba-nische Grenzgarnison und erschosszwei Soldaten. Dieses Attentat, das alsFanal für den „bewaffneten Kampf“gegen die „Kolonisierung“ des Nordepi-rus gedacht war, löste eine albanisch-griechische Krise aus, die erst ein Jahrspäter beigelegt wurde.
Dass zu den Mavi-Terroristen auchdrei albanische Bürger gehörten, ver-weist auf den Zusammenhang derGrenz- mit der Minderheitenfrage.Nach albanischen Quellen wird die grie-chische Volksgruppe im Süden des Lan-des auf 80000, von griechischer Seiteauf bis zu 150000 Menschen geschätzt.5
Diese Minderheit, seit 1991 in der Ver-einigung „Omonia“ (Einheit) organi-siert, forderte einen Autonomiestatusfür „Nordepirus“. 1994 wurden fünfihrer Funktionäre wegen Kollaborationmit der Mavi zu Gefängnisstrafen verur-teilt. Der Omonia-Prozess schlug inAthen hohe Wellen. Von der empörtenvox populi animiert, ordnete die Regie-rung die Operation „Besen“ an: Polizei
und Armee machten Jagd auf albani-sche Wanderarbeiter, von denen115000 über die Grenze zurückge-schickt wurden.
Athen machte damals die albani-schen Tagelöhner zu Geiseln der grie-chischen Außenpolitik, weil es in Süd-epirus kein Pendant zur griechischenMinderheit in Albanien gibt. Die etwa30000 albanischen Muslime, die bis1945 auf griechischem Territorium sie-delten, wurden bei Kriegsende mit derBegründung vertrieben, dass sie 1940mit der italienischen und später mit derdeutschen Besatzungsmacht kollabo-riert hatten.6 Diese sogenannten Chamswerden zwar ab und zu von albanischenPolitikern benutzt, um die Griechen zuärgern, verfügen aber, anders als diegriechische Minderheit in Albanien,nicht über einklagbare Rechte, wie etwaauf verlorenen Grundbesitz.
Die Albano-Griechen
und die Völkerfreundschaft
Die Omonia-Mavi-Krise wurde 1995durch ein Quidproquo beigelegt. Tiranabegnadigte die Omonia-Funktionäre,Athen stellte die „nordepirotischen“Terroristen vor Gericht.7 Und Griechen-lands Außenminister Karolos Papou-lias, selbst ein Epirote, garantierte feier-lich die „Unverletzlichkeit“ der grie-chisch-albanischen Grenze. Im März1996 wurde eine gemeinsame Vereinba-rung über „Freundschaft, Kooperation,gute Nachbarschaft und Sicherheit“ un-terzeichnet.
18 Jahre später steht es um dieseNachbarschaft nicht ganz so gut, wieman damals hoffen konnte. Im Novem-ber 2013 beschwor Papoulias, der seit2005 Staatspräsident ist, man müsse dieBeziehungen „auf den Elementen auf-bauen, die uns vereinen“. Damit meinteer vor allem die griechische Minderheitin Südalbanien. Aber es gibt ein zweitesElement, das für die Beziehungen zwi-schen Griechen und Albanern viel wich-tiger ist: die albanische Minderheit inGriechenland, die seit der Operation„Besen“ nicht nur viel größer, sondernauch viel stärker verwurzelt ist, als es vorzwanzig Jahren vorstellbar war.
Wie viele der 460000 Albaner, dieseit 1991 als Arbeitsmigranten nachSüden gezogen sind, noch heute in Grie-chenland leben, weiß kein Mensch.8
Obwohl die Wirtschaftskrise viele zurRückwanderung gezwungen hat, gehenExperten davon aus, dass 300000 geblie-ben sind. Zu ihnen gehören viele Famili-en mit schulpflichtigen Kindern, diegriechisch alphabetisiert sind. Der Bil-dungsehrgeiz dieser Familien ist legen-där. Der Schulerfolg, der Erwerb vonWohneigentum und die Gründung vonKleinunternehmen sind klare Indikato-ren dafür, dass die Albano-Griechen zuden integrationswilligsten Bindestrich-Gemeinschaften in Europa zählen.
Zur gelungenen Integration gehö-ren allerdings zwei Seiten. Um die„Fremdenfreundlichkeit“ der griechi-schen Gesellschaft ist es nicht gut be-stellt. Die verbreitete Xenophobie, dieskandalöse Behandlung „undokumen-tierter“ Migranten und der offene Ras-sismus der Neonazipartei Chrysi Avgimachen immer wieder Schlagzeilen.9
Allerdings haben diese meist Migrantenim Visier, die schwarz über die grie-chisch-türkische Grenze kommen. DieAggressionen gegen diese „Illegalen“,von denen viele Muslime sind, kommtironischerweise den „guten“ Immigran-ten zugute: den legalen, areligiösen undfast schon „alteingesessenen“ Alba-nern. Es kommt sogar vor, dass Albaner-jungen von den griechischen Neonaziszum Kampf gegen die „illegalen“ Zu-wanderer rekrutiert werden.
Die zunehmende soziale Akzeptanzrührt aber vor allem von der Anerken-nung des albanischen Beitrags zumeinstigen griechischen „Wirtschafts-wunder“. Allerdings gilt natürlich auchin Griechenland, was für den „polni-schen Klempner“ in Frankreich gilt: Der„albanische Handwerker“ wird als Ein-zelner geschätzt, aber als Phantomgrup-pe gefürchtet. Das gilt erst recht in derWirtschaftskrise. Nach der jüngstenUmfrage fühlt sich ein Drittel der Be-fragten durch „die Albaner“ bedroht,und nur die Hälfte konzediert, dass diealbanischen Migranten zum Wirt-schaftswachstum beigetragen haben.
Zwei Drittel der Befragten behaup-ten dagegen, von den bilateralen Wirt-
schaftsbeziehungen habe Albanien al-lein oder stärker als Griechenland profi-tiert. Sie übersehen damit, dass die grie-chischen Investitionen in Albanien(rund 250 Millionen Euro und damit einFünftel aller griechischen Investitionenin den Transformationsländern) ein Ge-schäft vor allem für die griechischen Un-ternehmen waren – insbesondere fürdie griechischen Banken, über deren Fi-lialen die albanischen Arbeiter ihr Geldaus Griechenland an ihre Familienüberweisen. Noch positiver war für Grie-chenland die stark überschüssige Han-delsbilanz: Griechische Produkte mach-ten lange Zeit über ein Fünftel der alba-nischen Importe aus.
Die schwere Finanz- und Wirt-schaftskrise, die das griechische Brutto-inlandsprodukt seit 2009 um 25 Prozentschrumpfen ließ, hat zwar die Transak-tionsvolumen zwischen beiden Län-dern reduziert, aber die wirtschaftlicheVerflechtung nicht zerrissen. In Zukunftwird die Kooperation noch zunehmen,weil beide Seiten von demselben Groß-projekt profitieren werden: Die im Juni2013 beschlossene TransadriatischePipeline (TAP) soll ab 2020 Erdgas ausAserbaidschan über die Türkei, Grie-chenland und Albanien nach Italienbringen. Für ihren Bau will das interna-tionale Energiekonsortium ab 2015 inGriechenland 1,5 Milliarden und in Al-banien etwa 1 Milliarde investieren.10
Das wird in beiden Ländern Aufträge fürdie Bauindustrie bringen und Arbeits-plätze schaffen.
Was das für das griechisch-albani-sche Verhältnis bedeutet, bleibt abzu-warten. Gemeinsame ökonomische In-teressen sind eine solide Basis, aber inSüdosteuropa bleibt der „subjektiveFaktor“ – als Träger hartnäckiger Vorur-teile – eine wirkmächtige Kraft.
Persönliche Kontakte und Erfah-rungen werden die Einstellungen zwarverändern, aber im griechisch-albani-schen Fall sind diese Erfahrungenhöchst asymmetrisch: Zwar begegnen95 Prozent der Griechen im Alltag alba-nischen Mitbürgern, aber nur 8 Prozenthaben jemals Albanien besucht.11 Frei-lich könnte die griechische Krise auchdiese Asymmetrie abschwächen. DieAthener Presse berichtete Anfang 2014erstmals über Griechen, die im SüdenAlbaniens Arbeit gesucht und gefundenhaben.
1 Alexandros Mallias war Botschafter Griechen-
lands in Albanien in den Jahren 1999/2000, danach
Leiter der Südosteuropa-Abteilung im Athener Au-
ßenministerium. Seine Rede über einen „New Deal“
zwischen Athen und Tirana hielt er am 27. März
2012 auf einer albanisch-griechischen Konferenz in
Tirana. Die englische Fassung seiner Analyse steht
auf der Website des griechischen Thinktanks Elia-
mep: www.eliamep.gr/wp-content/uploads/2012/
04/Greece-and-Albania1.pdf.2 Die Balkankriege und der Erste Weltkrieg stellen
sich für die südosteuropäischen Völker als Kontinu-
um dar; bezeichnend ist, dass der Gefallenen aller
drei Kriege meist auf ein und demselben Denkmal
gedacht wird.3 Mark Mazower, „The Balkans“, London (Phoenix
Press) 2001, S. 91 und 133; auf Deutsch: „Der Bal-
kan“, Berlin (BTV) 2003.4 Tatsächlich war in der damaligen griechischen
Presse stets von der „Befreiung desNordepiros“ die
Rede. Der orthodoxe Bischof von Thessaloniki hielt
bis Ende der 1990er Jahre am Tag der „Befreiung
von Argyrokastro“ (dem albanischen Gjirokastra)
eine öffentliche Gedenkmesse ab.5 Die zahlenmäßige Differenz erklärt sich teils
durch dieNeigung der griechischenSeite, die schon
in den 1920er Jahren von den Demografen des Völ-
kerbunds beklagt wurde: Orthodoxe Christen wur-
den stets als Griechen verbucht, egal was ihre Mut-
tersprache war.6 Nach dem griechischen Zensus von 1928 lebten
18600 muslimische Albaner auf griechischem Bo-
den. Eine differenzierte Darstellung der Cham-Pro-
blematik bei Wikepedia unter dem Titel: „Expulsion
of ChamAlbanians“.7 Dabei stellte sich heraus, dass der Anführer der
Mavi ein Exoffizier der griechischen Armee war, der
den Terroristen auch griechische Uniformen ver-
schafft hatte.8 Die Zahl 460000 stammt aus dem Jahr 2008, da-
mals machten Albaner 60 Prozent aller Arbeitsmi-
granten in Griechenland aus. Einige zehntausend
von ihnen erwarben seitdemdie griechischeStaats-
bürgerschaft.9 Siehe die Berichte von Iannis Papadopoulos in Le
Monde diplomatique vom Juli 2012 und Juni 2013.10 Zahlen nach einem Reuters-Bericht vom 21. De-
zember 2013.11 Alle Umfragedaten aus: Ioannis Armakolas, „The
Greek Public Opinion towards Albanians and Alba-
nia“, für die Athener Stiftung Eliamep, November
2013: www.eliamep.gr.
Griechen, Albaner und die Last der Geschichte
von Niels Kadritzke
Griechische Hinterlassenschaft in Gjirokastra, eine der ältesten Städte Albaniens
F. DEMULDER/ullstein
© Le Monde diplomatique, Berlin
Der vorliegende Beitrag ist ein erweiterter Auszug
aus der Analyse „Jenseits des Olymp“ über Grie-
chenlands Nachbarschaftsbeziehungen, erschie-
nen in: „Südosteuropa. Der kleine Subkontinent“,
Edition LMd, No. 15, Berlin 2014.
18 LE MONDE diplomatique | April 2014
Aufruhr inKambodscha
hnom Penh, 3. Januar 2014. Dieersten Sonnenstrahlen fallenauf das Schlachtfeld in derVeng-Sreng-Straße. Am Vortag
hatten mehrere Hundertschaften Poli-zisten, unterstützt von der Brigade 911,einer Eliteeinheit der Fallschirmjäger,die Streikenden aus der Fabrik Yakjinbrutal niedergeschlagen. Auf der einenSeite flogen Steine und Molotowcock-tails über die Barrikaden, auf der an-deren kamen Gummiknüppel, Tränen-gas und Kalaschnikows zum Einsatz.Die Scharmützel dauerten die ganzeNacht hindurch bis zum folgendenNachmittag an. Die Bilanz: 5 Tote, rund40 Schwerverletzte und 23 Festnahmen.
24 Stunden später rollten gepanzer-te Armeefahrzeuge durch die Veng-Sreng-Straße, und eine Horde Polizistenund Schlägertrupps in Zivil stürmtenden Freedom Park. Diesen Platz im Her-zen der Hauptstadt hatten die Protestie-renden seit Monaten als Basiscamp ge-nutzt. Nach einer brutalen Treibjagd aufAktivisten, Mönche und Journalistenverwüsteten die staatlich gedecktenSchläger Tribünen, Zelte und Latrinenund zerstörten sogar einen buddhisti-schen Altar. Kurz darauf verbot die Re-gierung bis auf weiteres sämtliche De-monstrationen und öffentlichen Ver-sammlungen.
Am 24. Dezember 2013 hatten diesechs größten Gewerkschaften zumStreik aufgerufen. Ihre Forderung: Er-höhung des monatlichen Mindestlohnsvon 80 auf 160 Dollar. Als die gesamteTextilindustrie von Kambodscha fastvollständig lahmgelegt war, eskalierteder Arbeitskampf.
Die politische Krise, die die Streiksmitverursacht hat, war bereits kurz nachder Parlamentswahl vom 28. Juli 2013ausgebrochen. Nach den von Unregel-mäßigkeiten begleiteten Wahlen wurdedie Kambodschanische Volkspartei(Cambodian People’s Party, CPP) desscheidenden Ministerpräsidenten HunSen zur Siegerin erklärt. Nach offiziellenAngaben erhielt sie 48,83 Prozent derStimmen und gewann damit 68 der123 Sitze in der Nationalversammlung –nach den Wahlen von 2008 hatte sienoch 22 Sitze mehr gehabt.
Die Cambodia National RescueParty (CNRP), ein von der Sam-Rainsy-Partei angeführtes Oppositionsbünd-nis, erhielt laut amtlichem Wahlergeb-nis 44,46 Prozent der Stimmen und55 Abgeordnetensitze. Die CNRP bean-spruchte den Sieg jedoch für sich, warfder Regierung Wahlbetrug vor und for-derte die Einrichtung einer Untersu-chungskommission.
Im September besetzte die Opposi-tion schließlich den Freedom Park.Woche für Woche schlossen sich immermehr Menschen den Protesten an. Sieforderten den Rücktritt des Minister-präsidenten und Neuwahlen. Die CNRP-Führung lehnte alle Verhandlungsange-bote der CPP ab, und ihre Abgeordnetenweigerten sich, an den Parlamentssit-zungen teilzunehmen.
Ab Anfang Dezember kam esimmer häufiger zu Streiks und sozialenUnruhen: Die Fahrer der Tuk-Tuks (mo-torisierte Rikschas) forderten die Sen-kung der Benzinpreise. Die buddhisti-schen Mönche des Independent MonkNetwork for Social Justice starteten eineKampagne und setzten sich für die länd-liche und indigene Bevölkerung ein, diesich gegen den Ausverkauf ihrer Bödenwehrt. Eine Lehrergewerkschaft rief zurArbeitsniederlegung auf. Und schließ-lich beschlossen die Arbeiter des sowichtigen Textilsektors den unbegrenz-ten Generalstreik.
Die CNRP hat durch ihr Verhaltendie Unruhen zweifellos angeheizt. Dochdas Ausmaß der Proteste deutet auf einetiefe Unzufriedenheit hin, die immergrößere Teile der Bevölkerung erfasst.
Dabei geht es in Kambodscha seitzehn Jahren bergauf, die Wirtschaftwächst jährlich um 7 bis 8 Prozent.1 InPhnom Penh schießen die Einkaufszen-tren wie Pilze aus dem Boden. Und inden Luxus-SUVs, die durch die Straßender Hauptstadt kurven, sitzen längstnicht mehr nur UN-Mitarbeiter oder lei-tende Angestellte internationalerNGOs. Man sieht Tuk-Tuk-Fahrer, die in
Pihrer Pause per Smartphone Beiträgeauf Facebook posten, und Jugendlicheauf Shoppingtour.
Trotzdem die Armut im Durch-schnitt zurückgegangen ist, lebt immernoch ein Drittel der kambodschani-schen Bevölkerung von weniger als1,50 Dollar am Tag. Und die zweistelli-gen Wachstumsraten in der Textilindus-trie, im Tourismus- und im Agrarsektorhaben jeweils eine Kehrseite: Die Arbei-ter erhalten Hungerlöhne, die ländlicheBevölkerung wird von ihrem Land ver-trieben, und die Umweltschäden sindjetzt schon enorm.
Der Umsatz der Textilindustrie, dievier Fünftel der kambodschanischenExporte stellt, lag 2013 bei 5,53 Milliar-den Dollar. Die mehr als 400 Textilfir-men beschäftigen fast eine halbe Mil-lion Menschen, 95 Prozent davon sindFrauen, die für die großen Konfektions-häuser und Handelsketten im Westennähen. Entgegen den alarmistischenPrognosen des Arbeitgeberverbandswerden die Investoren weder durch dievielen seit Herbst ausgerufenen Streiksnoch durch die politische Agitation ab-geschreckt. Im Gegenteil: Wegen desLohnwachstums in China haben vieledort ansässige Unternehmen ihre Pro-duktion nach Kambodscha oder in an-dere Nachbarländer verlagert. Auch des-wegen hat Kambodscha im letzten Jahr20 Prozent mehr Textilien und Sport-schuhe exportiert als 2012.2
Dieser wirtschaftliche Aufstieg gehtjedoch mit einer weiteren Verschlechte-rung der ohnehin schon ungesundenund mitunter gefährlichen Arbeitsbe-dingungen sowie mit einem Kaufkraft-verlust der Beschäftigten einher. „UnserChef ist total rücksichtslos“, empörtsich eine Arbeiterin aus dem Industrie-gebiet Pochentong. „Für ihn zählt nurder Profit. Ob wir dabei draufgehen, istihm egal.“ Die Liste der im letzten Be-richt der Internationalen Arbeitsorgani-sation (ILO) gemeldeten Missstände istlang: In 85 Prozent der Unternehmenwird von den Arbeiterinnen verlangt,dass sie täglich mehr als zwei Überstun-den machen – an sechs Tagen in der Wo-che. In 65 Prozent der Fabriken herrschtextreme Hitze. Und bei mehr als derHälfte der Produktionsstätten sind dieFluchtwege versperrt.3
Land für Kautschuk,
Zucker und Hotels
Im Mai 2013 stürzten innerhalb wenigerTage zwei Fabrikgebäude ein. Die Unfäl-le waren weniger verheerend als die Tra-gödie im Rana Plaza in Bangladesch,4
kosteten aber dennoch zwei Arbeite-rinnen das Leben, und 30 Menschenwurden verletzt. Im vergangenen Jahrwurden zudem mehr als 700 Fälle regis-triert, in denen Frauen bei der Arbeit vorErschöpfung kollabiert sind.5
Obwohl der Mindestlohn im Febru-ar 2014 auf 100 Dollar im Monat ange-hoben wurde, zählt er noch immer zuden niedrigsten Südostasiens. Er hat inden letzten zehn Jahren rund ein Drittelseiner Kaufkraft eingebüßt und liegtnach wie vor unter dem existenzsichern-den Minimum, den das Arbeitsministe-rium selbst mit 157 bis 177 Dollar bezif-fert. Schon vor Beginn des General-streiks im Dezember gab es wegen die-ser Missstände im Textilsektor im letz-ten Jahr rund 130 Arbeitsniederlegun-gen. Die Gewerkschaften dieser Bran-che sind bekannt für ihren Kampfgeist.
Die Regierung reagierte mit allerHärte auf die Aktionen. Die 23 währenddes Streiks im Januar Inhaftiertensaßen im März noch immer im Gefäng-nis. Das Demonstrationsrecht hängtvom Gutdünken der Behörden ab. Dasnutzen die Arbeitgeber voll aus, um zumBeispiel aufmüpfige Mitarbeiter zu ent-lassen. Um die Gewerkschaften finan-ziell zu treffen, haben die Unternehmenzudem rund 100 Aktivisten auf Schaden-ersatz für die Gewinnausfälle währendder Streiks verklagt. Doch die Wut könn-te noch größer sein als die Angst.
Auch auf dem Land wächst derGroll. Seit der Verabschiedung des Ge-setzes über Grundeigentum im Jahr2001, das die Vergabe von Landkonzes-
sionen für ökonomische Zwecke (Eco-nomic Land Concessions, ELC)6 an pri-vate Unternehmen erlaubt, sind 3 Mil-lionen Hektar Staatsland (16,6 Prozentdes kambodschanischen Territoriums)in den Besitz in- oder ausländischer Fir-men übergegangen.7 In einem Land, indem 80 Prozent der Bevölkerung aufdem Land leben und 55,8 Prozent derArbeitsplätze auf den Agrarsektor ent-fallen, musste eine solche Verschiebungder Besitzverhältnisse zwangsläufig zuKonflikten führen.
Von den Konzessionen profitierenzum Beispiel die Zuckerproduzenten.Sie haben 75000 Hektar Land zur Nut-zung erhalten und können den Zuckerim Rahmen des EU-Programms „Allesaußer Waffen“ zollfrei in die Europäi-sche Union exportieren. Die Folge: DerZuckerexport ist zwischen 2012 und2013 um mehr als 100 Prozent gestie-gen. Doch dafür sind tausende Bauernvon ihrem Land vertrieben worden.Ihrer Lebensgrundlage beraubt, sindviele von ihnen nun gezwungen, alsLandarbeiter auf den Zuckerrohrplanta-gen anzuheuern. Die in der „kambod-schanischen Kampagne für sauberenZucker“ (Cambodian Clean Sugar Cam-paign) zusammengeschlossenen NGOsaus dem In- und Ausland prangern dieharten Arbeitsbedingungen auf denPlantagen an und dass auch Minderjäh-rige zur Arbeit herangezogen werden.
Auch der industrielle Kautschukan-bau, den vietnamesische und chinesi-sche Unternehmen gemeinsam mit ein-flussreichen Kambodschanern domi-nieren, ist auf dem Vormarsch. NachAngaben der NGO Global Witness sindihnen bereits 1,2 Millionen Hektar Landübereignet worden – oft zum Nachteilder indigenen Bevölkerung.
Die chinesische Tianjin Union De-velopment Group (UDG) erhielt Konzes-sionen für 45000 Hektar Land im Natur-schutzgebiet Botum Sakor in der Pro-vinz Koh Kong im Südosten des Landes.Das Unternehmen baut dort ein luxuriö-ses Urlaubsresort mit Hotels, einemJachthafen, Golfplätzen und Kasinos –inklusive Flughafen und Autobahnan-schluss. Die Arbeiten sind noch längstnicht abgeschlossen, aber schon jetztsind rund 1000 Bauern- und Fischerfa-
Lehrer, Mönche, Arbeiterinnenund Bauern setzendie Regierung unter Druckvon Philippe Revelli
Demo für die Befreiung der 23 im Januar verhafteten Arbeiter und Gewerk-schafter PHILIPPE REVELLI
LE MONDE diplomatique | April 2014 19
milien umgesiedelt worden. Umwelt-schützer verurteilen die illegale Abhol-zung im Zuge dieses Mammutprojekts.Und es gibt auch schon einen Toten zubeklagen: Am 26. April 2012 wurde derUmweltaktivist Chut Vuthy ermordet. Erhatte gegen die Rodung im Naturschutz-gebiet protestiert.
Auch die Städte sind von den Ent-eignungen betroffen. Der spektakuläreKampf, den die Aktivisten in PhnomPenh gegen die Zwangsräumungen inden Vierteln am Ufer des Boeung-Kak-Sees und der Gemeinde Borei Keila füh-ren, ist dabei nur die Spitze des Eis-bergs. Laut der kambodschanischenLiga für Menschenrechte (Licadho) wur-den mehr als 20000 Familien aus denArmenvierteln der Hauptstadt vertrie-ben, um Platz für Immobilienprojektezu schaffen.
Ernten werden zerstört, Häuser mitBulldozern dem Erdboden gleichge-macht oder angezündet, die Bewohnereingesperrt oder verprügelt. Und die Si-cherheitskräfte und Soldaten setzendabei auch ihre Schusswaffen ein. Am16. Mai 2012 starb in Broma (ProvinzKratie) die 15-jährige Heng Chentha aneiner Schussverletzung, die sie bei Aus-einandersetzungen zwischen der Poli-zei und den Dorfbewohnern erlittenhatte. Je mehr Landkonflikte aufbre-chen, desto gewalttätiger gehen die Si-cherheitskräfte bei Zwangsräumungen
vor, beklagen Menschenrechtsorganisa-tionen. Außerdem handelten Polizei-und Armeeangehörige oft im Auftragvon Privatunternehmen, ohne jede be-hördliche Anordnung. Soldaten und Po-lizisten bewachen beispielsweise dieFirmensitze großer Agrarbetriebe undbessern so ihren Sold auf.
Laut Verfassung, dem Gesetz überLandeigentum und den vom Königreichunterzeichneten internationalen Ab-kommen seien die Rechte der ländli-chen und indigenen Bevölkerung relativgut geschützt, erklärt Thun Saray, Leiterder Organisation für Entwicklung undSchutz der Menschenrechte in Kambod-scha (Adhoc). „Das Problem ist, dass sienicht angewandt werden.“ Strohmän-ner und Familienmitglieder erhaltenKonzessionen für den Aufbau von land-wirtschaftlichen Betrieben, die weitmehr Land umfassen als die gesetzlicherlaubten 10000 Hektar. Tourismus-konzernen und Großbetrieben wirdLand in Naturschutzgebieten zugeteilt.Es gibt unzählige Fälle, in denen illegalabgeholzt, die betroffenen Gemeindenumgangen und Umsiedlungs- bezie-hungsweise Wiederansiedlungsverträ-ge missachtet werden.
Die Justiz verschließt davor nichtnur die Augen, sondern geht stattdessengegen unabhängige Journalisten undVerbandsaktivisten vor. So wurde MamSonando vom regierungskritischen Sen-
der Radio Beehive im März 2013 verhaf-tet und wegen eines angeblichen „sepa-ratistischen Komplotts“ zu 20 JahrenGefängnis verurteilt, bevor man ihn biszum Beginn seines Berufungsverfah-rens auf freien Fuß gesetzt hat.
Yorm Bopha, eine junge Frau, diegegen Zwangsräumungen in PhnomPenh protestierte, wurde erst im No-vember 2013 nach einem Jahr hinterGittern wieder entlassen. „Die Regie-rung verzeiht uns nicht, dass wir denarmen Bevölkerungsschichten klarma-chen: ‚Ihr habt Rechte und müsst euchzusammenschließen, um diese zuverteidigen‘“, erklärt Thun Saray. „Des-halb werden immer mehr von uns vorGericht gezerrt.“
Die Chinesen bauen
Straßen und Staudämme
In der unübersichtlichen kambodscha-nischen „Zivilgesellschaft“ tummelnsich zahllose einheimische und interna-tionale NGOs. Sie kritisieren die Regie-rung und machen sich zum Sprachrohrfür das Volk. Dank ihrer Präsenz in so-zialen Netzwerken und ihren Beziehun-gen zu westlichen Journalisten errei-chen sie ein relativ großes Publikum.Daher sei es nicht überraschend, dassOppositionsführer Sam Rainsy „seineMachtübernahmestrategie auf der Un-
terstützung [dieser Gruppen] aufbaut“,erklärt der Politikwissenschaftler KemLey. Dem Oppositionsführer haftetnoch immer das Image eines Kämpfersfür demokratische Werte an – trotz sei-ner ausländerfeindlichen Sprüche, dievon antivietnamesisch eingestelltenKambodschanern beklatscht werden,und trotz der Aktionen seiner Sympathi-santen, die Anfang Januar auf der Veng-Sreng-Straße vietnamesische Läden ge-plündert und verwüstet haben.8
Als überzeugter Liberaler steht SamRainsy in der Gunst der westlichen Re-gierungen, die die NGOs finanzieren.Nach den blutigen Repressionen vomJanuar forderte das Europaparlamentdie Einrichtung eines unabhängigenUntersuchungsausschusses. Und Wa-shington kündigte an, einen (kleinen)Teil seiner Unterstützung für PhnomPenh einzufrieren. Angesichts des zu-nehmenden Einflusses aus China istder Handlungsspielraum des Westensjedoch eingeschränkt. Die mächtigeHandelsnation ist nicht nur der größteausländische Direktinvestor, sondernauch Kambodschas wichtigster Partnerin der Entwicklungszusammenarbeit.Im Rahmen einer Strategie der regiona-len Integration bauen chinesische Un-ternehmen in Kambodscha Straßen,Staudämme und Eisenbahntrassen.
Auf dem Land kann sich Minister-präsident Hun Sen immer noch auf
seine CPP verlassen – deren Einflussreicht bis in die kleinsten Dörfer. DieTreue der Parteigranden sichert sichHun Sen durch ein eng geknüpftesklientelistisches Netzwerk. Laut demkambodschanischen Menschenrechts-ausschuss (CCHR) gingen 20 Prozentder Landkonzessionen an nur fünf Se-natoren der Regierungspartei. Auch dieArmee wird vom Ministerpräsidentengut versorgt. Das Militärbudget ist imvergangenen Jahr um 17 Prozent gestie-gen. Außerdem wurden 29 Armeeoffi-ziere und sechs hohe Polizeibeamte zuVier-Sterne-Generälen befördert. Dabeihatte das kleine Kambodscha schon2010 mehr Vier-Sterne-Generäle als diegesamte US-Armee. In der Wirtschaftdominieren die chinesisch-kambod-schanischen Geschäftskreise sämtlicheBranchen. „Als lokale Akteure undCompradores9 sind sie für das auf Res-sourcenplünderung beruhende Systemunverzichtbar“, sagt die Forscherin Da-nièle Tan.10
Ministerpräsident Hun Sen, der dasLand seit 1985 mit harter Hand regiert,denkt gar nicht daran, abzutreten: „Al-les ist normal. Die Regierung arbeitet.Die Unternehmen arbeiten ebenfalls“,erklärte er nach den Straßenkämpfenund Verhaftungen im Januar.11 Kurzdarauf forderte er die Abgeordneten derCNRP auf, ihre Sitze in der Nationalver-sammlung einzunehmen, und bot derCNRP-Führung Verhandlungen an.
Inzwischen gibt es tatsächlich Ge-spräche. Sie behandeln allerdings aus-schließlich die Wahlreform. Auf die For-derungen der Demonstranten nach fai-ren Löhnen, der Rückgabe des geraub-ten Landes und einem Ende der Vertrei-bungen wird mit keiner Silbe eingegan-gen.
Doch wie man unschwer erkennenkann, bereiten die sozialen Bewegun-gen der Regierung viel mehr Kopfzer-brechen als die politische Opposition:Während sie auf die Demonstrationender CNRP im vergangenen Herbst mitMilde reagierte, wurden die Proteste derTextilarbeiterinnen, Bauern und Ver-treibungsgegner brutal niedergeschla-gen.
1 Siehe www.worldbank.org/en/country/cambo-dia/overview.2 Siehe „Garment Export Value Up 20 Percent in2013“, Cambodia Daily, Phnom Penh, 5. Februar2014.3 Siehe www.betterfactories.org.4 Siehe Olivier Cyran, „Unsere Toten in Bangla-desch“, Le Monde diplomatique, Juni 2013.5 Siehe „Mass fainting at Kandal factory“, PhnomPenh Post, 21. November 2013.6 ELCs werden zur Durchführung von Wirt-schaftsprojekten für einen Zeitraum von bis zu99 Jahren erteilt. Laut Gesetz dürfen sie sich aufhöchstens 10000 Hektar erstrecken.7 Siehe „Land in conflict“, Bericht des Kambo-dschanischen Zentrums für Menschenrechte(CCHR), 2013: www.cchrcambodia.org.8 Siehe „Rights group reaffirms stance on use of,yuon‘“, Cambodia Daily, 19. Dezember 2013.9 Angehörige des kambodschanischen Bürger-tums, die durch den Handel mit dem Ausland reichgeworden sind.10 Danièle Tan, „La diaspora chinoise duCambodge,une identité recomposée“, Masterarbeit am Institutd’études politiques, Paris 2006.11 „HunSen says his face as good as any; situation isnormal“, Cambodia Daily, 11. Februar 2014.Aus dem Französischen von Markus Greiß
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Gerd Fesser analysiert die Rivalität derimperialistischen Großmächte, die in denGroßen Krieg mündete. Den Schwer-punkt legt er auf das Deutsche Reichund seine Kriegsziele. Er behandelt denKriegsverlauf und die innenpolitischenEntwicklungen sowie die Revolutionenin Russland und Deutschland.
Philippe Revelli ist Journalist und Fotograf, sieheauch: philipperevelli.com.
Hinter den Wohnbaracken derTextilarbeiterinnen beginntdie Boomtown Phnom PenhPHILIPPE REVELLI
20 LE MONDE diplomatique | April 2014
Herr Modi aus Gujarat
ie politischen Wurzeln desumstrittenen BJP-Spitzen-kandidaten Narendra Modiliegen in der hinduistischen
Nationalbewegung, dem RashitriyaSwayamsevak Sangh (RSS, NationaleFreiwilligenorganisation). Für den RSSverkörpert nur die hinduistische Kulturdie indische Identität, da die Hindus die„Söhne der Erde“ seien und 80 Prozentder Bevölkerung ausmachen.
Der RSS wurde 1925 als Reaktionauf die panislamische Khilafatbewe-gung gegründet, die später in der größe-ren Unabhängigkeitsbewegung auf-ging. Immer wieder trug er gewalttätigeKonflikte mit anderen Religionsgrup-pen aus, vor allem mit den Muslimen.So auch bei der Teilung Indiens 1947.Nach Ansicht des RSS sollen Muslime(14 Prozent der indischen Bevölkerung)und Christen (2 Prozent) ihren Glaubenprivat ausüben können, haben sich aberin der Öffentlichkeit der dominieren-den Kultur anzupassen.
Obwohl der RSS traditionell mitden höheren Kasten Indiens verbundenist, entstammt Narendra Modi einer Fa-milie aus den niederen Kasten Gujarats.Als Kind betrieb er mit seinem Vatereinen Teestand, ehe er sich innerhalbder RSS-Hierarchie hocharbeitete: vomFreiwilligen zum pracharak (Vollzeitka-der). Das bedeutete den Verzicht auf Be-rufsausübung und Familie, denn derRSS kann über seine Pracharaks frei ver-fügen: Er kann sie in entlegene Lan-desteile schicken, aber auch in den RSS-Studentenvereinigung oder die RSS-Ar-beitergewerkschaft delegieren. Oder inseine politische Partei, die BJP.
1980 wurde Modi der BJP zugeteilt,wo er den Posten eines Parteisekretärsübernahm. Zunächst arbeitete er in Gu-jarat, später in der Zentrale in Delhi, woer sich mit aller Kraft der Neustrukturie-rung der Partei widmete. Im Oktober2001 wurde er von der Parteiführung, zuder auch Premierminister Atal BihariVajpayee gehörte, zum Chief Ministervon Gujarat berufen. Hier begann Modiseine eigene Politik umzusetzen: eineKombination aus hinduistischem Na-tionalismus, ökonomischem Neolibera-lismus und Hightech-Populismus.
Anfang 2002 kam es in Gujarat zuden blutigsten Zusammenstößen zwi-schen Hindus und Muslimen seit derTeilung Indiens. Am 27. Februar verüb-ten vermutlich Muslime einen Brandan-schlag am Bahnhof von Godhra, beidem in einem Zug 59 Hindu-Aktivistenund Pilger den Tod fanden. Die Reak-tion der Hindu-Nationalisten artete inein Pogrom gegen die muslimische Be-völkerung aus. Nach Angaben glaub-würdiger NGOs kamen dabei mehr als2000 Menschen ums Leben. Die offiziel-le Zahl der Opfer lag nur halb so hoch.
Ein solcher Gewaltausbruch warnur möglich, weil die Polizei Anweisunghatte, die Aktionen der Hindu-Milizenzu dulden. Polizisten, die versucht hat-ten, ihre Pflicht zu erfüllen, wurden kalt-gestellt; diejenigen dagegen, die wegge-sehen oder sogar mitgemacht hatten,wurden befördert.
DDiese Politik zielte darauf, die Ge-
sellschaft Gujarats zu spalten und hin-duistische Wähler der BJP in die Armezu treiben. Modi löste das Parlament aufund rief vorgezogene Neuwahlen aus. Indem aggressiven Wahlkampf beutete erdie Angst vor dem Islamismus aus,indem er pakistanische Islamisten fürden Zugbrand von Godhra verantwort-lich machte. Der Sieg Modis fiel über-wältigend aus.
Das Klima der Angst wurde nachden Wahlen weitergeschürt, vor allemdurch „fake encounters“. Ein „vorge-täuschter Zusammenstoß“ ist zum Bei-spiel, wenn die Polizei jemanden ermor-det und hinterher behauptet, er sei einTerrorist oder er hätte sich der Verhaf-tung widersetzt oder das Feuer auf dieSicherheitskräfte eröffnet. Zwischen2003 und 2005 hat die Polizei in Gujaratmehr als 20 Menschen getötet, die meis-ten von ihnen Muslime. Mitunter be-hauptet die Polizei, die Opfer hätten ver-sucht, Bomben zu legen oder Modi zuermorden. Zurzeit warten etwa 20 Poli-zeibeamte auf ihren Prozess wegen Fäl-schung von Beweismitteln.
Neuerdings will Modi ein gemäßig-teres Image bieten. Er hält gebühren-den Abstand von den Anführern derHindu-Nationalisten, die wegen ihrerVerwicklung in das Pogrom von 2002 an-geklagt waren – wie etwa Maya Kodnani,ein Staatsminister in Modis Regierung,der zu 28 Jahren Gefängnis verurteiltwurde. Modi bemühte sich zudem, dieMuslime zu umwerben, indem er sichals „Botschafter der Gemeinschafts-harmonie“ (sadhbavana) inszenierte,durch Gujarat tourte und sich 2011 aneiner traditionellen Fastenmission(Sadbhavana-Mission) beteiligte.
Muslime werden
systematisch diskriminiert
Aber diese Aktionen blieben weitge-hend symbolisch. Die BJP hat in Gujaratnoch nie einen Muslim als Parlaments-kandidaten aufgestellt. Und Modis Re-gierung ist die einzige in Indien, die esablehnt, die Förderstipendien der Zen-tralregierung für muslimische Studen-ten zu vergeben oder mitzufinanzieren.Und zwar mit dem Argument, dieskomme einer religiösen Diskriminie-rung gleich.
Wegen mangelnder Bildungschan-cen und beruflicher Diskriminierungsind in Gujarat viele Muslime zum so-zialen Abstieg verurteilt: 25 Prozent dermuslimischen Bevölkerung in den Städ-ten lebte Mitte der Nullerjahre unter-halb der Armutsgrenze (neuere ein-schlägige Daten gibt es nicht). Selbst dieDalits (ehemals „Unberührbare“) mit17 Prozent und die Adivasi1 mit 18 Pro-zent sind in Gujarat bessergestellt, ob-wohl sie anderswo die Allerärmstensind. Beide Gruppen profitieren vonAntidiskriminierungsprogrammen wieeiner Quote für die Beschäftigung im öf-fentlichen Sektor.2
Modi hat auch die Tradition derIftar-Feste3 aufgegeben, die seine Vor-
gänger begründet hatten, um das Endedes Ramadan auch offiziell zu feiern.Und nichts wurde gegen die Ghettoisie-rung unternommen, eine Folge der Ab-wanderung armer wie auch wohlhaben-der Muslime aus den Stadtzentren.Viele von ihnen waren nach den Gewalt-ausbrüchen von 2002 weg- und in relativsichere Randbezirke gezogen. Heutewerden sie durch die Diskriminierungauf dem Wohnungsmarkt dazu gezwun-gen, weil zahlreiche Hausverwalterkeine Muslime in ihren innerstädti-schen Gebäuden haben wollen.
Modi hat es geschafft, den öffentli-chen Raum fast vollständig zu verein-nahmen. Mit seinen häufigen Rundrei-sen durch Gujarat versetzt er den Staatin einen Zustand quasi permanenterMobilisierung. Dabei setzt er in bei-spielloser Weise auf moderne Kommu-nikationsmittel, darunter auch die so-zialen Medien oder massenhafte SMS-Botschaften. Während des letzten Wahl-kampfs gründete Modi seinen eigenenFernsehsender, Namo Gujarat, umseine Positionen und Argumente zu ver-breiten. 2012 verwendete er sogar holo-grafische Videoprojektionen, um auf20 Veranstaltungen gleichzeitig spre-chen zu können.
Modis PR-Strategie wurde von derUS-amerikanischen Agentur ApcoWorldwide entwickelt, die unter ande-rem das Image von Diktatoren in Afrikaund Zentralasien aufpolieren half. DerBeratungsvertrag, den Modi schon 2007mit Apco abgeschlossen hat, steht füreine neue Form des Populismus, dieeine direkte Beziehung des Kandidatenzu möglichst vielen Wählern anstrebt.
Diese aufwändige PR-Strategie wirdgroßenteils von der Wirtschaft finan-ziert, die in Guajarat aufgrund einer lan-gen Tradition erfolgreicher Handels-und Finanzunternehmen gut entwickeltist. Diese Kreise machen aus ihrer Wert-schätzung für die neoliberale Wirt-schaftspolitik der Modi-Regierung kei-nen Hehl. Die hat die Zahl der Sonder-wirtschaftszonen (SEZ) erhöht, wo spe-ziell für die Exportwirtschaft reduzierteSteuersätze gelten und gewisse Arbeits-gesetze außer Kraft gesetzt sind (vieleHäfen Gujarats sind SEZ).
Modi hat darüber hinaus konkur-renzlos günstige Bedingungen für indi-sche und ausländische Investoren ge-schaffen. So soll die Tata-Gruppe für dieVerlagerung der Produktion ihres Billig-autos Nana nach Ahmedabad das neueWerksgelände weit unter dem Markt-preis bekommen haben und dazu nochlangfristige zinsfreie Darlehen und eine20-jährige Steuerbefreiung.
Diese Anreize und die günstigenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen,die Gujarat mit seiner guten Verkehrs-und Energieinfrastruktur bietet, habenviele Investoren angelockt und dasWachstum im Bundesstaat angekur-belt. Zwischen 2004/05 und 2011/12wuchs der Industrie- und Dienstleis-tungssektor um 10 Prozent und derAgrarsektor um mehr als 8 Prozent;beide Werte lagen damit deutlich überdem nationalen Durchschnitt.
Aber der wachsende Wohlstandkommt nicht allen zugute. Die Wirt-schaftspolitik des von Modi favorisier-ten Entwicklungsmodells vertieft zu-gleich die soziale Spaltung. Neben denMuslimen (9 Prozent der Bevölkerung)gehören die Adivasi (17 Prozent) und dieDalits (9 Prozent) zu den Hauptverlie-rern dieser Politik, vor allem wenn sieauf dem Land leben. Dort ist der Pro-zentsatz der Armen bei den Adivasi auf35 Prozent gestiegen, bei den Dalits auf22 Prozent, bei anderen niederen Kas-ten auf 19 Prozent und der weitererGruppierungen (meist Hindus aus denhöheren Kasten) auf 5 Prozent.4
Unterstützung erhält Modi vorallem aus den höheren Kasten, der Eliteund der städtischen Mittelschicht. Inden Städten hat seine Regierung die öf-fentlichen Verkehrsmittel ausgebautund bereits 2009 neue Flächennut-zungspläne durchgesetzt. Nach diesenPlänen dürfen die Stadtverwaltungenmaximal 5 Prozent der Flächen für die„schwächeren Schichten“ der Gesell-schaft reservieren – wohingegen dieSlums im Durchschnitt etwa 18 Prozentausmachen. Damit können Armenvier-tel viel leichter in Wohnsiedlungen um-gewandelt werden, die sich nur die Mit-telschicht leisten kann. Die hat deshalbdie Regierung Modi von Anfang an un-terstützt, obwohl einige der Ministerund Abgeordneten, die ihr nahestan-den, im Gefolge der Pogrome von 2002vor Gericht gestellt wurden.
Aus einer Studie von Indiens größ-tem Umfrageinstitut geht hervor, dassdie Wähler mit wachsendem Wohlstandzur BJP tendieren, während die Ärme-ren eher für die Kongresspartei stim-men. 57 Prozent der wohlhabendstenWähler (und 61 Prozent der höherenKasten) wählten 2012 bei den Parla-mentswahlen für den Bundesstaat Guja-rat die BJP – und sicherten Modi damitein dritte Amtszeit. 44 Prozent der ärms-ten Bevölkerungsschichten (und 72 Pro-zent der Muslime) stimmten dagegenfür die Kongresspartei.5
Die städtische Mittelschicht wirdModi mit großer Wahrscheinlichkeitauch bei den nationalen Parlaments-wahlen unterstützen. Ihr liegt vor allemam wirtschaftlichen Wachstum, dasunter der aktuellen Regierung unter
6 Prozent abgesunken ist. Sie möchteeinen starken Mann am Ruder sehen –und einen mit Saubermann-Image. DieKongresspartei wird im Gegensatz zurBJP von Korruptionsskandalen erschüt-tert und hat kein überzeugendes Füh-rungspersonal zu bieten. Die städtischeMittelschicht fühlt sich aber auch vonder neuen Aam Aadmi Party (AAP, Parteides kleinen Mannes) angezogen, die ausder Antikorruptionsbewegung von 2011hervorgegangen ist und bei den Wahlenim Dezember 2013 ihren Durchbruchauf nationaler Ebene hatte, als AAP-Chef Arvind Kejriwal zum Chief Minis-ter des Hauptstadtterritoriums Delhigewählt wurde.
In Gujarat konnte die BJP von derUnterstützung der breiten städtischenMittelschicht profitieren. Aber Indienals Ganzes ist nicht Gujarat. Es ist weitweniger urbanisiert, und die Mittel-schicht ist weniger einflussreich; dieniederen Kasten einschließlich der Da-lits sind im Norden Indiens besser orga-nisiert als in Gujarat.
Dieser Umstand könnte die BJP dieabsolute Mehrheit im Parlament kostenund sie zwingen, eine Koalition einzuge-hen. Für diese Aufgabe bietet allerdingsModi, der von anderen Parteigrößenwegen seines autoritären Stils kritisiertwird, nicht unbedingt die besten Vor-aussetzungen
1Adivasi („erste Menschen“) ist die Selbstbezeich-
nung der indigenen Bevölkerung Indiens, die oft
auch „tribals“ (Stammesvölker) genannt werden.2 Die Daten stammen aus einem Bericht eines von
der Regierung bestellten Komitees unter dem
Vorsitz des pensionierten Richters Rajinder Sachar,
„Social, economic and educational status of the
Muslim community of India. A report“, Neu-Delhi
2006: minorityaffairs.gov.in/sites/upload_files/
moma/files/pdfs/sachar_comm.pdf.3 Iftar (Fastenbrechen) bezeichnet das Mahl, das
während des Ramadanmonats allabendlich nach
Sonnenuntergang eingenommen wird.4 Die Zahlen stammen von 2005 und dürften für die
ärmeren Gruppen seitdemweiter angestiegen sein.5 Gujarat Assembly Election 2012: „Post Poll Survey
by Lokniti, Centre for the Study of Developing So-
cieties“, S. 13: Tabelle „Social Basis of Voting“.
Aus dem Englischen von Dirk Höfer
von Christophe Jaffrelot
Indienwählt vom7. April bis 12.Mai ein neues Parlament.
Beobachter erwarten einen Sieg der hinduistischen
Oppositionspartei Bharatiya-Janata-Partei (BJP). Ihr
SpitzenkandidatNarendraModi regiert seit 13 Jahren
denBundesstaat Gujarat –mit zweifelhaftemErfolg.
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Wahlkampagne für Modi MANISH SWARUP/ap
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Das Buch präsentiert mitseiner Auswahl an Fotoma-terial eine Bilddokumenta-tion von Lissabons jüngererrevolutionärer Vergangen-heit.
Christophe Jaffrelot ist Forscher am Centre
d’études et de recherches internationales (Ceri)-
Sciences Po/CNRS in Paris.
LE MONDE diplomatique | April 2014 21
Venezuela,Land ohne Mitte
eit der politischen Konsolidie-rung des Chavismus vor einemJahrzehnt ist Venezuela ein Landohne Mitte. Einem stabilen An-
teil von 45 bis 50 Prozent Regierungs-anhängern steht ein nicht minder stabi-ler Oppositionsblock gegenüber (40 bis45 Prozent). Die Wahlen werden voneinem kleinen Prozentsatz Unentschie-dener und vor allem durch die Wahlbe-teiligung entschieden. Es ist also keinZufall, dass sie sehr hoch ist: Bei denWahlen 2013 lag sie bei 80 Prozent.
Geht sie auch nur leicht zurück,kommt das dem Antichavismus zugute.Tatsächlich erklärt sich die einzige Nie-derlage des Regierungslagers bei insge-samt 15 Wahlen und Abstimmungen –nämlich beim Referendum über die Ver-fassungsreform 2007 – eher durch dieWahlenthaltung eines Teils der chavisti-schen Basis als durch einem Stimmen-zuwachs für die Opposition. Schon des-halb ist die Situation in Venezuela voll-kommen anders als die in anderen Län-dern Lateinamerikas im Transforma-tionsprozess. Die Verallgemeinerun-gen, die in der letzten Zeit verbreitetwurden, haben diese Tatsache tendenzi-ell übergangen.
In Argentinien beispielsweise istder harte Kern sowohl der Regierungs-anhänger als auch der Opposition sehrviel kleiner und die Zahl der Unent-schiedenen größer, wodurch die Situa-tion offener und fluktuierender wird.Den Regierungen in Bolivien und inEcuador hingegen ist es gelungen,Mehrheiten von mehr als 60 Prozenthinter sich zu bringen, während die Op-position schwach und gespalten ist. Dasallerdings kann auch damit zu tun ha-ben, dass es sich um sehr junge Ent-wicklungen handelt und diese Hegemo-nie der Regierungen eine Phase ist – ver-gleichbar mit der Situation, in der sichder Chavismus vor dem Auftaucheneines ernstzunehmenden Oppositions-führers wie Henrique Capriles befand.
Dieses Kräfteverhältnis zwischenRegierungsblock und Opposition mussman als Erstes im Blick haben, wenn
Sman die Ereignisse der letzten Monateverstehen will, bei denen eine Reihe vonStudentenprotesten mit der Forderungnach mehr Sicherheit in eine Serie vonGewaltakten mit zahlreichen Totenmündete. Ein zweiter wichtiger Faktorist die Spaltung der Opposition. EineFraktion der Antichavisten hat sich jaimmerhin von der Gewalt distanziert,auch wenn sie nicht unbedingt gemä-ßigt ist – aber in Venezuela ist nichts ge-mäßigt, allenfalls das Klima. Zu dieserFraktion zählen, gewiss nicht zufällig,Politiker mit regionaler Regierungsver-antwortung wie die Gouverneure Hen-rique Capriles und Henry Falcón. Dieandere Fraktion, die sich um LeopoldoLópez und Corina Machado1 schart, ar-beitet mit allen Mitteln auf den vorzeiti-gen Sturz der Regierung hin.
Spannungen innerhalb der Opposi-tion gab es schon immer. Nach einer ra-dikalen Phase, die von einem Putschver-such gegen Chávez 2002 über den Gene-ralstreik (vor allem im Erdölsektor)2002/2003 bis zu der extravaganten Ent-scheidung reichte, sich nicht an denParlamentswahlen 2005 zu beteiligen,traten die militantesten Oppositionspo-litiker, die aus den mumifizierten Res-ten der alten Parteien stammten, in diezweite Reihe zurück und überließen dieBühne neueren und demokratischerenAkteuren, die sich um Henrique Capri-les versammelten.
Capriles, Gouverneur des Bundes-staats Miranda, unterlag dem Chávez-Nachfolger Maduro bei den Präsident-schaftswahlen 2013 mit weniger als2 Prozentpunkten Rückstand. Dies ließdie Opposition, die erstmals seit demReferendum von 2007 die Macht greif-bar nahe sah, wieder hoffen. Doch beiden Kommunalwahlen im Dezemberfuhr der Chavismus erneut einen klarenSieg ein, was die Unbesiegbarkeit derRegierung zu bestätigen schien. Vor die-sem Hintergrund gewannen innerhalbder Opposition wieder die radikalstenStrömungen die Oberhand.
Da sich die Streitkräfte heute an-ders als 2002 loyal gegenüber der Verfas-
sung verhalten und die Regierung mehrAnhänger mobilisieren kann als in derVergangenheit – bei allen Fehlern ist esdem Chavismus doch zweifellos gelun-gen, Volksmacht aufzubauen –, greifendie extremistischsten Sektoren der Op-position auf Destabilisierungstechni-ken zurück, die der ecuadorianische So-ziologe Franklin Ramírez als „neueTechnologien des Umsturzes“ bezeich-net hat.2 Dabei ist nach wie vor die Fragegültig: Wo hört Opposition auf, und wobeginnt der Staatsstreich?
Ebenso schwierig ist es, zu definie-ren, wo die Grenze zwischen unnötigerRepression eines legitimen Protestes ei-nerseits und der Pflicht der Regierung,die Ordnung aufrechtzuerhalten undChaos zu vermeiden, andererseitsgenau verläuft: Die Tatsache, dass in Ve-nezuela Angehörige des Militärgeheim-dienstes mit scharfer Munition auf De-monstranten geschossen haben, bestä-tigt nur, dass diese Situation, in der esauf beiden Seiten Todesopfer gibt, nichteinfach und nicht eindeutig ist. Offen-sichtlich agieren gewalttätige Gruppenauf eigene Faust, und das nicht nur in-nerhalb der Opposition.
Chile ist Zen,
Venezuela Kung-Fu
Die Lage im Land ist ohnehin kritisch.Die Wirtschaft erlebt eine Krise, derweder die Verstaatlichungen und Wech-selkurskontrollen noch die drastischeAbwertung des Bolívar im Februar Herrwerden konnten. Im vergangenen Jahrlagen, nach Daten der lateinamerikani-schen Wirtschaftskommission Cepal,die Inflation in Venezuela bei 57 Pro-zent und das Wachstum bei 1,2 Prozent.
Wie bei einem guten karibischenRum, der aus verschieden Rumsortenmit unterschiedlichen Lagerzeiten ge-macht wird, vermischt sich in Venezuelaalles: Die offensichtlichen Versorgungs-probleme, die die Regierung zu verant-worten hat, weil es ihr nicht gelungenist, die Abhängigkeit von Lebensmittel-
importen zu verringern (Venezuela im-portiert nach wie vor 75 Prozent derNahrungsmittel, die es konsumiert),verbindet sich mit den nicht weniger of-fensichtlichen Versuchen der Oppositi-on, Chaos zu verbreiten (so etwa durchdie künstlich erzeugte Klopapierkrise).Und es gibt noch mehr Beispiele: Ob-wohl die soziale Ungleichheit deutlichabgenommen hat, nimmt – was die So-ziologen in den Wahnsinn treiben muss– die Gewalt beständig zu. In Caracasliegt die Mordrate bei 80 Fällen auf100000 Einwohner, womit die Stadt zuden gefährlichsten Orten der Welt ge-hört.
Im einzigen südamerikanischenLand, das die unbegrenzte Wiederwahleines Amtsträgers zulässt, verbindetsich im Regierungslager ideologischeÜberfrachtung mit geschmacklosemLuxuskonsum und Korruptionsskanda-len. Das trifft zwar nicht auf die Perso-nen Chávez und Maduro zu, aber ebendoch auf einige Regierungsvertreter.Und dies alles geschieht im Rahmeneiner keineswegs innovativen, ganz of-fenkundig ineffizienten Verwaltung,einer Militarisierung von wichtigen Tei-len des Staatsapparats und eines ermü-denden Gepolters der regierungsnahenMedienpropaganda.
Werfen wir noch einmal einen Blickzurück. Als Hugo Chávez 1999 an die Re-gierung kam, sah er sich mit einem tie-fen Riss durch die Gesellschaft konfron-tiert, der schon vor ihm da gewesen war– und der das Phänomen Chávez auchbis zu einem gewissen Punkt erklärt:Unter dem Überbau eines scheinbarperfekten Zweiparteiensystems lag dietrübe Realität von sozialer Ungerechtig-keit, Regellosigkeit und Gewalt. Diese –und nicht ein perfektes Schweden, dases sowieso nie gegeben hat – war dasKellergeschoss, auf dem der Chavismusden ersten Populismus des 21. Jahrhun-derts errichtete. „Populismus“ insofern,als eine energische Führungsfigur imBündnis mit den besitzlosen Massenden sozialen Riss in eine politische Po-larisierung verwandelte; und „21. Jahr-hundert“, weil der Konflikt nicht mehrim Klassenkampf besteht, sondern inder Dialektik der Ausgrenzung.
Wie der französische Soziologe Ro-bert Castel3 bemerkt, ist in den postin-dustriellen und globalisierten Gesell-schaften der „fernwestlichen“ kapitalis-tischen Peripherie die Ausbeutung alswichtigstes gesellschaftliches Problemvon der Ausgrenzung abgelöst worden.Mit anderen Worten: Es geht nicht län-ger um die Stellung innerhalb einer be-stimmten sozialen Struktur, sondernum die Möglichkeit, überhaupt dazuzu-gehören. Deshalb findet die Inklusion,die im klassischen Populismus über Ar-beit garantiert werden soll, heute überSozialprogramme statt – seien es nundie venezolanischen Misiones, die ar-gentinische Asignación Universal oderdie brasilianische Bolsa Família. Dabeiersetzt der Staat die Gewerkschaften alsRaum der politischen Organisation.
Vielleicht versteht man die venezo-lanische Situation besser, wenn man siemit der chilenischen vergleicht, die in
vielerlei Hinsicht als ihr Gegenstück er-scheint. Chile übernimmt im latein-amerikanischen Rollenspiel die Posi-tion der Mäßigung und Gelassenheit.Chile ist New Age: Es versucht seine in-nere Mitte zu wahren. Chile ist Zen, Ve-nezuela Kung-Fu. Aber Chile brennt imInneren, weil die Gesellschaft schon seitLängerem Veränderungen einfordert,die von der Politik ignoriert werden. Obnun wegen des kulturellen Erbes der Pi-nochet-Jahre, wegen der offenkundigenWirtschaftserfolge des Neoliberalismusoder wegen der Selbstgenügsamkeiteiner politischen Klasse, die sich nichtzu erneuern vermag (als Beweis mag die-nen, dass die letzten Kandidaten derMitte-links-Parteien Expräsidenten wa-ren) – fest steht, dass niemand die Kom-bination kennt, mit der sich der Tresoröffnen lässt. Als besäße Chile keineKraft für Veränderungen.
Der Wahlsieg Michelle Bachelets,ein offenkundiges Zeichen, wie sehrVeränderung nottut, kam mit einerWahlenthaltung von sage und schreibe58 Prozent zustande. Das wirft Fragenauf über die Vitalität dieser Minderhei-tendemokratie und legt Vergleiche mitdem von Konflikten gebeutelten, aberpartizipativen und demokratischen Ve-nezuela nahe. Bachelet hat jedenfallsalle Vorteile auf ihrer Seite: Sie wurdemit dem höchsten Stimmenanteil derletzten 70 Jahre gewählt, hat hervorra-gende Umfragewerte und die Unterstüt-zung eines breiten Parteienbündnisses,zu dem erstmals auch die Kommunisti-sche Partei gehört; zudem verfügt sieüber eine parlamentarische Mehrheitvon vier Siebteln in beiden Kammern,was ausreicht, um Gesetze abzuschaf-fen und zu modifizieren (einschließlichsogenannter Rahmengesetze). Es istaber nicht genug, um die Verfassung zureformieren oder eine verfassunggeben-de Versammlung einzuberufen.
Wenn Bachelet auf die gesellschaft-lichen Forderungen eingeht und sichgegenüber dem absehbaren Wider-stand der Rechten behaupten will, wirdsie wohl keine andere Wahl haben, alssich direkt auf die Mobilisierung der Be-völkerung oder auf plebiszitäre Mecha-nismen zu stützen.
Vielleicht sollte Lateinamerikaheute weniger nach einer unwahr-scheinlichen Mäßigung in Venezuelafragen als vielmehr nach einer begrü-ßenswerten Radikalisierung Chiles. An-ders ausgedrückt: Wird Michelle Bache-let chavistischer?
1 López, ehemaliger Bezirksbürgermeister von Cha-
cao, Caracas, ist seit dem 18. Februar wegen Auf-
rufs zur Gewalt inhaftiert; gegen die parteilose Par-
lamentsabgeordnete Machado wird ermittelt.2 Franklin Ramírez Gallegos, „La insurrección de ab-
ril no fue sólo una fiesta“, Quito (Taller El Colectivo)
2005.3 Robert Castel, „Die Stärkung des Sozialen. Leben
im neuen Wohlfahrtsstaat“, Hamburg (Institut für
Sozialforschung) 2005.
Aus dem Spanischen von Raul Zelik
von José Natanson
Die Studenten kämpfen für die Demokratie, sagen
die einen. Die anderen glauben, der Sozialismus des
21. Jahrhundertsmüsse gegen einen Rechtsputsch
verteidigt werden.Meinungen gibt es viele,
Analysen kaum.Dochworumgeht eswirklich?
Undwas bedeutet der Chavismus für Lateinamerika?
Was wann geschah
1992Oberstleutnant Hugo Rafael Chávez
Frías scheitert mit einem Putschversuch.
1998 Chávez wird mit absoluter Mehrheit
zum Präsidenten gewählt.
April 2002 Ein Putschversuch gegen
Chávez, an dem auch der (zurzeit inhaf-
tierte) Oppositionsführer Leopoldo López
beteiligt ist, scheitert.
Dezember 2002 Die Opposition initiiert
einen Generalstreik, der bis Februar 2003
dauert. Er trifft vor allemdenÖlsektor und
löst einemassive Kapitalflucht aus.
März 2003 Die Regierung schränkt den
Devisenhandel ein.
August 2004 Ein Referendum zur Amts-
enthebung von Chávez scheitert.
Dezember 2005 Die Opposition boykot-
tiert die Parlamentswahlen.
Juni 2010 Dem oppositionellen Sender
RCTV wird die Lizenz entzogen.
2012Die Inflationsrate steigt, unter ande-
rem aufgrund der zunehmenden Lebens-
mittelknappheit, auf über 20 Prozent.
März 2013 Chávez stirbt an Krebs.
April 2013 Nicolás Maduro gewinnt die
Präsidentenwahlen knapp gegen den Op-
positionskandidaten Henrique Capriles.
Dezember 2013 Bei den Kommunalwah-
len liegen die Chavisten wieder vorn. Die
Inflationsrate übersteigt 50 Prozent.
Gedenkmarsch für Chávez im März 2014 STRINGER/reuters
Anfang 2014 Der radikale Flügel der Op-
position um Leopoldo López und Corina
Machado vollzieht die Trennung von dem
gemäßigten Flügel umHenriqueCapriles.
12. Februar Studentenproteste werden
zum Auftakt wochenlanger Demonstra-
tionenmit 40 Toten auf beiden Seiten.
16. Februar Drei US-Diplomaten werden
beschuldigt, einenStaatsstreich zu unter-
stützen, und des Landes verwiesen.
18. FebruarLeopoldoLópezstellt sichder
Justiz und wird verhaftet.
24. Februar Fünf Angehörige des Ge-
heimdienstes werden des Mordes be-
schuldigt und festgenommen.
13. März Im Stadtviertel Chacao wird ein
Protestlager gewaltsam geräumt.
25. März Eine Delegation der Unasur
führt Gespräche mit Vertretern der ver-
schiedenen politischen Gruppierungen
und der Wirtschaft. Die venezolanische
Währung wird teilweise freigegeben und
um 87 Prozent abgewertet.
26. März Die Oppositionsführerin Corina
Machado verliert ihr Abgeordnetenman-
dat. Drei Generäle der Luftwaffe werden
wegen Putschverdachts festgenommen.
4. April Das Wohnungsbauministerium
wird von Demonstranten in Brand ge-
setzt, die Polizei greift nicht ein.
José Natanson ist Redaktionsleiter der argentini-
schen Ausgabe von Le Monde diplomatique.
© Le Monde diplomatique,Cono Sur
22 LE MONDE diplomatique | April 2014
stehen: Morgan Stanley, Citigroup,Deutsche Bank, die schweizerischeUBS, Bank of America und GoldmanSachs. Und natürlich darf auch die größ-te US-Bank, JP Morgan Chase, nicht feh-len, die im Oktober 2013 eine Pauschal-strafe in Höhe von 13 Milliarden Dollarakzeptiert hat, um die Einstellung zahl-reicher Klagen wegen ihrer riskantenund häufig illegalen Geschäfte mit Hy-pothekenverbriefungen zu erreichen.
Mit anderen Worten: Wenn Black-stone jetzt erneut – unter Ausnutzungder Wohnungskrise – das große Geldmacht, sahnen sämtliche Wall-Street-Banken, die alle Welt als Hauptschuldi-ge betrachtet, mit ab. Also genau jeneInstitute, die erst die Voraussetzungenfür die Überschuldungs- und Zwangs-versteigerungskrise geschaffen haben.
In bestimmten Wohnvierteln mer-ken die Leute bereits, dass da etwas ausdem Ruder läuft – auch wenn ihnenBlackstone kein Begriff ist. In Los Ange-les zum Beispiel wunderte sich der Mak-ler Mark Alston über eine merkwürdigeEntwicklung: Die Häuserpreise zogenwieder an. Und zwar sehr schnell: vonOktober 2012 bis Oktober 2013 um satte20 Prozent. Unter normalen Marktbe-dingungen zeigen steigende Preise einewachsende Nachfrage an. Aber hier wares anders, denn die Zahl der individuel-len Hausbesitzer ging zurück.
Außerdem änderte sich der Kreisder Interessenten. Alston macht seineGeschäfte vor allem mit Objekten in deninnerstädtischen Wohnvierteln, wo dieBewohner meist Afroamerikaner oderhispanischer Herkunft sind. „ZweiJahre lang habe ich nichts mehr an eineschwarze Familie verkauft, obwohl iches ständig versuche“, berichtet Alston.Seine neuen Kunden waren ausnahms-los weiße Geschäftsleute. Und noch ei-genartiger war, dass alle in bar zahlten.
Die Hypothekenkrise zwischen2005 und 2009 hat die Vermögen derafroamerikanischen Bevölkerung um53 Prozent und die der Hispanics um66 Prozent entwertet. Das sind Zahlen,die jedes Vorstellungsvermögen über-steigen. Heute können in den USA nurganz wenige Schwarze oder Hispanicsein Haus kaufen und noch weniger inbar bezahlen.
Blackstone dagegen kann das nöti-ge Geld mühelos aufbringen; die Deut-sche Bank zum Beispiel hat dem Unter-nehmen eine Kreditlinie von 3,6 Milliar-den Dollar eingeräumt. Mithilfe solcherSummen kann das Unternehmen natür-lich mit links Familien überbieten, dieeinen Hauskauf auf traditionelle Weisefinanzieren müssen.
Der Deutsche-Bank-Kredit ermög-lichte es Blackstone zudem, in kürzesterZeit sehr viele Objekte zu erwerben, wasfür die lokalen Märkte ein Schock war.Die Preise schossen derart in die Höhe,dass viele Familien einfach nicht mehrmithalten konnten. „Mit einem Unter-nehmen, das auf künftige Wertsteige-rungen spekuliert, kannst du nicht kon-kurrieren, wenn es mit Bargeld um sichwirft. Es sieht fast so aus, als hätten siedas so geplant“, meint Alston.
Ein Rückblick auf die Finanzkrisezeigt, dass diese einen massiven Trans-fer von Reichtum und Vermögenswer-ten bewirkt hat, wobei die großen Verlie-rer die Normalbürger und die großenGewinner die mächtigsten Finanzinsti-tutionen waren. Die privaten Haushalteerlitten in der Krise – nach einer Schät-zung des US-Finanzministeriums vomApril 2012 – Wertverluste in Höhe von19,2 Billionen (trillion) Dollar; die Ban-ken hingegen vermochten, mehr als5 Millionen Häuser in ihren Besitz zubringen.
Was das langfristig bedeutet, be-ginnt sich erst langsam abzuzeichnen:Die wirtschaftliche Erholung treibt einefatale Entwicklung, die in den Rezes-sionsjahren begonnen hat, noch weitervoran – eine Umverteilung von Reich-tum und Macht von unten nach oben.
In den Krisenjahren 2009 bis 2012entfielen 95 Prozent der Einkommens-zuwächse auf das reichste Hundertstelder US-Bürger. Mit der Erholung desWohnungsmarkts kam der enormeWertzuwachs nicht etwa Familien undKommunen zugute, sondern in ersterLinie der Wall Street. Seit Blackstone imFrühjahr 2012 begann, zwangsverstei-gerte Häuser massenhaft aufzukaufen,flossen Vermögenswerte in Höhe von
schätzungsweise 88 Milliarden Dollardirekt an Banken und institutionelle In-vestoren, die ihr Kapital in Wohnimmo-bilien angelegt haben. Und das ist erstder Anfang.
Der Aufkauf billiger Häuser in Er-wartung künftiger Wertsteigerungen istfreilich nicht das einzige Geschäftsmo-dell, mit dem Blackstone seine Profitemachen will. Der Finanzgigant möchteauch bei den Mieten mitverdienen.
Der Aufbau eines Mietimmobilien-imperiums ist für die Wall Street einekomplett neue Masche. Die Vermietungvon Einzelhäusern war bis vor Kurzemdas klassische Betätigungsfeld von klei-nen Maklerklitschen. Diesen Markthaben die Finanzalchimisten von Black-stone jetzt aufgemischt: Im November2013 brachte das Unternehmen nachmonatelangem Werberummel eine his-torische Neuheit auf den Markt: ein erst-klassig bewertetes Anleihepapier, dasmit Mieteinnahmen besichert ist. Undnachdem sich die Investoren um dieseBonds geprügelt haben, kündigtenBlackstones Konkurrenten an, dass siemöglichst schnell ähnlich verbriefte An-leihen auflegen werden.
Die Idee, Mieteinnahmen zu bün-deln und an Investoren zu verkaufen,kann man – je nach Blickwinkel – entwe-der als naturwüchsige Fortentwicklungdes Finanzsektors oder als feuerspeien-des Ungeheuer sehen. „Es handelt sichum völliges Neuland“, meint Ted Wein-stein, der seit dreißig Jahren als Beraterin der Wohneigentumsbranche arbei-tet. „So was hätte ich mir nicht mal imTraum vorstellen können.“
Wer allerdings 2008 die Subprime-Krise, also den Absturz der hypotheken-
gedeckten Anleihepapiere, am eigenenLeib erfahren hat, dem wird dieses„Neuland“ merkwürdig bekannt vor-kommen.
„Das ist wie ein mit Wohnhaushy-potheken besichertes Papier“, bestätigtder Investor eines Hedgefonds, der mitBlackstone im Geschäft ist. Auf die Fra-ge, warum der kleine Kunde, der sich andie riskanten Papiere und den Crashvon 2008 erinnert, diese „Sicherheiten“für sicher halten soll, hat er nur die Ant-wort: „Vertrauen Sie mir.“
Für Blackstone ist das Ganze einesimple Rechnung. Das Unternehmenwill Gelder vorgeschossen bekommen,mit denen es zwangsversteigerte Häuserbillig erwerben kann, bevor die Preisewieder steigen. Deshalb tut man sichmit JP Morgan, Credit Suisse und derDeutschen Bank zusammen und bün-delt die erwarteten Mietzahlungen von3207 Einfamilienhäusern zu Anleihepa-pieren, die man an Investoren verkauft.Als zusätzliche Sicherheit für dieseBonds dienen Hypotheken der betref-
fenden Häuser. Das Ganze ist natürlichnur ein erster Testlauf für einen ganzneuen Geschäftszweig namens „mie-tenbesicherte Wertpapiere“.
Viele der großen Wall-Street-Ban-ken mischen in diesem Geschäft mit.Das geht aus privaten Kaufofferten mitDatum vom 31. Oktober 2013 hervor, dieBlackstone potenziellen Investoren zu-geschickt hat. Die Vermarktung derneuen Bonds erfolgt durch die DeutscheBank, JP Morgan Chase und CreditSuisse. Das Zertifikatsmanagementliegt bei Wells Fargo, dem größten Fi-nanzinstitut der Welt. Für das Kredit-management ist eine Tochter der PNCBank namens Midland Loan Serviceszuständig. In diesem Zusammenhangsei daran erinnert, dass die DeutscheBank, JP Morgan Chase, Wells Fargound die PNC Bank zu jener Clique vonGeldinstituten gehören, die 2013 diemeisten Zwangsvollstreckungen gegenFamilien in den USA durchgesetzt hat.
Man kann nur hoffen,
dass sie wissen, was sie tun
Spricht man mit Wirtschaftswissen-schaftlern, Insidern der Immobilien-branche und politischen Aktivisten, ge-winnt man den Eindruck, dass die Angstumgeht. Aber noch hoffen alle instän-dig, dass das, was wie eine Ente aus-sieht, wie eine Ente schwimmt und wieeine Ente quakt, am Ende nicht genauso abstürzt, wie es der letzte Enten-schwarm getan hat – und damit erneutdie Wirtschaft zum Absturz bringt.
Dean Baker vom Center for Econo-mic and Policy Research (CEPR) in Wa-
shington ist skeptisch: „Man kann nurhoffen, dass sie wissen, was sie tun, dasssie auf Verluste und längere Leerständevorbereitet sind. Aber darauf würde ichmich auf keinen Fall verlassen.“ DieCashflow-Analysen in den Prospektenfür potenzielle Investoren gehen davonaus, dass die durchschnittliche Monats-miete bei 1312 Dollar liegt und dass zujedem Zeitpunkt 95 Prozent der Häuservermietet sein werden. Eine solche Ver-mietungsquote gilt unter Immobilien-profis als „ehrgeizig“.
Hinzu kommt, dass zwischen denneuen mietenbesicherten und den hy-pothekenbesicherten Wertpapieren eingravierender Unterschied besteht.Wenn eine Bank auf ein Haus zugreift,das als Sicherheit für die gewährte Hy-pothek dient, gilt zumindest die Annah-me (die aufgrund verzerrter oder fehler-hafter Kalkulationen der Bank häufigfalsch ist), dass der Hausbesitzer seinenHypothekenkredit tatsächlich nichtkorrekt bedient hat. Anders ist es beimietenbesicherten Wertpapieren:
Schonwieder
Fortsetzung von Seite 1
Wenn ein solcher Fonds bankrottgeht,können Tausende Familien ihre Woh-nung verlieren, egal ob sie ihre Miete re-gelmäßig bezahlt haben oder nicht. Ineinem solchen Fall, erklärt Dean Baker,„verlieren viele ihr Zuhause nicht etwadeshalb, weil sie mit der Miete im Rück-stand sind, sondern weil ihre Vermieterzahlungsunfähig geworden sind“.
Sind diese neuen Sicherheitenwirklich sicher? Das wird von der simp-len Frage abhängen, ob sich Blackstonezu einer guten Immobilienverwaltungentwickelt. Denn nur ein vernünftigesManagement kann für eine hohe Bele-gungsquote sorgen und berechenbareUmsätze erzielen, was das Vertrauen derInvestoren stärkt. Ein schlechtes Ma-nagement dagegen produziert nur Be-schwerden, Misstrauen und einenhohen Leerstand, was die Wahrschein-lichkeit erhöht, dass für Blackstone dielaufenden Einnahmen nicht ausrei-chen, um den Investoren ihre garantier-te Rendite auszuzahlen.
Glaubt man Donna Porter, die vonder Blackstone-Tochter InvitationHomes ein Haus in einem Vorort von At-lanta gemietet hat, ist das Unterneh-men alles andere als ein solider Haus-verwalter. Die alleinerziehende Mutterhat im Herbst 2013 einen Mietvertragüber zwei Jahre unterschrieben. Aberschon nach wenigen Wochen hätte sieam liebsten sofort wieder gekündigt. Alssie sich über Kakerlaken und Wasser-wanzen im Haus beschwerte, wurdenihre Online-Anfragen gelöscht, ohnedass sich irgendjemand mit dem Unge-zieferbefall befasst hätte. Und als sie da-raufhin die Hotline der Firma anwählte,ging niemand ans Telefon.
Kurz darauf bekam sie eine E-Mailmit dem Vermerk „dringend“: Invita-tion Homes hatte es versäumt, einenTeil der Novembermiete von PortersKonto abzubuchen und forderte dieMieterin auf, die Restmiete am darauf-folgenden Tag bis 17 Uhr persönlich inForm einer beglaubigten Zahlungsan-weisung vorbeizubringen. Andernfallswären „200 Dollar Anwaltsgebühren“fällig.
Am nächsten Tag nahm sich Portervon der Arbeit frei, um die Geldanwei-sung persönlich abzugeben. Daraufhinerfolgte, wiederum per E-Mail, die Mit-teilung, die Zahlung werde nicht aner-kannt, denn sie habe weder die 200 Dol-lar Säumniszuschlag enthalten nocheine zusätzliche Strafgebühr von 75 Dol-lar für unzureichenden Kontoausgleich.
Und das war nur der Anfang einerganzen Serie entnervender E-Mails. AmEnde drohte Invitation Homes sogarmit einer Räumungsklage, falls die Mie-terin die diversen Strafgebühren nichtbezahlen würde. Donna Porter forderte
die Vermieterfirma mehrfach auf, ihreMonatsmiete zu akzeptieren und sie an-sonsten in Ruhe zu lassen: „Ich fühltemich wirklich schikaniert und empfanddas Ganze als sehr ungerecht.“ Erst alssie Invitation Homes mitteilte, siewerde sich einen Anwalt nehmen, lenk-te die Firma plötzlich ein und akzeptier-te die Mietnachzahlung – aber nur als„einmaliges Entgegenkommen“.
Dass solche Erfahrungen keineAusnahme sind, belegen Dutzende On-line-Beschwerden von Invitation-Homes-Mietern. Viele von ihnen berich-ten, dass ihre Forderungen und Ein-sprüche unbeantwortet blieben. Andereklagen über schwerwiegende Baumän-gel an ihren nur oberflächlich aufge-motzten Häusern.
In wenigstens einem Fall lässt sichsogar belegen, dass Blackstone offen-sichtlich auch mit juristischen Trickse-reien arbeitet. In Orlando, Florida hatdie Filiale von Invitation Homes eineRäumungsklage vorgetäuscht. Wie inder Lokalzeitung Orlando Sentinel zulesen war, erhielt der Mieter FranciscoMolina per Post eine gefälschte amtli-che Mitteilung, wonach eine gerichtli-che Räumungsklage gegen ihn vorliege.Das wurde von der Stadtverwaltung so-fort dementiert. Aber der eigentlicheHammer ist, dass Invitation Homes oh-nehin nicht berechtigt war, Molina raus-zuwerfen. Denn schon Monate zuvorwar der Kauf des Hauses durch dasBlackstone-Unternehmen rückgängiggemacht worden – diese Informationwar in der Firma verloren gegangen.
Solche Geschichten zeigen, dass In-vitation Homes mit Räumungsklagenschnell bei der Hand ist. Und der Fall inOrlando dürfte angesichts des Ge-schäftsmodells von Blackstone eher dieRegel als die Ausnahme sein. Ein Fi-nanzunternehmen, das seine Anleihe-papiere mit Mieteinnahmen besichert,steht unter großem Druck, für einenpermanenten Cashflow zu sorgen. Die-ser Druck wird an den Mieter weiterge-geben: Wer nicht pünktlich zum Erstendes Monats zahlt, fliegt er raus.
Obwohl Blackstone bisher erst einemietenbesicherte Anleihe aufgelegt hat,ist ein derart strenges Vorgehen offen-bar jetzt schon üblich. Nach einem Be-richt im Charlotte Observer hat das Un-ternehmen in dieser Stadt in North Ca-rolina bereits Räumungsverfahrengegen jeden zehnten Mieter eingeleitet.
Natürlich machen im landesweitenVergleich 40000 Häuser lediglich einenkleinen Prozentsatz aller Wohnimmobi-lien aus. Aber in den Städten, auf dieBlackstone seine Kaufaktivitäten kon-zentriert, befindet sich bereits ein er-staunlich großer Anteil des Immobi-lienmarkts in seinem Besitz. In Phoe-nix, Arizona, gibt es zum Beispiel einViertel, wo fast in jeder Straße mindes-tens ein Haus zum Blackstone-Impe-rium gehört (häufig sind es auch zweioder drei).
Diese Entwicklung lässt befürch-ten, dass der Private-Equity-Gigant – wo-möglich im Verein mit weiteren institu-tionellen Investoren – auf regionalenMärkten ein Monopol erlangen könnte,was wiederum das Mietpreisniveau indie Höhe treiben würde. Doch die größ-te Sorge für die Durchschnittsbürgersollte eine ganz andere sein: Das ganzeMietwohnungsimperium mitsamt sei-ner Basis von neuartigen Anleihepapie-ren könnte innerhalb weniger Jahre zu-sammenbrechen – was erneut zu der in-zwischen sattsam bekannten ökonomi-schen Abwärtsspirale führen würde.
Diese Gefahr sieht auch MichaelDonley, der sich über die rasch wach-senden Blackstone-Investitionen in sei-nem Wohnviertel in Chicago kundig ge-macht hat. „Man lässt es zu, dass dieWall Street einen erheblichen Teil desMarkts für Einfamilienhäuser kontrol-liert. Aber geht das auf lange Sicht gut?Das ganze Modell könnte schon 2016zusammenbrechen, und dann werdenwir schlimmer dran sein als 2008.“
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Lynne Cohen, Untitled, 2008, C-Print, 130 x 150 cm
Laura Gottesdiener schreibt unter anderem für Rol-
ling Stone und Huffington Post. Ihr Buch „A Dream
Foreclosed“ (Zwangsversteigerung eines Traums)
über die Folgen der Hypothekenkrise für die Afro-
amerikaner erschien 2013 bei Zuccotti Park Press.
© Laura Gottesdiener über Agence Global; für die
Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin
LE MONDE diplomatique | April 2014 23
Spione im Weißen Haus
ach der TV-Serie „House ofCards“ bin ich geradezusüchtig. Das gilt sowohl fürdie britische wie für die US-
amerikanische Fassung des Politthril-lers. Dabei muss ich allerdings bemän-geln, dass beide in puncto Realitätsnä-he voll danebenliegen.
In „House of Cards“ erklimmt einfieser Intrigant mithilfe abgefeimtesterMachenschaften – bis hin zu Mord – diehöchste Stufe der Macht, also DowningStreet 10 (englische Serie) respektivedas Weiße Haus (US-Serie). Dagegenwirken die Politiker im realen Washing-ton geradezu naiv. Die wahren Herrenund Meister im Spiel um die Macht sindhier nämlich die Spione, die ihre mörde-rischen Intrigen hinter so nichtssagen-den Initialwörtern wie CIA und NSA ver-bergen.
Seit einigen Wochen spielt sich inder US-Hauptstadt ein grelles Reality-Drama ab, dem der Ruch altmodischerVerschwörungstheorien anhaftet. AlsPuppenspieler agieren dabei die beidenGeheimdienste, während die gewähltenPolitiker – bis hin zum Präsidenten – wieMarionetten an ihren Fäden zappeln.Ich hoffe, die Serienschreiber versäu-men es nicht, diese erstklassige Story-line für eine dritte Staffel der Erfolgsse-rie festzuhalten: „House of Cards, theReality TV Version“.
Die Geschichte begann in den fins-teren Jahren nach 9/11, als sich die CIAim Krieg gegen den Terrorismus auf Fol-tern im globalen Maßstab verlegte.1 An-fangs schaute das offizielle, durch dieAnschläge noch traumatisierte Wa-shington weg und tat so, als wisse esüber das Tun ihrer Geheimdienstlernicht Bescheid. Die verschleppten, vonAfghanistan bis Italien, alle möglichen„Terroristen“ in alle möglichen Länder,die mit Verdächtigen weniger zimper-lich umgehen. Auf diese Weise konntensie und ihre einheimischen Helfer lau-ter Straf- und Foltertechniken anwen-den, die in den USA verboten sind.
Als wachsame Journalisten diefürchterlichen Details aufdeckten, rea-gierte die politische Klasse zunächstschockiert. Bald jedoch wurden die Ge-heimdienstler als „unsere anonymenHelden“ gefeiert, die es den Bad Guysheimzahlen. CIA-Agenten zeichnetendie Gräueltaten für ihr Archiv auf, undder TV-Sender Fox widmete den Folte-rern mit „24“ sogar eine eigene, sehr be-liebte Fernsehserie.2 Die Bush-Regie-rung gab juristische Gutachten in Auf-trag, die mit an den Haaren herbeigezo-genen Argumenten belegen sollten,dass ihre Foltertechniken keine illegaleFolter seien.3 Es dauerte eine ganze Wei-le, bis die Medien hier und da auch an-dere Meinungen über Praktiken wie Wa-terboarding und Schlafentzug zu veröf-fentlichen begannen.
Als dann irgendwann die Wahrheitüber die offiziellen Lügen siegte undauch der Irakkrieg als gigantischer Be-trug entlarvt war, hatten viele US-Bürgerdas gesetzlose Treiben in Washingtonlangsam satt. Die CIA ließ ihre Folter-Vi-deos diskret vernichten (was schlechtfür die TV-Serien ist, denen damit vor-zügliches Doku-Material verloren ge-gangen ist). Im Übrigen stritt die CIAalles ab und versprach im selben Atem-zug, es nicht wieder zu tun. Der neuePräsident nahm ihr das ab und ermahn-te die Bürger in versöhnlichem Ton, sichnicht in alte Streitereien zu verbeißen.Und der Kongress versicherte der Na-tion, die Geheimdienstausschüsse vonSenat und Repräsentantenhaus würdenkünftig äußerste Wachsamkeit übenund sich die CIA energisch zur Brustnehmen, falls man die Agentur erneutbeim Lügen erwischen würde (wobei dieDetails leider als „geheim“ klassifiziert
N
wurden, weil sie ja dem Feind nutzenkönnten).
Die öffentliche Debatte wäre erneutzu dem Pseudoklartextdiskurs verkom-men, der für Washington so typisch ist,wenn da nicht ein paar edelmütigeComputerfreaks aufgetaucht wären unddie Bunker der Staatsgeheimnisse in dieLuft gesprengt hätten.
Als Erstes stellte die berüchtigteWikileaks-Bande ganze Halden gehei-mer Regierungsdokumente ins Inter-net, was weltweit eine enorme Empö-rung auslöste. Die Lektüre eines vertrau-lichen Botschaftsberichts oder eines ge-heim ausgehandelten Handelsabkom-mens ist eine ausgesprochen lehrreicheErfahrung, weil die Diplomatie damitihre ehrwürdige Aura verliert.
Als Nächstes präsentierte uns derBürger Snowden die Kronjuwelen derStaatsgeheimnisse, indem er die digita-le Eroberung unserer Privatsphäre inihrem ganzen schockierenden Ausmaßdokumentierte. Die staatlichen Behör-den gehen tatsächlich so weit, unsereGespräche auf der Straße mitzuhörenund zu speichern. So etwas hatten frü-her nur Leute geglaubt, die auch be-haupten, dass sie regelmäßig die Stim-me Gottes oder die des Zauberers von Ozhören.
Bürger Snowden und
die bösen Zwillinge
Heute zweifelt niemand mehr daran,dass die US-Bürger in ihrer Gesamtheiterfasst werden. Und dass ihre Telefon-gespräche für unsere Spione und Ge-heimdienstler gespeichert werden – fürden Fall, dass die Behörden einenGrund finden, warum sie mehr überdich wissen wollen. Die CIA erklärtzwar, sie würde diese Möglichkeit nichtnutzen (es sei denn, es ist unbedingt nö-tig, um die Nation zu retten). Aber wirwissen ja inzwischen, dass der Geheim-dienst Lügen auftischt, und zwar nichtnur dir und mir, sondern auch den Poli-tikern, die in den Untersuchungsaus-schüssen des Kongresses sitzen.
Man kann NSA und CIA, trotz gele-gentlicher Rivalitäten, als die „bösenZwillinge“ des Staatsapparats betrach-ten, denen offiziell erlaubt ist, auf denGrundrechten herumzutrampeln – an-geblich um die Nation vor fremdenMächten zu schützen. Nach den scho-ckierenden Enthüllungen sind die bei-den Agenturen sogar zu siamesischenZwillingen verschmolzen. Beide versu-chen auf plumpe Weise, ihren Nimbusaus dem Kalten Krieg zu bewahren, aberder Enthüllungssturm droht ihr Karten-haus hinwegzufegen. Die Politikermari-onetten werden dabei als hoffnungslosunfähige Kontrolleure der Geheim-dienste entlarvt. Und auch die Puppen-spieler stellen sich nicht gerade als Ge-nies heraus.
Hoffnung macht derzeit allein,dass sich beide Organisationen gegen-seitig an die Gurgel gehen. Dianne Fein-stein, die dem Geheimdienstausschussdes Senats vorsteht und die Spionage-dienste lange Zeit verteidigt hat, be-schuldigte die CIA, ihren Ausschuss beidessen verspäteten Ermittlungen zumFolterskandal überwacht zu haben. CIA-Chef John Brennan drehte den Spießum und warf der Senatorin allen Ernstesvor, Mitarbeiter ihres Ausschusses hät-ten seine Behörde ausspioniert. Erwurde sogar beim Justizminister vor-stellig und forderte, strafrechtliche Er-mittlungen gegen das Kontrollgremiumder Legislative einzuleiten. Daraufhinverlangte Feinstein, dass die Justizgegen Brennan ermitteln solle. Einewahrhaft bizarre Geschichte.
Eine Headline der Huffington Postbrachte die ganze Absurdität auf denPunkt: „Senatoren finden das Ausspio-nieren von Bürgern in Ordnung, sindaber empört, wenn es den Kongresstrifft.“ Man kann die Argumentationauch umdrehen: CIA und NSA nehmensich heraus, routinemäßig gegen Rechtund Verfassung zu verstoßen, verlangenaber zugleich, dass das Justizministe-rium sie vor einem allzu kritischen Kon-gress schützt. Die Reality-Version von„House of Cards“ hat also auch einigeComedy-Qualitäten. Bleibt die Frage,
auf welche Seite sich Präsident Obamain dieser Farce schlagen wird.
Bürger Snowden setzt derweil seineAufklärungskampagne fort und serviertlaufend neue Enthüllungen über die Na-tional Security Agency. Dank Snowdenkonnte die Washington Post berichten,4
dass die NSA ein Überwachungssystemaufgebaut hat, das die Telefonkommu-nikation eines bestimmten Landes zu„100 Prozent“ aufzeichnen kann. Dasoffizielle Logo des Abhörprogrammsnamens Mystic ziert übrigens ein knor-riger Zauberer mit violetter Robe undSpitzhut, der ein Handy hochhält. Dach-ten die Macher etwa, sie würden eineComicfigur gestalten?
Warum ist Obama
nicht wütend geworden?
In dem Artikel der Washington Post hießes, „auf Verlangen von US-Behörden“halte man einzelne Informationen zu-rück, die „geeignet sein könnten, dasLand zu identifizieren, in dem das Pro-gramm eingesetzt wird, oder auch ande-re Länder, in denen sein Einsatz erwo-gen wurde“. Die Zeitung hat Kenntnisvon mindestens fünf weiteren Ziellän-dern, deren Namen sie aber nicht an-gibt. Sie berichtete außerdem, dass dieNSA-Auswerter allmonatlich MillionenGesprächsausschnitte aufbereiten undauf Dauerspeicher legen.
Handelt es sich bei den Ländern,die tagtäglich von Washington „abge-saugt“ werden, um Russland oder Chi-na? Oder gleich beide? Oder ist es einHandelsrivale wie Deutschland? Wasimmer die Geheimdienste behaupten,wir sollten ihre Dementi nicht allzuernst nehmen. Sie lügen, wenn sie glau-ben, dass sie lügen müssen, selbst ge-genüber ihren vermeintlichen Kontrol-leuren. Aber Snowden und seine Mit-streiter kennen die Antwort bestimmt.Sie könnten ein weltweites Quiz oder ihreigenes Diskussionsforum aufziehenund die Teilnehmer raten lassen. Snow-den könnte die Namen der Länder na-türlich auch enthüllen, müsste dann
aber darauf gefasst sein, dass ihm dieDesktop-Krieger in Washington dieHölle heiß machen.
Je länger ich über die Frage nach-grüble, desto öfter denke ich an Wa-shington. Vielleicht belauscht die NSAdas eigene Land und seine Regierung?Das kann die Agentur aus offensichtli-chen Gründen nicht zugeben, aberwenn sie den Mystic-Zauberer auf ihreeigenen Leute ansetzen würde, wäre dererzielte Mehrwert fantastisch – sei es fürdie Belange der nationalen Sicherheit,sei es für die eigene Sicherheit des NSA-CIA-Komplexes.
Der Gedanke klingt ziemlich ver-rückt, ich weiß, aber wenn die NSA dasHandy von Angela Merkel in Deutsch-land abhören kann, kann sie zweifellosauch Barack Obama in Washington be-lauschen. Ich erhebe hier keine An-schuldigungen. Aber dass man auf dieFrage kommen kann, verweist auf dasabgrundtiefe Misstrauen, das die Regie-rung mittlerweile auf sich zieht.
Und wo bleibt in der ganzen Ge-schichte der Präsident? Obama wirktmeistens schlaff und wenig überzeu-gend. Er hat weder den CIA-Chef nochden NSA-Direktor gefeuert, obwohlbeide den Kongress und die Öffentlich-keit belogen haben und zweifellosschuldig sind. Auch hat er keine ernst-hafte unabhängige Untersuchung in dieWege geleitet. Er scheint nicht einmalzu begreifen, dass man ihm die Schuldgibt – egal ob das fair ist oder nicht.
Aber warum ist Obama nicht ein-mal wütend geworden? Weil der Präsi-dent über all die geheimen ProgrammeBescheid weiß – und das macht ihn ver-wundbar für Vergeltungsschläge. Magsein, dass die Lauscher die Leitungendes Weißen Hauses nicht abhören, aberganz sicher wissen sie, wie viel Obamaweiß, und das können sie jederzeit aus-nutzen.
Dieses Spiel hat nicht erst mit Ba-rack Obama angefangen. Sobald einneuer Präsident in Washington antritt,bekommt er als Erstes die Topgeheim-nisse mitgeteilt, über die er laufend ge-brieft wird. Wenn die Geheimdienstedas Weiße Haus immer tiefer in ihrSchattenreich hineinziehen, machensie es einem Präsidenten umso schwe-rer, sein Veto einzulegen – und auch ris-kanter.5 Denn in der CIA oder in der NSAweiß man, was der Präsident gehört hat;und was er gesagt hat, als er in die Ge-heimnisse eingeweiht wurde. Sollte ersich entschließen, die schmutzigen Ge-schäfte der Dienste zu verurteilen, kön-nen die Spione den Medien stecken, wieihnen der Oberste Befehlshaber hinterden verschlossenen Türen des Oval Of-fice grünes Licht gegeben hat.
1 Siehe Stephen Grey, „Das stille System der Auf-
tragsfolter. Entführt, verhört, versteckt“, Le Monde
diplomatique,März 2005.2 Jede Staffel beschreibt in Echtzeit 24 Stunden im
Leben des Antiterroragenten Jack Bauer. Zwischen
2001 und 2010 wurden insgesamt 192 Episoden ge-
sendet. Anfang Mai läuft bei Fox TV eine weitere
Staffel an: „24: Live Another Day“.3 Siehe Ruth Conniff, „Torturers in the White
House“, The Progressive, 14. April 2008: www.pro-
gressive.org/mag_rc041408.4Siehe „NSA surveillance program reaches ‚into
the past‘ to retrieve, replay phone calls“, The Wa-
shington Post, 18. März 2014.5 Die vollständige Information des Präsidenten über
das Agieren der Geheimdienste stellt eine Abkehr
von demPrinzip der „credible deniability“ dar. Nach
diesem Grundsatz, der noch für die Kennedy-Admi-
nistration galt, musste der Präsident in der Lage
sein, seine Kenntnis von schmutzigen Geschichten
glaubwürdig zu bestreiten.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
von William Greider
Lynne Cohen, Untitled, 2007, C-Print, 130 x 150 cm
William Greider ist Washington-Korrespondent der
Wochenzeitung The Nation.
© Agence Global; für die deutsche Übersetzung Le
Monde diplomatique, Berlin
Piero Macola wurde 1976 in Venedig geboren und studierte am Institut St. Luc in Brüssel. 2005 erschien sein erster Comicband „Solo Andata“: pieromacola.wordpress.com
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