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cc Thomas Stephenson Uni Wien – Institut für Bildungswissenschaft – Univ.Doz. Dr. Thomas Stephenson: E&B1: Entwicklung Bildung 1: Kommunikation, Interaktion und die Bildung früher psychischer Strukturen als Themen der Entwicklungspädagogik 1 Ein Beobachtungsprotokoll (Brazelton 1975) „»Der Säugling schaut zur Seite, von der die Mutter hereinkommen wird. Er liegt völlig ruhig in seiner Kinderwippe, mit ernstem Gesicht, herunterhängenden Backen, halb geöffnetem Mund, nach unten gezogenen Mundwinkeln, aber in seinen Augen liegt ein erwartungsvoller Blick. Sein Gesicht und seine Hände weisen in dieselbe Richtung. Als seine Mutter hereinkommt, mit hoher, sanfter Stimme >Hallo< sagt und sich ihm dabei nähert, folgt er ihr mit Kopf und Augen. Er wirkt jetzt gespannt, und Gesicht und Augen öffnen sich zu einer richtigen Begrüßung, die in ein Lächeln einmündet. Sein Mund wird breit und sein ganzer Körper orientiert sich in ihre Richtung. Er entspannt sich, bewegt zweimal die Zunge zwischen den Lippen, sein Lächeln erlischt, und er schaut kurz nach unten, während sie mit zunehmend auffordernder Stimme spricht. Während dessen bleibt sein Gesicht und seine Stimme still, aber sein ganzer Körper ist ihr zugewandt. Er schaut nach unten und sie beginnt, seine Hüften und Beine zart und fürsorglich zu bewegen. Er schaut mit einem breiten Lächeln wieder hoch, die Augen werden schmal, eine Hand führt er grunzend und vokalisierend zum Mund und dann fängt er an, mit Armen und Beinen in ihre Richtung zu fuchteln. [62/63]

Entwicklung & Bildung1 20091014

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Uni Wien – Institut für Bildungswissenschaft – Univ.Doz. Dr. Thomas Stephenson: E&B1: Entwicklung Bildung 1: Kommunikation, Interaktion und die Bildung früher psychischer Strukturen als Themen der Entwicklungspädagogik

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Ein Beobachtungsprotokoll (Brazelton 1975)

„»Der Säugling schaut zur Seite, von der die Mutter hereinkommen wird. Er liegt völlig ruhig in seiner Kinderwippe, mit ernstem Gesicht, herunterhängenden Backen, halb geöffnetem Mund, nach unten gezogenen Mundwinkeln, aber in seinen Augen liegt ein erwartungsvoller Blick. Sein Gesicht und seine Hände weisen in dieselbe Richtung. Als seine Mutter hereinkommt, mit hoher, sanfter Stimme >Hallo< sagt und sich ihm dabei nähert, folgt er ihr mit Kopf und Augen. Er wirkt jetzt gespannt, und Gesicht und Augen öffnen sich zu einer richtigen Begrüßung, die in ein Lächeln einmündet. Sein Mund wird breit und sein ganzer Körper orientiert sich in ihre Richtung. Er entspannt sich, bewegt zweimal die Zunge zwischen den Lippen, sein Lächeln erlischt, und er schaut kurz nach unten, während sie mit zunehmend auffordernder Stimme spricht. Während dessen bleibt sein Gesicht und seine Stimme still, aber sein ganzer Körper ist ihr zugewandt. Er schaut nach unten und sie beginnt, seine Hüften und Beine zart und fürsorglich zu bewegen. Er schaut mit einem breiten Lächeln wieder hoch, die Augen werden schmal, eine Hand führt er grunzend und vokalisierend zum Mund und dann fängt er an, mit Armen und Beinen in ihre Richtung zu fuchteln. [62/63]

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Während seine Aktivität zunimmt, wird ihr Lächeln breiter, sie fängt an, lauter und mit einer höheren Stimme zu sprechen; dabei akzentuiert sie seine Vokalisierungen mit ihren eigenen und seine Aktivität damit, daß sie seine Beine bewegt. Sein Lächeln, seine Vokalisierungen und seine fuchtelnden Arm- und Beinbewegungen kommen und gehen in einem Zwei-Sekunden-Rhythmus. So entstehen kleine Aufmerksamkeits- und Bewegungszyklen, die auf sie gerichtet sind.Sie hält seine Hüften mit ihren Händen, als wolle sie seine Erregung vor dem Überschäumen bewahren. Mit Stimme, Gesicht und Händen moduliert und akzentuiert sie sein Verhalten. Er schaut wieder nach unten, mit ernüchtertem Blick, und zieht eine Schnute (nach 40 Sekunden). Sie schaut auf seine Füße, dann in sein Gesicht, und auch er schaut sie wieder an. Sie läßt seine Beine los, und er zieht sie wieder an seinen Körper. Er bricht dreimal in breites Lächeln und staccato-ähnliche Vokalisierungen aus. Jedesmal >öffnet< sich sein Gesicht ganz weit, und seine Beine und Arme strecken sich zu ihr.

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Nach jedem Ausbruch wird sein Gesicht ernst, seine Glieder ruhig, und sie beruhigt sich ebenso wie er. Nach 70 Sekunden wird er ganz ruhig und schaut mit dunklem, ernstem Gesicht auf seine Füße. Sie wird sehr still, ihr Gesicht ernst, ihre Stimme langsamer und tiefer. Ihr Mund ist nach unten gezogen und spiegelt seinen ernsthaften Gesichtsausdruck wider. Nach 3 Sekunden hellt sich sein Gesicht wieder auf, er lächelt breit und macht Zungenbewegungen. Dieses Mal ist er etwas zurückgezogener, die Bewegung seiner Extremitäten und seine Aufregung ist gedämpfter.Sie reagiert sofort, schüttelt auffordernd den Kopf, lächelt sanft, und ihre Stimme wird kräftiger. Er produziert zwei weitere Staccato-Vokalisierungen mit Lächeln und ruckartigen, fuchtelnden Beinbewegungen in ihre Richtung. Sie umfaßt seine Hüften, aber diesmal folgt ihre stimmliche Erregung nicht seiner körperlichen. 6 Sekunden später schaut sie nach unten und hält seine Arme mit ihren Händen, als wolle sie seine Aufregung unter Kontrolle halten.

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10 Sekunden später folgt er ihrem Blick, seine Bewegungen beruhigen sich, und sein Gesicht wird ernsthaft. Jetzt, nach insgesamt 90 Sekunden, ist sie ebenfalls ganz ernsthaft. Er niest, sie antwortet mit einem >Gesundheit< und nickt ihm mit aufgehelltem Gesicht zu. Sie fängt an, auf ihn einzureden, während er ernsthaft ihr Gesicht studiert. Schließlich lächelt er, sie wirft den Kopf nach hinten und lächelt breit und aufgeregt. Danach beruhigen sich beide. Er schaut sie jetzt ernsthaft und ruhig an. Sie spricht ernst mit ihm und hält seine Pobacken und seine Beine zwischen ihren Händen. Nach längeren Intervallen lächelt er sie ziemlich kurz und tastend, aber durchaus aufmunternd an. Nach jedem Lächeln wird sein Gesicht wieder ernsthaft und sein Körper völlig bewegungslos. Sie reagiert lächelnd auf sein Lächeln, verändert aber ihren Tonfall nicht und spricht weiter ruhig. Nach 135 Sekunden schaut er auf seine Füße, lächelt länger, und seine Zunge wird zwischen den Lippen sichtbar. Auch seine Beine rudern auf sie zu. Sie schaut mit ihm zusammen nach unten und fängt an, seine Beine (mit ihren Händen) mitzubewegen. Während er sie anlächelt, schaut sie hoch, ihr Gesicht hellt sich auf, sie bewegt seine Beine schneller, und ihre Stimme wird lauter.

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5 Sekunden später läßt sein Lächeln nach, und er schaut wieder weg. Danach beginnt eine weitere Runde mit beidseitigen ernsten Blicken, die mit kurzen Lächelepisoden abwechseln. Sie folgt jetzt seinen Hinweisen, >pumpt< mit seinen Beinen, lächelt und vokalisiert mehr und steuert auf einen endgültigen Höhepunkt zu. Beide lächeln breit, ihre Stimme wird höher, ihre Hände an seinen Beinen aktiver. Er beruhigt sich als erster und schaut ernst nach unten. Ihr breites Lächeln verschwindet, sie läßt seine Beine los und macht Anstalten wegzugehen. In diesem Augenblick schaut er sie flehentlich an, seine Mundwinkel sinken nach unten, die Augenbrauen ziehen sich zu einem Bogen, Arme und Beine beruhigen sich, und er folgt ihr mit Kopf und Augen, während sie sich entfernt.«