26
“Long-Form”, “Slow”, “Gonzo” oder “New Journalism”: Die Wiedergeburt des Geschichtenerzählens in Krisenzeiten. Rocha A. Juliana Uniwien Anmerkung der Verfasserin Juliana A. Rocha, Studenten ID: 0949710, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Uniwien. Dieses Essay war im Sommer 2013 beim Univ.-Prof. Dr. Hannes Haas als Abschlussarbeit für das VO. Spezi Der Jornalismus nach der Krise abgegeben. Kontakt: [email protected] ; +43 699 171 565 85. “LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 1

Long-form, Slow, Gonzo or New Journalism: the rebirth of storytelling in crisis-stricken times

Embed Size (px)

Citation preview

“Long-Form”, “Slow”, “Gonzo” oder “New Journalism”: Die Wiedergeburt des

Geschichtenerzählens in Krisenzeiten.

Rocha A. Juliana

Uniwien

Anmerkung der Verfasserin

Juliana A. Rocha, Studenten ID: 0949710, Institut für Publizistik- und

Kommunikationswissenschaft, Uniwien.

Dieses Essay war im Sommer 2013 beim Univ.-Prof. Dr. Hannes Haas als Abschlussarbeit für das

VO. Spezi Der Jornalismus nach der Krise abgegeben.

Kontakt: [email protected]; +43 699 171 565 85.

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 1

Inhaltsverzeichnis

Wie nennt sich das Geschichtenerzählen heutzutage? 3

“Ich, Journalist”: eine kurzer Rückblick zur Berichterstattung in den 60ern 5

Wo steht Österreich? 9

Die Wiedergeburt des “Ich” im Journalismus: Ein Schnappschuss der Erzählikonen im neuen

Millenium 12

Grenzenverschiebung der Reportage in Krisenzeiten 16

Zusammenfassung 22

Quellenverzeichnis 24

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 2

Wie nennt sich das Geschichtenerzählen heutzutage?

Die öffentliche Meinung zum Journalismus basiert auf zwei, prinzipiell sehr

widersprüchlichen Annahmen: Objektive Berichterstattung zu aktuellen Vorkommnissen gilt wohl

als selbstverständlich, gleichzeitig schätzt man die Medienbranche allgemein als stark politisch und

ökonomisch durchsetzt.

Für die Nachfrage nach unvoreingenommener Berichterstattung zeigen sich allerdings vor

allem die Druckredakteure des 17. Jahrhunderts verantwortlich, die Ihren Lesern mit viel

Nachdruck Unparteilichkeit und Wahrheit ihrer Inhalte zusicherten (Ward, 2010). Im Anschluss an

das Zeitalter der Aufklärung stieg diese Besessenheit weiter an und erschien der Code of ethics or

Canons of journalism (American Society of Newspapers Editors, 1923). In diesem ist eindeutig

festgehalten, dass “Treu und Glauben der Leser das Fundament jeden Journalismus seien, der dieses

Namens würdig wäre” (ASNE, 1923, Apendix 1, Abs. 8) und dass “Nachrichtenberichte auf

Objektivität und Unbefangenheit zu beruhen hätten” (ASNE, 1923, Apendix 1, Abs. 11).

“Die vorrangige Aufgabe der Zeitungen ist der Gesellschaft die Taten, Gefühle und

Gedanken ihrer Mitmenschen zu kommunizieren” (ASNE, 1923, Apendix 1, Abs. 1), führt der

Kodex weiter an und definiert als Grundvoraussetzung für Medienprofis in ihrer Rolle als “Lehrer

und Interpreten” (ASNE, 1923, Apendix 1, Abs. 1) eine “breitestmögliche Intelligenz, Expertise und

Erfahrung ebenso wie angeborene und antrainierte Fähigkeiten der Beobachtung und

Schlussfolgerung” (ASNE, 1923, Apendix 1, Abs. 1).

Auch das Misstrauen gegenüber Medien nimmt in den frühen Tagen der

Druckberichterstattung seine Anfänge ― mit Vorwürfen zu fingierten oder gar erfundenen Artikeln

und übertriebener Sensationslust sahen sich Zeitungen bereits in den 30er Jahren des 18.

Jahrhunderts konfrontiert (Brazeal, 2005; siehe auch: Campbell, 2001). Und mit dem Heranreifen

der Medienlandschaft wuchs auch die Enttäuschung in diese. So kam es dazu, dass Peterson,

Schramm und Siebert im Jahr 1956 eindringlich warnten, dass “Medien stets Form und Farbe der

sozialen und politischen Strukturen widerspiegeln, in denen sie agieren” (Peterson, Schramm und

Siebert, 1956, S. 1).

Trotz unantastbarer Authorität vermögen weder der Glaube an den überlegenen Intellekt der

Berichterstatter, noch die Betrachtung der Medien als Spiegel der ökonomischen und politischer

Situation eines Landes, bei der Analyse (und dem wirtschaftlichen Auffangen) der heutigen

Medienlandschaft wertvolle Dienste zu leisten. Erfolgversprechender scheint hingegen der Griff zu

MacIntyre (1981) und seinem Verständnis von Natur und Kommunikation des Menschen.

Dem schottischen Philosophen zufolge besteht der einzige Weg eine Gesellschaft ― die

eigene eingeschlossen ― wirklich zu verstehen darin, die “Summe jener Geschichten, welche den

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 3

ursprünglichen dramatischen Kern bilden” (MacIntyre, 1981, S. 216) zu analysieren. Das

Geschichtenerzählen kann dabei so vielfaltige Ausprägungen annehmen, wie Menschen sich

voneinander unterscheiden können: Zum Beispiel als behutsame Erzählung über das richtige

Verhalten in einer Ehe (Geoffrey Chancers The wife of Bath) oder als buchrückenverpackte

Diskussion zu Feminismus, Homosexualität und geistigen Erkrankungen (wie Virginia Woolfs Mrs.

Dalloway). In Form von Briefen mit den Verprechen einer neuen Welt (wie John Hector St. John de

Crévecoeurs Letters from an American Farmer) oder durch einen Zeitungsbericht, der jedem

Journalisten kalte Schauer über den Rücken zu jagen vermag (Hunter S. Thompsons gelang dieses

Meisterstück mit seinem Artikel The Kentucky derby is decadent and depraved).

Auf unserer Suche führt uns der Weg zu einem weiteren Lehrmeister der Kommunikation:

dem emerierten Professor Walter Fischer von der Annenberg Schule für Kommunikation. Fischer

wandte das Paradigma der Erzählung bereits 1978 erfolgreich auf Kommunikation an und zitiert

sich dazu selbst in seinem Werk Narration as a human paradigm: the case of public moral

argument (Fischer, 1984): “Als rhetorische Wesen sind Menschen ebenso wertschätzend, wie

vernunftgetriebene Tiere”.

Falls dies zutrifft und der Mensch “in seinem Handeln und seinen Praktiken, sowie seinen

Vorstellungen prinpiziell ein geschichtenerzählendes Tier” (MacIntyre, 1981, S. 201) ist, haben

längere und tiefgründigere Erzählungen aus der Ich-Perspektive für uns möglicherweise das

Potenzial, einen nachhaltigen Weg aus der Medienkrise aufzuzeigen. Indem sie genau jenen Vorrat

an Geschichten befüllen, der unser Handeln wie unsere sozialen Beziehungen beeinflussst und uns

zudem dabei unterstützt, eine virtuosere ― und von Ethik und Gleichberechtigung statt Ausbeutung

und Bevormundung geprägte ― Beziehung zwischen Lesern und Autoren herzustellen.

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 4

“Ich, Journalist”: eine kurzer Rückblick zur Berichterstattung in den 60ern

Der Ausdruck “New Journalism” erscheint zum ersten Mal im Jahre 1887 auf den Seiten des

Literaturmagazins The Nineteenth Century ― geprägt durch den englischen Schulinspektor,

Kulturkritiker und Dichter Matthew Arnold. Ihm zufolge konnten Leser in der Viktorianischen Ära

“mit einem neuen Journalismus Bekanntschaft machen, dessen Erfinder ein schlauer und

schwungvoller Mann gewesen sein muss” (Arnold, 1887, S. 635).

Trotz ihres eindringlichen Charakters benötigte diese Phrase geschlagene 78 Jahre, Fuss zu

fassen. Der Begriff erscheint erst 1965 wieder in der New Yorker Presse, in einem Bericht von Peter

Hamill über seine beiden Kollegen und Trendsetter Jimmy Breslin und Gay Talese (Abrahamson,

2009; siehe auch: Beuttler, 1984).

Breslin und Talese waren Teil der “Westgotischen Horde” (Wolfe, 1973), welche damals die

New Yorker Stadtpresse in Beschlag nahm. Zusammen mit Truman Capote, Joan Didion, Tom

Wolfe, Norman Mailer, John Sack und Hunter S. Thompson erkannten diese Männer “eine

entscheidende Tatsache zum Leben in den Sechzigern: die althergebrachten Werkzeuge der

Berichterstattung seien schlichtweg ungeeignet, die enormen kulturellen wie sozialen

Veränderungen der Ära zu dokumentieren” (Weingarten, 2005, S. 6). Unter Obhut des Verlegers

Arnold Gingrich sowie der Redakteure Clay Felder und Harold Hayes setzte sich der “New

Journalism” über die traditionelle Tatsachenberichterstattung hinweg und gab dem Chaos der

“Swinging Sixties” durch die Einbringung eigener Erfahrungen und Meinungen einen Sinn.

Mit viel Charme interpretiert beispielsweise der seine Kindheitserinnerungen und

Trinkgefährten ins Rampenlicht zu rücken gewohnte Breslin das Kennedy-Attentat für die Leser

von New York Tribune. Dabei suchte der Reporter die Bekanntschaft von Malcolm Oliver Perry II.,

jenem Unfallchirurgen der verzweifelt versuchte, den toten Präsidenten wiederzubeleben. Er erzählt

die Staatstragödie aus den Augen des Arztes:

“Der Ausruf störte Malcolm Perry.

‘Dr. Tom Shires, STAT’, erklang die Stimme des Mädchens aus der Sprechanlage der

Ärztekantine des Parkland Memorial Hospital.

Das ‘STAT’ steht für Notfall. Noch nie wurde Tom Shires, Oberarzt für Chirurgie des

Spitals, zu einem Notfall gerufen. Und Shires, Perrys Vorgesetzter, hatte für einen Tag die

Stadt verlassen. Malcolm Perry betrachtete die Lachskroketten auf dem Teller vor sich, dann

legte er seine Gabel nieder und ging ans Telefon.

‘Dr. Perry für Dr. Shires Ausruf’, sagte er.

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 5

‘Präsident Kennedy wurde erschossen. STAT’, sagte die Rufzentrale.” (Breslin nach

Weingarten, 2005, S. 80)

Eine enge und persönliche Bekanntschaft mit dem Broadway-Regisseur Joshua Logan

suchte auch Talese in der Recherche für The soft psyche of Joshua Logan. Drei Monate verbrachte

der Journalist jeden Tag in den hinterersten Reihen des Booth Theater und studierte Logans Routine

(Weingarten, 2005). Capote suchte für seinen Bericht über die Morde am Weizenfarmer Herbert

Clutter, dessen Frau und zweien seiner Kinder, das Vertrauen der für den Mord verurteilten

Verbrecher Dick Hickock und Perry Smith. Capote hatte geduldig auf ein Ende zu seiner Geschichte

zu warten; eines, das sieben Monate nach dessen Ankunft in Kansas schließlich eintrat: Hickock

und Smith forderten Capote auf, bei ihrer Hinrichtung als Augenzeuge zu fungieren. “Adios,

Amigo” sprach Smith. Seine letzten Worte waren dem Journalisten gewidmet (Weingarten, 2005).

Während Wolfe seine Idiosynkrasien bewarb und Mitglieder des “New Journalism’s Club”

ernannte, unternahm Didion einen schmerzvollen Ausflug in die Vergangenheit. Kurz nach ihrer

Rückkehr aus New York in ihren Heimatstaat Kalifornien hielt die einzige weibliche Vertreterin des

“New Journalism” in den Sechzigern die Hippie-Szene für die Nachwelt fest. Im Vorwort zu ihrer

Essay-Sammlung Slouching toward Bethlehem (Didion, 1996) schreibt sie:

“Es war kein Land in einer offenen Revolution. Es was kein Land unter feindlicher

Belagerung. Es waren die Vereinigten Staaten im kalten Spätfrühling 1967, der Markt war

stabil, das Bruttoinlandsprodukt hoch, eine große Anzahl an Leuten schien ein Verständnis

für einen höheren sozialen Zweck zu beweisen und es mag vielleicht ein Frühling mutiger

Hoffnungen und Staatsversprechen gewesen sein, aber das war es nicht und immer mehr

Leute beschlich das unangenehme Gefühl, dass es nicht so war. Klar schien einzig, dass wir

uns an einem bestimmten Punkt selbst aufgegeben und den Job geschmissen hatten und da

ansonsten nichts wichtig zu sein schien, beschloss ich, nach San Francisco zu

gehen.” (Didion, 1996, S. 6)

Mailer beharrt darauf dass “alles was am Journalismus nicht stimmt, ist dass Reporter

objektiv zu sein pflegen und dass dies eine der größten Lügen aller Zeiten sei” (Mailer nach

Weingarten, 2005, S. 55). Sack trat für dasselbe Credo ein: Er zog seine Erfahrungen als ehemaliger

Infanteriesoldat im Koreakrieg heran, um Haynes und dessen Esquire einen Artikel über Vietnam

schmackhaft zu machen. Wo, fragte sich Sack, waren die “sad sacks, boneheads, goldbricks,

loudmouths, paranoiacs, catatonics, incompetents, semi-conscientious objectors, malingerers, cry-

babies, yahoos, vulgarians, big time operators, butterfingers, sadists and surly bastards [sic]” (Sack

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 6

nach Weingarten, 2005, S. 149) während des Kalten Krieges? Auf der Suche nach eben diesen

Personentypen schloss sich der Journalist den Anwerbern in Fort Nix an und folgte diesen bis nach

Südostasien. Sack wurde Zeuge des ersten Verlusts der M Company:

“Ein Sergeant der Kavallerie erspähte eine Art Bunker, obenauf eine Hütte, darunter ein

Loch, drinnen Stimmen, und befahl Demirgian, eine Granate hineinzuwerfen. Demirgian

zögerte und so sprang ___, ein Soldat den wir zuvor bereits getroffen hatten, ohne jedoch

dessen Namen zu kennen von seinem APC, um selbst die Handgranate zu werfen. Sie rollte

durch die Tür, traf gegen ein Bodenblech bevor sie schließlich explodierte und ___ rang

nach Luft, als plötzlich zehn bis ein Dutzend Frauen und Kinder in ihren verknitterten

Nachthemden herausgelaufen kamen: Blut und offensichtliche Verletzungen waren

allerdings keine zu erkennen, also sprang ___ zurück auf seinen Transporter und fuhr zu.

Yoshioka an Bord steuerte das Fahrzeug auf die Hütte zu und ein Negersoldat der

Spezialeinheit, das schwarze Sturmgewehr in Händen, warf einen spähenden Blick in die

Dunkelheit. Nur ein oder zwei Sekunden vergingen, ehe er aufschrie:

‘Oh mein Gott!’

‘Was gibt’s?’, erwiderte ein Teammitglied.

‘Sie haben ein kleines Mädchen getroffen’ und in seinen muskulösen Armen trug der Soldat

ein sieben Jahre altes Mädchen heraus, mit langem schwarzem Haar und kleinen Ohrringen

und starrenden Augen ― Augen, ihre Augen waren, was sich in die Erinnerung der M

Kompanie einbrannte [...].” (Sack nach Weingarten, 2005, S. 152-153)

Auch Thompson war überzeugt, keine Story sei es wert “solange er nicht selbst mit Geist

und Körper eintauchen konnte, um auf der anderen Seite mit einem Werk, getränkt vom eigenen

Blut und Schweiß, wiederaufzutauchen” (Weingarten, 2005, S. 124). Aus diesem Grund enthält The

Kentucky derby (Thompson, 1970) nur beiläufig Beschreibungen zum eigentlichen Gewinner des

Rennens und den politischen Unruhen, welche die Veranstaltung in den 70ern überschatteten. Vier

Absätze sind dem siegreichen Pferd Dusty Commander und den von den Linksaußennationalisten

der Black Panther-Bewegung organisierten Proteste gewidmet. Thompson selbst, und wie er das

Pressebüro austrickst, um seinen Zugang zu erweitern und Einlass in die exklusivsten Bars des

Pferderennens gewährt zu bekommen, sowie sein Verhältnis zum ausländischen Illustrator Mr.

Steadman machen den Hauptteil des Werkes aus.

Ohne Zweifel sind der im Amerika der “Swinging Sixties” und der im England des 19.

Jahrhunderts als neu bezeichnete Journalismus nicht ident. Die Art und Weise, auf welche diese

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 7

beiden Formen des “Neuen Journalismus” jedoch wahrgenommen, gefeiert und kritisiert wurden,

sind verblüffend ähnlich.

Für Arnold steht der “New Journalism” für jene Sensationslust, die William Thomas Stead

und The Pall Mall Gazette nach London brachten. Kritiker äußerten Bedenken gegen den “New

Journalism” ob seiner “Fähigkeiten, Neuartigkeit, Vielfalt, Sensationslust, Sympathie und

großzügigem Umgang mit Instinkten” und warfen diesem vor, “feather brained [sic]” (Arnold,

1887, S. 635) zu sein. James Emmet Murphy (1974) zieht bei seinem Kommentar zu jener, von

einer Handvoll amerikanischer Journalisten zwischen 1960 und 1973 verfassten (Abrahamson,

2009, siehe auch: Boynton, 2005) und im Zusammenhang mit dem Begriff des “New Journalism”

meist zuerst in Verbindung gebrachten, Artikelreihe weniger hart ins Gericht. Nichtsdestotrotz

merkt dieser an, der “New Journalism” sei für das “Jonglieren von Fakten auf der Suche nach der

Warheit und die Fiktionalisierung mancher Details zugunsten einer größeren ‘Realität’” bekannt

(Murphy, 1974, S. 13).

Obwohl Zeit und Stilmittel stark variieren ― W. T. Stead gilt als Erfinder der

aufmerksamkeitshaschenden Untertitel in langen Artikeln und vermischte seine Meinung mit der

von ihm interviewter Personen; Breslin und Talese waren fasziniert von “Underdogs”; Capote

befragte Quellen bis zur Erschöpfung und jenem Punkt, an dem er ihre Stimmen in seinen Werken

einfangen konnte; Wolfe bevorzugte Lautmalerei und wechselnde Erzähler; Sack gab zu, Abbilder

realer Personen zu kreieren; Didion schwelgte in Existenzängsten und die Kombination aus Alkohol

und Drogen waren der Treibstoff für Mailers und Thompsons Prosen ― was diese Autoren

verbindet ist “der Gedanke, dass Journalismus durch das Mittel der Fiktion belebt werden

kann” (Hersey nach Weingarten, 2005, S. 19).

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 8

Wo steht Österreich?

“New Journalism” erreichte Österreich durch die Hand von Markus Peichl. Als

Chefredakteur des Lifestyle-Magazins Wiener zwischen 1982 und 1985 animierte er zu

Erzählungen aus der Ich-Perspektive und verwandelte er seinen persönlichen Konflikt in

nachrichtenwürdiges Material.

Es dauert nicht lang, bis der Stil des Wiener unter Peichl ein Echo in der deutschsprachigen

Medienwelt auslöst. So publizieren beispielsweise die österreichische Auto Revue sowie die

deutschen Blätter Tempo und FAZ Magazin (später SZ Magazin) Berichte im Einklang mit den

Regeln des “New Journalism”. Auch die Jury des Egon-Erwin-Kisch-Preises erkennt die

Anstrengungen, den berühmten amerikanischen Stil in die deutsche Sprache zu überführen, im

Jahre 1985 an: Alle drei, für “außergewöhnliche Berichterstattungsqualität in der deutschsprachigen

Presse” ausgezeichneten Berichte erzählen die Geschichte aus der Ich-Perspektive.

Der dritte Platz des 1985er Egon-Erwin-Kisch-Preises ging an Peichl für sein Werk Über

einen, der sitzt. Die preisträchtige Story des in Klosterneuburg geborenen Journalisten erzählt die

unglückliche Geschichte seines nach einem Motorradunfall von der Hüfte abwärts gelähmten,

Jugendfreundes Lukas. Weder Peichl, noch Lukas‘ Verwandte können mit der neuen Realität des

Jungen umgehen:

“Lukas war für mich der Inbegriff des rastlosen Menschen, auch wenn er äußerlich ruhig

wirkte. Er war ständig in Bewegung, konnte nirgends zehn Minuten bleiben, wollte dort

noch hin und dort noch. Er war das, was man an dieser Stelle wohl als ‘Abenteurer’,

‘begeisterten Sportler’ oder ‘Draufgänger’ bezeichnen würde. Es war es und war es nicht.

[...]

Man merkt es bei den ersten Worten, den ersten Gefühlen, die man wechselt. Hier liegt ein

anderer Mensch, um Jahre gealtert, um Höffnungen ärmer ― Plattitüden, na klar, aber sie

stimmen und sie sind besser, als der ‘Small-Talk’ [...]. Ob er sich in der letzten Wochen

Gedanken gemacht habe, daß er gelähmt bleiben könnte, frage ich, und er läßt den

Rollbalken herunter. Ich bin ihm sogar dankbar dafür. Eine blödere Frage hätte ich nicht

stellen können.” (Peichl, 1985, S. 67-68)

Der im deutschen Schwabstedt geborene Axel Arens erhielt für sein Werk Manhattan,

Brooklyn und Bronx: Gott aber wohnt in Kalifornien den zweiten Platz. Sein Bericht liest sich wie

ein Kapitel eines gotischen Romans aus dem 18. Jahrhundert:

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 9

“Nacht ist es. Schwarze Nacht. Vor ‘Labontes Coffee Shop’ steht eine schwarze Maschine.

Der Mond ist zu schwach, um sie zu beleuchten, er ist zur Sichel geschrumpft, aber die roten

Neonbuchstaben ‘Labontes’ und die blauen Neonbuchstaben ‘Coffee Shop’ und die gelben

Sterne, die den Schriftzug umkreisen, lassen in Sekundenabständen den Chrom der

Maschine aufzucken.” (Arens, 1985, Abs. 1).

Der große Gewinner des Egon-Erwin-Kisch-Preises im Jahre 1985 war ebenfalls ein

Deutscher ― Gerd Kröncke aus Hamburg und sein Bericht Der Maestro aus der Schildergasse:

“Kenn’ ich den nicht, der da nach der Pause langsam vor dem noch geschlossenen Vorhang

über die Bühne geht, mit seiner Geige die Bachsche chaconne so einfühlsam spielt, ganz in

Moll, dass die Leute, die noch nicht an ihren Platz zurückgekehrt sind, es nicht wagen, sich

durch die Reihen zu zwängen? Hab’ ich den nicht gerade noch woanders

gesehen?” (Kröncke, 1985, S. 3)

Der Erfolg des “New Journalism” in Österreich war jedoch nur von kurzer Dauer. Von der

kritischen Zurechtweisung abgesehen, die der Stil für Falschdarstellung von Fakten und das Opfern

der Wahrheit zugunsten ästethischer Erwägungen (wie in den USA geschehen) erntete, befand man

diesen zudem als für die deutsche Sprache “ungeeignet”. So meint beispielsweise der

Politikjournalist des Standards, Gianluca Wallisch: “Deutsch als starre, formale Sprache verschrien,

habe nicht den innovativen, manchmal regellosen Geist des Amerikanischen” (as quoted in Posch,

2009, S. 79).

Für Ralf Hohlfeld (nach Posch, 2009) macht diese Unangemessenheit einen Einsatz des

“New Journalism” in der deutschen Sprache gänzlich unmöglich. Dem Lektor an der Passauer

Universität zufolge, sind alle Versuche einer emotionsgeladenen Berichterstattung aus der Ich-

Perspektive bestenfalls eine Adaption oder Abwandlung des amerikanischen Schreibstils ― jedoch

nicht wirklich “New Journalism”.

“Über die Schreib- und Erzähltechnik hinaus meint Neuer Journalismus [sic] in der

deutschen Adaption aber etwas anderes, das sich mit herkömmlichen Analyserastern der

Stilistik nur schwer greifen lässt. Es handelt sich um eine Form von Impertinenz und

Respektlosigkeit, die sich auf dreierlei erstreckt: den Umgang mit journalistischen Genres,

die Themenwahl und die Haltung zum Berichterstattungsobjekt. Eine weniger politische als

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 10

boheme Frechheit: Unangepasst, unbescheiden und vom Drang beseelt, die große

journalistische Story zu kontrakarieren, indem man die herkömmliche Sprache ironisiert und

die klassischen Darstellungsformen parodiert.“ (Hohlfeld nach Posch, 2009, S. 78).

Für Experimentierfreude und den Einsatz des Stilmittels Fiktion fiel der Riegel im

deutschsprachigen Raum im Jahr 2000 endgültig ins Schloss. Von den Magazinen die sich ihre

Streifen als Sprachrohre des “New Journalism” verdient hatten, waren kaum welche über (Wiener

beispielsweise bewegte sich vom “New Journalism” nach dem Ausscheiden Peichls als

Chefredakteur im Jahre 1985 fort und Tempo verschwand 1996 aus dem Umlauf); und zu allem

Unglück versetzte der Presseskandal um den Schweizer Journalisten Tom Kummer die gesamte

Medienlandschaft in Österreich, Deutschland und der Schweiz in Aufruhr.

In Die Zeit schreibt Andrea Franzetti: “Kummer erscheint als Ausgeburt eines neuen

Journalismus, der zu Beginn der 80er-Jahre im Umfeld der Zeitschrift Tempo begründet worden war

und als ‘perfekte publizistische Droge’ seinen Weg in den flotten Magazinjournalismus der 90er-

Jahre gefunden hatte” (Franzetti nach Meier, 2004, Abs. 4).

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 11

Die Wiedergeburt des “Ich” im Journalismus: Ein Schnappschuss der Erzählikonen im neuen

Millenium

Versuche, die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur zu verwaschen, blieben noch

nie unbestraft und so brach die Bewegung des New Journalism in Amerika in den frühen 70ern über

sich zusammen. Jack Newfield, einst bekennender “New Journalist”, leugnet sogar die Existenz des

Stils in einem Artikel für The Village Voice im Jahre 1972:

“Nach meiner Teilnahme an zahlreichen Podiumsdiskussionen sowie (Mores) ‘counter

convention’ [sic], dem Lesen von Büchern und Artikeln von Tom Wolfe und Mike Arlen und

Interviews durch mehrere Studenten über das Thema, bin ich letzlich zu dem Schluß

gelangt, dass der ‘New Journalism’ nicht existiert. Es ist eine falsche Kategorie. Es gibt nur

gutes und schlechtes Schreiben, kluge Ideen und dumme Ideen, harte Arbeit und

Faulheit.” (Newfield, 1972, Abs. 1)

Dennoch: Drei Generationen nach diesem Tiefpunkt macht sich eine neue Generation von

Journalisten zum Fischen in denselben trüben Gewässern auf. Anders als ihre Kollegen aus den

Sechzigern, deren Pfade sich auf New Yorks Straßen und in den Verlagen oft kreuzten, begegnen

die meisten Innovatoren der frühen 2000er Jahre einander nie und sind diese entsprechend schwer

zu gruppieren. Entsprechend tragen die von ihnen hervorgebrachten Stile unterschiedliche

Bezeichnungen: So hört man von “Long-Form”, “Slow”, “Gonzo” oder “New New Journalism”.

Boynton zufolge “repräsentieren diese ‘New New Journalists’ [...] die fortgesetzte Reife des

amerikanischen Literaturjournalismus. Sie nutzen die von den ‘New Journalists’ der 60er Jahre

verdiente Erlaubnis mit der Form zu experimentieren um damit die sozialen und politischen Sorgen

der Autoren des 19. Jahrhunderts anzusprechen” (Boynton, 2005, Einführung, Abs. 2). Boynton

weist zudem darauf hin, dass die “New New Journalists” alternative kulturelle und soziale

Bedenken in ihre Texte einfließen lassen. Sie interessieren sich weniger für sprachliche

Experimente und ihre Erfolge als Gruppe sind vielmehr berichtender, denn literarischer Natur

(Boynton, 2005).

Unter den ausgesuchten Mitgliedern des “New New Journalists” finden sich Alex Kotlowitz,

Jon Krakauer und Susan Orlean. Der in Chicago lebende New Yorker Kotlowitz erinnert in seinen

Ambitionen an Capote. Seine Texte drehen sich vorwiegend um aktuelle Rassenbeziehungen in

Amerika, seinen Schreibstil bezeichnet er selbst als “Journalismus der Empathie” (Kotlowitz nach

Boynton, 2005, Alex Kotlowitz, Abs. 11).

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 12

“Zuerst versetze ich mich in die Lage meiner Charaktere, versuche die Welt aus ihren Augen

zu sehen. Damit dies gelingt, muss ich meine Vorurteile beiseitelegen. Ich muss mich selbst

öffnen. Ich versuche, eine Beziehung zu meinen Lesern aufzubauen. Sie an einen Ort zu

versetzen, an dem sie sich gleichfalls in den Schuhen der handelnden Personen, und

manchmal sogar in meinen, wiederfinden und dabei eine Beziehung mit mir als Erzähler

aufbauen.” (Kotlowitz, nach Boynton, 2005, Alex Kotlowitz, Abs. 12)

Bei dem in Brooklyn, Massachusetts, geborenen Krakauer handelt es sich vermutlich um

eines der ausgefallensten Exemplare beider Generationen an “New Journalists”. Weder bewies er

seit früher Kindheit besondere literarische Ambitionen, noch kann er sich stolz einen Bachelor of

Arts nennen. Auf gewisse Art lässt sich der Bergsteiger mit Diplom in Umweltforschung mit Mailer

vergleichen, der in Harvard Luftfahrttechnik studierte und sich im Zweiten Weltkrieg als Soldat

bewies.

Mit der Hauptfigur seines ersten Bestsellers Into the wild (Krakauer, 1996), einer Geschichte

über das Unglück des jungen Chris McCandless in der Wildnis Alaskas, kann sich Krakauer gut

identifizieren. Die Geschichte weise Krakauer zufolge “beunruhigende Parallelen” (Krakauer, nach

Boynton, 2005, Jon Krakauer, Abs. 9) zwischen dem Leben des Jungen und seinem eigenem auf.

“Mein Verdacht, dass der Tod von McCandless nicht geplant war, es sich dabei um einen

schrecklichen Unfall handelte, stützt sich auf die von ihm zurückgelassenen Dokumente

und die Aussagen jener Männer und Frauen, die während seiner letzten Jahre Zeit mit ihm

verbrachten. Mein Verständnis von Chris McCandless' Beweggründen nährt sich jedoch

auch aus einer persönlichen Perspektive.

Als junger Mann, so sagt man, war ich eigenwillig, egozentrisch, intermittierend

rücksichtslos und launisch. Wenn etwas es gelang, meine undisziplinierte Aufmerksamkeit

zu bannen, [...] dann war das das Bergsteigen.

Ich habe einen Großteil meiner wachen Stunden mit dem Erdenken und Unternehmen von

Besteigungen der abgelegensten Berge Alaskas und Kanadas verbracht - obskure

Bergspitzen, steil und furchteinflößend, von denen außer einer Handvoll begeisterter

Kletterer niemand auf der Welt jemals gehört hatte. [...] Klettern war mir wichtig. Die

Gefahr tauchte die Welt in ein halogenes Glühen das alles - die Gesteinskanten, die orangen

und gelben Flechten, die Textur der Wolken ― zu einem glänzenden Relief erhob. Das

Leben klimpert in einer anderen Tonlage. Die Welt wurde dadurch real.” (Krakauer, 1996,

S. 93-94)

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 13

Kurz nach der Veröffentlichung von Into the wild (Krakauer, 1996) unternahm der Journalist

mit einer Gruppe von 23 Personen eine Besteigung des Mount Everest. Ein Schneesturm traf die

Expedition und auf Grund einiger Fehlentscheidungen der Bergführer fanden acht Menschen den

Tod. Krakauer verarbeitet diese Erfahrungen in Into thin air: a personal account of the Mt. Everest

disaster (Krakauer, 1997) und hält sich damit zwei Jahre lang an den Spitzen der Bestsellerlisten.

“Ich wurde als Autor abgestempelt, dessen Takt angeblich extreme Ideen, extreme

Landschaften und menschliche Handlungen an der Grenze der Rationalität sind. Das stimmt

auch. Ich bin fasziniert von Fanatikern ― von Menschen, die dem Versprechen oder

zumindest der Illusion des Absoluten verfallen sind [...]. Fanatiker pflegen für moralische

Ambiguität und Komplexität blind zu sein ― und ich hatte stets einen Hang zu

Individuen, welche die Beschränktheit des Daseins verleugnen ― oft zu ihrem eigenen

Verderben oder dem der Gesellschaft.” (Krakauer nach Boynton, 2005, Jon Krakauer, Abs.

20).

Die zweite Generation der “New Journalism” Bewegung zählt auf eine größere Beteiligung

von Frauen. In den Sechzigern stand Didion unter ausschließlich männlichen Kollegen alleine da,

Susan Orlean hingegen kann auf mindestens zwei weibliche Mitstreiterinnen ― Jane Kramer und

Adiran Nicole Leblanc ― als Innovatoren in den 2000ern blicken. Die in Ohio gebürtige Orlean

feierte ihre ersten Erfolge mit der Dokumentation der unterschiedlichen Gewohnheiten

amerikanischer Bürger an Samstagabenden. Im Anschluss an Saturday night (Orlean, 1990)

veröffentlichte sie The orchid thief: a true story of beauty and obsession (Orlean, 1998). The orchid

thief (Orlean, 1998) erzählt von John Laroche, einem Gartengestalter, der im Jahre 1994

zweihundert Stück seltener Orchideen aus dem Fakahatchee Strand Preserve State Park entwendete

und dessen Geschichte später Spike Jones in einen Film verwandelte.

“Ich traf John Laroche zum ersten Mal vor ein paar Jahren im Gerichtshaus von Collier

County in Naples, Florida. Ich war zu der Zeit in Florida, weil ich einen Zeitungsbericht

gelesen hatte, in dem von einem weißen Mann ― Laroche ― und drei Seminolen-Männer

berichtet wurde, die für den Diebstahl seltener Orchideen aus einem Sumpf in Florida

verhaftet worden waren [...]. Der Zeitungsbericht klang sehr verführerisch.

[...] Nach einem kurzen Augenblick erkannte ich Laroche aus dem Zeitungsfoto, das ich

gesehen hatte. Er hatte sich für das Gericht nicht besonders gekleidet. [...] Er sah aus, als

hätte er gerne eine Zigarette.

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 14

[...] Als endlich alle Zeugenaussagen in der Anhörung zur Wilddieberei an den Orchideen

aufgenommen waren, sah die Richterin verblüfft drein. Sie sagte, dies sein einer ihrer

interessantesten Fälle, ich denke sie meinte damit eher bizarrsten, und kündigte dann an,

dem Antrag der Verteidigung auf Abweisung der Klage nicht stattzugeben.” (Orlean, 1998,

S. 4-11)

Ihrem Ruf stets “quirkige Geschichten über gewöhnliche Menschen, in deren ausgeprägter

Gewöhnlichkeit Orlean etwas Außergewöhnliches findet” (Boynton, 2005, Susan Orlean, Abs. 1) zu

schreiben, wird die Reporterin voll gerecht und gibt ganz offen zu “vorrangig Sensibilität” (Orlean

nach Boynton, 2005 Susan Orlean, Abs. 25) zu verkaufen ― an ihre Redakteure ebenso wie ihre

Leser.

Obwohl Boynton in seinem Werk (2005) nur amerikanische Experten anführt ist gewiss,

dass die Praktiken des “New New Journalism” ― gleich ob “Long-Form”, “Slow”, “Gonzo” oder

eine anderer Bezeichnung, die dem Einsatz von Fiktion in Reportagen verliehen wird (Hersey nach

Weingarten, 2005) ― weit über die amerikanischen Grenzen hinausreichen: Der walisische

Journalist Jon Ronson und der britische Dokumentator Louis Theroux sind nur zwei davon.

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 15

Grenzenverschiebung der Reportage in Krisenzeiten

Diese Arbeit verfolgt ― nebst dem Ausdruck von Wertschätzung für den “New Journalism”

und dessen weit bis über das Amerika der Sechziger hinausragende Auswirkungen ― das Ziel, die

Geeignetheit des Stilmittels Fiktion für journalistische Werke und die Ich-Perspektiven-Erzählform

als mögliche Antwort auf die problematische Situation der Medienlandschaft aufzeigen. Zu diesem

Zweck untersuchen wir zwei zeitgenössische Quellen: Die Werke von Jon Ronson sowie eine

Handvoll, im Rahmen des New Yorker Narratively Projekts veröffentlichter, Berichte.

Von den unter die Lupe genommenen Gattungsvertretern zählt Ronson zweifelsohne zu den

erfolgreichsten. Er kann auf 25 Jahre Berufserfahrung zurückblicken (davon zumindest fünf bereits

innerhalb der Medienkrise, von 2008 bis heute), seine Berichte erscheinen in traditionsreichen

Printmedien wie The Guardian, TimeOut, GQ oder The New York Times und zudem produziert er

Inhalte für das britisch-öffentliche Fernsehen und BBC Radio 4. In der Adaption eines seiner

Bücher für das Kino spielt darüber hinaus sogar George Clooney die Hauptrolle: The men who stare

at goats feierte 2009 Premiere.

Ronson nannte man einst einen “Gonzo Journalist” und ihn plagt kein schlechtes Gewissen,

von seiner Idiosynkrasie oder dem Einbringen persönlicher Anekdoten und Scherze zu profitieren.

Dem Journalisten zufolge “brauchen die Menschen Unvernünftigkeit, um durch die belastende Art

des Lebens zu sehen, das wir alle leben” (Ronson, nach Forrest, 2012, Abs. 10).

“Wenn man ein Buch schreibt in dem es um Geheimnisse geht ― und meines Erachtens tun

sie das irgendwie alle ― dann ist das stets eine Gratwanderung. Einige Skeptiker die wir

kennen sind ganz in Ordnung. Ich meine, ihre Anmerkungen sind korrekt, jedoch tolerieren

sie nichts als die absolute Wahrheit. Etwas mit dem man spielen möchte ist die Möglichkeit,

dass richtige Dinge falsch und falsche Dinge richtig sein können [...]. Von einem

sachlichen Standpunkt aus gesehen haben sie (die Skeptiker) Recht, aber manchmal passiert

es dabei, dass man den Humanismus verliert. Im Buch Them beispielsweise hätte ich als

skepticher Hardliner die Personen ohne eine gewisse Wärme dargestellt und das Buch wäre

nicht so gut geworden. Man möchte auch Personen mögen können, denen man nicht

zustimmt. Auf gewisse Weise sind wir in unserer persönlichen Ungezogenheit alle ein wenig

verkorkst und entweder findet und hasst man Leute, die verrückter sind als einer selbst, oder

man lernt die Ungezogenheit eines jeden einzelnen zu schätzen – selbst wenn sie sachlich

klar falsch liegen.“ (Ronson nach Llewellyn, 2010)

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 16

Them: adventures with extremists (Ronson, 2001) ist Ronsons zweites Buch (das erste war

der Hartrücken-gebundene Reisebericht Clubbed class, erschienen im Jahre 1994) und begann als

eine Serie von Profilen über Extremistenanführer, die rasch zu einem vollwertigen Buch

heranwuchs. Darauf folgten The men who stare at goats (Ronson, 2004) und Out of the ordinary:

true tales of everyday craziness (Ronson, 2006), beides Sammlungen von ursrpünglich im The

Guardian’s Weekend Magazine erschienenen Berichten. Das 2007 veröffentlichte Werk What I do:

more tales of everyday craziness (Ronson, 2007) ergänzt die Berichtsammlung. Anschließend

folgten der Bestseller The psychopath test: a journey through madness industry (Ronson, 2011) und

Lost at sea: the Jon Ronson mysteries (Ronson, 2012).

Obwohl es sich bei allen hier angeführten Werken um Bücher handelt, lässt ist der Einwand,

dieses Material ließe sich nicht für den verderblichen ― täglich, wöchentlich und/oder monatlich

erscheinenden ― Journalismus verwenden, rasch entkräftt. Drei von Ronsons insgesamt sieben

Büchern enthalten Sammlungen von ursprünglich in eben jenem Medientyp erschienenen Berichten

― Clubbed Class (Ronson, 1994), Out of the ordinary (Ronson, 2006) und What I do (Ronson

2007) ― und zumindest weitere drei basieren auf Stories, die entweder für derartige Media-Outlets,

oder innerhalb derselben, erdacht wurden ― Them (Ronson, 2001), The men who stare at goats

(Ronson, 2004) und Lost at sea (Ronson, 2012).

Bei Ronsons Arbeit handelt es sich demnach um Journalismus. Seiner Sezession von dem in

Zeitungs- und Magazinredaktionen üblichen, umgekehrten Pyramidenstil ist er sich wohl bewusst

und beschreibt diesen Unterschied auf charmante Art und Weise in Them (Ronson, 2001):

“Es war ein lauer Samstag Nachmittag im Sommer auf dem Trafalgar Square, als Omar

Bakri Mohammed England den Heiligen Krieg erklärte.

[...] Die Fensehreporterin von Newsroom South-East TV fasste die Ereignisse des

Nachmittags mit harter, schneller und dringlicher, jedoch ruhiger Stimme zusammen. Sie

war Moslem. In seiner Rede bezeichnete Omar Bakri Menschen wie sie als

Schokolademoslems. Ein Schokolademoslem ist ein Onkel Tom.

(Am darauffolgenden Tag bringt Daily Mail das Foto eines Omar Bankri mit eiskaltem

Blick auf einem Innencover unter dem Titel Is this the most dangerous man in Britain?

Seinem Blick zufolge hätte dies zutreffen können.)

[...] Ich hätte Omar Bakri wirklich gerne getroffen und Zeit mit ihm verbracht, während er

versucht die Demokratie zu stürzen und England zu einer islamischen Nation zu machen.

[...] Ich schrieb ihm um die Erlaubnis, ihm folgen zu dürfen [...]. Er rief umgehend zurück.

Es gäbe soviele anti-islamistische Lügen, meinte er, verbreitet von Medienhäusern in

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 17

jüdischer Hand. Soviel Fehlinformation, in den Zeitungen, den Filmen. Vielleicht sei dies

eine Gelegenheit, für klare Verhältnisse zu sorgen. Also: ja, ich sei gerne willkommen, ihn

auf seinem Kampf gegen die Ungläubigen zu begleiten. Und dann fügte er noch hinzu: ‘Ich

bin in Wahrheit sehr nett, wissen Sie.’

‘Sind Sie das?’, fragte ich.

‘Oh ja’, sprach Omar Bakri, ‘Ich bin ein Vergnügen.’

[...] Omar Bakri entsprach tatsächlich nicht meinem Bild eines islamischen

Extremisten.” (Ronson, 2001, A semi-detached ayatollah, Abs. 1-26.)

Narratively ist nicht das Werk eines Einzelkämpfers. Noah Rosenberg, der Website-Gründer

und Chefredakteur, hat seit September 2012 mehr als 200 verschiedene Berichte unterschiedlichster

Autoren veröffentlicht. Die Times reiht Narratively unter die 50 “Best Websites of 2013”. So sieht

sich das Projekt selbst:

“Narratively ist eine Plattform für echte, tiefgründige und bislang unerzählte Geschichten

aus New York und immer öfter auch anderen Städten. [...] Narratively verlangsamt den

Nachrichtenzyklus. Wir geben nichts auf Schlagzeilen oder die nächste große Headline; wir

haben uns einzig und allein dem Erzählen der verborgenen Geschichten der Stadt

verschrieben ― jenen detailreichen und faszinierenden Erzählungen, die einen Ort

ausmachen.” (von http://narrative.ly/about/)

Bislang lebt die Website von Zuwendungen der Knight Foundation ― NPO-Finanzierung

als alternatives Geschäftsmodell zur althergebrachten, Werbeeinnahmen-basierten Form. Die

Berichte sind echt und treffen wöchentlich ein; einige haben Bilder, einige haben Illustrationen, bei

wieder anderen handelt es sich um Videoaufnahmen oder bloße Tondokumente. Das rechtzeitige

Erscheinen der Informationen spielt zwar auch hier eine Rolle, allerdings weniger stark da die

Geschichten weniger rasch altern. Die letzte Reportage über Mini-Museen beispielsweise, bleibt

aktuell solange die darin beschriebenen Museen existieren. Danach wird der Bericht zum

Zeitdokument.

“Wir liefern definitiv ein erstklassiges Produkt, das den Reportagen von The New Yorker

oder New York Times ähnelt ― zum Einen da einige unserer Autoren für diese Topadressen

der Medienbranche gearbeitet haben und zum Anderen weil die Berichte sehr gewinnend

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 18

sind, es sind Stücke mit denen man sich, das eigene Umfeld oder jene Leute die man als

Neunjähriger getroffen hat, identifizieren kann.” (Rosenberg nach Garavelli, 2013)

Narratively überzeugt seine Leser durch die Veröffentlichung von Geschichten mit tiefer,

regionaler Bedeutung genauso, wie mit der Ausnutzung der vielfältigen, medialen Möglichkeiten

des Web ― Ton, Bilder, Video und Text, gebündelt an einer Stelle. Unter den bei Narratively

veröffentlichten Texten findet sich auch die Ich-Erzählung Deserting the Empire von Autor und

Redakteur Celeste Ramos (2013).

“‘Woher stammen Sie nochmal?’

Ich speise mit einem neuen Kunden und dessen Belegschaft in einer renommierten Gegend

im Westen Oslos in Norwegen zu Mittag. Mir ist bereits als ich antworte klar, welche

Richtung das Gespräch einschlägt.

‘Brooklyn’, sage ich.

Die Augenbrauen gehen hoch, das Grinsen verstärkt sich; ‘der Ausländer’ hat ihr Interesse

geweckt. Einer der Anwesenden war ‘gerade vor Kurzem dort’, ein anderer fährt einmal

jährlich dorthin um ‘Alles hinter sich zu lassen’, was immer das bedeuten mag.

So wird die Konversation weitergehen: Diejenigen, die noch nie in New York waren,

werden mich fragen wie es dort ist. Diese ‘Gotham-Jungfrauen’ stimmen dann später in den

Chor der erfahreneren Reisenden ein, die mich löchern, wie ich einen solchen Ort jemals

verlassen konnte. Und sollte es mir gelingen, meine Existenz und meine Beweggründe zu

rechtfertigen, werde ich umgehend gefragt, ob ich jemals wieder zurückzugehen plane.

Miss Cleo steh‘ mir bei, meine Vorhersage tritt [immer] ein.” (Ramos, 2013, Abs. 1-6)

Ramos fährt damit fort das Gefühl der Deplatziertheit zu beschreiben, das ihr und vielen

anderen Einwanderern innewohnt und wie ihr Umfeld mit ihrem Dasein als Fremde in Norwegen

umgeht. Die Ich-als-Zeuge-Erzählform zum Immigrationsthema hält sich an die Regeln des “New

Journalism” aus den amerikanischen Sechzigern; sie hilft (wie die damaliger Reporter überzeugt

waren) den Lesern von heute dabei, die weltweiten Immigrationswellen zu begreifen.

Eine andere Geschichte, Escorting Stacy (Ryley, 2013), weicht die Grenzen zwischen

Lesern und Autoren auf. Obwohl das Überqueren dieser Grenze unangenehm ist, so stellen sich mit

Anwendung der Ich-Perspektivenerzählung auf journalistische Berichte doch Fragen der

Urheberschaft und sieht sich die Branche zudem gezwungen, die Leserschaft als Verfasser ihrer

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 19

eigenen Texte anzuerkennen. Josh Ryley (2013), der Name ein Pseudonym, berichtet in Narratively

über seinen Job als mänlicher Begleiter:

“Ich nehme meinen Job sehr ernst, ohne Rücksicht darauf wie verrückt oder bizarr das für

andere scheinen mag. Und warum sollte es das auch? Am Ende mache ich Menschen, wie

diesen Kunden, glücklich ― so glücklich dass sie am Ende sogar einen Orgasmus haben.

Wieviele Menschen können das von ihrer täglichen Arbeit behaupten?” (Ryley, 2013, Abs.

110)

Rosenberg zufolge existiert bereits eine treue Fan-Gemeinschaft/Leserschaft. Des

Stellenwerts der Zusammenarbeit mit kuratorischen Plattformen ist er sich jedoch wohl bewusst:

“Ich denke dass kuratorische Plattformen wie Longreads und Longform sehr wichtig sind,

speziell für uns. Ein Beispiel aus dem laufenden Betrieb: Eines Dienstags stellte Longreads einen

unserer Berichte auf deren Empfehlungsliste und twitterte diese an 75.000 Follower. Als Folge

darauf verzeichneten wir am nächsten Tag auf unserer Website die höchsten Traffic-Zahlen aller

Zeiten. Inhalte dieser beispielhaften Plattformen steigern die Langatmigkeit der Leserschaft massiv

und eignen sich perfekt für diese Art geliebten Inhalts. [...] Außerdem ist das Publikum sehr

empfänglich und treu.” (Rosenberg nach Garavelli, 2012).

Narratively mag vielleicht von der Existenz kuratorischer Plattformen profitieren, der Erfolg

der jungen Website steht allerdings außer Frage. In weniger als einem Jahr sammelte diese 75.000

Follower; zum Vergleich: die 25 Jahre alte österreichische Zeitung Der Standard hatte 2011 nur

eine tägliche Leserschaft von 72.100 (Statistik Austria, 2011).

Trotz dieser überzeugenden Zahlen nimmt die Ich-Erzählung im Journalismus weiterhin

eine Außenseiterrolle ein ― daran ist die Angst des Berufsstandes vor Veränderung nicht ganz

unschuld. Denn obwohl Medienprofis sich gerne als Trendsetter sehen und zudem der festen

Überzeugung sind, neue soziale und technische Gegebenheiten rasch be- und aufgreifen zu können,

so hat sich an der Art und Weise wie ― speziell die traditionsreichen Printverlage ― ihre

Geschäftsmodelle organisieren in den letzten 400 Jahren kaum etwas geändert (Newspaper in

Education, 2005).

In turbulenten Zeiten hilft jedoch kein Weinen über eigene Vorlieben oder

Wunschvorstellungen. Um der Medienbrache neuen Wind einzuhauchen müssen sich mehr

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 20

Journalisten jener unangenehmen Antastbarkeit hingeben, die eine Reportage aus der Ich-

Perspektive mit sich bringt.

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 21

Zusammenfassung

Im Bestreben “Long-Form”, “Slow”, “Gonzo” oder “New Journalism” als nachhaltige

Lösung für die Grundsatzkrise der Medienlandschaft zu sehen, sind wir nicht allein. In The future of

publishing vertritt Stefano Garavelli (2013) die Existenz einer Informationsnachfrage, die

traditionelle Nachrichtenplattformen nicht bedienen. Ihm zufolge ist als Reaktion auf den Einbruch

der Printmedien und der immer stärker werdenden Konkurrenz auf dem Online-Werbemarkt, ein

Wandel hin zu längeren Geschichten und tiefgründigem Journalismus unausweichlich.

“Wenn die Verlagsindustrie um Umsätze ringt, in einem unausbalancierten Mix aus

Werbung und bezahlten Abonnements, ändern Redakteure ihre Vorgehensweisen [...]. Genau

dort kommen die Long-Form-Geschichten ins Spiel: eine intime und üblicherweise Büchern

vorbehaltene Leseerfahrung, kombiniert mit einem journalistischen Ansatz des

Geschichtenerzählens, der den Wunsch der Menschen bedient, zu wissen, zu verstehen und

teilzunehmen.” (Garavelli, 2013, S. 1)

Garavellis Stimme hinterlässt ein Echo bei Fisher (1984), der später schreibt:

“Menschliche Kommunikation sollte man historisch wie situationsgebunden betrachten, als

Berichte die miteinander aus guten Gründen konkurrieren, als rational wenn sie den Wunsch

nach erzählerischen Möglichkeiten und erzählerischer Treue erfüllen und ausweichlich als

moralische Anreize.” (Fischer, 1984, S. 2)

Wie erwartet hat diese Wandlung in den Vereinigten Staaten bereits begonnen. Das Land

steckte tief in der Medienkrise, mehr als 160 Zeitungen schlossen seit 2008 ihre Pforten

(Greenslade, 2010) und Journalisten, Medienanstalten wie Pressefirmen gleichermaßen befanden

sich auf der Suche nach Alternativen zur Gewinnrealisierung sowie Unterhaltung und Vergrößerung

ihrer Leserschaft. Bei der New Yorker Website Narratively handelt es sich lediglich um einen

Vetreter dieser journalistischen Renaissance. Weitere Befürworter des Geschichtenerzählens in der

Ich-Perspektive (teils von Journalisten, teils von Lehrern verfasst und machmal sogar von

Menschen mit ganz alltäglichem Beruf und einer Begeisterung für das Briefeschreiben) zählen

Atavist, Byliner und Matter.

Die traditionelle Printmarke National Geographic hat diesen Trend ebenfalls für sich

erkannt und finanziert gemeinsam mit der Knight Foundation ein Berichtsprojekt des

Pulitzerpreisträgers und Journalisten Paul Salopek. Dieses stellt die urzeitliche Wanderung unserer

menschlichen Vorfahren aus Afrika nach Europa und den Nahen Osten, vor der Besiedelung Nord-

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 22

und Südamerikas, nach. Gestartet ist das Projekt im Jänner 2013 und soll noch bis 2020 laufen.

Salopek unternimmt die Wanderung zu Fuss, auf seinem Rücken nur ein Rucksack mit minimalen

Vorräten und einem solarbetriebenen Notebook. Die Geschichten, die er auf seinem Weg erlebt,

veröffentlicht er auf der Website http://www.outofedenwalk.com; ausgewählte Stücke erscheinen

zudem in der Printausgabe von National Geographic.

Als von der Medienkrise noch nicht mit voller Härte getroffene Länder können Österreich –

mit vergleichsweise stabilen Leserzahlen ―, Brasilien ― trotz massiver Streichungen der

Journalistenarbeitsplätze seit 2004 begannen die ersten großen Schließungen auf Grund der

internationalen Medienkrise erst im Jahre 2013 ― oder Schweden (Haas’ Studenten präsentierten

Daten über die schwedische Presse, aus persönlichen Vorlesungsnotizen, Sommer 2013) ― wo

Nachmittagsausgaben weiterhin existieren ― fehlt es diesen Ländern an organisierten

Bestrebungen zur Verbreitung von “Long-Form”, “Slow”, “Gonzo” und “New Journalism”.

Wir sind überzeugt, diese Länder könnten ebenfalls von einem Einsatz der Ich-Perspektive

in der Berichterstattung profitieren, zumal diese eine stärkere Verbindung zwischen Autoren und

Lesern, sowie den gelesenen und selbst erlebten Geschichten zu schaffen vermag. Es könnte diesen

Ländern dadurch außerdem gelingen, den Krisenschock teilweise abzuschwächen und den Wert der

Printmedien durch das gezielte Setzen auf lokalen Bezug, reales, tiefgründiges und lebendiges

Material (Garavelli, 2013), zu erhalten.

Diese Überzeugung stützt sich auf die Annahme, dass die Grundlage des Journalismus nicht

in Objektivität begründet ist. Wie Mailer (nach Weingarten, 2005) richtig erkennt liegt in der

besonderen Hervorstreichung des Stellenwerts objektiver Berichterstattung in den Nachrichten für

das Genre, seine Autoren und Leser kein Vorteil. Die Natur des Journalismus ist jener der Literatur

nicht unverwandt: Es geht darum, eine gute Story zu erzählen.

Nichtsdestotrotz: Solange wir diese beiden strikt voneinander trennen, sind gute

journalistische Stories keine gute Fiktion. Wie Ronson sagte: “Im Journalismus gilt das Akzeptable

als tatsächlich passiert und das Inakzeptable als das nicht Eingetretene” (Ronson nach Czajkowski,

2012). Ronsons vereinfachte Definition dessen, was Journalismus ausmacht, scheint der beste

Ratschlag für das Verfassen von Texten im Anblick der zeitgenössischen Möglichkeiten (mit allen

Vor- und Nachteilen, die daraus erwachsen: Faktisch alles tun zu können, jedoch die finanziellen

Mittel dazu zu entbehren).

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 23

Quellenverzeichnis

Abrahamson, D. (2009) The future of magazines: 2010-2020. Journal of magazine and new media

research, 10 (2). 1-3.

American Society of Newspapers Editors (1923) Code of ethics or Canons of journalism. Verfügbar

unter http://ethics.iit.edu/ecodes/node/4457.

Arens, A. (1985) Eastcoast, Westcoast: immer der Sonne entgegen. FAZ Magazin, 15 März 1985.

42-44, 46-48.

Arnold, M. (1887) Up to Easter. The Nineteenth Century, N. CXXIII, Mai, 1887. Verfügbar unter

http://www.attackingthedevil.co.uk/related/easter.php

Beuttler, B. (1984) Whatever happened to the New Journalism? Magisterarbeit. Columbia

University Graduate School of Journalism, New York.

Boynton, R. (2005) The new new journalism: conversations with America’s best nonfiction writers

on their craft [Kindle for Macs 1.6 Version]. Verfügbar unter Amazon.de.

Brazeal, D. K. (2005) Precursor to modern media hype: the 1830’s penny press. The journal of

american culture, Vol. 28, Issue 4. Dezember, 2005. 405-414.

Campbell, W. J. (2001) Yellow journalism: puncturing the myths, defining the legacies. Westport,

CT: Praeger.

Conboy, M. (2011) Journalism and the coming of mass markets. In: Conboy, M. Journalism in

Britain: A historical introduction. 8-20. Los Angeles, CA: Sage Publications.

Czajkowski, E. (2012) Silly, funny stories about really serious things: a chat with writer Jon

Ronson. The Awl, 12 November 2012. Verfügbar unter http://www.theawl.com/2012/11/a-chat-with-

jon-ronson.

Didion, J. (2009) Slouching toward Bethlehem. Seattle, WA: Scriptor Press. (Ursprünglich im 1967

veröffentlicht.)

Fisher, W. (1984) Narration as a human communication paradigm. Communication monographs,

Vol. 51. 1-22.

Forrester, A. (2012) Interview: Jon Ronson on Robbie, Kubrick and Jonathan King. The Huffington

Post, 13 Oktober 2012. Verfügbar unter http://www.huffingtonpost.co.uk/adam-forrest/jon-ronson-

kubrick-interview-jon-ronson-on-r_b_1954256.html

Fung, A. Y. H. Ostini, J. (2002) Beyond the four theories of the press: A new model of national

media. Mass communication & society, 5 (1). 41-56.

Garavelli, S. (2013) The future of publishing [Kindle for Macs 1.6 Version]. Verfügbar unter

Amazon.de.

Gläss, K. (2004) Zwischen Fiktion und Fakten: eine Analyse des Phänomens “New Journalism” im

amerikanischen Journalismus. [Kindle for Macs 1.6 Version]. Verfügbar unter Amazon.de

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 24

Greenslade, R. (2010) 166 US newspapers vanish in 2 years. The Guardian, 6 Juli 2010. Verfügbar

unter http://www.theguardian.com/media/greenslade/2010/jul/06/us-press-publishing-downturn.

Journalism’s Woodstock: old vs. new journalism in a decade of change. (Abschlussarbeit) Gottfried

Wilhelm Leibniz Universität Hannover, Hannover. Verfügbar unter http://books.google.com/books?

i d = f K O W K B m y Y S E C & p g = P A 9 & l p g = P A 9 & d q = w a l l i s c h + n e w

+journalism&source=bl&ots=9w0vdmauh1&sig=GUAqn6gXNUevO4VxxdzNkUaw9_8&hl=en&s

a=X&ei=agENUrfYLYbJswas34GgDw&ved=0CEsQ6AEwAw.

Krakauer, J. (1996) Into the wild. New York, NY: Villard Books.

Krakauer, J. (1997) Into thin air: A personal account of the Mt. Everest disaster. New York, NY:

Villard Books.

Kräncke, G. (1985) Der Maestro aus der Schildergasse. Süddeutsche Zeitung, Silvester 1985/

Neujahr 1986. 3.

Llewellyn, R. (Writer & Director) (28 Oktober 2010) Carpool: Jon Ronson. [Carpool Webserie]

Verfügbar unter www.llewtube.com.

MacIntyre, A. (1981) After Virtue. Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press.

MacIntyre, A. (1999) Dependent rational animals: Why human beings need the virtues [Kindle for

Macs 1.6]. Verfügbar unter Amazon.de.

Meier, O. (2004) Literatur und Journalismus: Ein Geschwisterstreit geht ins 21. Jahrhundert.

Verfügbar unter http://www.medienheft.ch/kritik/bibliothek/k22_MeierOliver.html.

Murphy, J. E. (1974) The new journalism: a critical perspective. Lexington, KY: Association for

Education in Journalism.

Newfield, Jack. (1972) There is no “new journalism”. The Village Voice, Vol. XVII, N. 20. 18 Mai

1972. Verfügbar unter http://blogs.villagevoice.com/runninscared/2011/02/jack_newfield_t.php.

Newspapers in education (2005). Newspaper: a daily miracle. The Daytona Beach News-Journal,

Dec. 2005. [PDF]

Organization for Economic Co-operation and Development. (2010) The evolution of news and the

i n t e r n e t . Ve r f ü g b a r u n t e r h t t p : / / w w w. o e c d . o r g / s t i / i e c o n o m y /

oecdexaminesthefutureofnewsandtheinternet.htm

Orlean, S. (2001) Saturday night. New York, NY: Simon & Schuster. (Ursprünglich im 1990

veröffentlicht.)

Orlean, S. (2002) The Orchid Thief: A true story of beauty and obsession. [Kindle for Macs 1.6]

Verfügbar unter Amazon.de. (Ursprünglich im 1998 veröffentlicht.)

Peichl, M. (1985) Über einen der sitzt. Tempo, Dezember 1985. 66-69.

Peterson, T. Schramm, W. Siebert, F. (1963) Four theories of press. Champaign, IL: Illini Books.

(Ursprünglich im 1956 veröffentlicht.)

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 25

Posch, E. (2009) Historische Darstellungsformen des amerikanischen Printjournalismus und deren

Adaption in Europa anhand des Beispiels Österreich. (Magisterarbeit) Uniwien, Wien.

Ronson, J. (1994) Clubbed class. London: Pavilion Books.

Ronson, J. (2011) Them: Adventures with extremists [Kindle for Macs 1.6 Version]. Verfübgar unter

Amazon.de. (Ursprünglich im 2001 veröffentlicht.)

Ronson, J. (2011) The men who stare at goats [Kindle for Macs 1.6]. Verfügbar unter Amazon.de.

(Ursprünglich im 2004 veröffentlicht.)

Ronson, J. (2011) Out of the ordinary: True tales of everyday craziness [Kindle for Macs 1.6]

Verfügbar unter Amazon.de. (Ursprünglich im 2006 veröffentlicht.)

Ronson, J. (2011) What I do: More tales of everyday craziness. [Kindle for Macs 1.6] Verfügbar

unter Amazon.de. (Ursprünglich im 2007 veröffentlicht.)

Ronson, J. (2011) The psychopath test: A journey through the madness industry. London: Picador.

Ronson, J. (2012) Lost at sea: The Jon Ronson mysteries [Kindle for Macs 1.6 Version]. Verfügbar

unter Amazon.de.

Statistik Austria (2011). Druckauflage und verkaufte Auflage der österreichischen Tageszeitungen

2001 bis 2011 im Jahresdurchschnitt. [Web] Verfügbar unter http://www.statistik.at/web_de/

statistiken/bildung_und_kultur/kultur/buecher_und_presse/.

Stead, W. T. (o. J.) Writings. [Web] Verfügbar unter http://www.attackingthedevil.co.uk/.

Thompson, H. (o. J.) The Kentucky derby is decadent and depraved. [PDF Document] Verfügbar

u n t e r h t t p : / / w w w . g o o g l e . c o m / u r l ?

sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&sqi=2&ved=0CCwQFjAA&url=http%3A

% 2 F % 2 F b r i a n b . f r e e s h e l l . o r g % 2 F a

%2Fkddd.pdf&ei=ifwMUpnNGoeN4ATrg4CACA&usg=AFQjCNEOKAPQuYPuAQ5VtrDUtu835

1z10w&sig2=3gxmGXx1OqDOwEeW7Hr35Q&bvm=bv.50768961,d.bGE (Ursprünglich im 1970

veröffentlicht.)

Ward, S. J. A. (2010) The invention of journalism ethics: The path to objectivity and beyond.

Montreal: McGill-Queen’s University Press.

Weingarten, M. (2005) The gang that wouldn’t write straight: Wolfe, Thompson, Didion, Capote,

and the new journalism revolution [Kindle for Macs 1.6 Version]. Verfügbar unter Amazon.de.

Wolfe, T. (1973) The new journalism. New York, NY: Harper & Row.

“LONG-FORM”, “SLOW”, “GONZO” ODER “NEW JOURNALISM” 26