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Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

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Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

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D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 2 3Im Internet: www.spiegel.de

Hausmitteilung4. Juni 2012 Betr.: Titel, Cannes, Fußball-EM

Hat Israel jene U-Boote mit Nu -

klearwaffen bestückt, die in Kiel

gebaut und aus dem Bundeshaushalt

mitfinanziert wurden? Hat die deut-

sche Regierung gewusst, dass sie da-

mit die atomare Aufrüstung Israels

unterstützt? Diesen Fragen ging ein

SPIEGEL-Team um Holger Stark, 42,

und Mitarbeiter Ronen Bergman, 39,

über Monate nach. Die Recherchen

belegen, dass die israelische Marine

die Boote als Abschussrampen für

Atomwaffen nutzen kann. Und hoch-

rangige deutsche Regierungsmitarbei-

ter offenbarten, ihnen sei klar gewe-

sen, wozu die Boote taugen. Stark

war überrascht, dass israelische Militärs ihm als erstem ausländischen Reporter

den Zutritt zu einem der Boote gewährten. Die Marinesoldaten gestatteten Bergman

und ihm einen Blick durch das Periskop und auf Navigationspapiere – aber nicht

auf die Decks 2 und 3, wo Torpedos und Marschflugkörper lagern. Als Stark einen

Offizier nach nuklearen Gefechtsköpfen an Bord fragte, sagte der nur: „Wenn ich

diese Frage beantworte, komme ich in den Gulag“ (Seite 20).

Es ist die Wiederkehr des immer Gleichen: Stars laufen mit perfektem Lächeln

über den roten Teppich, und am Ende der Festspiele gibt es die Goldene Palme

für den angeblich besten Film. Im Verborgenen, in den Katakomben des Festspiel-

hauses, erlebte SPIEGEL-Reporter Alexander Smoltczyk, 53, ein anderes Cannes –

den Marché du Film, den „Maschinenraum der Kinowelt“, wie Smoltczyk die

Messe nennt. Er begleitete Martin Moszkowicz, 54, Vorstand der Constantin Film

AG, durch eine Welt der Rechtehändler, Produzenten und Verleiher, die nicht

weniger besessen und durchtrieben sind als die Bösewichte ihrer Filme; „großes

Kino“, sagt Smoltczyk (Seite 68).

Die deutsche Nationalmannschaft gilt wegen ihrer talentierten Offensivspieler

als einer der Favoriten der Fußball-Europameisterschaft – doch in der Vertei-

digung offenbarte sie zuletzt Schwächen. „Die Defensive ist die Problemzone“,

sagt SPIEGEL-Redakteur Jörg Kramer, 50, der mit den Kollegen Dirk Kurbjuweit,

49, und Maik Großekathöfer, 40, aus Polen und der Ukraine berichten wird. Kramer

porträtiert in diesem Heft die Innenverteidiger Holger Badstuber und Mats Hum-

mels. Schon beim Spiel am Samstag gegen Portugal erwartet die deutsche Defensive

schwere Arbeit: Ihr steht Stürmer-

star Cristiano Ronaldo von Real

Madrid gegenüber. „Ronaldo will

sich bei der EM zum Weltfußballer

des Jahres küren“, sagt SPIEGEL-

Autor Cordt Schnibben, 59, der die

Rekordjagd beschreibt, die sich Ro-

naldo und Lionel Messi, sein Rivale

vom FC Barcelona, in den spani-

schen und europäischen Clubwett-

bewerben liefern (Seiten 108, 116).

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Bergman, Stark im U-Boot in Haifa

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Großekathöfer, Kurbjuweit, Kramer

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Titel

Deutsche Schiffe, israelische Atomwaffen –die geheime Kooperation ............................... 20

Deutschland

Panorama: Merkel will Rettungsschirmfür Spanien / Bundestagswahl ohne Termin /Tragischer Tod in Nigeria ............................... 15Energiewende: Der Umstieg auf Wind- undSonnenstrom wird zur sozialen Frage ............ 34Interview mit Umweltminister Peter Altmaierüber die Kosten des Atomausstiegs ................ 37Opposition: SPD und Grüne uneins über Euro-Bonds .................................................... 40Parlament: Das Brandzeichen für Pferdespaltet die schwarz-gelbe Koalition ................ 42First Lady: Wie die Lebensgefährtin den Bundespräsidenten erdet ................................ 44Kommentar: Die Sehnsucht der Muslime ....... 46Finanzpolitik: Wie Bundestagsabgeordnete das permanente Krisen-Geschäft bewältigen ... 48Naturschutz: Der Kampf um einen neuen Nationalpark in Nordrhein-Westfalen ............ 52Sozialpolitik: Hilflose Menschen werdenvon ihren Betreuern ausgebeutet ................... 54Kriminalität: Die mafiösen Strukturender Hells Angels ............................................. 58Kinderbetreuung: Kita-Platz oder Schadensersatz – die Rechtsansprücheder Eltern ....................................................... 62Thüringens Bildungsminister ChristophMatschie (SPD) kritisiert das Betreuungsgeld ... 63

Gesellschaft

Szene: Prinz Charles als DJ / Warum Männerjetzt Schlumpfmützen tragen ......................... 66Eine Meldung und ihre Geschichte – übereinen südafrikanischen Professor, der wegen eines Schlaglochs Entschädigung von seiner Regierung einklagt ........................ 67Filmindustrie: Wie die Produzenten in der Unterwelt von Cannes dealen .................. 68Ortstermin: In Eisenach schlagen sich die deutschen Burschenschaften .......................... 74

Wirtschaft

Trends: Verkehrsminister Ramsauer will Mautsystem ausschreiben / DGB-Chef fordertStärkung der Rechte von Haushaltshilfen / Rösler will für Opel kämpfen ......................... 76Investoren: Pensionskassen, Fonds und Versicherungen wissen kaum noch,wo sie ihr Geld sicher anlegen sollen ............. 78Altersvorsorge: Verbraucherschützer attackieren die Allianz wegen unrentablerRiester-Renten ................................................ 82Internet: Fünf Lehren aus FacebooksBörsenfiasko .................................................. 85Handel: Schlecker-Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz rechnet mit dem Managementdes Unternehmens ab .................................... 86Bildung: Elektronische Schultafeln für deutsche Klassenzimmer ................................ 88

Ausland

Panorama: Verzögerung des 9/11-Prozesses in Guantanamo / Der georgische Oppositionsführer Iwanischwili will den Präsidenten in Tiflis stürzen ........................... 90Syrien: Assads Geister-Armee ........................ 92Essay: Warum die Weltgemeinschafttrotz der Massaker im Syrien-Konflikt nicht militärisch eingreifen kann ............................. 96

4

In diesem Heft

First Lebensgefährtin Seite 44Daniela Schadt gab ihren Beruf als Politik-Journalistin auf, als ihr Mann Präsi-dent wurde. Nun hat sie mehr Einfluss als je zuvor. Selbst das schwierige Verhältnis zwischen Joachim Gauck und der Kanzlerin könnte sie entspannen.

Gierige Helfer Seite 54Mehr als 1,3 Millionen Deutsche entscheiden nicht mehr frei über ihr Leben,sondern stehen unter Betreuung. Viele werden gegen ihren Willen ins Heimabgeschoben oder von ihren angeblichen Unterstützern ausgenommen.

Liebespaar in „Make Love“

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Wer zahlt die Rechnung? Seiten 34, 37Weil sich viele Haushalte die steigenden Stromkosten nicht leistenkönnen, wird die Energiewende zur sozialen Frage. Die schwarz-gelbeKoalition streitet, wie Geringverdiener entlastet werden können.

Aufklärung statt Porno S. 138Während der sexuellen Revolution in den siebzi-ger Jahren schien es, alsrede eine ganze Gesell-schaft ständig über Sex.Heute wird er nur noch gezeigt – auf Litfaßsäulen, im Internet, in Musik-videos. Das Aufklärungs-buch „Make Love“ einesBerliner Verlags will alles zeigen und alles an-sprechen.H

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Griechenland: Der Schriftsteller Nikos Dimouüber die Angst der Griechen,aus Europa hinausgeworfen zu werden .......... 98

Vatikan: In der Arrestzelle des Papstes ......... 100

Euro-Raum: Irland, Europas angeblicher Musterschüler, ist noch lange nicht gerettet ... 102

Global Village: In Chennai lässt einindischer Ingenieur eine Motorradlegendeaus Großbritannien neu produzieren ............ 105

Sport

Szene: Dirk Nowitzki über seinen Entschluss,bis 2014 bei den Dallas Mavericks zubleiben / Klinikum Aachen richtet Hotlinefür psychisch erkrankte Sportler ein ............. 107

Euro 2012: Stürmerstar Cristiano Ronaldound seine Jagd nach dem Goldenen Ball ...... 108

Warum Holger Badstuber und Mats Hummels,die besten Innenverteidiger der Bundesliga, imNationalteam so schwer zusammenfinden .... 116

Wissenschaft·Technik

Prisma: Bakterien besiedeln Babysschon vor der Geburt /Windmühle produziert Trinkwasser ............. 120

Computer: Wie gefährlich ist der neue Spionagevirus „Flame“? ............................... 122

Höhlenforschung: Die bizarren Wetterverhältnisse in U-Bahn-Tunneln ......... 125

Denkmalschutz: Wie sich die vom Zerfall bedrohten Schlösser inMecklenburg-Vorpommern retten lassen ...... 126

Automobile: Beim Ausdauerrennen von Le Mans starten erstmals Spritsparautos ...... 129

Kultur

Szene: Amerikanische TV-Serie „Girls“ überdas desillusionierte Leben von vier New YorkerFrauen / Berliner Ausstellung zur Ästhetikund Psychologie moderner Stadionbauten ... 130

Kunst: Eine Vorabbesichtigung der 13. Documenta in Kassel ............................... 132

Debatte: Das maschinenhafte Menschenbild der Piraten ............................. 136

Sexualität: „Make Love“, ein Aufklärungsbuchfür die Generation Porno .............................. 138

Bestseller ..................................................... 140

Psychologie: Die französische HistorikerinElisabeth Roudinesco im SPIEGEL-Gesprächüber Sigmund Freud und den Niedergang der Psychoanalyse ........................................ 142

Buchkritik: Der doppelbödige Roman „Tony & Susan“ des AmerikanersAustin Wright ............................................... 146

Medien

Trends: Böser Brief von Verleger NevenDuMont / Niggemeiers Medienlexikon ......... 147

TV-Stars: Schwächelnde Quoten machen RTL-Titan Dieter Bohlen angreifbar ............. 148

Verlage: Weshalb der Erbstreit um dasVermögen von Axel Cäsar Springer neuentflammen könnte ...................................... 150

Briefe ............................................................... 6

Impressum, Leserservice .............................. 152

Register ........................................................ 154

Personalien ................................................... 156

Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 158

Titelbild: Fotos imago, Getty images, Ziv Koren/Laif (2)

Feuriger Supervirus Seite 122Moskauer Software-Experten haben einen besonders trickreichen Computer-virus enttarnt: „Flame“ spionierte Rechner im Nahen Osten aus. Ist das ferngesteuerte Spähprogramm eine neue Waffe im Cyberkrieg gegen Iran?

Verrat im Vatikan Seite 100Der eine sitzt im Gefängnis, der andere lässt sich feiern: Papst BenediktsKammerdiener Paolo Gabriele und der Journalist Gianluigi Nuzzi haben einen Skandal ausgelöst, der die katholische Kirche erschüttert.

Documenta-Chefin Christov-Bakargiev

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ESAssads Blutsauger Seiten 92, 96

Mit Schattenmilizen, die wohl auch für das Massaker in Hula verant-wortlich sind, versucht das Regime in Damaskus, seine Macht zu retten.Doch die „Schabiha“, die Geister, hat es nicht mehr unter Kontrolle.

Kunst ist Chefsache Seite 132Die Documenta in Kassel giltseit Jahrzehnten als weltweitwichtigste Kunstschau, amSamstag startet die 13. Aus -gabe. Deren Leiterin, dieAmerikanerin Carolyn Christov-Bakargiev, will erst-mals ein Millionenpublikumnach Kassel locken. Sie zeigtSchockierendes, Unterhalt -sames, Tiefsinniges – und illu striert vor allem eines:ihre eigene Weltanschauung. O

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Nr. 22/2012, Ein gutes Ende – Wege zu

einem würdevollen Sterben

Mit freudiger NeugierKompliment für das Anpacken diesesTabu themas und die vielseitige Recher-che dazu. Sehr einfühlsam geschriebenund hilfreich für die eigene Wegfindung.

DIETER FRIEDRICH DUWE, HAMBURG

Der sanfte und rechtzeitige Tod ist derWunsch der Lebenden. Wenn die Zeit ge-kommen ist, wollen die meisten Sterben-den, die bei klarem Verstand sind, nurnoch eines: leben. Ich gehe besser davonaus, dass für mich dasselbe gilt.WOLF-PETER WEINERT, BAD BEVENSEN (NIEDERS.)

Spuren hinterlassen und nicht nur Staub,Gutes tun, auf das man zurückblickenkann, wenn nichts mehr geht, darauf ach-ten, dass das Letzte, was ein Sterbenderertastet, nicht die kalte Wand ist in einemdunklen Zimmer, sondern eine Hand, dieihn hält. So kann das Sterben für beideein Gewinn sein.

GERLINDE DORMEIER, SOLMS (HESSEN)

Am Taj Mahal überfielen meinen Freundauf einer Weltreise plötzlich rasendeKopfschmerzen, er brach die Reise abund kehrte zurück nach Würzburg. Dia -gnose: Hirntumor, inoperabel. Jedoch mitder Möglichkeit, schmerzfrei zu leben biszum Ende. Er flog wieder nach Indienund vollendete seine knapp zwei Monatelange Reise, veranstaltete nach seinerRückkehr in Deutschland eine Abschieds-party und starb einige Wochen später.

ERICH STEGER, SCHWAIG (BAYERN)

Wer die Betreuung pflegebedürftiger An-gehöriger nicht nur Fremden überlässtund hinter die Kulissen sehen kann,macht mit Ärzten, Pflegediensten undHeimen Erfahrungen, die wertvoller sindals alle Beschreibungen. Er lernt, zwi-schen Heuchelei und echter Fürsorge zuunterscheiden. Und er erfährt, was ihnerwartet, wenn er alt und dement wird.

ANNEMARIE FISCHER, WIELENBACH (BAYERN)

Welch ein wunderbarer Artikel, den ichals palliativ behandelnder Unfallarzt the-matisch-medizinisch-ästhetisch ergreifendund als krebskranker alternder Leser ein-

fach vorbildlich durchdacht und geschrie-ben fand. Viele andere Leser werdenauch geweint haben.

DR. PETER WAGEMANN, DEUTSCH EVERN (NIEDERS.)

Das Anspruchsdenken des Menschen darfnicht so weit gehen, das erstrebenswerteZiel eines würdevollen Sterbens mit dermaßlosen Forderung nach einem Rechtauf präzise langjährige Vorhersehbarkeitdes eigenen Todes zu verwechseln. DieseKenntnis würde kaum ein Leben sinnvol-ler und glücklicher machen.

KERSTIN SCHWANZER, BAD NAUHEIM (HESSEN)

Wenn so viele Menschen Angst vor Siech-tum und Fremdbestimmtheit haben: Da-gegen könnte man etwas tun. Nämlichmit Überlegung einen wirklich „guten

Tod“, einen Freitod, wählen und recht-zeitig ausführen. Die Voraussetzungenhierfür zu schaffen (Erreichbarkeit vonMedikamenten, Selbsthilfegruppen, Ent-tabuisierung u. a.) ist ein überfälliges Pro-jekt gerade der alternden Gesellschaft.

ANNE MODERSOHN, ZEISKAM (RHLD.-PF.)

Klar, ich habe auch Angst vor einem elen-den Sterben, aber Angst vor dem Todhabe ich nie empfunden. Den Tod erwar-te ich mit einer gewissen freudigen Neu-gier, denn er wird mir endlich beantwor-ten, wer denn nun recht hat, die Atheis-ten oder die Gläubigen.

MANFRED SCHWARZ, PADERBORN

Meiner 91-jährigen, hinscheidenden Mut-ter war von einem Palliativmediziner derVerzicht auf Essen und Trinken empfoh-len worden. Hunger und Durst machtenihr aber sehr wohl zu schaffen. SolangeStaat und Kirche dem Einzelnen dasRecht verweigern, selbst über Zeitpunktund Art des Sterbens zu entscheiden, istder Weg zu einem würdevollen Sterbennoch nicht zu Ende gegangen!

CLAUDIA MAIGNÉ, MÜHLTAL (HESSEN)

Nr. 21/2012, SPIEGEL-Gespräch mit dem

Nobelpreisträger Daniel Kahneman über

die Tücken intuitiven Denkens

Was kostet der Ball?Wir haben uns die halbe Nacht gestrittenund geprügelt. Sollten Sie nicht umge-hend bekanntgeben, wie viel der Baseballkostet, tragen Sie die Scheidungskosten.

INGRID UND VOLKER FLEIG,HÖRGERSDORF (BAYERN)

Dieser Bericht war ebenso lehrreich wieverblüffend. Lehrreich, weil er eine an-schauliche, fast spielerische Einführungin die Psychologie beziehungsweise in diemenschlichen Verhaltensweisen gibt. Ver-blüffend, wie man mit einer vermeintlichsimplen Rechenaufgabe auch Menschenmit einem sicherlich akzeptablen IQ (Stu-denten) in Verlegenheit bringt oder sieaufs Glatteis führt. Hoffentlich bin ichmit meiner Antwort nicht auch durchge-fallen. Sie lautet: Der Ball kostet 5 Cent.

GÜNTER RIEMER, MÜNSTER

Briefe

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SPIEGEL-Titel 22/2012

„Leben in der Gewissheit, dass ich

sterben muss, vielleicht qualvoll:

eine ungeheuerliche Zumutung.

Gut, dass Ihr Artikel der Verdrän-

gung entgegenwirkt und Solidarität

mit Sterbenden fördert.“

HELMUT SCHLEICHER, OBERHAUSEN

Diskutieren Sie im Internetwww.spiegel.de/forum und www.facebook.com/DerSpiegel

‣ Titel Soll Deutschland Israel bei der Atomrüstung helfen?

‣ Energiewende Wie teuer darf der Verzicht auf Stromaus Kernkraftwerken werden?

‣ EM Ist Cristiano Ronaldo der beste Spieler der Welt?

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Schriftsteller Terzani, Sohn in der Toskana 2004

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nehmen zu müssen. Auswahl des Lese-zeichens, Diskussion eines jeden Satzesmit Lektor und Korrektor, Organisationvon zig Lesungen und Talkshows, Über-setzungen ins Englische und Japanische?Daran ist doch bei jemandem, der im Ni-schenbereich schreibt, nicht zu denken –trotz hervorragender Rezensionen!

TONIO GAS, HANNOVER

Dieser Bericht ist in seiner schnörkellosehrlichen Darstellung wunderbar ein-drucksvoll. Ich habe Kriminalhörspielegeschrieben, immerhin 52. Fast allenachts. Die Dunkelheit und Stille derNacht verstärkten das Gefühl grenzen -loser Freiheit der Phantasie. Ich kann Fer-dinand von Schirachs schriftstellerischeOffenbarung nur bewundern und unter-schreiben. Das gilt auch für das, was erüber repräsentative Demokratie schreibt– absolut treffend.

DR. WILFRIED OTTERSTEDT, BREMEN

Es bleibt bei der Tatsache, dass sich auchdas menschengemachte Weltnetz denebenso menschengemachten geltendenGesetzen einschließlich des Urheberrechtszu unterwerfen hat. Im Übrigen bin iches allmählich leid, konstruierte Beispielevon ach so armen 15-Jährigen zu lesen,die sich den neuen Walser-Roman nichtleisten können! Wie wäre es mit Borgen?Stadtbücherei? Zeitungenaustragen? OderVerkauf des Smartphones?

HANS GREGOR NJEMZ, KIEL

Man kann den Irrglauben, dass das Urhe-berrecht vor allem Verbraucher benach-teilige, nicht genug bekämpfen. Sonst gibtes in wenigen Jahren nur noch Büchervon einigen Spinnern. Welcher vernünf-

tige Mensch nimmt (bei allem Idealismus)den Aufwand des Schreibens eines Buchsauf sich, wenn schließlich alles für lau istund der kostenlosen Unterhaltung einigerOnline-Freaks dient?

OLIVER BLUM, NÜRNBERG

Schade, dass Herr Schirach seinen beacht-lichen Essay über das Schreiben mit einerdoch recht unreflektierten Betrachtungzur direkten Demokratie einleitet. Es isteinfühlbar, dass die Aktivitäten und Er-folge der Piraten in Deutschland geeignetsind, Abwehrreaktionen zu generieren.Daraus aber zu folgern, dass repräsenta-

Briefe

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Nr. 21/2012, Ultras provozieren deutsche

Profi-Clubs

Pöbel für den SoundtrackDie Kickerei ist zu einem Programman-gebot geworden, das mit Casting-Showsund Volksmusik konkurriert. Die Gefah-renzone ist das Stadion. Doch die Besu-

cher der Arenen sind DFL, Sky und ARDso ziemlich egal. Der Pöbel hat für denSoundtrack zum Event zu sorgen. Dassdie Ultras sehr viel Energie in die Choreosstecken und ihren Verein bedingungslosbei Heim- und Auswärtsspielen unterstüt-zen, rückt in den Hintergrund. Bei ARDund ZDF werden die teuer ersteigertenTV-Übertragungen mit gewaltiger Unter-stützung der Radioprogramme hochge-jazzt. Die Bolzerei bekommt einen völligüberhöhten Stellenwert. Denn es wirdvergessen, worum es eigentlich geht: Um22 Männer, die in kurzer Hose über eineWiese rennen.

RALF ALBERS, OSNABRÜCK

Auch wenn in Ihrem Artikel wenigstensmal auf die Choreos und die eben nurdurch die leidenschaftliche Präsenz derUltras unvergleichliche Stimmung in denKurven hingewiesen wird, läuft es wiederauf die 600 Gewaltdelikte und 400 Ver-letzten hinaus. Dabei bleiben die „Ge-waltbereiten“ unter sich, und mein Mit-gefühl mit herumstolzierenden Termina-toren in Uniform hält sich in Grenzen.Man muss nicht in die Kurve; wer Kir-chentags-Atmosphäre mag, kann nachWolfsburg fahren, aber ein Stadion ohneUltras wäre wie Formel 1 heute: hochpro-fessionell, keimfrei und stinklangweilig.

STEPHAN SUTTKA, KNEITLINGEN (NIEDERS.)

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Bengalische Feuer im Düsseldorfer Stadion

Nr. 21/2012, Urheberrecht/Bestseller -

autor Ferdinand von Schirach über die

Mühen, ein Buch zu schreiben

Blutsauger gegen EdelfedernHerr von Schirach leidet auf einem hohenNiveau! In meinem Bereich, dem wissen-schaftlichen Schreiben, habe ich schonGlück gehabt, nicht noch die Druckkos-ten für meine Habilitationsschrift über-

Autor Schirach

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Nr. 21/2012, Die Energiewende gerät ins

Stocken, bevor sie richtig gestartet ist

Lobbyismus contra ZukunftZunächst muss man fordern, dass die de-zentrale Stromerzeugung in Zukunft imVordergrund steht, damit die Macht dervier Stromriesen E.on, RWE, EnBW undVattenfall aufgebrochen wird. Der Aus-bau der Netze von Nord nach Süd sollteentlang von Autobahnen und Schienen-strängen erfolgen. Damit können lang-wierige Planfeststellungsverfahren undBürgerproteste eingeschränkt werden.

FELIX KÖTTING, HAVIXBECK (NRW)

Da sollen irgendwelche Provinzfürsten,die fast alle Jura studiert haben und somitLaien darstellen, die jeder für sich Lob-byisten für ihr Bundesland sind, gemein-sam einen sinnvollen Masterplan für die

kommenden Generationen ausarbeiten?Daran glaube ich nicht. Genau dies sinddie Situationen, in denen ich an die Vor-teile einer Technokratie denke. Es gehthier nicht um einzelne Länder, es gehtum die komplette Bundesrepublik.

PATRICK KULINSKI, MAGSTADT (BAD.-WÜRTT.)

In Deutschland ist es inzwischen so, dassnur noch investiert wird, wenn Subven-tionen fließen. Die Industrie blockiert solange, bis die Politik Milliarden locker-macht. Der Lobbyismus zerstört alle zu-kunftsweisenden Entscheidungen.

HENNING SIMON, WUPPERTAL

Energieversorgung ist technisch und wirt-schaftlich eine Wissenschaft für sich. Eswerden Investitionsgüter konzipiert miteiner Lebensdauer von 30 und mehr Jah-ren, zu erheblichen Kosten und mit demZiel, für eine Volkswirtschaft eine sichereund bezahlbare Versorgung zu garantie-

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Stromtrasse

Nr. 21/2012, Der schwierige Versuch,

in einem boomenden Hamburger Viertel

den Straßenstrich zu verbieten

Stundenhotels zu WohnraumMir ist die ganze Aufregung über die Pro -stituierten am Hansaplatz unverständlich.Diese waren schon zu meiner Schulzeitvor über 60 Jahren ortsansässig. Damals

gab es in St. Georg noch drei Schulen,heute leidet die einzige unter Schüler-mangel. Kein Mensch hat sich damals amStraßenstrich gestört.

DETLEF M. HARTMANN, HAMBURG

Nur weil Verstöße gegen die Sperrgebiets-verordnung in St. Georg über Jahre nichtverfolgt wurden, besteht noch lange nichtdas Gewohnheitsrecht auf einen Verstoß.Als Anwohner begrüße ich es, wenn Stun-denhotels in Wohnraum umgewandeltwerden und der Hansaplatz zukünftigKindern als Spielplatz dient statt der aggressiven Prostitution als Laufsteg.

DIRK GARZ, HAMBURG

Ich bin keine Vertreterin feministischerWeltanschauung, aber diese Frauen sindweder alle „arme“ Mädchen noch alledrogenabhängig, noch kriminell. Sie leis-ten, genau betrachtet, in der Tat einenDienst an der Gesellschaft. Hinter vorge-haltener Hand würden wohl viele Män-ner dieser Aussage zustimmen. Natürlichgibt es sie, die dunkle Seite der Prostitu-tion, die es zu eliminieren gilt, aber dasGewerbe nicht weiter zu differenzierenkommt einem Denkfehler gleich. Sexar-beiterinnen üben einen Beruf aus, und esbesteht eine Nachfrage – ob uns das nunpasst oder nicht. Wozu sollen wir sie alsoan den Rand drängen?

SANDRINE HOELTGEN, ESCH-ALZETTE (LUXEMBURG)

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mitAnschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek-tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:[email protected]

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Hansaplatz in Hamburg

Nr. 21/2012, Im Ehrenmord-Fall Arzu Özmen

wurden fünf Geschwister verurteilt –

doch welche Rolle spielte der Vater?

In Hot Pants ins Männercafé?Die Äußerungen des jesidischen Gelehr-ten sind an Unverfrorenheit und Anma-ßung nicht zu überbieten. Wer in einemStaat mit freiheitlich-demokratischerGrundordnung und dem festgeschriebe-nen Selbstbestimmungsrecht der Frau le-ben will, hat dieses auch anzuerkennen.Was würde der Geistliche wohl sagen,wenn westliche Touristinnen in seinemHerkunftsland sich in Spaghetti-Top undHot Pants ungeniert in ein Männercafésetzen würden mit der Rechtfertigung:„Man kannte unsere Gepflogenheiten, alsman uns Touristen einreisen ließ“?

ANNE ESSMANN, BERLIN

Jeder Mensch sollte nicht nur vor demGesetz das Recht auf freie Entfaltung ha-ben, sondern auch in seinem familiärenUmfeld. Diese Urteile sollten eine Signal-wirkung haben, damit junge Frauen einselbstbestimmtes Leben führen können.

ANNE FLÖTER, POTSDAM

Danke für diesen ausführlichen und, so-weit ich es beurteilen kann, ausgewoge-nen Bericht. Danke vor allem dafür, dassSie das Unwort „Ehrenmord“ mit demvorangestellten „sogenannt“ relativieren.

HANS MENDE, HAMBURG

Auch wenn es beim Vater, der sich übersein Zeugnisverweigerungsrecht freuendarf, nicht für einen Schuldspruch reichensollte: Ein deutsches Gericht sollte (euro-päischen Wertvorstellungen gemäß) inder Lage sein, Sirin und Osman Özmenauch in ihrer Rolle als Opfer des gleichenabscheulichen Systems zu sehen, das ihre

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Brüder Özmen im Gerichtssaal

ren. Deshalb wird dies auch an Hochschu-len gelehrt. Und nun kommt bei uns eineHorde von Ignoranten, Laien und grünenFundamentalisten und glaubt, dies hierinnerhalb kürzester Zeit komplett umbau-en zu können. Der Artikel beschreibt nurden Anfang vom Chaos.

DIPL.-ING. MICHAEL HEUBERGER, SELIGENPORTEN (BAYERN)

Schwester vernichtete – und zu deutlichmilderen, wenngleich noch immer aus -sagekräftigen Urteilen kommen.

FRIEDRICH KINZ, WEIMAR

tive Demokratien besser funktionieren„als jede andere Staatsform, die wir ken-nen“, ist kühn. Die Schweiz hat es mitdiesem System immerhin fertiggebracht,während der Finanzkrise ihre Gesamt-schulden zu senken, im Gegensatz zu den„besser funktionierenden“ Ländern wieDeutschland, Japan, USA und Österreich.

DR. ALFRED TROESCH, ZOLLIKON (SCHWEIZ)

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Panorama Deutschland

E U R O - K R I S E

Spanien soll unter den Schirm

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolf-gang Schäuble (beide CDU) wollen Spanien unter den euro-päischen Rettungsschirm EFSF drängen. Nach Einschätzungder beiden ist das Land allein nicht in der Lage, die Schieflageseiner Banken zu beheben. Diese Linie verabredeten Merkelund Schäuble Anfang vergangener Woche. Mit dem Schrittwill die Bundesregierung die Gefahr eindämmen, dass sichdie Euro-Krise nach einem möglichen Ausscheiden Griechen-lands in den angeschlagenen südlichen Ländern der Wäh-rungsunion verschärft. Vorigen Mittwoch setzte Schäubleden spanischen Wirtschaftsminister Luis de Guindos bei des-sen Besuch in Berlin unter Druck. Spanien müsse sich Geldvom Rettungsschirm besorgen, um damit das Kapital seinerBanken aufzupolstern, forderte der Deutsche. Die Schwierig -keiten des Finanzsektors führten dazu, dass Spanien sich nurnoch zu steigenden Zinsen Geld an den Finanzmärkten be-

sorgen könne. In der vergangenen Woche musste das Landbei Anleiheplatzierungen 6,7 Prozent an Zinsen bieten. Beidiesen Größenordnungen waren Portugal und Irland im vergangenen Jahr unter den Rettungsschirm geschlüpft, auchauf Druck der übrigen Euro-Staaten. Guindos ließ Schäublejedoch abblitzen. Sein Land könne die Mittel allein aufbrin-gen, erklärte der Spanier. Zudem wolle er zunächst abwarten,auf welchen tatsächlichen Finanzbedarf Unternehmensbera-ter kommen, die derzeitdie spanischen Kredit -institute durchleuchten.Experten der Bundesre-gierung rechnen damit,dass die spanische Ban-kenwirtschaft eine Kapi-talspritze in Höhe von 50bis 90 Milliarden Euro benötigt. Madrid hatte inden vergangenen Wochenmehrmals Geld für seineBanken außerhalb des bis-herigen Rettungsverfah-rens gefordert. Das hattedie Bundesregierung ab-gelehnt.

G E I S E L N A H M E

Tragisches EndeDer in Nigeria getötete Deutsche Edgar Fritz R. starb offenbar bei demVersuch einer Sondereinheit der Armee, hochrangige Mitglieder der islamistischen Sekte Boko Haram festzunehmen. Die Operation in derMillionenstadt Kano galt nach Er-kenntnissen der deutschen Sicher-heitsbehörden jedoch nicht der Be -

freiung des im Januar entführten Mitarbeiters des Mannheimer Bau -konzerns Bilfinger Berger. Sein Auf-enthaltsort war nicht be-kannt. Bei dem Zugriff töte-ten die Militärs vier Boko-Haram-Kämpfer. Die Sicher-heitskräfte fanden die Leichevon Edgar Fritz R. an Hän-den und Füßen gefesselt.Der Körper war mit Stich-wunden übersät. Außerdemhatte er eine Schussverlet-zung am Kopf. Das Bundes-

kriminalamt hat Spezialisten nach Nigeria geschickt, die den Fall unter -suchen sollen. Im Zusammenhang

mit der Geiselnahme war im März eine Video-Bot-schaft aufgetaucht. Darin forderten Mitglieder der Terrororganisation al-Qaidaim islamischen Maghreb die Freilassung der inDeutschland inhaftiertenEhefrau des Anführers derSauerland-Grup pe, Fritz Gelowicz.

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Merkel, Schäuble

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Geisel Edgar Fritz R.

Quelle: Thomson Reuters Datastream

Spanische StaatsanleihenRendite zehnjähriger Papiere, in Prozent 6,5

6,0

5,5

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Jan. Febr. März April Mai

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D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 216

Panorama

A F G H A N I S T A N - A B Z U G

Wenige Visafür Helfer

Die Bundesregierung will afgha-nischen Angestellten der Bundes-wehr nach dem Abzug der Sol -daten Ende 2014 nur restriktivSchutz gewähren. Besonders un-ter den knapp 500 Dolmetscherngibt es massive Ängste, dass dieTaliban die ehemaligen Helferder ausländischen Soldaten be-drohen und Rache an ihnen neh-men könnten. Zunächst müsse ge-klärt werden, „in welchen Fälleneine Gefährdung überhaupt vor-liegen könnte“, heißt es in einerAntwort der Bundesregierung anden grünen Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, erst dann kön-ne man „situationsangemessen“ über Lösungen für die soge -nannten Ortskräfte nachdenken. Grundsätzlich sei beabsich-tigt, die Betroffenen „in ein neues Beschäftigungsverhältnisin Afghanistan zu überführen“, dabei wolle die Regierung

Hilfestellung geben. Bei gefährdeten Mitarbeitern gebe esden Willen, diese nach dem Abzug der Bundeswehr nachDeutschland zu holen. Die Zahl der Visa für die Ortskräftesoll aber möglichst klein gehalten werden.

PA R T E I E N

Qual des WahlterminsZwischen Regierung und Oppositionbahnt sich eine Auseinandersetzungum den Termin für die Bundestagswahl2013 an. Die SPD fordert, die Wahl bereits am 15. September anzusetzen,dem ersten Sonntag nach Ende derSommerferien in allen Ländern. Damitkönnten Bundestag und bayerischesParlament am selben Tag gewählt wer-den. „Dies würde dem sicher von allenParteien getragenen Ziel einer mög-lichst großen Wahlbeteiligung entge-

genkommen“, schreibt SPD-Fraktions-geschäftsführer Thomas Oppermann anBundesinnenminister Hans-Peter Fried-rich (CSU). Auch aus Kostengründensei das einheitliche Datum geboten:„Ein zusätzlicher Wahltermin in Bayerndürfte deutlich über 10 Millionen Eurokosten, und Tausende von ehrenamt -lichen Wahlhelfern müssten zwei Sonn-tage opfern“, so Oppermann. CSU-Chef Horst Seehofer bevorzugt ein Datum, das mindestens zwei Wochennach der eigenen Landtagswahl liegt,da er sich so bessere Chancen ausrech-net. Den Termin stimmt das Innenmi-nisterium üblicherweise mit dem Bun-destag und den Ländern ab.

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Plenarsaal des Bundestags

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Bundeswehrsoldat in einem Trainingscamp für afghanische Polizisten

U R H E B E R R E C H T

Spiel auf ZeitWegen der Verschleppung der Urhe-berrechtsreform gerät Bundesjustiz -ministerin Sabine Leutheusser-Schnar-renberger (FDP) unter Druck. Bei ei-nem Treffen der Ministerin mit derDeutschen Content Allianz, einem Zu-sammenschluss von Medienanbietern,

übten die Branchenvertreter am ver-gangenen Mittwoch massive Kritik.„Im Koalitionsvertrag steht, dass dasUrheberrecht reformiert werden soll,aber die zuständige Ministerin hat bis-her nichts getan“, sagt Jürgen Doetz,Präsident des Verbands Privater Rund-funk und Telemedien. „Wir fordern,dass sie noch vor der Sommerpause etwas auf den Tisch legt.“ Ein Zei-tungsbeitrag der Ministerin zum The-ma am vorigen Donnerstag löst das

Problem nach Ansicht der Branchen-vertreter nicht. „Leutheusser-Schnar-renberger versteckt sich hinter EU-Richtlinien, statt das Problem auf na-tionaler Ebene anzugehen“, sagt Alex -ander Skipis vom Börsenverein desDeutschen Buchhandels. Teilnehmernzufolge rechtfertigte Leutheusser-Schnarrenberger ihr Abwarten auchdamit, dass es innerhalb der FDP bis-lang keine einheitliche Position zumUrheberrecht gebe.

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D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 2 17

Deutschland

G R Ü N E

Entwicklungshilfe stattHartz IV

Die Grünen wollen im Fall einer Re-gierungsbeteiligung im Bund die Ent-wicklungshilfe ausdehnen, dafür aberbei der Erhöhung der Hartz-IV-Sätzesparen. Das geht aus einem Zwischen-bericht der Projektgruppe „Prioritä-ten“ für die Bundestagsfraktion her-vor. Danach soll der Bund allein imJahr 2014 zusätzlich 1,7 MilliardenEuro für internationale Klima- undEntwicklungsprojekte ausgeben. Bis

2017 wird das ehrgeizige Ziel ange-strebt, dass Deutschland 0,7 Prozentseiner Wirtschaftsleistung für die Ent-wicklungshilfe einsetzt. Eine Erhö-hung der Hartz-IV-Sätze auf 420 Euro,vom grünen Parteitag 2007 beschlos-sen, wird dagegen zurückgestellt. In einem ersten Schritt soll der Regelsatzvon derzeit 374 Euro auf 391 Euro er-höht werden. Insgesamt wollen dieGrünen im Haushaltsjahr 2014 rundzwölf Milliarden Euro zusätzlich aus-geben, wenn sie regieren könnten. ImGegenzug sollen unter anderem „öko-logisch schädliche Subventionen“ ab-gebaut, das Ehegattensplitting gekapptund der Spitzensteuersatz auf 49 Pro-zent erhöht werden.

QUERSCHNITTStudierende aus dem Ausland

Anteil in Prozent im Wintersemester 2010/11

Berlin

Saarland

Bremen

Branden-burg

Baden-Württem-berg

Sachsen

Hessen

Sachsen-AnhaltNieder-

sachsen

Nordrhein-Westfalen

Rheinland-Pfalz

Hamburg

Bayern

Thüringen

Schleswig-Holstein

Mecklenburg-Vorpommern

Quelle: Statistisches Bundesamt 2012

13,0

11,8

11,5

7,87,5

7,5

7,5

7,3

6,6

5,5

4,8

9,3

9,2

8,8

8,6

7,9

Hauptstadt-BonusBerlin zieht Studenten aus aller Welt an. Im Winter -semester 2010/2011 war dortder Anteil von Studierendenaus dem Ausland höher als inallen anderen Bundesländern.Besonders beliebt sind dieKunstwissenschaften, hier betrug der Anteil bundes -weit 12,4 Prozent. Erst dannfolgte das Ingenieurwesen.

B E T R E U U N G S G E L D

Rösler bremst Die schwarz-gelbe Koalition streitet erbittert über das Betreuungsgeld. Soboykottierte das Bundeswirtschaftsmi-

nisterium von FDP-Chef Philipp Rös -ler am vergangenen Freitag eine Ge-sprächsrunde im Familienministeriumvon Kristina Schröder (CDU). Bei demTreffen sollten Einwände gegen dieumstrittene Sozialleistung ausgeräumtwerden. Wie bereits mitgeteilt wordensei, werde seitens des Wirtschaftsres-sorts „Leitungsvorbehalt eingelegt“,heißt es in einem Schreiben. „DieserVorbehalt kann nur auf Minister-Ebeneaufgelöst werden.“ Deshalb sehe dasWirtschaftsressort „derzeit keine Not-wendigkeit“ für ein Gespräch auf Ebe-ne der Abteilungsleiter oder Staats -sekretäre. In dem Brief macht RöslersHaus mehrere Bedenken gegen dasProjekt geltend. Vor allem verlangt esKlarheit über die zu erwartenden Kos-ten und fordert, das Gesetz erst im Au-gust und nicht schon im Januar nächs-ten Jahres in Kraft zu setzen.

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PanoramaDeutschland

M O D E

Auf rechts gedrehtDie klassischen Waren- und Versand-häuser in Deutschland sind sich uneinsüber den Umgang mit der bei Neo -nazis beliebten Textil- und Schuhmar-ke Lonsdale. Rechtsextremisten tragengern Shirts des britischen Herstellers,weil der groß aufgedruckte Marken -name die Buchstabenfolge NSDA ent-hält, die an Hitlers Partei erinnert. Ga-leria Kaufhof hat schon im Jahr 2000Lonsdale aus dem Warenhaus- undOnline-Sortiment entfernt, „da derRuf der ,rechten Nähe‘ diese Markeschon damals begleitet“ habe, so einSprecher. Auch Karstadt führt das La-bel nach eigenen Angaben „schon seit

Jahren“ nicht mehr. Neckermann so-wie der Otto-Versand mit seinen Töch-tern Baur und Schwab verkaufen demgegenüber die Produkte weiterhin,denn der Hersteller habe sich glaub-würdig von rechtem Gedankengut distanziert und engagiere sich seit Jahren gegen rechte Gewalt, heißt es.

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Neonazis auf einer Demo in Berlin

Erkundungsbergwerk Gorleben

Bundeskanzlerin Angela Merkel muss sich bei ihrer Aussagevor dem Gorleben-Untersuchungsausschuss auf Fragen zumöglichen Tricksereien der früheren Regierung Kohl einstel-len. Dabei geht es um sogenannte Salzrechte am geplantenatomaren Endlager. Neu aufgetauchte Akten des Kanzleramtsvon 1997 zeigen, dass Experten der damaligen Regierung dieErkundung der Lagerstätten ursprünglich nur für machbarhielten, wenn private Salzrechte-Inhaber enteignet würden.Ansonsten könnten die Erkundungsstrecken geologisch „nichtoptimal durchgeführt werden“. Für eine solche Enteigunghätte jedoch das Atomgesetz geändert werden müssen, wasnur mit Zustimmung des Bundesrats möglich ist. „Die SPDhätte damit auf jeden Fall den Schlüssel für Gorleben in der

Hand“, heißt es dazu warnend in einem Vermerk des Kanz-leramts. Um dem zu entgehen, müsse sich die Erkundung –auch „unter Inkaufnahme erhöhter Risiken“ – auf Areale imBesitz der Bundesregierung beschränken, so die Empfehlungvon Mitarbeitern der damaligen Bundesumweltministerin Mer-kel. Erst für den tatsächlichen Ausbau des Salzstocks zumEndlager solle sich die Regierung die entsprechenden Rechtebeschaffen. Für Sylvia Kotting-Uhl, grüne Obfrau im Unter-suchungsausschuss, ist damit klar, dass Merkel bewusst „Risi-ken und Abstriche bei der Sicherheit in Kauf nahm, als siesich für eine reduzierte Gorleben-Erkundung entschied“. DieKanzlerin soll Ende September als letzte Zeugin des Ausschus -ses vernommen werden.

G O R L E B E N

Schlüssel in der Hand

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V E R F A S S U N G S S C H U T Z

Nicht ohne RichterNach dem Ermittlungsdesaster gegendie Zwickauer Neonazi-Terroristen fordert der ehemalige brandenburgi-sche Verfassungsschutzchef und heuti-ge Bundesanwalt Hans-Jürgen FörsterKonsequenzen für die Geheimdienste.Er möchte, dass sogenannte V-Leutekünftig erst nach einer „Zulassung“durch einen Richter rekrutiert werdendürfen. Förster erhofft sich dadurch ei-nen „Zuwachs an Legitimität und An-sehen“ von Geheimoperationen. Zu-dem diene das Verfahren einer „Dis-ziplinierung nach innen“, weil die Ver-fassungsschützer wüssten, dass ihre Ar-beit überprüft würde.

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Titel

Made in GermanyDie Bundesrepublik exportiert U-Boote nach Israel, über deren technische Ausrüstung

seit Jahren spekuliert wird. Experten in Deutschland und in Jerusalem bestätigennun: Die Schiffe sind mit Atomsprengköpfen bewaffnet. Und Berlin weiß das seit langem.

Kommandozentrale eines israelischen „Dolphin“-U-Boots: „Deutschland kann stolz sein, die Existenz des Landes gesichert zu haben“

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Der Stolz der israelischen Marinewiegt sanft in der Dünung des Mit-telmeers, auf der Wasseroberfläche

spiegelt sich die Silhouette des Karmel-Ge-birges. Wer auf die „Tekuma“ möchte,muss am Pier des Hafenbeckens von Haifaeinen Steg aus Holz passieren, um in einenTunnelschacht zu steigen, der in das In -nere des U-Boots führt. Der für Besucher zuständige Marineoffizier, ein sehnigerMann in den Vierzigern, der seine Augenhinter einer Ray-Ban-Sonnenbrille ver-birgt, federt die Stufen hinab. Als er dasUnterdeck erreicht, dreht er sich um und

sagt: „Willkommen auf der ‚Tekuma‘, will-kommen auf meinem Spielzeug.“

Er schiebt einen Riegel zurück und öff-net den Kühlschrank. Zucchini lagerndort, eine Palette Joghurtbecher und eineZwei-Liter-Flasche Cola light. Die „Teku-ma“ ist erst im Morgengrauen von einergeheimen Mission zurückgekehrt.

Der Marineoffizier, dessen Namen dieMilitärzensur unter Verschluss hält, führtdie Besucher vorbei an ein paar Kojen,entlang an Gestängen aus Stahl. Die Luftriecht verbraucht wie im Wohnzimmereiner Männer-WG. Mitschiffs weitet sich

der Gang zu einer Kommandozentrale,deren Arbeitsplätze um ein Periskopgruppiert sind. Der Seemann bleibt ste-hen und zeigt auf eine Reihe von Bild-schirmen, neben denen Firmenschildervon Siemens und von der Bremer Elek-tronikschmiede Atlas angeschraubt sind.

„Combat Information Center“ nennendie Israelis die Kommandozentrale, sieist das Herzstück des U-Boots, in demsämtliche Informationen zusammenlau-fen und alle Operationen geleitet werden.Von zwei Ledersesseln aus wird das Schiffgesteuert, es sieht aus wie im Cockpit ei-

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ZIV KOREN / POLARIS / LAIF

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Die Geheimwaffe Deutsche U-Boote für Israel

„Dolphin“-Klasse

Länge: 57,3 m Breite: 6,8m Höhe: 12 ,7 m (mit Turm)

Drei U-Boote dieses Typswurden 1999 und 2000 an Israel ausgeliefert, damals noch mit einem konventionellen diesel-elektrischen Antrieb.

Dieselmotoren und Generatoren

Akkus

Akkus

ElektromotorAntriebsstrang

Kommando-zentrale

Technischer Leitstand, Maschinen-kontrollraum

Brennstoffzellenanlage zur direkten Gewinnung elektrischer Energie aus Wasserstoff und Sauerstoff

Tanks mit Wasserstoff und Sauerstoff

Mannschaftsräume, Kombüse, Speiseraum, Duschen, Toiletten

Waffenkammer für Torpedos,Marschflugkörper und Seeminen

Periskope und Antennen

nes Kleinflugzeugs. Ein rot leuchtendesDisplay zeigt an, dass der Kiel derzeit7,15 Meter unter dem Meeresspiegel liegt.

„Das alles ist in Deutschland gebautworden, nach israelischen Vorgaben“,sagt der Marineoffizier, „auch die Waf-fensysteme.“ Die „Tekuma“ ist 57 Meterlang und 7 Meter breit, ein in THW-blaugestrichenes Prunkstück an Präzisions -arbeit made in Germany, genauer: Präzi-sionsarbeit, die zum Atomwaffeneinsatzgeeignet ist.

Denn die Unterseeboote bergen tief inihrem Inneren, auf Deck 2 und 3, ein Ge-heimnis, das selbst in Israel nur wenigeEingeweihte kennen: nukleare Spreng-köpfe, klein genug, um auf einen Marsch-flugkörper montiert zu werden, aber ex-plosiv genug, um einen Atomschlag mitverheerenden Folgen auszuführen. DiesesGeheimnis zählt zu den bestgeschütztender modernen Militärhistorie. Wer in Is-rael offen darüber spricht, riskiert einehohe Gefängnisstrafe.

Recherchen des SPIEGEL in Deutsch-land, Israel und den USA, bei noch am-tierenden und ehemaligen Ministern, beibeteiligten Militärs, Rüstungsingenieurensowie Geheimdiensten lassen nun keinenZweifel mehr: Mit Hilfe der maritimenTechnik aus Deutschland ist es Israel ge-lungen, sich ein schwimmendes Atomwaf-fen-Arsenal zuzulegen. Aus U-Bootensind A-Boote geworden.

Nie zuvor durften ausländische Jour-nalisten auf eines der Kampfschiffe stei-

gen. In ungewöhnlicher Offenheit warenhochrangige Politiker und Soldaten desJudenstaates nun aber bereit, über die Be-deutung der deutsch-israelischen Rüs-tungskooperation und über DeutschlandsRolle zu sprechen, wenn auch zumeist un-ter der Bedingung der Anonymität. „AmEnde ist es ganz einfach“, sagt der israe-lische Verteidigungsminister Ehud Barak,„Deutschland hilft, Israels Sicherheit zuverteidigen. Die Deutschen können stolzdarauf sein, die Existenz des Staates Israelfür viele Jahre gesichert zu haben.“

Andererseits lag über der Recherche,soweit sie in Israel stattfand, der Bannder Zensur. Zitate von israelischen Ge-sprächspartnern mussten dem Militärebenso vorgelegt werden wie die Bilderdes Fotografen. Nachfragen nach den nu-klearen Fähigkeiten Israels, an Land oderzu Wasser, sind tabu. Und Deck 2 und 3,dort, wo die Waffen lagern, blieben demBesucher verschlossen.

In der Bundesrepublik ist die militäri-sche Aufbauhilfe bei den U-Booten seitrund 25 Jahren umstritten, sie beschäftig-te Öffentlichkeit und Parlament. DieKanzlerin fürchtet die gesellschaftlicheDebatte – so, wie sie Literaturnobelpreis-träger Günter Grass mit einem israelisch-kritischen Gedicht zuletzt neu entfachte.Angela Merkel besteht auf Geheimhal-tung, sie will nicht, dass Details des Dealspublik werden. Bis heute beharrt die Bun-desregierung darauf, über die Ausrüstungmit Atomwaffen nichts zu wissen.

Doch nun räumen ehemalige deutscheSpitzenbeamte die atomare Dimensionerstmals ein: „Ich bin von vornherein da-von ausgegangen, dass die U-Boote nu-klearfähig sein sollen“, sagt Hans Rühle,Ende der achtziger Jahre Chef des Pla-nungsstabs im deutschen Verteidigungs-ministerium. Auch Lothar Rühl, seiner-zeit Staatssekretär auf der Hardthöhe, hatnie daran gezweifelt, dass „Israel auf denSchiffen Nuklearwaffen stationiert“. UndWolfgang Ruppelt, in der entscheidendenPhase Rüstungschef im Verteidigungsmi-nisterium, gibt an, ihm sei sofort klar ge-wesen, dass die Israelis die Schiffe als„Träger für Waffen wollten, die ein klei-nes Land wie Israel an Land nicht statio-nieren kann“. Noch deutlicher werdendeutsche Spitzenbeamte im Schutz derAnonymität: „Die Boote dienten von An-fang an vornehmlich dem Zweck der nu-klearen Ausrüstung“, sagt ein zuständigerMinisterialer.

Die Flugkörper für die Kernwaffen-Op-tion, so sagen es Insider, sind in der israe-lischen Waffenschmiede Raphael gebautworden. Es handle sich um eine Weiter-entwicklung des Marschflugkörpers vomTyp „Popeye Turbo SLCM“, die eineReichweite von etwa 1500 Kilometern ha-ben sollen und mit einem bis zu 200 Kilo-gramm schweren Gefechtskopf Iran er -reichen könnten. Die nukleare Ladungstammt aus der Negev-Wüste, wo Israelseit den sechziger Jahren in Dimona ei-nen Reaktor und eine unterirdische An-

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Titel

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Zehn Torpedorohre (davon sechs mit Kaliber 533 mm, vier mit Kaliber 650 mm). Statt mit Druckluft werden Torpedos oder Marschflug-körper durch ein Hydrauliksystem hinaus-katapultiert. Ein Abschuss erfolgt dadurch nahezu lautlos.

„Dolphin-II“-Klasse

Ein U-Boot ist noch in Bau, eines in Erprobung, ein drittes wurde vor kurzem bestellt. Dieser Typ ist mit 68m Länge deutlich größer als die Vorgänger. Er verfügt über eine zusätzliche Sektion zur Aufnahme eines Brennstoffzellenantriebs, der die Boote von der Außenluft unabhängig macht und so Tauch-fahrten bis zu mehreren Wochen ermöglicht.

lage zur Plutoniumgewinnung betreibt.Wie ausgereift die israelischen Marsch-flugkörper sind, ist umstritten. Deren Ent-wicklung ist ein komplexes Projekt, öf-fentlich ruchbar wurde nur ein einzigerTest, den die Israelis vor der Küste SriLankas durchgeführt haben sollen.

Die U-Boote sind die militärische Ant-wort auf die Bedrohung in einer Region,„in der es keine Gnade für die Schwachengibt“, wie Verteidigungsminister Baraksagt. Sie sind eine Versicherung gegendie Urangst der Israelis, dass „die Araberuns morgen schlachten könnten“, wie esder Staatsgründer David Ben-Gurion for-mulierte. „Nie wieder“, das war die Leh-re, die Ben-Gurion und andere ausAuschwitz zogen: „Nie wieder lassen wiruns wie Lämmer zur Schlachtbank füh-ren.“

Mit Kernwaffen ausgerüstet, sind dieU-Boote ein Signal an jeden Gegner, dassder Judenstaat selbst im Fall eines ato-maren Angriffs nicht völlig wehrlos wäre,sondern mit der ultimativen Vergeltungs-waffe zurückschlagen könnte. Die U-Boo-te sollten „garantieren, dass der Feindsich nicht verlockt fühlt, präventiv mitnichtkonventionellen Waffen zuzuschla-gen, und doch ungestraft davonkommt“,so hat es der israelische Admiral AvrahamBozer ausgedrückt.

Atomare Zweitschlagskapazität heißtdiese Variante eines Wie-du-mir-so-ich-Dir, in der Hunderttausende Tote mitebenso vielen Opfern vergolten würden.

März 2008 in einer Rede vor der Knessetbekannte? „Das heißt, die Sicherheit Is-raels ist für mich als deutsche Bundes-kanzlerin niemals verhandelbar“, erklär-te Merkel vor den Abgeordneten. DieTücken einer solchen bedingungslosenSolidarität hat der neue BundespräsidentJoachim Gauck bei seinem Antritts -besuch in Jerusalem in der vergangenenWoche angesprochen: „Ich will mir nichtjedes Szenario ausdenken, das die Bun-deskanzlerin in enorme Schwierigkeitenbringt, ihren Satz, dass die Sicherheit Is-raels deutsche Staatsräson ist, politischumzusetzen.“

Für die Bundesregierung gilt von jehereine ungeschriebene Lex Israel, die in-zwischen ein halbes Jahrhundert und alleRegierungswechsel überdauert hat unddie der damalige Bundeskanzler GerhardSchröder 2002 auf den Punkt brachte:„Ich will ganz unmissverständlich sagen:Israel bekommt das, was es für die Auf-rechterhaltung seiner Sicherheit braucht.“

Franz Josef Strauß und der Beginnder Rüstungskooperation

Wer dieser Logik folgt, ist oft auch bereit,das Rüstungsexportrecht zu verletzen.Seit Konrad Adenauer schummelten deut-sche Regierungschefs diverse Militär -

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Staatspräsidenten Peres, Gauck*: Teil der deutschen Staatsräson?

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Regierungschefs Merkel, Netanjahu 2011: „Der hört ohnehin nicht zu“

Es ist eine Strategie, wie sie die USA undRussland im Kalten Krieg praktizierten,indem sie stets einen Teil ihres nuklearenArsenals auf U-Booten in Bereitschafthielten. Für Israel, das so groß wie Hessenist und mit einem atomaren Schlag aus-gelöscht werden kann, ist die Absiche-rung seines Drohpotentials existentiell.Zugleich trägt das nukleare Arsenal dazubei, dass Staaten wie Iran, aber auch Sy-rien und Saudi-Arabien angst- und neid-voll auf die atomaren Kapazitäten Israelsblicken und ihrerseits den Bau von Nu-klearwaffen erwägen.

Umso mehr stellt sich für die Bundes-republik die Frage nach ihrer weltpoliti-schen Verantwortung. Darf Deutschland,das Land der Täter, Israel, dem Land derOpfer, beim Aufbau einer Atomwaffen-streitmacht helfen, die geeignet ist, Hun-derttausende Menschenleben auszulö-schen?

Fördert Berlin fahrlässig ein Wettrüstenin Nahost? Oder muss Deutschland viel-leicht sogar, als historische Verpflichtungaus den Verbrechen der Nationalsozialis-ten, eine Verantwortung übernehmen, die„Teil der Staatsräson“ geworden ist, wiedie Bundeskanzlerin Angela Merkel im

* Vergangene Woche beim Besuch der Holocaust-Ge-denkstätte Jad Vaschem in Jerusalem.

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geschäfte mit Israel am Parlament vorbei,hielten den zuständigen Bundessicher-heitsrat außen vor oder brachten, wie derdamalige Verteidigungsminister Franz Jo-sef Strauß (CSU), explosives Gerät schonmal persönlich vorbei. So geschehen An-fang der sechziger Jahre, als Strauß miteiner Limousine bei der israelischen Mis-sion in Köln vorfuhr und einem Verbin-dungsoffizier des Mossad einen in einenMantel eingewickelten Gegenstand über-reichte, „für die Boys in Tel Aviv“. Es wardas neue Modell einer Panzergranate.

Heikel war die Rüstungskooperationunter jedem Kanzler. So fürchtete Bonnwährend des Kalten Krieges, es könnedie arabische Welt an die DDR verlieren,wenn es offen mit Israel paktierte. Spä -ter kam die Angst um das arabische Ölda zu, den Schmierstoff des Wirtschafts -wunders.

Auch für die jeweilige Regierung in Je-rusalem barg die Zusammenarbeit Bri-sanz. Ob und in welcher Weise der Ju-

denstaat die Hilfe Deutschlands akzep-tieren sollte, war in der israelischen Öf-fentlichkeit umstritten. Der spätere Pre-mierminister Menachem Begin etwa, derdurch den Holocaust einen Großteil sei-ner Familie verloren hatte, sah in der Bun-desrepublik nur das „Land der Mörder“.Bis heute laufen die Finanzhilfen für Is-rael in den meisten Fällen unter dem Be-griff „Wiedergutmachung“.

Umso problematischer war eine Koope-ration in Rüstungsfragen. Sie begann zuZeiten von Strauß, der früh erkannte,dass Hilfe für Israel nicht nur ein morali-scher Imperativ war, sondern realpoliti-scher Notwendigkeit entsprang. Niemandkonnte dem neuen Deutschland besserzu Ansehen verhelfen als die Überleben-den des Holocaust.

Und so traf sich Strauß im Dezember1957 in seinem Privathaus bei Rosenheimzu einem Gespräch mit einer kleinen is-raelischen Delegation. ProminentestesMitglied auf der Seite der aus Israel An-

gereisten war der Mann, der über die fol-genden Jahrzehnte zur Schlüsselfigur derWaffengeschäfte mit der Bundesrepublikwurde und auch zum Vater der israeli-schen Atombombe: Schimon Peres, spä-ter Premier – und mit 88 Jahren Israelsaktueller Präsident.

Heute weiß man, dass die Waffenliefe-rungen spätestens 1958 begannen. Derdeutsche Verteidigungsminister ließ heim-lich sogar Waffen und Gerät aus Depotsder Bundeswehr wegschaffen und an-schließend das Material bei der Polizeials gestohlen melden.

Viele der Zusendungen erreichten Is-rael auf Umwegen und waren als „Leih-gaben“ deklariert. Es handelte sich umSikorsky-Hubschrauber, Noratlas-Trans-portflugzeuge, umgebaute M48-Panzer,Flugabwehrgeschütze, Haubitzen, lenk-bare Panzerabwehrraketen.

Für die Lieferungen gebe es „keine kla-re gesetzliche oder haushaltsrechtlicheGrundlage“, räumte ein Beamter seiner-zeit intern ein. Doch Adenauer deckteseinen Minister, und wie richtig dieser inseiner Einschätzung lag, zeigte sich 1967,als Israel einem Angriff seiner Nachbarnzuvorkam und im Sechs-Tage-Krieg einenglänzenden Sieg errang. Strauß-FreundPeres erinnerte seine Landsleute fortandaran, dass sie nicht vergessen dürften,„womit wir gewonnen haben“.

Dass die deutsche Sicherheitsgarantiekeine Frage der Parteipolitik war, zeigtesich sechs Jahre später, als in Bonn inzwi-schen der Sozialdemokrat Willy Brandtregierte – und Israel im Jom-Kippur-Krieg1973 an den Rand einer Niederlage geriet.Obwohl sich die Bundesrepublik offiziellaus dem Krieg heraushielt, genehmigteder Kanzler persönlich Waffenlieferun-gen an Jerusalem, wie Brandt-Biograf Pe-ter Merseburger berichtete. Brandts Ent-scheidung war nach den Erinnerungenvon Beteiligten ein „Rechtsbruch“, denBrandts Redenschreiber Klaus Harpp-recht mit übergesetzlichem Notstandrechtfertigte. Der Kanzler habe es als „do-minierende Pflicht des deutschen Regie-rungschefs“ gesehen, jenen Staat zu ret-ten, den die Holocaust-Überlebenden auf-gebaut hatten.

Finanzierte die Bundesregierung das

israelische Atomprogramm?

In den sechziger Jahren war Israel längstnicht mehr nur an konventionellemKriegsgerät interessiert. Schon Ben-Gu-rion hatte Peres ein besonders sensiblesProjekt anvertraut: Operation „Samson“,benannt nach der biblischen Figur, die zuZeiten gelebt haben soll, als die Israelitendurch die Philister unterdrückt wurden;jener Samson galt im Kampf als unbesieg-bar, aber auch als zerstörerisch. Ziel derOperation: der Bau der Atombombe. Ge-genüber den Verbündeten behaupteten

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Gesprächspartner Strauß, Ben-Gurion 1963: Panzergranaten „für die Boys in Tel Aviv“

Vermerk über Treffen zwischen Strauß und Ben-Gurion 1961: Bonner Mitwisserschaft

Titel

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die Israelis, sie benötigten billigen Atom-strom, um Meerwasser zu entsalzen. Mitdem Wasser wolle man die Negev-Wüstefruchtbar machen.

Auch die Bundesregierung wurde zu-nächst im Unklaren gelassen – wohl bisauf Franz Josef Strauß. Der CSU-Mannwar offenbar 1961 eingeweiht worden.Das legt ein als „streng geheim“ einge-stufter Vermerk vom 12. Juni 1961 nahe,den Strauß nach einem Treffen mit Peresund Ben-Gurion in Paris diktierte: „Ben-Gurion ist auf die Produktion atomarerWaffen zu sprechen gekommen.“

Über die Gründe des aus Polen stam-menden israelischen Sozialdemokraten,ausgerechnet den bayerischen Konserva-tiven ins Bild zu setzen, kann man nurspekulieren. Manches spricht dafür, dassJerusalem auf finanzielle Hilfe für dieOperation „Samson“ hoffte.

Israel war damals klamm, der Bau derBombe verschlang enorme Summen, undBen-Gurion verhandelte mit Adenauerunter größter Geheimhaltung über einenMilliardenkredit. Den deutschen Ver-handlungsunterlagen zufolge, die nun dieBundesregierung auf Antrag des SPIE-GEL freigegeben hat, wollte Ben-Guriondas Geld ausgerechnet für eine Infrastruk-turmaßnahme in der Negev-Wüste einset-zen. Auch von einer „Meerwasser-Entsal-zungsanlage“ war die Rede.

Pläne für eine solche atombetriebenezivile Anlage gab es tatsächlich. Und dieEntwicklung der Negev-Wüste war einesder größten Projekte in der kurzen Ge-schichte Israels. Als der Unionsfraktions-vorsitzende Rainer Barzel in Jerusalemnachfragte, erklärten die Israelis, Wasser-gewinnung durch Entsalzung sei eine„epochale Aufgabe“. Barzels Begleiter no-tierte: „Die erforderliche Atomkraft wer-de international kontrolliert und nicht mi-litärisch nutzbar sein. Wir könnten da un-besorgt sein.“

Aber eine atomar betriebene Entsal-zungsanlage wurde nie gebaut, und wasgenau mit den insgesamt 630 MillionenMark aus Deutschland passierte, die bis1965 überwiesen wurden, ist unklar. DieZahlungen liefen über die Kreditanstaltfür Wiederaufbau in Frankfurt, derenChef intern erklärte, die Verwendung derMittel sei „niemals geprüft“ worden. „Al-les spricht dafür, dass die israelische Bom-be auch mit deutschen Geldern finanziertwurde“, glaubt Avner Cohen, israelischerNuklearhistoriker am Monterey Instituteof International Studies in Kalifornien.

1967 hatte Israel wohl seine erste Kern-waffe zusammengebaut. Fragen zu sei-nem atomaren Arsenal speiste Jerusa -lem mit einer Standardformel ab, die auf Peres zurückgeht: „Wir werden nichtdie Ersten sein, die im Nahen OstenAtomwaffen einführen.“ Diese bewusstschwammig gehaltene Formulierung istbis heute offizielle Sprachregelung.

Gegenüber dem deutschen Verbünde-ten wählten die Politiker hingegen eineAusdrucksweise, die den wahren Sach-verhalt kaum verschleierte. Als imHerbst 1977 der legendäre frühere Ver-teidigungsminister Mosche Dajan nachBonn kam, erzählte er Kanzler HelmutSchmidt von der Angst des ägyptischenNachbarn, „dass Israel möglicherweiseAtomwaffen benutzen könne“. Dajanzeigte Verständnis für die Ägypter, einEinsatz der Bombe gegen den Assuan-Staudamm würde auch nach seiner Ein-schätzung „verheerende Folgen“ haben.Die Existenz einer Kernwaffe dementier-te er gar nicht erst.

Die ersten U-Boote werden

heimlich in England montiert

Wer aber die Bombe hat, der sucht auchnach einem sicheren Lagerungsort undeiner sicheren Abschussrampe. Nach ei-nem U-Boot zum Beispiel.

Als erste Bundeskanzler sahen sichBrandt und Schmidt in den siebziger Jah-ren mit dem dringenden Wunsch der Is-raelis nach U-Booten konfrontiert. DreiSchiffe sollten in Großbritannien nachdeutschen Plänen gebaut werden, die dasIndustriekontor Lübeck (IKL) erstellte.Die Ausfuhr der Unterlagen erfordertejedoch eine Exportgenehmigung, und umdiese zu umgehen, vereinbarte IKL mitdem Verteidigungsministerium, die Zeich-nungen gleich auf dem Geschäftspapiereiner britischen Werft zu fertigen und miteiner Maschine der Briten ins englischeBarrow fliegen zu lassen, wo die Schiffezusammengesetzt wurden.

Längst ging es bei der deutsch-israeli-schen Rüstungskooperation nicht mehrnur um die Sicherheit Israels, es war zu-gleich ein Bombengeschäft für die bun-desrepublikanische Industrie.

1977 lief das letzte dieser ersten dreiU-Boote in Haifa ein. An die nukleareZweitschlagskapazität dachte damals nie-

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Militärführer Dajan (r.) im Sechs-Tage-Krieg 1967: Sieg mit deutschen Waffen

Vermerke über Gespräch zwischen Schmidt und Dajan 1977: „Verheerende Folgen“

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mand; erst als Anfang der achtziger Jahremehr und mehr israelische Offiziere vonUS-Militärakademien zurückkehrten undvon den amerikanischen U-Bootenschwärmten, begann die Diskussion übereine Modernisierung der israelischen Flot-te – und die nukleare Option.

Zu jener Zeit tobte ein Machtkampf inder israelischen Armee. Zwei Planungs-teams entwickelten unterschiedliche Stra-tegien für die Marine. Die eine Fraktionplädierte für neue, größere Raketenkor-vetten des Typs „Saar“, die zweite fürden Kauf von U-Booten. Israel sei „einekleine Insel, auf die 97 Prozent aller Gü-ter über das Wasser gelangen“, sagt AmiAjalon, seinerzeit stellvertretender Chefder Marine und späterer Leiter des In-landsgeheimdienstes Schin Bet.

Schon damals zeichnete sich laut Aja-lon ab, „dass im Nahen Osten Kurs inRichtung Atombewaffnung genommenwurde“, vor allem im Irak. Dass arabischeStaaten sich ernsthaft für den Bau vonKernwaffen interessieren, habe IsraelsVerteidigungsdoktrin verändert. „Ein U-Boot kann als taktische Waffe für ver-schiedene Missionen eingesetzt werden,aber im Zentrum unserer Diskussionenin den achtziger Jahren stand die Frage,ob die Marine eine zusätzliche Aufgabeerhalten sollte: die sogenannte strategi-

sche Tiefe“, sagt Ajalon. „Für das Landwar der Kauf der U-Boote die wichtigstestrategische Entscheidung.“

Strategische Tiefe. Oder: nukleareZweitschlagskapazität.

Am Ende der Debatte benannte dieMarine neun Korvetten und drei U-Booteals Bedarf – „eine größenwahnsinnigeForderung“, wie der später zum Navy-Chef aufgestiegene Ajalon heute zugibt.Doch die Marinestrategen hätten die Hoff-nung auf ein haushalterisches Wunder ge-habt.

Oder die Hoffnung auf einen reichenGönner, der bereit war, ein paar U-Bootezu verschenken.

Kohl und Rabin machen Israel zu

einer modernen U-Boot-Macht

Die beiden Männer, die Israel schließlichin den Kreis der modernen U-Boot-Mäch-te katapultierten, waren Helmut Kohlund Jizchak Rabin. Rabins Vater hatteschon im Ersten Weltkrieg als Freiwilligerin der Jüdischen Legion der britischenArmee gekämpft, er selbst führte die is-raelische Armee 1967 im Sechs-Tage-Krieg als Stabschef zum Sieg. Nach einerersten Amtszeit als Regierungschef Mitteder siebziger Jahre wechselte er 1984 alsVerteidigungsminister ins Kabinett.

Rabin wusste, dass in Bonn erst 1982neue „Politische Grundsätze“ für denWaffenexport eingeführt worden waren.Danach durften Lieferungen „nicht zu ei-ner Erhöhung der bestehenden Spannun-gen beitragen“. U-Boote für Israel ermög-lichte diese wachsweiche Formulierungallemal – zumal der alte Genscher-Satzgalt: „Alles, was schwimmt, geht“, weilvon Booten aus gemeinhin nicht aufDemon stranten oder Oppositionelle ge-schossen wird.

Den Deutschen hatten die Alliiertennach dem Zweiten Weltkrieg zunächstuntersagt, große Unterseeschiffe zu bau-en, und so hatte sich der Hoflieferant derdeutschen Marine, die Howaldtswerke-Deutsche Werft AG in Kiel, auf kleine,manövrierfähige Boote verlegt, die auchin der Ost- und Nordsee operieren konn-ten. Die Israelis suchten Schiffe, die inähnlich flachen Gewässern navigierenkonnten, entlang der libanesischen Küstezum Beispiel, wo es darum geht, auf See-rohrtiefe zu liegen, den Funkverkehr mit-zuhören und die Geräusche von Schiffs-schrauben mit einer bordeigenen Daten-bank zu vergleichen. Die Israelis holtenAngebote aus den USA, Großbritannienund den Niederlanden ein, aber „diedeutschen Boote waren die besten“, sagtein an der Entscheidung beteiligter Israeli.

Wenige Wochen nach dem Mauerfall1989 gab die Bundesregierung – von derÖffentlichkeit fast unbemerkt – grünesLicht für den Bau von zwei „Dolphins“,mit Option auf ein drittes Boot.

Beinahe wäre der strategische Jahrhun-dert-Deal dann doch noch geplatzt. Zwarhatten die Deutschen zugesagt, einen Teilder Kosten zu finanzieren, davon aberexplizit die Waffensysteme ausgenom-men; ein weiterer Zuschuss sollte aus denUSA kommen. Aber in der Zwischenzeithatten die Israelis eine neue Regierunggewählt, die erbittert über die Investitio-nen stritt.

Vor allem der im Juni 1990 ernannteVerteidigungsminister Mosche Arens be-kämpfte den Vertrag – erfolgreich: DieIsraelis teilten der Werft in Kiel am 30.November 1990 mit, dass sie von demKontrakt zurücktreten wollten.

Der Traum von der nuklearen Zweit-schlagskapazität: perdu? Mitnichten.

Im Januar 1991 griffen die US-Luft-streitkräfte den Irak an, und Saddam rea-gierte, indem er modifizierte „Scud“-Ra-keten auf Tel Aviv und Haifa schießenließ. Knapp sechs Wochen lang dauerteder Beschuss. Gasmasken, die zum Teilaus Deutschland stammten, wurden andie Haushalte verteilt. „Es war ein un-fassbares Szenario“, erinnert sich der heu-tige Verteidigungsminister Barak. In je-nen Tagen seien jüdische Immigrantenaus Russland in Israel eingetroffen, „de-nen wir noch auf dem Flughafen Gasmas-ken in die Hand drücken mussten, um sie

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Irakischer Raketenangriff auf Tel Aviv 1991: Mobilmachung der Atomwaffen

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Außenminister Genscher (M.) in Tel Aviv 1991: „Alles, was schwimmt, geht“

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vor Raketen zu schützen, die der Irak mitHilfe der Russen und der Deutschen ge-baut hatte“.

Ein paar Tage nach Beginn des „Scud“-Bombardements bat im Kanzleramt eindeutscher Militär um einen Termin, legteeinen geheimen Auswertebericht vor undpräsentierte den Inhalt eines Beutels. Aufdem Tisch breitete er Dutzende Elektro-nikteile aus, Bestandteile des Steuerungs-werks und des Aufschlagzünders der mo-difizierten „Scud“-Raketen, die eines ein-te: Sie waren made in Germany. Ohnedeutsche Technologie keine „Scud“, ohne„Scud“ keine toten Israelis.

Deutschland trug wieder einmal eineMitschuld, das war auch die Botschaft,die Hanan Alon bei einer Bonn-Visitekurz nach Kriegsbeginn gegenüber Kohlvorbrachte: „Es wäre sehr unerfreulich,wenn über die Medien herauskommenwürde, dass Deutschland dem Irak gehol-fen hat, Giftgas herzustellen, um uns an-schließend Ausrüstung dagegen zu liefern,Herr Bundeskanzler“, so der hochrangigeMitarbeiter des Verteidigungsministeri-ums. Alon soll, so berichten es israelischeOffizielle, gedroht haben: „Sie wissen ja,dass die Worte Gas und Deutschland zu-sammen nicht sehr gut klingen.“

Die Botschaft saß. „Israel – Deutsch-land – Gas“ habe in der Welt einen „furcht-baren Dreiklang“, warnte AußenministerHans-Dietrich Genscher intern. Am 30.Januar 1991, zwei Wochen nach Beginndes Golfkriegs, sagte die Bundesregierungdie Lieferung von Rüstungsgütern imWert von 1,2 Milliarden Mark zu, darun-ter die komplette Finanzierung von zweiU-Booten mit 880 Millionen Mark. Dashaushalterische Wunder war eingetreten.Israel hatte seinen Gönner gefunden.

Wer ein oder zwei U-Boote ordert, derkauft auch ein drittes, so lautet eine Weis-heit der Militärs. Ein U-Boot liegt zumeistim Dock, die beiden anderen lösen sichbei den Operationen ab. „Nachdem wirdie ersten beiden Boote bestellt hatten,war klar, dass wir in ein Geschäft mit Folge-aufträgen eingestiegen waren“, sagt eindamaliges israelisches Kabinettsmitglied.

An einem Wintertag 1994 landete ge-gen 18 Uhr auf dem militärischen Teil desFlughafens Köln-Bonn eine Maschine derisraelischen Luftwaffe, deren Passagiereüber die Zukunft Israels und des NahenOstens reden wollten. An Bord waren Ra-bin, mittlerweile Premierminister, sein si-cherheitspolitischer Berater sowie Mos-sad-Chef Schabtai Schavit. Die kleine De-legation fuhr zum Kanzlerbungalow, woHelmut Kohl bereits mit seinem außen-politischen Berater Joachim Bitterlichund seinem GeheimdienstkoordinatorBernd Schmidbauer wartete.

An jenem Abend diskutierten Kohlund Rabin den Weg zu einem Frieden imNahen Osten. Gemeinsam mit Jassir Ara-fat und Peres hatte Rabin im selben Jahr

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den Friedensnobelpreis erhalten. Erst-mals seit langer Zeit schien eine Einigungzwischen Juden und Palästinensern mög-lich, mit Deutschland als Mittler.

In Bonn sprach Rabin lange über dasnoch immer schwierige deutsch-israeli-sche Verhältnis. Zum Essen überraschteKohl dann seine Besucher, indem erWeißbier servieren ließ. Die Israelis wa-ren begeistert. „Das Bier schmeckt toll“,lobte Rabin. Das Eis war gebrochen.

An diesem Abend bat der israelischePremier die Deutschen um ein drittes U-Boot. Kohl sagte spontan zu. Gegen Mit-ternacht brachte Schmidbauer Rabin zu-rück zum Flughafen. Kohl, der die Spiel-regeln der Männerfreundschaft in der Po-litik wie kaum ein Zweiter beherrschte,ließ zu Weihnachten 1994 einen KastenWeißbier nach Israel schicken.

Ein paar Monate nach dem Geheimbe-such von Bonn, im Februar 1995, wurdeder Vertrag für U-Boot Nummer drei, die„Tekuma“, unterzeichnet, bei der Deutsch-land 220 Millionen Mark übernahm.

Die gutgeschützten Geheimnisse der

Werft in Kiel

In Kiel wird seitdem nicht nur eines dergeheimsten Rüstungsprojekte der westli-

chen Welt vorangetrieben, es entwickeltesich auch eine spezielle Form der deutsch-israelischen Völkerverständi-gung. Ein halbes Dutzend Israelis arbei-tet bis heute dauerhaft auf der Werft.Zwischen den HDW-Technikern und ih-ren Angehörigen sowie den israelischenFamilien sind teils enge Freundschaftenentstanden, gemeinsam werden Feste gefeiert. Bei aller Sympathie achten dieIsraelis jedoch stets dar auf, dass kein Außenstehender an die Boote herandarf.Selbst Managern von ThyssenKrupp, dasHDW 2005 übernommen hatte, wird derZutritt verwehrt. „Das Hauptziel allerBeteiligter war es, dass es keine öffent -liche Debatte über das Projekt gab, we-der in Israel noch in Deutschland“, sagtEx-Marine-Chef Ajalon. Deshalb liegt bisheute ein Schleier der Geheimhaltungüber allem, auch, was die Ausrüstung derSchiffe betrifft.

Zu den Besonderheiten zählt die spe-zielle Ausstattung der nach dem erstenSchiff benannten „Dolphin“-Klasse. An-ders als herkömmliche U-Boote verfügendie „Dolphins“ im stählernen Bug nichtnur über Torpedorohre von 533 Millime-tern Durchmesser. Auf speziellen Wunschder Israelis entwarfen die HDW-Techni-ker vier zusätzliche Rohre, die 650 Milli-

meter breit sind – eine Sonderkonstruk-tion, wie sie auf keinem anderen U-Bootder westlichen Welt zum Einsatz kommt.

Welchem Zweck dienen die großenRohre? In einem vertraulichen Vermerkvon 2006 argumentiert die Bundesregie-rung, diese Rohre seien eine „Op tion zurVerbringung von Spezialkräften und derdruckfesten Stauung von deren Ausrüs-tung“ – Kampfschwimmern zum Bei-spiel –, die durch den schmalen Schachtfür geheime Kommandoaktionen ausge-schleust werden können. So begründenes auch die Israelis.

Vor allem in den USA wird hingegenseit langem darüber spekuliert, ob diebreiteren Schächte für atomar bestückteMarschflugkörper gedacht sein könnten.Genährt wurde der Verdacht durch eineAnfrage der Israelis im Jahr 2000 nachCruise Missiles des Typs „Tomahawk“.Diese haben eine Reichweite von über1600 Kilometern, Nuklearversionen flie-gen sogar rund 2500 Kilometer weit. Wa-shington lehnte diesen Wunsch allerdingszweimal ab. Deshalb sind die Israelis bisheute auf selbstentwickelte Marschflug-körper angewiesen – zum Beispiel „Pop -eye Turbo“. Dessen Einsatz als nukleareTrägerwaffe ist in den „Dolphins“ ohneweiteres möglich.

Anders als öffentlich angenommen, hatHDW die israelischen U-Boote statt miteinem Druckluft- mit einem neuartig ent-wickelten hydraulischen Ausstoßsystemausgestattet. Dabei wird Wasser mit Hilfeeines Hydraulikkolbens komprimiert unddie Waffe anschließend mit dem dabeientstandenen Druck aus dem Schacht ka-tapultiert.

Die Wucht, die dadurch entsteht, ist al-lerdings begrenzt, sie reicht nicht, um einedrei bis fünf Tonnen schwere Mittelstre-ckenrakete aus dem Boot zu jagen, so sa-gen es jedenfalls Insider. Anders sei es beileichteren Flugkörpern mit einem Gewichtvon bis zu 1,5 Tonnen wie „Popeye Turbo“oder auch der „Tomahawk“, die samtAtomsprengkopf ebenso viel wiegt.

Manches spricht daher dafür, dass dieIsraelis sich mit den erweiterten Rohrendie Option auf künftige voluminösereEntwicklungen offenhalten wollen.

Die Deutschen und die A-Frage:

keine Fragen, keine Probleme

Die Deutschen wollen davon nichts wissen,sie wollen, dass die A-Boote offiziell U-Boote bleiben. „Jedem von uns war un-ausgesprochen bewusst, dass die Booteauf die Bedürfnisse der Israelis zugeschnit-ten wurden und dass das auch nukleareFähigkeiten umfassen konnte“, sagt einwährend der Kohl-Ära beteiligter deut-scher Spitzenbeamter, „aber es gibt in derPolitik Fragen, die man besser nicht stellt,weil die Antwort ein Problem wäre.“ Undbis heute erklären Genscher und auch der

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Taufe der „Tekuma“ in Kiel 1998: Revolutionäre Technik durch Brennstoffzellen

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Gesprächspartner Rabin, Kohl 1995: Nach den Spielregeln einer Männerfreundschaft

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ehemalige Verteidigungsminister VolkerRühe (CDU), sie glaubten nicht, dass Israeldie U-Boote nuklear bestückt habe.

Militärexperten der Bundeswehr zwei-feln wiederum nicht an der Atomwaffen-fähigkeit, sie bezweifeln aber, ob sich aufder Basis der „Popeye Turbo“ Marsch-flugkörper entwickeln lassen, die 1500 Ki-lometer weit fliegen können.

Manche Rüstungsfachleute vermutendaher, dass die israelische Regierung bluf-fe – Iran solle glauben, dass der Juden-staat bereits über eine Zweitschlagskapa-zität zur See verfüge. Schon das würdeTeheran zwingen, große Ressourcen zurAbwehr zu mobilisieren. Der Erste, deröffentlich Verdacht schöpfte, dass dieBundesrepublik Israels atomare Aufrüs-tung beförderte, war Norbert Gansel. ImBundestag erklärte der Kieler Sozialde-mokrat, dass die SPD die Lieferungenvon „für nukleare Missionen geeigneteU-Boote“ an Israel ablehne.

Mindestens einen Vorstoß hat die Bun-desregierung immerhin unternommen,um die A-Frage zu klären. Das war 1988,als Verteidigungsstaatssekretär LotharRühl während eines Besuchs in Israel beidem damaligen stellvertretenden Gene-ralstabschef Ehud Barak nachfragte, wasder „operative und strategische Sinn derBoote“ sei. Baraks Antwort: „Wir brau-chen sie für die maritime Vorfeld -sicherung.“ Der Israeli verwies auf dieägyptische Seeblockade im Golf von Aka-ba vor dem Sechs-Tage-Krieg. Gegen soeinen Schritt wolle man gewappnet sein.Das klang plausibel, geglaubt hat Rühl esihm nicht.

Der Brisanz des Themas war sich bis-lang jede Bundesregierung bewusst. Alsdas Bundesfinanzministerium 2006 dieMittel für die Finanzierung der U-BooteNummer 4 und 5 anmelden musste, wan-den sich die Ministerialen spürbar. Dasvorgesehene Waffensystem sei „für dieVerwendung nuklear bestückter Flugkör-per nicht tauglich. Die U-Boote werdendamit nicht für den Verschuss von Nukle-arwaffen gebaut und ausgerüstet“, heißtes in einem als Verschlusssache eingestuf-

ten Vermerk von FinanzstaatssekretärKarl Diller an den Haushaltsausschussdes Bundestags vom 29. August 2006.

Frei übersetzt heißt das: Ausgeliefertwird ein konventionelles U-Boot, was dieIsraelis damit machen, ist ihre Sache. DieBundesregierung, so hatte es schon 1999die damalige Staatssekretärin BrigitteSchulte geschrieben, könne „keine Bestü-ckung ausschließen, zu der die Betreiber-marine nach entsprechender Umrüstungin der Lage wäre“.

Krieg um die Bombe: der Konflikt

zwischen Israel und Iran

Seit 2006 hat sich der Konflikt zwischenIsrael und Iran stetig verschärft. Die Ge-fahr eines Krieges ist real. Seit Monatenbereitet Israel die Regierungen der Weltund die internationale Öffentlichkeit aufeine Bombardierung der nuklearen An-lagen von Natans, Fordu und Isfahan mitmodernsten konventionellen, bunkerbre-chenden Waffen vor. PremierministerBenjamin Netanjahu und sein Verteidi-gungsminister Barak sind davon über-zeugt, dass sich das Zeitfenster schließt,in dem ein solcher Angriff effektiv seinkönnte – weil Iran dabei sei, einen großenTeil seiner Nuklearanreicherung tief unterdie Erde zu verlegen.

Günter Grass sieht in den U-Booten,deren „Spezialität darin besteht, allesver-nichtende Sprengköpfe dorthin lenken zukönnen, wo die Existenz einer einzigenAtombombe unbewiesen ist“, den mögli-cherweise entscheidenden Schritt zu ei-ner nuklearen Katastrophe im Iran-Kon-flikt. Weltweit hagelte es Protest. Israelund Iran auf eine Stufe zu stellen sei„nicht geistreich, sondern absurd“, kon-terte Außenminister Guido Westerwelle(FDP). Netanjahu sprach von einem „ab-soluten Skandal“, sein Innenminister ver-bot Grass die Einreise nach Israel.

Aber der Schriftsteller fand auch Zu-stimmung. Grass habe eine wichtige De-batte angestoßen, sagt SPD-Mann Gansel,denn Netanjahus „Schwadronieren überden Präventivkrieg“ gehe an den Nerv

des Völkerrechts. Tatsächlich ist ein Ein-satz der U-Boote in einem Krieg mit Iranunwahrscheinlich, solange Teheran keineAtomraketen besitzt – auch wenn die is-raelische Regierung in der Vergangenheitdie „Samson“-Option mindestens zwei-mal erwogen hat.

Die militärische Lage nach dem Über-raschungsangriff der Ägypter und Syrerwährend des Jom-Kippur-Feiertages 1973war so verzweifelt, dass Ministerpräsiden-tin Golda Meïr – wie man heute aus Ge-heimdienstberichten weiß – ihrem Vertei-digungsminister Mosche Dajan den Befehlerteilte, mehrere Atombomben gefechts-bereit zu machen. Die Kernwaffen wur-den zu Luftwaffeneinheiten transportiert.Kurz bevor die Gefechtsköpfe scharf ge-macht werden sollten, wendete sich je-doch das Blatt auf dem Schlachtfeld. Isra-els Streitkräfte gewannen die Oberhand,die Bomben wanderten zurück in ihre un-terirdischen Bunker.

Und in den ersten Stunden des Golf-kriegs 1991 wurde von einem amerikani-schen Satelliten registriert, dass Israel aufden Beschuss mit irakischen „Scud“-Ra-keten mit der Mobilisierung seiner Atom-streitmacht reagiert hatte. IsraelischeAnalysten hatten fälschlicherweise ange-nommen, die „Scuds“ wären mit Giftgasarmiert. Offen blieb, wie Jerusalem ge-handelt hätte, wenn eine mit Nervengasbestückte „Scud“-Rakete ein Wohnviertelgetroffen hätte.

Wie nahe die Welt heute einem neuenKrieg ist, wissen wohl nur Netanjahu undder iranische Revolutionsführer Ali Cha-menei. Der israelische Premierministerund sein iranischer Gegenspieler hätten„eines gemeinsam“, sagt Walther Stützle,der ehemalige Staatssekretär im Bundes-verteidigungsministerium: „Die Lust amKonflikt. Greift Israel an, schlüpft Iranaus der Täter- in die Opferrolle.“ Ein le-gitimierendes Mandat der Uno werde esfür einen Waffengang nicht geben, Israelwürde zum Rechtsbrecher, argumentiertStützle, der heute bei der Stiftung Wis-senschaft und Politik wirkt. „WahreFreundschaft“, glaubt er, „verlangt, dass

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Iranische Raketenparade in Teheran 2011: „Keine Gnade für die Schwachen“

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die Kanzlerin Netanjahu in den Arm fälltund ihn vom Waffengang abhält. ZurSchutzpflicht Deutschlands gegenüber Is-rael gehört, den jüdischen Staat vor selbst-mörderischen Abenteuern zu bewahren.“

Helmut Schmidt ging – lange vor derGrass-Debatte – noch weiter. „Hier wagtkaum einer, Kritik an Israel zu üben, ausAngst vor dem Vorwurf des Antisemitis-mus“, sagte der Altkanzler im Gesprächmit dem jüdischen US-Historiker FritzStern. Dabei sei Israel ein Staat, „derdurch seine Siedlungspolitik auf derWestbank und länger schon im Gaza-Streifen eine friedliche Lösung praktischunmöglich macht“. Schmidt prangert an,dass sich die Bundeskanzlerin de factoin Geiselhaft begeben habe. „Ich fragemich, ob es aus Nähe zur amerikanischenPolitik geschah oder aus unklaren mora-lischen Motiven, dass Frau Merkel alsKanzlerin 2008 öffentlich gesagt hat, dassDeutschland Verantwortung trage für dieSicherheit des Staates Israel. In meinenAugen eine schwere Übertreibung, dasklingt fast nach einer Art Bündnisver-pflichtung.“

Für Schmidt ist klar, dass Berlin einePolitik der Abenteuer nicht mittragendarf. Er zieht dabei klare Grenzen:„Deutschland hat eine besondere Verant-wortung dafür, dass solche Verbrechenwie der Holocaust sich niemals wieder-holen. Deutschland hat keine Verantwor-tung für Israel.“

Merkel hat das wie ihr VorgängerSchröder, der 2005 noch am letzten Ar-beitstag im Amt die Lieferung der U-Boo-te 4 und 5 genehmigen ließ, von Anfangan anders gesehen. Für die Kanzlerin gabes nie einen Zweifel, dass sie tun würde,was Jerusalem wünscht – auch um denPreis, damit gegen die eigenen Rüstungs-exportrichtlinien zu verstoßen. Das imJahr 2000 unter der rot-grünen Koalitionnovellierte Regelwerk erlaubt zwar bei„besonderen außen- oder sicherheitspoli-tischen Interessen“ die Lieferung vonKriegswaffen in Staaten, die nicht der EUoder der Nato angehören. Aber für Kri-senregionen gibt es eine eindeutige Vor-gabe: Die Lieferung „wird nicht geneh-migt in Länder, die in bewaffnete Ausein -andersetzungen verwickelt sind oder woeine solche droht“. Dazu zählt Israel ohneFrage. Die Kanzlerin hat das ebenso we-nig von dem Deal über U-Boot Nummer6 abgehalten wie Benjamin Netanjahusfehlendes Entgegenkommen.

Der Deal um U-Boot Nummer 6

und nichterfüllte Wünsche

Im August 2009 stellte sich Netanjahu,der wenige Monate zuvor zum Premier-minister (wieder-)gewählte Chef des kon-servativen Likud-Blocks, in Berlin vor.Netanjahu erklärte Merkel, wie wichtigdie U-Boote seien: Wohin ein Israeli auchschaue, im Norden, im Süden und im Os-

ten gebe es kein strategisches Hinterland.Nur der Luftraum und die See seien Puf-ferzonen. „Wir brauchen dieses sechsteBoot“, soll Netanjahu während seinesBerlin-Besuchs nach Angaben von Teil-nehmern gesagt haben – verbunden mitder Bitte, dass Deutschland dafür zahle,wie bislang noch bei jedem der Boote.

Merkel formulierte in ihrer Antwortdrei inhaltliche Wünsche. Die Israelis soll-ten ihre expansive Siedlungspolitik stop-pen, die eingefrorenen Steuergelder derpalästinensischen Autonomiebehördefreigeben und ein Klärwerk im Gaza-Streifen, das Deutschland finanziert, müsse weitergebaut werden dürfen. Ent-scheidend, so die Kanzlerin, sei aber größ-te Verschwiegenheit. Wenn Einzelheitendurchsickerten, sei der Deal nicht zu ma-chen, der Widerstand im Bundestag wür-de zu groß werden. Die Einzelheiten, dar -auf verständigten sich die beiden Regie-rungschefs, sollten Christoph Heusgen so-wie Netanjahus Sicherheitsberater UziArad besprechen.

Arad ist als impulsiver Charakter undHitzkopf bekannt, der kein Problem da-mit hat, die Deutschen zu beschimpfen.Als Merkel im Juli 2009 im Bundestageine Rede gehalten und dabei Israel we-gen der Siedlungspolitik kritisiert hatte,rief Arad im Kanzleramt an und deckteHeusgen mit einer ganzen Salve wüsterBeschwerden ein. Das Telefonat endetemit der Forderung, Merkel solle sich nicht

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Israelisches U-Boot im Einsatz: „Nie wieder lassen wir uns zur Schlachtbank führen“

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die Aussage überliefert, zu Netanjahumüsse man keinen Ton mehr sagen, weiler ohnehin nicht zuhöre.

Aber soll die Bundesregierung deshalbdie U-Boot-Produktion anhalten? Es wäreein Signal an die Israelis, dass Deutsch-land mit seiner Unterstützung auch in-haltliche Forderungen verbindet; aber eskäme auch einer Einschränkung der Soli-darität gleich, was Merkel nicht will.

Die Kanzlerin hat eine Chance ver-passt, mit einem der wenigen Hebel, überdie die deutsche Regierung verfügt, aufdie israelische Regierung Einfluss zu neh-men, die auf palästinensischem Territori-um als Besatzungsmacht auftritt. AnfangMai ist in Kiel das vierte Boot, die „Tanin“, zu Wasser gelassen worden; dieAuslieferung ist für Anfang 2013 geplant.U-Boot Nummer 5 soll 2014 folgen, Num-mer 6 bis 2017.

Für die Israelis sind die neuen Bootebesonders wichtig, weil sie mit einer tech-nischen Revolution ausgerüstet sind: demAntrieb mit Brennstoffzellen, der dieSchiffe noch leiser und ausdauerndermacht. Früher mussten die „Dolphins“nach ein paar Tagen auftauchen, um dieDieselmotoren anzuwerfen und die Bat-terien für die weitere Unterwasserfahrtaufzuladen. Der neue, von der Außenluftunabhängige Antrieb verbessert die Ein-satzmöglichkeiten der Boote enorm: DieZeit für die Unterwasserfahrt wird sichim Vergleich zu der ersten „Dolphin“-Se-rie mindestens vervierfachen; 18 Tageund mehr erlaubt die Brennstoffzelle un-ter Wasser. Der Persische Golf vor IransKüste ist als Operationsgebiet nicht mehrunerreichbar, der Wertarbeit aus Deutsch-land sei Dank.

Im Hafen von Haifa schnurren die Die-selmotoren auf der „Tekuma“, so dassman sich gerade noch unterhalten kann.Draußen auf See, wenn es ernst wird undalle Systeme sauber arbeiten, „hört man

von den Motoren fast nichts mehr“, sagtder zuständige Marineoffizier. Mit 20Knoten und mehr kann die „Tekuma“durchs Wasser pflügen, ein ebenso kraft-volles wie geschmeidiges Raubtier. Aberdie Kunst, sagt der Marinemann, sei dielangsame Fahrt, in der Nähe der feind -lichen Küste, überall dort, wo die israeli-sche Marine im Verborgenen operiert undwo die „Tekuma“ und ihre Schwesterboo-te sich wie auf Zehenspitzen an ihr Zielherantasten.

Der Offizier sieht sein Boot als „einender Orte, an denen Israel verteidigt wird“,er spricht mit fester Stimme, die keinenZweifel lässt, dass er tun wird, was immernötig ist, wenn er sein Heimatland be-droht sieht. „Die israelische Marine hatdieses Boot gebraucht“, sagt er.

Er hat die Debatte um das Gedicht vonGünter Grass verfolgt, er sagt, er sei über-rascht gewesen von der Heftigkeit derDiskussion. Seine Familie stammt ausDeutschland, seine Großeltern entkamendem Holocaust. Sie flohen 1934 aus einemMünchner Vorort, gehörten später zurGründergeneration Israels. „Wir könnendie Vergangenheit nicht vergessen“, sagter, „aber wir können alles tun, einen neu-en Holocaust zu verhindern.“

Der Marineoffizier wird wohl noch lan-ge an Bord eines U-Boots gebraucht. InTel Aviv, Berlin und Kiel reden sie schondavon, dass die Israelis bald die U-Boote7, 8 und 9 bestellen wollen.

RONEN BERGMAN, ERICH FOLLATH, EINAT KEINAN, OTFRIED NASSAUER,

JÖRG SCHMITT, HOLGER STARK, THOMASWIEGOLD, KLAUS WIEGREFE

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Video: Im Inneren des gehei-men Atom-U-Bootes

Für Smartphone-Benutzer:Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“.

nur entschuldigen, sondern die Aussagenzurückziehen.

Dass Arad die Verhandlungen führensollte, verzögerte die Gespräche über dassechste Boot noch einmal. Schließlich batNetanjahu den israelischen Botschafter inBerlin, Joram Ben-Zeev, einzuspringen.

Am 28. November 2011 kehrte Ben-Zeev nach Ende seiner Amtszeit zurücknach Israel. Er stand im Garten seinesHauses in Zahala, einem Vorort von TelAviv, als sein Handy klingelte. Am ande-ren Ende war Jaakov Amidror, Netanja-hus neuer Sicherheitsberater.

„Sitzt du?“, fragte Amidror.„Ich stehe in meinem verwahrlosten

Garten“, antwortete Ben-Zeev.„Netanjahu hat noch eine Bitte“, sagte

Amidror. „Die Deutschen sind bereit,den U-Boot-Deal zu unterschreiben. Dumusst sofort das nächste Flugzeug nachBerlin nehmen.“

Am Ende vereinbarten Ben-Zeev undHeusgen die noch offenen Details am Te-lefon, und am 20. März 2012 wurde derVertrag in der Residenz des israelischenBotschafters in Berlin unterschrieben. Ba-rak, der Verteidigungsminister, war ei-gens eingeflogen, für die deutsche Seiteunterzeichnete Rüdiger Wolf, der Vertei-digungsstaatssekretär. Weil die israelischeRegierung wieder einmal finanzielle Pro-bleme hat, kam ihr die Bundesregierungerneut entgegen. Deutschland zahlt 135Millionen Euro, ein Drittel des Boots, Je-rusalem erhält zudem eine Stundung sei-nes Anteils und muss erst 2015 zahlen.Netanjahu bedankte sich daraufhin artigmit einem handverfassten Schreiben.

Die Enttäuschung im Kanzleramt istdennoch groß. Grund ist die Ignoranz,mit der Netanjahu auf Merkels Anliegenreagierte. Israels Siedlungspolitik schrei-tet unvermindert voran, der Bau des Klär-werks ruht. Nur die Steuermillionen wur-den freigegeben. Von der Kanzlerin ist

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Nach zwei Wochenkommt die ersteMahnung. Nach drei

Wochen die zweite. In dervierten Woche klingelt es ander Tür: der Vattenfall-Mon-teur. Er hat einen schwarzenWerkzeugkoffer unter demArm; nun wird es ernst.Aminta Seck, 39, hat esschon zweimal erlebt. Wennsie dem Mann vom Elektri-zitätswerk jetzt kein Geldgibt, um wenigstens einenTeil seiner Forderung zu be-gleichen, wird er den Stromabklemmen. Dann sitzen sieund ihr dreijähriger SohnLiam in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung wie im finsterenMittelalter: ohne Licht, ohnefunktionierenden Herd undKühlschrank, ohne Fernseh-bild.

Um mehr als zehn Pro-zent ist der Strompreis ge-stiegen, seit die schwarz-gelbe Koalition regiert – dasist zu viel für die arbeitsloseDekorateurin aus dem Ber-liner Bezirk PrenzlauerBerg. „Etwa jeder zehnteHaushalt hat derzeit Proble-me, die steigenden Energie-kosten zu bezahlen“, sagtHolger Krawinkel vom Bun-desverband der Verbrau-cherzentralen.

Rund 200 000 Hartz IV-Empfängern wurde im ver-gangenen Jahr wegen unbezahlter Rech-nungen der Strom gesperrt, so eine Schät-zung des Paritätischen Gesamtverbands.Die Verbraucherzentrale Nordrhein-West-falen geht in einer Hochrechnung sogarvon jährlich etwa 600000 Betroffenen aus.Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozial-verbands VdK, spricht von „Stromarmut“und einer „eklatanten Verletzung sozialerGrundrechte“.

Und die nächste Erhöhung steht bereitsan. „Der Strompreis wird jetzt steigen,das ist ganz klar“, sagt Jochen Homann,Chef der staatlichen Bundesnetzagentur.

Das Bundeswirtschaftsministerium rech-net intern mit drei bis maximal fünf Centpro Kilowattstunde, die in den nächstenzwölf Monaten hinzukommen, um Öko-stromsubventionen und Netzausbau zubezahlen. Eine dreiköpfige Familie würdedemnach mit 105 bis 175 Euro im Jahr zu-sätzlich belastet.

Für Verbraucherschützer und Sozial-verbände steht auch fest, wer für den Anstieg verantwortlich ist: die Bundes-

* Beim Besuch des Netzbetreibers Amprion am vergan-genen Dienstag im rheinischen Pulheim.

regierung selbst. Vor allemder ungebremste Ausbauder hochsubventioniertenPhotovoltaik-Anlagen treibtden Strompreis nach oben,ohne dass damit ein entspre-chender Nutzen für die Ver-sorgung verbunden wäre.Eigentlich wollten Unionund FDP die Solarförderunglängst kürzen. Doch derBundesrat hat das Gesetzeinstweilen blockiert, undes sieht nicht so aus, als wür-den sich die Beteiligtennoch vor der Sommerpauseauf einen Kompromiss ver-ständigen.

Ein Jahr ist es her, dassder Bundestag unter demEindruck der Reaktorkata-strophe im japanischen Fu-kushima den Beschluss fass-te, so schnell wie möglichalle Atomkraftwerke abzu-schalten und möglichstdurch erneuerbare Energienzu ersetzen. Doch über dieKosten des Ausstiegs wirderst jetzt ernsthaft diskutiert.Nach dem Rauswurf ihresUmweltministers NorbertRöttgen hat Bundeskanzle-rin Angela Merkel die Ener-giewende zur Chefsache er-hoben, doch zentrale Fragensind bis heute ungeklärt.Wer finanziert das angebli-che „Gemeinschaftswerk“(Merkel)? Wo verläuft die fi-

nanzielle Belastungsgrenze, wann schlägtdie positive Haltung der Wähler zumAtomausstieg in Frust über steigende Kos-ten um?

„Ich bin wegen der Entwicklung derStrompreise sehr besorgt“, sagt Bundes-wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP)und spricht von einem „Kampf um dieBezahlbarkeit von Energie“. Thomas Ba-reiß, der energiepolitische Koordinatorder CDU/CSU-Bundestagsfraktion, pro-phezeit: „Wir werden eine massive Dis-kussion bekommen, wer die Energiewen-de bezahlt.“

Deutschland

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E N E R G I E W E N D E

AbgeklemmtDas Missmanagement beim Umbau der deutschen Stromversorgung kommt die Verbraucher

teuer zu stehen, die hohen Preise werden zum Armutsrisiko. Hunderttausende sitzen bereits im Dunkeln. Die Bundesregierung fürchtet eine Gerechtigkeitsdebatte.

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Kanzlerin Merkel*: Versprechen wird nicht gehalten

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Mangelnden Gerechtigkeitssinn und so-ziale Kälte will sich die Kanzlerin nichtvorwerfen lassen, schon gar nicht im Jahrvor der Bundestagswahl. Und so machensich führende Köpfe der Koalition Gedan-ken darüber, welches Mittel gegen diesteigenden Strompreise helfen könnte,auch um von den Versäumnissen der ver-gangenen zwölf Monate abzulenken.

Die Liste der Vorschläge reicht von So-zialtarifen für Geringverdiener bis zu ei-nem neuen milliardenschweren Förder-programm für erneuerbare Energien undSpeicherkapazitäten. „Strom darf nichtzum Luxusgut werden“,sagt der neue Umweltminis-ter Peter Altmaier (CDU)und kündigt an, sich bald-möglichst mit den Wohl-fahrtsverbänden zusam-menzusetzen (siehe Inter-view Seite 37).

Abgeordnete von Unionund FDP werben in ihrenFraktionen bereits dafür,die beim Haushaltsstromaufgeschlagene Ökosteuerabzuschaffen. So könne derStrompreis für die Bürgerper Saldo vorerst stabil blei-ben. Andere Parlamenta-rier sind dafür, den Finanz-minister anzugehen. EinZuschuss aus Steuermittelnsoll helfen, die neuenStromtrassen von Nord-nach Süddeutschland zu be-zahlen. Die Konsequenz:Entweder müssten dieStaatsausgaben an andererStelle gekürzt oder dieSteuern erhöht werden.

An einem neuen Finan-zierungsmodell für denÖkostrom arbeitet Bundes-wirtschaftsminister Rösler.Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das die Kos-ten von Solardächern,Windrädern und Biogas -anlagen per Zwangsumlageden Stromkunden auf-drückt, will er am liebstenabschaffen. „Die geplanteKürzung bei den Photovol-taik-Subventionen ist nur ein ersterSchritt“, sagt Rösler.

Zu den Alternativkonzepten, die seineFachleute derzeit duchrechnen, gehörtein Vorschlag der Monopolkommission.Demnach würde die Regierung denStromversorgern künftig eine bestimmteÖkostromquote vorschreiben. Wie dieseQuote erfüllt wird, bliebe jedoch den Unternehmen überlassen. Die Fachleuteglauben, dass die Investoren dann die je-weils kostengünstigste Energietechnik ein-setzen. Für die Stromkunden würde esdadurch billiger. Bei seinem früheren Ka-

binettskollegen Röttgen drang Rösler mitseinen Plänen nie durch; nun hofft er,dass Röttgen-Nachfolger Altmaier der Sa-che aufgeschlossener gegenübersteht.

Der Strompreis-Anstieg ist für die Re-gierenden auch deshalb so blamabel, weilsie bis vor kurzem behaupteten, sie hät-ten die Kosten im Griff. Merkel hatte beiihrer Rede zur Energiewende vor einemJahr im Bundestag eine Art Preisgarantieabgegeben. „Die Unternehmen genausowie die Bürgerinnen und Bürger inDeutschland müssen auch in Zukunft mitbezahlbarem Strom versorgt werden“, so

die Kanzlerin damals. „Die EEG-Umlagesoll nicht über ihre heutige Größenord-nung hinaus steigen.“

Dieses Versprechen wird die Kanzlerinnicht halten können. Im Herbst wird dieBundesnetzagentur eine Zahl verkünden,die um 30 bis 50 Prozent höher ist als derheutige Wert. Statt wie bislang 3,59 Centpro Kilowattstunde Strom, werden dieVerbraucher für die Subventionierungvon Ökostrom dann voraussichtlich zwi-schen 4,7 und 5,3 Cent bezahlen müssen –zuzüglich Mehrwertsteuer. CDU-Energie-experte Bareiß spricht sogar von „womög-

lich über sechs Cent“ pro Kilowattstun-de – das wäre dann ein Aufschlag vonfast 70 Prozent.

Die Hauptursache lässt sich auf deut-schen Dächern besichtigen. Allein die bisEnde 2011 installierten Solaranlagen müs-sen von den Stromkunden in den nächs-ten 20 Jahren mit real 100 Milliarden Eurobezuschusst werden. Und in den erstenMonaten dieses Jahres kamen noch ein-mal mindestens fünf Milliarden Euro anHilfen hinzu.

Doch für viele Geringverdiener undArbeitslose ist die Belastungsgrenze er-

reicht, wie das Beispiel vonAminta Seck aus Prenz -lauer Berg zeigt. Als Allein-erziehende bekommt sievom Amt insgesamt 860Euro pro Monat. Davonsind 40 Euro vor allem fürStrom gedacht, so regelt esdas Gesetz.

In der Realität reicht dasGeld aber nicht aus. Ob-wohl Seck aus ihrer altenWohnung bereits in einekleinere umgezogen ist, feh-len jeden Monat ein paarEuro, die sie am Ende desJahres dann in Summenachzahlen muss. „Im Som-mer komme ich mit demStromgeld hin“, sagt sie,„aber im Winter, wenn esdunkel ist, klappt das ein-fach nicht.“

Ist der Strom einmal ab-geschaltet, wird es für dieBetroffenen schwierig, sichaus der Schuldenfalle zu be-freien. Neben den offenenRechnungen müssen sie biszu 80 Euro dafür zahlen,dass der Strom wieder an-geschaltet wird. „MeineKunden warten mindestenseine Woche darauf, im Ex-tremfall hat es schon bis zuzwei Monaten gedauert“,sagt die Sozialarbeiterin Re-nate Stark, die bei der Ca-ritas in Prenzlauer Bergeine Beratung für säumigeStromkunden anbietet.

Die Folgen der Energiewende machtensich bei ihr bereits bemerkbar. „Früherkam höchstens ein Klient im Monat zumir, weil er seine Stromrechnung nichtbezahlen konnte“ sagt Stark, „heute sindes mindestens 30.“

Umso erstaunlicher ist, wie lässig diePolitiker bislang über die sozialen Folgenihres Projekts hinwegsahen, und zwar inallen Lagern. Während sich Regierungund Opposition monatelang über die Fra-ge zanken konnten, ob Hartz-IV-Empfän-ger nun fünf Euro mehr oder weniger be-kommen sollten, gab es bei den Subven-

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Bau eines Strommastes: Opfer für die Ökowende

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tionen für Solardachbesitzer im Prinzipeine große Koalition.

Alle Parteien wollten irgendwie ökosein. Manche Politiker wussten auch garnicht so genau, wie das System funktio-niert. Der damalige Minister Röttgenetwa war ganz überrascht, als er – ehergegen Ende seiner Amtszeit – davon hör-te, dass Hartz-IV-Empfänger ihre Strom-rechnung von ihrem normalen Satz be-zahlen müssen.

Auch die Oppositionsparteien sahengroßzügig über die skurrile Umvertei-lungswirkung der Ökostromförderunghinweg. Dass der zur Miete wohnende

Geringverdiener über seine Stromrech-nung den Eigenheimbesitzer mit Solar-dach subventioniert, schien die vom grü-nen Zeitgeist erfasste SPD nicht zu stören. Das Geld dient ja der Solarkraft,also einer „guten Sache“, so etwa derSPD-Umweltpolitiker Ulrich Kelber. Dabrauche man sich über die paar Centnicht aufzuregen. Und die Grünen warenohnehin der Auffassung, dass man fürdie „ökologische Transformation der Gesellschaft“ finanzielle Opfer bringenmüsse.

Doch nun scheint die Stimmung zu kip-pen. Den Bürgern wird mehr und mehr

bewusst, dass sie die Hauptlast bei derEnergiewende tragen sollen, währendsich für Industrie und Energiekonzerneein Förder-Dorado auftut. Den gebeutel-ten Stromkunden stehen subventionsver-wöhnte Geschäftemacher wie der Solar-fabrikant Frank Asbeck gegenüber, deres mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetzzum Multimillionär mit Privatschloss,Jagdrevier und Maserati gebracht hat.

Der Unternehmer bekam am Dienstagvergangener Woche gleich einen Terminbeim neuen Umweltminister Altmaier,um diesem seine Sicht der Dinge dar -zulegen. Auch für die am Netzausbau be-teiligten Investoren wird sich die Energie-wende lohnen. Die staatlich garantierteRendite auf ihr Eigenkapital liegt bei etwaneun Prozent; von einer solchen Verzin-sung können Normalsterbliche mit Ries-ter-Rente nur träumen.

„Die Privathaushalte sollen für die plan-lose Energiewende zahlen“, sagt HolgerKrawinkel von der Verbraucherzentrale,„das geht nicht.“ Und Ulrich Schneidervom Paritätischen Gesamtverband kün-digt Proteste an. „Wir können nur dannauf erneuerbare Energien setzen, wennwir die Kosten gerecht verteilen“, soSchneider. „Wer mit der EnergiewendeWahlkampf macht, muss auch erklären,wer sie bezahlen soll.“

ALEXANDER NEUBACHER, CATALINA SCHRÖDER

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Hartz-IV-Empfängerin Seck, Sohn Liam: Jeden Monat fehlen ein paar Euro

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SPIEGEL: Herr Minister, was hat Ihr Vor-gänger Norbert Röttgen falsch gemacht?Altmaier: Ich glaube, er hat viel richtig ge-macht. Er hat versucht, der Umweltpolitikeinen höheren Stellenwert zu verschaffen.Das war nicht leicht, gerade zu Beginnseiner Amtszeit, als die Laufzeit der Kern-kraftwerke erst einmal verlängert wurde.SPIEGEL: Wenn alle so zufrieden mit Rött-gen sind – warum setzt die Kanzlerin dannauf einen Neustart in der Energiewende?Altmaier: Die Kanzlerin hat gesagt, dasswir für die Energiewende neuen Schwungbrauchen. Das ist auch mein Eindruck.Es war richtig, die Energiewende einzu-leiten, aber inzwischen hinken wir an ei-

nigen Stellen, etwa beim Netzausbau, hin-ter unseren Zeitplänen her. Das könnenwir uns nicht leisten. SPIEGEL: Ihre Berufung ändert nichts anden Konstruktionsmängeln der Energie-wende. Nach wie vor gibt es kein Ener-gieministerium und auch keinen Energie-koordinator im Kanzleramt.Altmaier: Die Energiewende ist ein Projekt,bei dem von vielen Seiten politische Füh-rung gefragt ist. Wahr ist aber, dass dasZusammenspiel zwischen unterschiedli-chen Akteuren, zwischen den Ministerienoder zwischen Politik und Wirtschaft, in

* Am vergangenen Freitag.

der Vergangenheit verbesserungsbedürf-tig war. Durch den Wechsel im Amt desUmweltministers besteht jetzt die Chance,solche Blockaden zu überwinden.SPIEGEL: In Ihrer eigenen Partei forderndie ersten Wirtschaftspolitiker schon, dieAtomkraftwerke länger laufen zu lassen,wenn die Energiewende nicht gelingt.Altmaier: Die Energiewende ist akzeptiert,auch beim Wirtschaftsflügel meiner Par-tei. Sie muss jetzt aber auch ein Erfolgwerden. Deshalb ist es meine Aufgabe,die Reibungsverluste der Umweltpolitikmit der Wirtschaft zu verringern.SPIEGEL: Das Umweltressort ist bekanntdafür, sich die Realität schönzurechnen.So geht es davon aus, dass der Stromver-brauch in der Zukunft sinkt. In Wahrheitist die Tendenz eher steigend. Wie wollenSie auf der Grundlage solcher Prognosendie Stromversorgung eines großen Indu -strielandes binnen weniger Jahre kom-plett umstellen?Altmaier: Die Energiewende kann gelin-gen, aber nur, wenn wir von realistischenGrundannahmen ausgehen. In keiner un-serer Broschüren fehlt der Hinweis, dass35 Prozent unseres Stroms bis zum Jahr2020 aus erneuerbaren Energien stammensollen. Ob wir dieses Ziel erreichen undwas wir dafür tun müssen, hängt jedocherkennbar von der Frage ab, wie hochder Stromverbrauch im Jahr 2020 über-haupt sein wird. Nur wer das realistischeinschätzen kann, weiß auch, welcheMaßnahmen er ergreifen muss, um dasZiel zu erreichen. SPIEGEL: Was folgern Sie daraus?Altmaier: Ich habe angeordnet, bis zurSommerpause die Prognosen, mit denenwir bisher arbeiten, zu überprüfen, ins-besondere im Hinblick darauf, was wirbisher erreicht haben und was nicht. Dasgilt für unsere Erwartungen an den künf-tigen Stromverbrauch genauso wie fürdie Einsparszenarien etwa durch mehrEnergieeffizienz. Auch die Ausbauzielebei den erneuerbaren Energien werdenwir uns noch einmal genau ansehen. DieWirtschaft wird nur in den Umbau inves-tieren, wenn sie unsere Ziele und Pro -gnosen für realistisch hält.SPIEGEL: Man hat den Eindruck, die Kanz-lerin habe mit dem verlorenen letztenJahr der Energiewende nichts zu tun.Altmaier: Nur weil es Versäumnisse gab,ist das erste Jahr der Energiewende dochnicht verloren. Der Netzausbau und derAusbau der erneuerbaren Energien wa-ren nicht hinreichend abgestimmt. Dasstimmt. Beim Ausbau der Solarenergiehaben wir unsere Ziele weit übertroffen,bei den Netzen noch lange nicht erreicht.Das hat dazu geführt, dass die Energie invielen Fällen nicht bis zum Verbrauchertransportiert werden kann. SPIEGEL: Die Probleme beim Netzausbaufangen damit an, den Strom von denWindanlagen in der Nordsee an Land zu

Deutschland

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„Strom ist kein Luxusgut“ CDU-Bundesumweltminister Peter Altmaier, 53, über die Fehler

seines Vorgängers Norbert Röttgen, den schleppenden Netzausbau und die Frage, wer den Atomausstieg bezahlen soll

Asse-Besucher Altmaier*

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Lange LeitungenStromnetzbetreiber und dergeplante Ausbau der Stromtrassen

Stromtrasse

Quelle: Netzentwicklungsplan

bringen. Vor allem der Netzbetreiber Ten-net klagt, er könne die nötigen Investi-tionen in Höhe von 15 Milliarden Euronicht stemmen. Muss jetzt der deutscheStaat einspringen? Altmaier: Nun mal langsam. Bevor wirüber gravierende Maßnahmen wie eineStaatsbeteiligung sprechen, möchte ichdaran erinnern, dass Tennet schlicht einevertragliche Verpflichtung zu erfüllen hat.Es gibt aber einen Punkt, wo der Staatunter Umständen helfen kann: bei derFrage des Haftungsrisikos für einen feh-lerhaften oder verspäteten Netzanschluss.Da will ich mit Wirtschaftsminister Phil -ipp Rösler bis zur Sommerpause eine ver-nünftige Lösung auf den Tisch legen.SPIEGEL: Der Boom bei den Solaranlagenführt dazu, dass die Umlage auf dieStromverbraucher von derzeit 3,6 Centpro Kilowattstunde wohl bald auf über 5Cent steigen wird. Eine Durchschnitts -familie muss dann im Jahr etwa 50Euro mehr für den Strom bezahlen,von weiteren Kosten für die Netzeganz abgesehen. Wie wollen Sie einen Anstieg der Stromkosten ver-hindern?Altmaier: Die neuen Zahlen erfahrenwir im Herbst. Davor spekuliereich nicht über steigende Strom-preise. Grundsätzlich war je-doch von Anfang an klar, dassdie Energiewende nicht umsonstzu haben ist. Richtig ist auch,dass es einen Kostendruck gibt,weil wir die Ziele bei der Solar-energie um das Doppelte über-troffen haben. Für installierte Solaranlagen gibt es finanzielle Zu-sagen für 20 Jahre, was den Strom-preis belastet.SPIEGEL: Wie sollen Rentner oder Sozial-hilfeempfänger mit solchen Zusatzkos-ten klarkommen? Bei den Hartz-IV-Re-gelsätzen werden die Preissteigerungennicht automatisch berücksichtigt, und

auch die Rente steigt nicht mit demStrompreis. Altmaier: Über die besondere Situationbei einkommensschwachen Haushaltenwerde ich mit den Wohlfahrtsverbändenreden. Die Belastungen beim Strompreismüssen erträglich bleiben. Der Staat istda gefordert, Hilfen anzubieten. Stromdarf nicht zum Luxusgut werden. Oftfehlt den Menschen aber das Bewusstsein,dass es einfache Einsparmöglichkeitenwie Energiesparlampen gibt.SPIEGEL: Die Wahrheit ist doch eine ande-re. Sozial Schwächere haben oft alte Kühl-

schränke, die viel Strom fressen, und kön-nen sich teure Energiesparlampen nichtleisten. Jetzt sollen sie auch noch mehrfür den Strom zahlen. Die Küchengerätevon gutverdienenden Selbständigen undTop-Beamten dagegen sind meist auf demneuesten Stand. Und einige von ihnenhaben noch Solaranlagen auf dem Dach,mit denen sie Subventionen kassieren.Wird die Energiewende zur neuen sozia-len Frage? Altmaier: Das müssen wir verhindern. SPIEGEL: Die Frage bleibt: Wie wollen Sieverhindern, dass die Strompreise steigen?Altmaier: Grundsätzlich halte ich die Kür-zung der Solarförderung für den richtigenAnsatzpunkt, um steigenden Stromprei-sen wirksam zu begegnen. Die Förderungder Solarenergie mag am Anfang nötiggewesen sein, um den Aufbau der erneu-erbaren Energien in Gang zu bringen.Jetzt geht es darum, den Marktmechanis-men wieder Geltung zu verschaffen. Esdarf keinen unbeherrschbaren Ausbauder Photovoltaik geben. Ich will aberauch, dass es in Deutschland weiter eineSolarindustrie gibt, die auf den Weltmärk-ten eine Chance hat. Deshalb müssen wirnach Lösungen suchen, etwa im Hinblickauf unfaire Wettbewerbspraktiken auslän-discher Anbieter.SPIEGEL: Die steigenden Strompreise sindnur ein Grund für den Unmut über dieEnergiewende. Viele Menschen wehrensich dagegen, dass riesige Stromautobah-nen durch ihre Heimat gebaut werdensollen. Wie wollen Sie das Wutbürger-Problem in den Griff kriegen? Altmaier: Der Volksentscheid über Stutt-gart 21 hat gezeigt, dass beides geht: Mankann die Bürger in einem transparentenVerfahren an der Planung von Großpro-jekten beteiligen – und Großprojekte aufden Weg bringen. Die Energiewendekann nur gelingen, wenn die Stromleitun-gen von Norden nach Süden auch in Ge-genden gebaut werden, wo die Menschendavon unmittelbar keinen Nutzen haben.Der Gesamtnutzen für alle besteht darin,dass die Stromversorgung stabil und be-zahlbar bleibt. Das müssen wir erklären.SPIEGEL: Was halten Sie von der Idee, dieBetroffenen an den Stromtrassen wirt-schaftlich zu beteiligen?Altmaier: Ich bin jetzt seit ungefähr zehnTagen Minister, und in dieser Zeit habeich ungefähr 30 gutgemeinte und attrakti-ve Vorschläge gehört, wie man dieses Pro-blem und andere Probleme lösen kann.Sie haben alle nur einen Haken: Sie füh-ren zu weiteren Belastungen für dieStromkunden. Wir können sie aber nichtendlos strapazieren. Uns ist nicht gehol-fen, wenn die Wutbürger ihren Wider-stand gegen den Trassenausbau einstel-len – und dann die Energiewende wegensteigender Preise nicht mehr akzeptieren.

INTERVIEW: KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN, PETER MÜLLER

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Windpark in der Nordsee: „Die Energiewende ist nicht umsonst zu haben“

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Berlin-Mitte, Admiralspalast: Wosonst E-Gitarren dröhnen, ist jetztder Mensch Frank-Walter Stein -

meier gefragt. „Würden Sie sich persön-lich eine Welt wünschen, in der Bankenkeinen Gewinn machen dürfen?“, fragtihn der Buchautor Richard David Precht.

„Sie als Sozialdemokrat! Von ihrenÜberzeugungen her! Nicht als Realpoliti-ker!“, bohrt er weiter. „Können Sie sichdas vorstellen?“

Donnerstagabend vergangener Woche,Steinmeier und Precht reden mit dem Occupy-Vordenker David Graeber überdie internationale Finanzwelt. „Ach“, win-det sich Steinmeier, „es geht doch nichtdarum, ob ich mir das vorstellen kann.“

„Doch“, raunen Zuhörer in den Sitz-reihen, aber der SPD-Fraktionschef sagt:„Auch in 50 Jahren wird man es noch mitinternationalen Finanzinstitutionen zutun haben, Gefährdungen müssen nunvermieden werden.“ Dünner Applaus.

Steinmeier bleibt Steinmeier, er gibtjenes staatstragende Bild ab, das die Op-position seit Wochen und Monaten vorallem dann zur Schau stellt, wenn es umdie derzeit drängendste, größte politischeFrage geht: die Lösung der europäischenKrise.

Deutschland ist mit seinem Einsatz füreinen harten Sparkurs international zu-nehmend isoliert. Dochstatt das zu nutzen undAngela Merkel im Schul-terschluss mit ihren aus-ländischen Kritikern zuattackieren, haben sichSPD und Grüne bislangan die Seite der Kanzle-rin gestellt.

Währenddessen machtder neue französischePräsident François Hol-lande der deutschen Op-position vor, wie es ge-hen könnte. Mit seinenForderungen nach Euro-Bonds und Wachstums-programmen bedrängt erdie Kanzlerin, währenddie SPD-Führung überEuro-Bonds am liebstennicht mehr reden würde.

Ähnlich zaghaft kom-men die Grünen daher,

auch sie trauen sich nicht, klare Alterna-tiven zur Regierungspolitik zu formulie-ren. Beide Parteiführungen eint die Angstvor dem Volkszorn. Wer vermeintlich fau-len Südländern auch noch Geld hinter-herwerfen will, gerät öffentlich schnell ineine Minderheitenposition.

Doch in beiden Parteien sieht sich dieSpitze gefordert, die Kanzlerin in derEuro-Frage unter Druck zu setzen. Beiden Grünen wird der Wunsch nach einemParteitag laut, der Alternativen zu Mer-kels Euro-Politik debattieren soll. Undbei den Sozialdemokraten wird inzwi-schen flügelübergreifend eine Kurskor-rektur gefordert. „Ich bin dafür, dass dieSPD sich proeuropäisch aufstellt“, sagtetwa der baden-württembergische SPD-Wirtschafts- und Finanzminister NilsSchmid, „damit grenzen wir uns von derBundesregierung ab.“

Schmid ist beileibe niemand, der zumlinken Rebellentum neigen würde. Dasssich nun einer wie er zu Wort meldet,zeigt, wie ernst die Lage ist. Bis weit inden rechten Parteiflügel hinein suchendie Genossen nach Alternativen zu Mer-kels Euro-Kurs, aus inhaltlichen, aberauch aus strategischen Gründen. Es gehtum den bevorstehenden Bundestags -wahlkampf und die Frage, ob sich diedeutsche Opposition stärker an Meinungs-

umfragen oder den Po -sitionen ihrer europäi-schen Schwesterparteienorientieren sollte.

Michael Roth hat dazueine klare Meinung. Es istder Donnerstag vergange-ner Woche, der europapo-litische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion war-tet in Madrid auf seinenRückflug, hinter ihm liegtein politischer Kurzbe-such. „Wenn man schlech-te Laune hat, sollte mannicht hierher fahren“, sagtder Generalsekretär derHessen-SPD am Telefon.„Die wird hier garantiertnoch schlechter.“

Roth hat mit Vertreternder spanischen Sozialis-ten gesprochen, einerSchwesterpartei der SPD.

Doch wenn er über seine eigene Parteispricht, klingt er kein bisschen fröhlicher.

„Offenbar haben wir vor François Hol-lande noch mehr Angst als vor AngelaMerkel“, sagt Roth. „Anders kann ich esmir nicht erklären, dass wir momentanwieder ständig betonen, wie gut wir diedeutschen Interessen wahren, statt für ei-nen solidarischen Weg aus der Krise fürganz Europa zu werben“, so der Abge-ordnete. „Da sind wir Frau Merkel or-dentlich auf den Leim gegangen.“

Was er meint: Statt Alternativen zurPolitik der Bundesregierung zu formulie-ren, sei die SPD ängstlich darauf bedacht,nur ja nicht als „Vaterlandsverräter“ ab-gestempelt zu werden. An den Stamm -tischen der Republik würde das verhee-rend wirken, und dort wird eben auchSPD gewählt.

Entsprechend groß ist die Angst derParteispitze vor den eigenen Wählern,etwa beim Thema Euro-Bonds. „Die fan-den wir erst recht vernünftig, wenn siean Bedingungen geknüpft sind“, sagtRoth. „Aber dann haben einige unsererLeute plötzlich kalte Füße bekommen.“

Tatsächlich gab es vor nicht einmal ei-nem Jahr kaum ein Interview der SPD-Spitze, das nicht den dringenden Appellenthielt, möglichst rasch europäische Ge-meinschaftsanleihen einzuführen. Beson-ders tat sich dabei die Troika aus Partei-

Deutschland

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O P P O S I T I O N

Bündnis für BondsIn der Euro-Krise standen SPD und Grüne bisher stramm an der

Seite der Kanzlerin. Nun wächst in beiden Parteien der Wunsch, sich stärker abzugrenzen: weniger Merkel, mehr Hollande.

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Grüner Trittin

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Sozialdemokrat Gabriel, Sozialist Hollande: Der

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chef Sigmar Gabriel, Fraktionschef Stein-meier und dem ehemaligen Finanzminis-ter Peer Steinbrück hervor.

Doch nun herrscht ein ganz andererTon. „Was sind Euro-Bonds?“, fragte Ga-briel kürzlich im ARD-Interview. „Dassind gemeinschaftlich garantierte Schul-den. Das wird es in der Allgemeinheit ga-rantiert nicht geben.“

Stattdessen führt die SPD jetzt recht -liche Bedenken ins Feld. Entscheidenddürfte aber vor allem sein, dass laut Um-fragen weit mehr als zwei Drittel derDeutschen gegen Euro-Bonds sind.

Doch viele Genossen wünschen sich,auch mal unpopuläre Wahrheiten aus -zusprechen. „Meiner Meinung nach wer-den wir diese Krise nicht lösen, wennDeutschland sich nicht endlich für eineForm gemeinsamer Haftung öffnet“, sagtVorstandsmitglied Niels Annen. „DieLeute haben ein Recht darauf, dass wirihnen das ehrlich sagen, statt den Ein-druck zu erwecken, Haushaltsdisziplin allein werde das Problem schon lösen.“

Ähnlich denkt der baden-württember-gische Finanzminister Schmid, der eben-falls einen europaweiten Oppositions-bund für Gemeinschaftsanleihen schmie-den will. Für ihn sind Euro-Bonds „nachwie vor ein Ziel“. Die SPD, sagt er, stehe„hinter der Idee der Vergemeinschaftungvon Schulden“.

Auch die Grünen-Spitze gerät unterDruck, in der Euro-Krise eine klare Hal-tung gegen die Regierung einzunehmen.Unter Führung des Bundestagsabgeord-neten Gerhard Schick und des ehema -ligen Parteichefs Reinhard Bütikofer ver-langten jüngst etwa 50 einflussreiche Grü-ne aus der zweiten und dritten Reihe einen Sonderparteitag, um über die Posi-tion der Partei zu entscheiden. Es sindRealos wie Linke, Landes- und Europa-politiker, die unzufrieden sind.

Bei den Grünen ist es weniger das Reiz-wort Euro-Bonds, das den Zorn der Basiserregt. Stattdessen wenden sich die Funk-tionäre vor allem gegen den Fiskalpakt,mit dem Merkel die europäischen Partnerim vergangenen Jahr auf das Modell derdeutschen Schuldenbremse einschwor.

Die grünen Kritiker wollen kein kate-gorisches Nein zum Fiskalpakt, sondernsubstantielle Veränderungen. Trotzdemliest sich ihr offener Brief wie eine Miss-trauenserklärung an die Parteispitze: „Zuwenig ist in letzter Zeit deutlich gewor-den, dass uns darin, was jetzt getan wer-den muss, sehr viel vom Kurs der Bundes -regierung unterscheidet.“

Mitinitiator Schick sieht die Frage auchals eine Art Reifeprüfung für die Opposi-tionspartei: „Wenn wir ernsthaft den An-spruch haben, die führende Kraft der lin-ken Mitte zu sein, müssen wir auch den

Mut und die Kraft haben, unsere alterna-tiven Positionen zu formulieren und beiAbstimmungen durchzuhalten.“ Und derHaushaltspolitiker Sven Kindler sagt: „Die-ser Fiskalpakt steht für die ökonomischverheerende Sparpolitik Merkels, dieEuropa immer tiefer in die Krise führt. Diedeutsche Opposition hat eine Mitverant-wortung, diesen Irrweg zu korrigieren.“

Der Forderungskatalog der grünenEuro-Rebellen ist so lang, dass es den Ver-handlungsführern schwindlig werdenkönnte: ökologisch abgestimmte Kon-junkturimpulse, eine Finanztransaktion -steuer, eine Vermögensabgabe zur Schul-dentilgung, die Einführung von Euro-Bonds, alles steht bei einem Kongress derParteilinken am kommenden Wochen -ende auf der Tagesordnung.

Doch der Hebel, den die Grünen-Füh-rung in der Hand hat, ist nicht allzu stark.Im Bundestag kann Merkel auch dannauf die nötige Zweidrittelmehrheit hoffen,wenn nur die SPD mitstimmt. Und imBundesrat haben die Grünen über ihreRegierungsbeteiligungen in den Ländernnur ein Mitspracherecht. Parteichef CemÖzdemir versucht deshalb, die Erwartun-gen zu dämpfen: „Wir wären schlecht be-raten, nicht mehr entlang der Sache zuentscheiden, sondern aus prinzipiellen Er-wägungen heraus auf drastische Positio-nen zu setzen.“

Am vergangenen Freitag gab die Partei-führung dem Druck dennoch nach. Wennsich die Verhandlungen mit der Bundes -regierung über den Fiskalpakt bis in denHerbst ziehen, wird es Anfang Septembereinen Sonderparteitag geben. Wenn nicht,würde ein kleiner Parteitag Ende Juni überdas Stimmverhalten der Grünen befinden.Jetzt müssen Fraktionschef Jürgen Trittinund seine Mitstreiter möglichst viel her -ausholen, um sich eine Abrechnung mitihrem Europakurs zu ersparen.

Auch die Genossen haben harte Debat-ten über den Fiskalpakt vor sich. BeimParteikonvent Mitte Juni dürfte das The-ma eine wichtige Rolle spielen.

Die Spitzen der Opposition verschär-fen schon mal den Ton, wie am vergan-genen Freitag im Kanzleramt deutlichwurde. Dorthin waren sie geladen, umabermals über die Bedingungen zu reden,unter denen sie dem Fiskalpakt zustim-men könnten.

Zu Beginn teilte KanzleramtsministerRonald Pofalla ein Papier aus und bot le-diglich an, bei Bedarf Fragen zu beant-worten. Doch die rot-grünen Verhand-lungsführer wollten sich von Pofalla nichtbehandeln lassen wie einst der CDU-Bun-destagsabgeordnete Wolfgang Bosbach(„Ich kann deine Fresse nicht mehr se-hen“). Und so blaffte einer der Opposi -tionsvertreter zurück: „Wir sind hier nichtIhr Bosbach.“

RALF BESTE, CHRISTOPH HICKMANN, GORDON REPINSKI

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französische Präsident macht der deutschen Opposition vor, wie es gehen könnte

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Es gibt wenige Minister, die von derBedeutung ihres Amtes so vollstän-dig durchdrungen sind wie Guido

Westerwelle. Meldet sich der Bundes -außenminister in der wöchentlichen Ka-binettssitzung zu Wort, dann geht es stetsum die wichtigen, um die ganz großenFragen der Welt. Die Aufstände in Syrienetwa oder die atomare Abrüstung.

Und so warteten die Kollegen am vor-vergangenen Mittwoch gespannt, was derChefdiplomat der Republik wohl diesesMal zur Weltlage beizutragen hätte. Nun,sagte Westerwelle, heute wolle er sichmal als „Privatperson“ äußern.

Er könne beim besten Willen nicht ver-stehen, warum die Kollegin Ilse Aignerdas Brandzeichen für Pferde untersagenwolle. Das Schenkelbrand-Verbot sei „un-verhältnismäßig“, kritisierte der Vize-kanzler a.D., dessen Lebenspartner inAachen das sogenannte „Weltfest desPferdesports“ organisiert.

Die ungewöhnliche Kabinetts-Interven-tion des Außenministers zeigt, dass manzu den großen Streitthemen der schwarz-gelben Koalition – Euro-Rettung, Be treu -ungsgeld, innere Sicherheit – nun nochein weiteres dazurechnen muss: denSchenkelbrand. Die Landwirtschafts -ministerin will in ihrer Novelle des Tier-schutzgesetzes Schluss machen mit derjahrhundertealten Tradition, auf dem lin-ken Hinterschenkel die Herkunft der Pfer-de zu markieren.

„Da seit Jahren das elektronische Chip-pen zur Kennzeichnung von Pferden vor-geschrieben ist, ist die bisherige Ausnah-meregelung für das Brandzeichen hinfäl-lig“, sagt Aigner. „Der Tierschutz hat fürdie Bundesregierung hohe Priorität.“

Mit Hingabe streiten sich die Koalitio-näre um die Frage, was mehr schmerzt:das Brennen eines Kennzeichens mit ei-nem 800 Grad heißen Eisen oder eineMini-Operation, mit der ein Chip amMähnenkamm eingepflanzt wird.

Die Befürworter der traditionellenHeißbrand-Methode argumentieren, derSchmerz sei bei den Tieren schnell vor-bei, der Chip dagegen könne ein Pferde-leben lang durch die Muskulatur wan-dern. Pure Propaganda, kontern die Gegner, das Brenneisen verursache Ver-

brennungen dritten Grades und sei Tier-quälerei.

Hort des Widerstands gegen die Aigner-Pläne sind die Bundesländer, in denenmit Pferden Geld verdient wird. So willSchleswig-Holstein, Sitz berühmter Tra-kehner-Gestüte, das fälschungssichereBrandzeichen unbedingt behalten. 35000Pferdezüchter und Pferdefreunde unter-schrieben dort kürzlich eine Protestnote.

In Niedersachsen kann sich Minister-präsident David McAllister kaum nochauf einer Reitveranstaltung blicken lassen,ohne sich äußern zu müssen. „UnserePferde sind in der ganzen Welt berühmtund begehrt. Die Pferdezucht ist in Nie-dersachsen ein wichtiger Wirtschafts-zweig. Die Herkunft der Tiere muss ein-wandfrei nachweisbar sein“, sagt er.

Ein Riss zieht sich in der Schenkel-brand-Frage quer durch die Regierungs-parteien. „Wie eine Politikerin aus Ober-bayern ein Jahr vor entscheidenden Wah-

len eine solch belastendeRegelung auf den Weg brin-gen kann, ist mir schleier-haft“, erregte sich AignersParteifreund, der CSU-Mann Max Straubinger,vor kurzem in der Unions-fraktion. Das eigentlicheThema der Sitzung – derRauswurf von Umwelt -minister Norbert Röttgen –geriet in den Hintergrund.

Auch Bundesarbeits -ministerin Ursula von derLeyen (CDU), die ihreTöchter am Wochenendegern zu Reitturnierendurch Niedersachsen kut-schiert, zeigt sich gewohntmeinungsstark. „Großar-tig“ sei Straubingers Inter-vention, lobte sie per Text-mitteilung, als der seineSchimpftirade in der Frak-tion noch gar nicht been-det hatte.

Der Schenkelbrand-Dis-kurs bringt auch den neu-en Parlamentarischen Ge-schäftsführer der Unions-fraktion in Schwierigkeiten.Mit Michael Grosse-Brömer

ist ein bekennender Befürworter an dieFraktionsspitze aufgerückt. Schon in seinerEigenschaft als Chef der niedersächsischenLandesgruppe im Bundestag hatte er gegenAigners Tierschutznovelle mobilgemacht.

„Das Brandzeichen der Hannoveranerist wie ein Mercedes-Stern, und Mercedeskäme bestimmt nicht auf die Idee, aufdas Erfolgssymbol zu verzichten“, ließ ersich zitieren. In seinem neuen Job musser jetzt dafür sorgen, dass Aigners Reformin der Fraktion eine Mehrheit erhält.

Vom Berichterstatter der Unionsfrak -tion für den Tierschutz kann sich Aignerkeine Hilfe erwarten. Dieter Stier, ein ge-lernter Zootechniker aus Sachsen-Anhalt,zählt zu den bekennenden Schenkel-brand-Befürwortern. Stier unterstützteeine Einladung der Deutschen Reiter -lichen Vereinigung. Bei einer „prak -tischen Demonstration der Kennzeich-nung von Fohlen mittels Schenkelbrand“sollten Bundestagsabgeordnete von derHarmlosigkeit der Kennzeichnung mitdem Brenneisen überzeugt werden.

Die Veranstaltung fand bereits im ver-gangenen Jahr statt, und die Teilnehmerwaren offenbar beeindruckt. Der Unions-Umweltpolitiker Ingbert Liebing etwa istseit der Vorführung im Berliner Grune-wald erst recht vom Schenkelbrand über-zeugt. Er habe nicht erkennen können,dass vom Brennen eine Gefahr für dieTiere ausgehe, sagt er: „Das Fohlen hatnur einen kleinen Satz zur Seite ge-macht.“

PETER MÜLLER

Deutschland

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PA R L A M E N T

Bekehrung imGrunewald

Agrarministerin Ilse Aigner willden Schenkelbrand bei Pferdenverbieten. Damit treibt sie einenweiteren Spalt in die Koalition.

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FDP-Politiker Westerwelle: Private Wortmeldung

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Ministerin Aigner

„Tierschutz hat hohe Priorität“

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Im historischen Kaisersaal auf dem Öl-berg von Jerusalem mal wieder dasübliche Bild. Der Bundespräsiden hat

eine warme Ansprache gehalten, großeWorte, große Emotion, nun tummeln sichdie Gäste des Empfangs um JoachimGauck. Sie wollen ihn sprechen, ihm dan-ken, ihn berühren. Als sei der Messiasdoch noch ins Heilige Land zurückge-kehrt.

In einer Ecke des Saals steht seine Lebensgefährtin und betrachtet das im-mer dicker werdende Knäuel aus Men-schen. Sie hält ein kühles Glas Wasser inder Hand und pustet die Luft nach oben.Israel glüht an diesem letzten Donners -tag im Mai, es fehlt die Klimaanlage. DieLuft steht träge und feucht im Saal, esmüffelt.

„Na ja, für uns ist es ja noch erträglichhier“, sagt Daniela Schadt und blickt wie-der hinüber zum Knäuel, wo ihr Mannfast erdrückt wird. „Aber wie heiß musses erst für Seine Seligkeit sein?“

Moment. Hat sie ihren Lebensgefähr-ten, den Freund der großen, weihevollen,oft pastoralen Worte gerade als „SeineSeligkeit“ bezeichnet?

„Nein, nein“, sagt Schadt und muss laut lachen. „So weit ist es dann dochnoch nicht.“ Gemeint ist Theophilos III.,der orthodoxe Patriarch der HeiligenStadt Jerusalem, der berufsbedingt mitschwerem schwarzem Umhang erschie-nen ist. Zugetraut hätte man es ihr trotz-dem.

Daniela Schadt, 52, seit drei MonatenFirst Lady des Landes, ist mit ihrer tro-ckenen, nüchternen Art jedenfalls ein ge-sunder Kontrast zu Joachim Gauck, mitdem sie zwar nicht verheiratet ist, densie nach zwölf Jahren Beziehung aber„meinen Mann“ nennt.

Sollte Gauck, dessen hoher Ton im hohen Amt nicht niedriger zu werdenscheint, am Ende doch auf dem Teppichbleiben, dann wird das auch an dieserFrau liegen.

Auf dem Rückflug von Tel Aviv nachBerlin bittet sie am späten Abend in einePrivatkabine des neuen Airbus der Flug-bereitschaft. Gemütliches Schummerlicht,Wohnzimmeratmosphäre, zwei Sofas, einCouchtisch, tief unten Buka rest. Ein ge-schniegelter Steward serviert Wein in gro-ßen Gläsern.

„Stört es Sie, wenn ich die Schuhe aus-ziehe?“, fragt Schadt. Dann macht sie essich auf dem Sofa bequem.

Schön wäre es natürlich, wenn manjetzt auch noch rauchen dürfte, wie frü-her im Flieger, aber die Zeiten sind leidervorbei. Man lästert ein wenig über denZeitgeist der Vernunft, der allen Spaß ver-schlingt, dann sagt Schadt einen ihrer typisch ironischen Schadt-Sätze: dass jaohnehin alles schlechter werde, und dieFrage nur sei, wann das eigentlich ange-fangen habe.

Es müsse wohl zu jener Zeit gewesensein, sagt sie, als in ihrer Redaktion beider „Nürnberger Zeitung“ der „Pirelli-Kalender“ mit nackten Frauen von derWand durch einen Kalender mit lang -weiligen Landschaftsaufnahmen ersetztworden sei. „Ich fand das doof“, sagt dieFirst Lady.

Es ist ein weiter Weg von der Redak -tionsstube in Nürnberg mit ihren Pirelli-Kalendern bis ins Schloss Bellevue. Siesagt, dass es ihr nicht leichtgefallen sei,sich von der eigenen Arbeit zu verab-schieden. Gut 25 Jahre lang schrieb siefür die „Nürnberger Zeitung“, immerüber Politik, erst als freie Mitarbeiterin,dann als Volontärin, am Ende leitete siemit einem Kollegen das Politikressort.

Im „Stern“ stand neulich ein Text mitder superoriginellen Überschrift „SchadeDani!“, in dem ihr die Kündigung übel-

genommen wurde. „Eigentlich warst dueine von uns. Ein Working Class Girl. So-gar eine mit Führungsaufgabe!“, schriebdie Autorin. „Und jetzt ist alles vorbei.“

Schadt weiß, dass viele Frauen ihrenSchritt kritisieren, gerade in diesen frau-enpolitisch bewegten Zeiten. Aber siehabe doch keine andere Wahl gehabt, ver-teidigt sie sich, sie sei eben politische Journalistin. „Etwas anderes Gescheiteshabe ich nun mal nicht gelernt.“ Undwenn sie jetzt weiter die große Politikkommentieren würde, dann denke doch

jeder: „Da schreibt nicht Daniela Schadt,sondern Joachim Gauck.“

Vielleicht muss man ihre Entscheidungnüchterner betrachten, Frauen bewegunghin, Feminismus her, und sich fragen, wel-che Perspektive die interessantere ist:Nach 25 Jahren in der Politik redaktionder „Nürnberger Zeitung“ die Jahre 26,27, 28, 29 folgen zu lassen oder das Land,ja die Welt aus einer neuen, höchst privi-legierten Rolle zu erleben?

„Wer sagt, der 30. Kommentar zur Pfle-gereform sei spannender als das, was ichjetzt mache, der hat einen an der Waffel“,sagt Schadt. Sie hält kurz inne und schautzum Sprecher des Präsidialamts, der ge-rade in die Kabine gekommen ist. „Oderwie sagt man das jetzt diplomatisch?“

„Einen an der Waffel ist schon richtig“,sagt der Sprecher.

Ihren eigenen, politischen Kopf hat siemit dem Umzug nach Berlin jedenfallsnicht in Nürnberg gelassen. Sie wird sichnicht auf das „Sonderprogramm“ bei Reisen des Präsidenten beschränken, daspoli tisch korrekt nicht mehr „Damenpro-

Deutschland

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F I R S T L A D Y

Wider den Weihrauch25 Jahre lang kommentierte Daniela Schadt als Journalistin die

große Politik. Nun fliegt sie mit Präsident Gauck durch die Welt – und hilft ihm, nicht abzuheben. Von Markus Feldenkirchen

Paar Gauck, Schadt: „Wer sagt, der 30. Kommentar

Im Schloss Bellevue wird

sie mehr Einfluss auf die

Spitzen der Politik haben

als zuvor bei der Zeitung.

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gramm“ genannt wird. Sie bespricht sichin allen wesentlichen Fragen mit ihremMann. Sie macht ihm, der für einen Prä-sidenten noch immer erstaunlich frei -zügig redet, die öffentliche Wirkung sei-ner Worte bewusst.

Die großen Fragen an Gaucks Präsi-dentschaft lauten ja, ob seine Offenher-zigkeit vereinbar ist mit den diplomati-schen Zwängen des Amts und ob er sichentweder um Kopf und Kragen redenwird oder ob am Ende nichts mehr vonjenem eigenwilligen Charakter übrigbleibt, der ihn in das Präsidentenamt ge-führt hat. Gauck selbst spricht von einem„Selbstversuch mit offenem Ausgang“.

Neulich wurde Schadt im Beisein ihresMannes gefragt, wie dieser Selbstversuchwohl ausgehen werde. Sie sei sich sicher,dass noch eine große Portion JoachimGauck übrig bleiben werde, antwortete sie.Dann sah sie ihren Mann lächelnd von derSeite an, zwinkerte ein paarmal, um so-gleich darauf anzuspielen, dass man an alten Männer in der Regel nicht mehr vieländern könne. „Ich meine, du bist ja auch

nicht mehr der Jüngste, also entschuldige,aber du bist ja jetzt auch nicht mehr 20…“

Es ist diese Art, mit der sie immer wie-der den Weihrauch verscheucht, der rundum Gauck aufzusteigen droht, entfachtentweder von ihm selbst oder von denvielen, die ihn verehren.

Das Präsidenten-Flugzeug nähert sichBerlin, Schadt nippt an ihrem Rotwein,das Gespräch soll bald enden. „Noch fünfMinuten.“ Höchste Zeit, um über AngelaMerkel zu reden und über die Spannun-gen zwischen der Kanzlerin und ihremMann, der ersten Frau und dem erstenMann des Staates.

Den Medien war aufgefallen, dassGauck bei der Verabschiedung von Nor-bert Röttgen gewohnt warme Worte ge-funden hatte, während Merkel kalten Blickes danebenstand. Sie werteten dasals eine bewusste Spitze des Präsidenten.

Während der Israel-Reise dann dernächste Konflikt. Anders als die Kanzle-rin mochte Gauck in Jerusalem nicht da-von sprechen, dass das Existenzrecht Is-raels Teil der deutschen Staatsräson sei.

Als Journalistin verfolge sie, was da ge-schrieben werde, natürlich besonders in-teressiert, sagt Schadt auf ihrem Flugzeug-Sofa. Gerade jetzt, da sie einen tieferenEinblick habe, als man ihn als Journalisthaben könne. Die Sache mit Röttgen seiin den Medien falsch bewertet worden.An der Geschichte mit der Staatsräsonsei hingegen etwas dran. „Es ist nicht je-der deutsche Politiker, der nach Israelkommt, verpflichtet, ,Staatsräson, Staats-räson, Staatsräson‘ zu rufen.“ Bei jederNennung des Wortes schnippt sie mit denFingern.

In ihren Kommentaren in der „Nürn-berger Zeitung“ ließ Schadt eine eherkonservativ-liberale Haltung erkennen.Und fast immer verteidigte sie in ihrenTexten Angela Merkel: gegen Kritik ausder eigenen Koalition – und erst recht gegen die Opposition: „Merkel in der Offensive“ oder „Respekt, Frau Merkel“.Schadt schätzt die Kanzlerin.

Als First Lady wird sie vermutlich mehrEinfluss auf die Spitzen der Republik ha-ben als bislang bei der Zeitung. Auf dasVerhältnis zwischen Merkel und ihremMann jedenfalls könnte sie ebenso er-dend wirken, wie sie das auch bei ande-ren Gelegenheiten tut.

Im Gästehaus der Deutschen Botschaftin Den Haag luden Gauck und sie die mit-reisenden Journalisten neulich zu einemGespräch in kleiner Runde. Eben erst hat-te der Präsident die große Fest rede zumniederländischen Befreiungstag gehalten,große, richtige Worte, alle waren glück-lich, alle zufrieden mit ihm, die Holländer,die deutsche Delegation und natürlichauch Gauck selbst.

Man saß auf fürstlichen Sesseln, umge-ben von goldenem Stuck und Wandkron-leuchtern unter einem barocken Decken-gemälde, und Gauck wurde gefragt, ober, der als Bürger der DDR eng mit denFreiheitsbewegungen Osteuropas vertrautsei, überhaupt einen Bezug zu den Nie-derlanden habe.

Na und ob die Niederlande ihm nahegewesen seien, antwortete Gauck, geradewegen ihres mutigen Freiheitskampfes.„Sie müssen sich den 13-jährigen Gauckvorstellen, wie er abends im Bett seinen,Egmont‘ las.“ Er meinte das große Trau-erspiel über den niederländischen Frei-heitskämpfer Lamoral Graf von Egmond.„Ja, ja, ich habe überhaupt viel Schiller gelesen, damals“, schob Gauck noch hin-terher.

Schadt sah ihren Mann irritiert an.„Ähm, Jochen, der ,Egmont‘ ist aber vonGoethe.“

„Was?“„Der ist von Goethe, der ,Egmont‘.

Nicht von Schiller.“Ein kurzer Moment der Stille. „Ja, ja, klar“, sagte der Präsident schließ -

lich. „Ich meinte die anderen Sachen vonSchiller.“ �

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zur Pflegeversicherung sei spannender als das, was ich jetzt mache, der hat einen an der Waffel“

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Deutschland

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In den vergangenen Tagen warenes gleich zwei prominente Chris-ten, die Deutschlands Muslimen

bei der Identitätsfindung halfen. Derbayerische Finanzminister Markus Söder sprach vor türkischen Migran-ten und überraschte sie mit der Ein-sicht, der Islam sei „ein Bestandteilvon Bayern“. Bundespräsident Joa-chim Gauck sagte in einem Gesprächmit der „Zeit“, er teile dieIntention seines Vorgän-gers, hätte dessen berühm-testen Satz aber anders for-muliert, und zwar so: „DieMuslime, die hier leben, ge-hören zu Deutschland.“

Damit sind es jetzt fünfan der Zahl. Christian Wulff,von dem sich Gauck distan-zierte, hatte den Anfang ge-macht: „Der Islam gehörtinzwischen auch zu Deutsch -land.“ Innenminister Hans-Peter Friedrich widersprach:Das lasse sich „aus der His-torie nirgends belegen“;Deutschlands Identität sei„durch das Christentumund die Aufklärung“ ge-prägt. Und Unions-Frak -tionschef Volker Kauderstellte fest: „Der Islam istnicht Teil unserer Traditionund Identität.“

Wer oder was gehört nunzu Deutschland? Der Islam?Die Aufklärung? Die Musli-me? Das Christentum?

Als sich Konrad Adenauer in seinerersten Regierungserklärung 1949 dem„Geist christlich-abendländischer Kul-tur“ verpflichtete, war von dieser Kul-tur nicht mehr viel übrig.

Dem Abendland, Deutschland vor -an, war es gelungen, die Errungen-schaften von Humanismus und Auf-klärung in nur wenigen Jahren zu zerschlagen.

Das wissen auch manche, die ausdem Morgenland kommen, die meis-ten haben es an deutschen Schulenoder Universitäten gelernt. Und ihnenleuchtet nicht ein, warum Männer wieKauder, Friedrich und Gauck dieschwarzen Seiten des europäischen

Abendlandes so elegant übersehen,die hellen aber so ganz und gar fürsich allein haben möchten. DasAbendland, sagt Aiman Mazyek, derChef des Zentralrats der Muslime, ste-he „auch auf muslimisch-morgenlän-dischen Beinen“.

Natürlich hat Mazyek recht. DieDreistigkeit, mit der Friedrich ausge-rechnet das Christentum mit der Auf-

klärung zusammenrührt, sie dann alsFundament deutscher Identität preistund am Ende ihre Zerstörung vor ge-rade einmal zwei Generationen unter-schlägt, ist geschichtslos und selbst-vergessen.

Und mit seinem Verständnis für dieFrage: „Wo hat denn der Islam diesesEuropa geprägt?“, fordert Bundes -präsident Gauck geradezu heraus,dass man ihn auf eine nächste Aus-landsreise nach Andalusien oder Mal-lorca, nach Malta oder Bosnien schicken möchte. Oder zu einem Besuch ins Theater Lübeck, wo zur-zeit die „Entführung aus dem Serail“gegeben wird.

Vielleicht schlägt der belesene Prä-sident auch einmal ein Lexikon aufund geht, um gleich den ersten Buch-staben zu nehmen, der Etymologievon Wörtern wie „Admiral“, „Alge -bra“, „Alkohol“ oder „Atlas“ nach.Oder er nimmt, wie ihm der Vorsit-zende der Türkischen Gemeinde riet,„einen Blick in die Geschichtsbücher“:Sultan Mehmet, der 1453 Konstanti -

nopel eroberte, hat ein isla-misches Reich begründet,das 300 Jahre lang mal mitden anglikanischen Briten,mal mit den katholischenFranzosen koalierte, vor al-lem, um die Habsburger zubezwingen.

Die womöglich gewonne-nen Erkenntnisse könntenGauck helfen, allmählichden anthropologischen Gra-ben einzuebnen, den dieAnschläge vom 11. Septem-ber 2001 aufgerissen haben.In wenigen Ländern ist erso tief wie in Deutschland;weder in den vom dschiha-distischen Terror viel härtergetroffenen USA noch inGroßbritannien diskutierenPolitiker ernsthaft, ob derIslam zu Amerika oderzum Königreich gehöre.

Aber genau darum, umsDazugehören und umsFremdbleiben, geht es derweit überwiegenden Mehr-heit der deutschen Mus -

lime. Deshalb nehmen sie jede Nuan-ce in der deutschen Islam-Debatte so persönlich.

Wahrscheinlich versteht JoachimGauck die Muslime im europäischenAbendland besser als viele andereDeutsche. „Das Ziel meiner Sehn-sucht war der Westen“, sagt er in der„Zeit“ über sein Leben in der DDR.„Aber eigentlich bin ich ein Sehn-suchts-Ossi.“

Da teilt der Präsident eine Erfah-rung mit vielen Muslimen: Auch dasZiel ihrer Sehnsucht war irgendwanneinmal der Westen, deshalb sind siehier. Und deshalb gehören sie zuDeutschland.

K O M M E N T A R

Mekka DeutschlandVon Bernhard Zand

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Muslimische Frauen in Berlin

„In den USA diskutierenPolitiker nicht ernsthaft, ob der

Islam zu Amerika gehöre.“

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Wenn der BundestagsabgeordneteJohannes Kahrs erschöpft istvon der Finanzkrise, wenn er

abschalten muss, liest er „Micky Maus“.Er liegt im Bett und liest eines dieser„Lustigen Taschenbücher“, von denen eralle hat, 427, wenn er sich jetzt richtig er-innert. Kahrs nimmt sie immer wiederzur Hand, auch ein 20. Mal. Ihm wirddann leicht.

Zwar haben auch diese herzigen Tier-chen ihre Probleme, aber sie finden im-mer eine Lösung. Alles wird gut.

Kahrs sitzt im Berliner Café Einsteinund trägt einen blauen Pullover, auf des-sen Brust sich schräg zwei dicke weißeStreifen kreuzen. Mercer Club Polo Team,sagt ein Wappen auf der Brust. In diesemunernsten Aufzug, in dieser Buntheitwirkt Johannes Kahrs Entenhausen näherals dem Haushaltsausschuss des Bundes-tags. Aber da sitzt er drin, und deshalbist er einer der wichtigeren Akteure dieser Krise. Johannes Kahrs, 48 (SPD),Freund von Micky Maus, soll die Weltretten.

Das Parlament hat in Deutschland ei-nen großen Einfluss auf den Haushalt derBundesregierung und damit auf Themen,bei denen Geld ausgegeben wird. BeimEuro könnte eine Menge Geld ausgege-ben werden, über die Garantien für dieRettungsfonds vor allem. Der Haushalts-ausschuss ist das parlamentarische Gre-mium, das sich damit vorrangig befassenmuss. Abgeordnete wie Kahrs sind alsoLeute, die im Zentrum der Krise stehen,die daran mitarbeiten müssen, die Krisezu lösen. Es soll jetzt nicht um deren Kon-

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Last Exit EntenhausenDie Rettung der Euro-Zone ist zur Daueraufgabe geworden. Gefragt ist

dabei nicht nur ökonomisches Fachwissen. Was bedeutetdie chronische Krise eigentlich für die Psyche der Politiker? Von Dirk Kurbjuweit

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zepte gehen, sondern darum, was dieseAufgabe mit ihnen macht.

Es ist eine übermenschliche Aufgabe:die Euro-Länder zusammenhalten, dendeutschen Wohlstand sichern, den Zusam-menbruch von Griechenland und anderenverhindern, die Märkte so beruhigen,dass es nicht zu einer Rezession kommt,die die ganze Welt erfassen könnte. Dar -um geht es. Und Menschen sollen das lösen.

Klein wirken sie da. Wie kommen dieMenschen, die Haushälter in diesem Fall,mit der Verantwortung und der Bean -spruchung klar? Welche Folgen hat dasfür die Politik, dass sie so stark durch dieEuro-Krise belastet – überlas-tet? – werden?

Neun Abgeordnete habenfür diese Geschichte Aus-kunft gegeben. Teil der Re-cherche war auch eine An -hörung des Haushaltsaus-schusses zu den Themen„Euro päischer Fiskalpakt“und „Permanenter Rettungs-schirm ESM“. Sie zeigte dieHaushälter in Aktion und boteinen Abgleich zu dem, wassie gesagt haben.

Marie - Elisabeth - Lüders-Haus, ein runder Saal, 10.30Uhr. Petra Merkel, 64, SPD,Vorsitzende des Haushaltsaus-schusses, eröffnet die Anhö-rung von Finanzexperten mitden Worten, dass dieser Ter-min „von erheblicher Bedeu-tung ist“. Auf den Tischen lie-gen Schriftstücke, iPads undHandys, Johannes Kahrs trägteinen dunklen Dreiteiler.

Die erste Frage richtet sichan Klaus Regling, den Chefdes temporären Rettungs-schirms EFSF. „Wie wichtigdie zügige Einführung des Fis-kalpakts einzuschätzen ist“,will der Obmann der CDU,Norbert Barthle, wissen. Reg-ling beginnt, alle hören zu.

Unter den Abgeordnetensitzt Priska Hinz, 53, Grüne.Bei einem Gespräch in ihremBüro hat sie gesagt, dass „die zeitlicheBelastung in den letzten zwei Jahren sehrstark geworden ist“. Für alle sei das „einsehr neues Themenfeld gewesen“. VonBeruf ist sie Erzieherin, sie war Umwelt-und Familienministerin in Hessen.

Als Haushälterin des Bundestags hatsie sich vor allem mit dem nationalenBudget befasst. Jetzt geht es bei den Sit-zungen zu 60 Prozent um den Euro. Siemusste sich da einarbeiten, musste lesenund Experten befragen, aber sie würdenicht behaupten, dass sie alles verstan -den hat. Niemand kann das von sich be-haupten.

Priska Hinz zeigt sich ruhig in diesemGespräch, erzählt unaufgeregt und ist sou-verän genug einzuräumen, dass sieschwer trägt an ihrer Verantwortung, ob-wohl sie in der Opposition ist. Sie joggtzur Entspannung, aber auch dafür fehltihr nun manchmal die Zeit. Vor großenEntscheidungen lag sie in ihrem Bett,wälzte die Gedanken, wägte das Für undWider ab und suchte nach einem Momentder Sicherheit, einer Vergewisserung, dasses auf jeden Fall richtig sei, für den Rettungsschirm zu stimmen, oder auf je-den Fall richtig sei, gegen den Rettungs-schirm zu stimmen. Aber es gibt diese Sicherheit nicht.

Priska Hinz ist in einer Situation, inder sie nicht wissen kann, was falsch undwas richtig ist, in einer Situation zudem,in der eine falsche Entscheidung katastro-phale Folgen haben könnte.

Die Euro-Krise ist eine Aufgabe, dieden Menschen überfordern kann, unddeshalb scheint Otto Fricke auf den ers-ten Blick ganz gut gerüstet dafür, denner hat einen Beistand. Fricke, 46, von Beruf Anwalt, ist Mitglied der FDP imHaushaltsausschuss. Er sagt, dass er gutschlafen kann. Anders als Priska Hinzzeigt er ein quirliges Gemüt, sprichtschnell und viel. Ein bisschen Theatralik

gehört bei ihm auch dazu, nach vorn sin-ken und für einige Zeit ins eigene Gemüteintauchen, grübeln, dann auftauchenund sprudeln.

Frickes Beistand in der Euro-Krise istGott. Er hält häufig „Zwiesprache“ mitihm, teilt Gott seine Überlegungen mitund hofft auf Eingebungen, die ihn dasRichtige tun lassen. Aber Frickes Glaubeist nicht so simpel, dass er denkt, er kön-ne nur richtig handeln, da er ja von Gottgeleitet ist. Die Zweifel bleiben.

Er ist wieder abgetaucht und grübelt,während neben ihm Fische durch seinAquarium gleiten. Es steht in seinemBüro im Jakob-Kaiser-Haus im Regie-

rungsviertel. Fricke tauchtauf und sagt, dass ihm manch-mal eine Liedzeile von De -peche Mode einfalle: „If Godhas a masterplan“ – wennGott einen Masterplan hat.

Hat er? Einen Masterplanfür die Euro-Krise? Frickeweiß es nicht. Gott hilft ihm,indem er für ihn da ist, ihnanhört, nicht, indem er ihmeinen Plan verkündet. Frickemuss die gleiche Ungewiss-heit aushalten wie PriskaHinz. Nun zückt er ein iPad,für ihn ein weltlicher Bei-stand, für andere auch schonbeinahe etwas Göttliches, je-denfalls Vergöttertes.

Er ruft eine Seite auf mitden Kursen von Staatsanlei-hen, Frankreich, Portugal, Ir-land, Spanien, dann Aktien-kurse. Da schaut er nun re-gelmäßig hin, ein bisschenwas lernt er aus diesenCharts, aber die große Er-leuchtung liefern sie auchnicht. Fricke sagt, er sei „keinBörsengläubiger“.

So wie Priska Hinz freimü-tig über ihre Erschöpfung re-det, redet er freimütig überseine Angst. „Wer in der Poli -tik nicht weiß, dass er Fehlermachen kann, ist fehl amPlatz“, sagt er. Er hat Angst,dass die nachfolgende Gene-

ration eines Tages zu ihm kommt undsagt, wir haben recherchiert, was du ge-macht hast damals. Er hat Angst, dass siesagen könnten, er sei schuld an demSchlamassel, in dem sie vielleicht einmalstecken werden, weil er einer von denenwar, die falsche Entscheidungen getroffenhaben.

Diese Sorge hat Dietmar Bartsch nicht.Bartsch, 54, von Beruf Ökonom, hat „dasPrivileg, in der Opposition zu sein“, wieer sagt. Er sitzt für die Linke im Haus-haltsausschuss und hat gegen alles ge-stimmt, was die Regierung vorschlug. Inseinem Büro im Jakob-Kaiser-Haus steht

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Haushaltspolitiker des Bundestags: Angst vor falschen Entscheidungen

Bartsch

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breitschultrig eine MEGA, eine Marx-En-gels-Gesamtausgabe. Ist das sein Bei-stand? Er findet, dass die beiden mancheserstaunlich gut vorhergesehen haben, erredet auch viel von Kapital und Kapital-vernichtung, aber die große Anleitung ge-gen die Euro-Krise liefert ihm die MEGAnicht.

Bartsch sagt klar, was die meisten an-deren nur angedeutet haben: „Das Ver-stehen aller Prozesse ist unmöglich ge-worden, diese Krise ist eine Überforde-rung aller Abgeordneten.“ Er selbst habe„abgeschlossen damit, das alles zu lesen“.Er meint die dicken Konvolute, die derInternationale Währungsfonds, die Euro-päische Zentralbank und die EU-Kom-mission zu den Krisenländern verfassen.Er habe Mitarbeiter, die das lesen, „undes gibt extrem viele Anhörungen“. Dakönne er sich informieren.

Wie Fricke spricht Bartsch von dennachfolgenden Generationen. Würdendie mal im Schlamassel stecken, könneer sagen: „Ich hab ja immer dagegen ge-stimmt.“ Jetzt lacht er, schnellt vor,schnellt zurück, spuckt ein großes, diony -sisches Lachen heraus, das kaum endenwill. „Man ist ja fein raus“, prustet Diet-mar Bartsch.

Dann sitzt er wieder still vor seinerMEGA, schiebt die Hände in die Hosen-taschen und sagt: „Man ist nicht feinraus.“

Die Enkel könnten ihn ja fragen, war -um er nicht in der Lage gewesen sei, dieMehrheit zu überzeugen, sagt er. Bartschist klug genug, um zu wissen, dass ein Politiker immer in der Verantwortung ist,entweder für seine Konzepte oder dafür,dass er die Bürger nicht dafür gewinnenkonnte, obwohl die Konzepte womöglichrichtig sind. Es ist nur die Frage, wie manmit seiner Verantwortung umgeht.

Zur Anhörung ist Bartsch nicht gekom-men, Fricke auch nicht.

Es ist 11.03 Uhr, die Anhörung dauerteine halbe Stunde, als der AbgeordneteRüdiger Kruse, 50, von Beruf Mediziner,den Saal verlässt. Um 11.38 Uhr kommter zurück, eine Minute später geht Johan-nes Kahrs. Kruse checkt sein iPad, wischtmit der Hand über den Bildschirm, ver-schwindet im Lesen und Schreiben. Reg-ling redet, SachverständigenratsmitgliedPeter Bofinger redet, die Wirtschafts -weise Claudia Buch redet. Es geht um dieganz große Frage. Wie rettet man denEuro?

Der Abgeordnete Steffen Kampeter, 49,von Beruf Volkswirt, seit 2009 Parlamen-tarischer Staatssekretär im Finanzminis-terium, sitzt in der ersten Reihe gleichneben der Vorsitzenden Petra Merkel undist wahnsinnig beschäftigt. Vor ihm sta-peln sich Akten. Er blättert, schreibt,streicht, klebt Zettel hinein, zerknüllt Pa-pier, zerreißt Papier. Vor lauter Betrieb-samkeit stößt er sein Wasserglas um, mussnun wischen und wischt den Tisch, wischtdas iPad von Petra Merkel, wischt eineAkte.

Gegen Mittag erläutert Regling, waspassieren würde, wenn Griechenland dieEuro-Zone verließe. „Also, es wäre wirk-lich ein katastrophales Szenario“, sagt er.Kampeter bückt sich unter den Tisch.Dort steht seine Aktentasche, er zieht einBuch hervor, liest darin. 12 von 21 Abge-ordneten, die von der Pressetribüne auszu sehen sind, lesen gegen 12.45 Uhr ineinem Buch oder sind mit ihren Handysund ihrem iPad beschäftigt.

Auf die Frage, ob die Nicht-Euro-Kri-sen-Politik unter der Euro-Krisen-Politikleide, sagt Rüdiger Kruse in seinem Büroja. Er spricht von einer One Issue Society,von einer Gesellschaft, die nur ein großes

Thema auf einmal verarbeiten und bear-beiten könne, und das sei derzeit dieEuro-Krise.

„Die demografische Entwicklungkommt als Thema zu kurz“, sagt er, ob-wohl es so wichtig und fordernd sei. „Sieerfordert die Umorganisation der Gesell-schaft und einen Mentalitätswandel.“Aber kaum einer kümmere sich darum.

Für Norbert Barthle, 60, CDU, von Be-ruf Gymnasiallehrer, leidet die Arbeit inden Wahlkreisen. Er ist Obmann seinerFraktion im Haushaltsausschuss, und dieEuro-Krise fordert ihn so stark, dass erauch in den sitzungsfreien Wochen einoder zwei Tage in Berlin verbringt.

Daheim sagten ihm die Leute: Du ver-nachlässigst uns. Barthle sieht darin ein„ernstes Problem“. Viele Bürger hättenohnehin den Eindruck, dass sie keine Rol-le spielten im politischen Prozess. Unddann müssten sie auch noch erfahren,dass ihr Wahlkreisabgeordneter so sehrin diesem fernen, unverständlichen Berlineingespannt ist, dass er ihnen nicht mehrso viel Zeit widmen kann wie früher. Unddas wegen der Euro-Krise, die für vieleBürger abstrakt ist, jenseits ihrer Erfah-rungswelt. Und wäre es nicht ohnehinbesser, man überließe die Griechen ihremSchicksal, statt ihnen so viel Zeit undGeld zu widmen?

So haben die Abgeordneten das selt -same Problem, dass sie stark belastet sindwegen einer Sache, von der viele Wählerdenken, dass sie den Aufwand nicht wertsei. Das ist in besonderer Weise schwierigfür einen Oppositionsabgeordneten, derso richtig nicht Opposition machen kann,für einen Johannes Kahrs also.

Die SPD hat fast allem zugestimmt, wasBundeskanzlerin Angela Merkel wollte.Wenn Kahrs nun zu einem Skatturnierim Hamburger Stadtteil Veddel einlädt,Teil seines Wahlkreises, dann sagen ihmdie Leute: Was soll der Scheiß? „ReinesBullshit-Bingo“ nennt er die Diskussio-nen, die er dann führen muss – Schimp-fereien, denen schwer zu begegnen ist.

„30 bis 40 Prozent der Bevölkerungsind gegen diese Euro-Politik, aber keineder etablierten Parteien ist dagegen“, sagtKahrs. Manche Leute wenden sich ab,manche fangen an, ihre Abgeordnetenzu bearbeiten. Er bekomme mehr Bür-geranfragen als bislang, und die Fragenwürden drängender.

Ein weiteres Problem sieht Kahrs darin,dass die Regierung weder die Zeit nochdie Kraft habe, sich gegen die Verwaltungzu wehren. „Die Beamten dominieren“,sagt er. Sein Beispiel ist die Wasser- undSchifffahrtsverwaltung des Bundes. DieRegierungsparteien wollen sie zu einerAuftragsverwaltung machen und damitzum Teil privatisieren. Doch die Beamtenwehrten sich, die Regierung werde „vonder eigenen Verwaltung gegen die Wandgefahren“. Kahrs freut das einerseits, weil

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FDP-Mann Fricke (r.): Hat Gott einen Masterplan?

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er gegen die Privatisierung ist. Es stört ihnaber auch, weil er als Politiker auf demPrimat der Politik besteht. Doch der ist inZeiten der Euro-Krise schwer zu wahren.

Kahrs schafft es an jenem Vormittagnicht mehr in die Sitzung zurück. Andert-halb von zweieinhalb Stunden sind ihmentgangen. Steffen Kampeter ist es gelun-gen, all seine Akten durchzusehen, ob-wohl ein Mitarbeiter in einer Tüte Nach-schub brachte. Als er mit diesem Stapeldurch war, hat er fast nie zugehört, weilsein Handy und sein iPad ihn ablenkten.Das gilt auch für Rüdiger Kruse, der zwi-schendurch noch eine kleine Runde durchden Saal gedreht hat, um mit Kollegenzu quatschen. Priska Hinz war von derPressetribüne aus nicht zu sehen, NorbertBarthle dagegen war ein Muster an Auf-merksamkeit.

Barthle verteidigt seine Kollegen. Ersagt, die Experten hätten schriftlicheStatements abgegeben, die habe sicher-lich jeder gelesen. Gleichzeitig findet er,die Beschäftigung mit iPad und Handyhabe tatsächlich überhandgenommen.„Manche Kollegen sind wohl ein Wunderdes Multitaskings.“ Dietmar Bartsch er-klärt sein Fehlen damit, dass er einen Par-teitermin habe wahrnehmen müssen. BeiOtto Fricke ist es genauso.

Nimmt man nur die Anhörung, dannhat die Euro-Krise in der Politik nicht all-

zu viel verändert. Sie wurde dort im üb-lichen Trott abgearbeitet. Es gab insge-samt so wenig Aufmerksamkeit, dass esein Affront gegenüber den Experten war.Termine ihrer Parteien fanden Bartschund Fricke wichtiger, auch das klingt nachüblichen Mustern. Fricke ist vor kurzemSchatzmeister der FDP geworden und da-für aus dem Neuner-Gremium des Haus-haltsausschusses ausgetreten, das sich mitbesonders drängenden Fragen der Euro-Krise befasst. Die Partei geht vor.

Sind die Politiker also gar nicht über-lastet durch die Euro-Krise? Sie arbeitenmehr, sie sind manchmal extrem gestresst,aber sie haben auch Strategien gefunden,wie sie die Krisenpolitik in ihren Alltagintegrieren, zu ihrem Alltag machen. Sielassen andere Dinge wegfallen. Alle neunHaushälter, die für diese Geschichte in-terviewt wurden, haben gesagt, dass siesich nicht mehr so gründlich mit demdeutschen Haushalt befassen können wiebislang. Es rutscht ihnen manches durch.

„Dies ist eine gute

Zeit für die

Regierung und für

Lobbyisten.“

„Dies ist eine gute Zeit für die Regie-rung und für Lobbyisten“, sagt CarstenSchneider, 36, SPD, von Beruf Bankkauf-mann. Die Kontrolle wird schlechter.

Deshalb ist das eigentliche Problemnicht, dass die Politiker den Stress nichtaushalten können. Das eigentliche Pro-blem ist, dass die Politik, die nicht Euro-Politik ist, durch die Krise schlechter wird.Den Parlamentariern fehlt Zeit für dieKontrolle der Regierung, sie können sichnicht mehr wie zuvor um ihre Wählerkümmern. Wichtige Themen werden un-zureichend behandelt, und die Opposi -tionsparteien SPD und Grüne sind sostark in die Krisenpolitik eingebunden,dass sie kaum noch als Opposition wahr-genommen werden.

Die Euro-Krise kostet die Deutschenmehr als Geld.

Nach der Vormittagsrunde der Anhö-rung wird der Parlamentarische Staats -sekretär Steffen Kampeter draußen vonJournalisten erwartet. Er stellt sich breitauf, die Hände in die Hüften gestemmt,das Sakko hinter die Hände geschoben,als wolle er mit der gesamten Fülle seinesKörpers wirken. Die Anhörung, sagt er,habe gezeigt, dass die Euro-Politik derBundesregierung bei den Experten breiteUnterstützung finde. Fragt sich, woher erdas weiß. Kampeter muss tatsächlich einWunder des Multitaskings sein. �

Deutschland

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Im Jahr 1669 entdeckte Bischof Fer -dinand von Fürstenberg mitten inDeutschland eine Wüste. „Desertum

sennae“ taufte er jene sandige Landschaft,die sich im Osten des heutigen Nordrhein-Westfalen erstreckt: die Senne.

„Wenn man durch die Senne fährt,kann man schon das Gefühl bekommen,das ist unsere Serengeti“, sagt der Grü-nen-Politiker Johannes Remmel, bishe -riger und wohl auch künftiger Umwelt-minister in Nordrhein-Westfalen. EinHauch von Afrika mitten in Ostwest falen-Lippe, Sanddünen inklusive. In der Nähe,jenseits von Bielefeld, sind sogar Löwen,Elefanten und Zebras zu Hause, wennauch nur in einem Zoo, dem SafariparkStukenbrock.

Um die Landschaft, öd und ziemlichleer, tobt ein Streit, der heftiger kaumsein könnte. Remmel und die übrigenWahlsieger von SPD und Grünen in Düs-seldorf wollen circa 11600 Hektar der Sen-ne zum Nationalpark erheben, in die Kö-nigsklasse der Schutzgebiete, wo die Na-tur weitgehend sich selbst überlassenbleibt. Aber viele Anwohner sind gegenden Nationalpark, zahlreiche Kommunenziehen nicht mit.

Die Kontrahenten erstatteten Straf -anzeigen, errichteten Straßenbarrikadenund bewaffneten sich mit Info-Broschü-ren, Aufklebern und teuren Gutachten.Als die Nationalpark-Fans eine Wande-rung ankündigten, um für ihr Anliegenzu werben, fällten Unbekannte in der

Nacht davor mehrere Bäume und errich-teten dar aus Straßenblockaden. Auch einSchlichter wurde schon berufen, doch derKampf geht weiter.

Und die Wüste lebt. Wer nachts mitder Taschenlampe durchs Gebüsch zieht,sieht Dutzende Augenpaare: Damwild,Wildschweine und allerhand Kleingetier.Jetzt, im Frühjahr, sind die Grasflächenvon einem satten Grün überzogen. Aberin der Sommersonne wird das Gras ver-dorren und sich braun färben.

Der Naturschützer Hans-Dieter Wiese-mann schwärmt von einem „unglaubli-chen Artenreichtum“. Wohl kein Blüm-chen, kein Tier in der Senne, das derMann mit dem weißen Bart nicht beimNamen nennen kann. Etwa tausend ge-fährdete Pflanzen- und Tierarten sindhier zu finden. Der Senner Moorfrosch(Rana arvalis) zum Beispiel und die Bech-steinfledermaus (Myotis bechsteinii), zuerkennen an den besonders langen Ohrenund dem schneeweißen Bauch.

Auch wenn der Laie sie nur schwer zuGesicht bekommt, ist die Bechsteinfleder-

maus in der Region keine Unbekannte.Sie verzögerte bereits die Fertigstellungder Autobahn 33, noch immer klafft einekilometerlange Lücke. Nun soll die Fle-dermaus den Naturschützern im Kampfum einen Nationalpark beistehen.

Bis jetzt verhinderte eine zugezogeneSpezies, dass die Senne zum National-park werden konnte: die britischen Streit-kräfte. Sie nutzen das Gebiet als Trup-penübungsplatz, bauten dort auch Dörfermit einer Moschee nach, um den Häuser-kampf für Afghanistan zu üben. Wenndie Panzer rollen und Munitionssplitterdie Heide in Brand setzen, trägt dies im-merhin zum Erhalt der Landschaft bei:Die Streitkräfte roden dadurch die Senne,wie es früher die Heidebauern taten.

In einigen Jahren soll das Kriegsspielenden, die Briten wollen sich voraussicht-lich 2020 zurückziehen. UmweltpolitikerRemmel spricht von einer „einmaligenhistorischen Chance“. Schon im Koali -tionsvertrag vor zwei Jahren hatte die da-malige rot-grüne Minderheitsregierungdas Vorhaben propagiert, es soll auch denTourismus in der Region ankurbeln. Seitder Wahl am 13. Mai haben die Grünenzusammen mit der SPD eine klare Mehr-heit im Landtag. Remmel ist entschlossen,jetzt Fakten zu schaffen, und bringt alsSchirmherrn für den Nationalpark gernPrinz Charles ins Gespräch. „Das wäreeine interessante Variante, oder?“

In Hövelhof, am Rande der Senne,kommen Remmels Pläne garnicht gut an. Vielen Ein-wohnern graust vor ei-nem „Nationalpark-Re-gime“, wie sie es nen-

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Senne darf nicht sterben

Im östlichsten Zipfel Nordrhein-Westfalens stemmen sich

Anwohner gegen die Pläne der Regierung, einen

Nationalpark einzurichten.

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Waldbesitzer Prinz zur Lippe

„Rücken gerade halten und nicht aufgeben“

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Deutschland

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360°-Foto: Die Senne im Panorama

Für Smartphone-Benutzer:Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“.

nen. Sie sorgen sich, dass die Durchgangs-straßen und die Wanderwege dann ge-sperrt würden. Und dass ihre schöne Sen-ne zuwuchert, wenn der Mensch nichtmehr eingreift.

Damit kein Missverständnis aufkommt:„Wir sind absolut für den Naturschutz“,sagt der CDU-Landtagsabgeordnete Vol-ker Jung. Nur verstehen er und die übri-gen Gegner darunter etwas anderes alsdie Befürworter.

Auch in den Buchenwäldern des an-grenzenden Teutoburger Waldes wird derKampf um den Nationalpark geführt. Alsdie Pläne für die Senne vor knapp zehnJahren ins Stocken gerieten, verfielen dieNaturschützer auf die Idee, einen Teil desTeutoburger Waldes in ihre Planungeneinzubeziehen, weil sie sich dadurch grö-ßere Erfolgschancen ausrechneten.

Stattdessen riefen sie noch mehr Geg-ner auf den Plan. Sie fürchten, dassArbeits plätze und Einnahmen verloren-gehen, wenn der Wald nicht mehr bewirt-schaftet werden darf. Der ist teilweise Privateigentum, viele Hektar gehören derFamilie von Stephan Prinz zur Lippe, einem eigentlich umgänglichen Mann.

Ihm gefielen schon die Pläne für dieSenne nicht, aber als sich herausstellte,dass seine Waldflächen zum Kern einesNationalparks werden sollten, war es mitder Zurückhaltung vorbei. „Der Wald istunser Gründungsmythos“, sagt Prinz zurLippe. Er besann sich auf seine Herkunft:„Was macht den Adel aus? Rücken geradehalten und nicht aufgeben.“

Im Wald steht die Ruine der Falken-burg, der Wiege des Hauses Lippe, errich-tet im Jahre 1194. Der Weg dorthin iststeil, aber Prinz zur Lippe steigt zügig hin -auf. „Die Burg wurde niemals erobert“,sagt er. Das soll auch jetzt nicht passieren.Prinz zur Lippe sorgt sich um dieforstwirtschaft liche Nutzung des Waldes –und darum, dass der über Generationengepflegte Wald aus Buchen und Fichtenaus dem Gleichgewicht geraten könnte.

Warum das rot-grüne Bündnis in Düs-seldorf unbedingt einen Nationalparkschaffen will, bleibt vielen Menschen inOstwestfalen-Lippe ein Rätsel. Der Um-weltminister habe doch sogar Verwandt-schaft in der Region, erzählen sie, er seihier früher auf Bäume geklettert.

Johannes Vogt, einer der Gegner desNationalparks, kennt den Minister bes-tens – sie sind Cousins. Vogt ist sich sicher:„Urgroßvater würde sich im Grabe um-drehen.“

KATHARINA HEIMEIER

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Die Unterschrift war schon etwaszittrig. Aber was Alwin Schmau-der, 77, im August 2005 der Stadt

Aalen mitteilte, war von großer Klarheit.Er werde „weder in Zukunft noch jetzt“sein Grundstück an die Gemeinde ver -äußern, schrieb der ehemalige Landwirt.

Die Stadtverwaltung wollte ihm einStück Land abkaufen, um ein Baugebietzu erschließen. Doch Schmauderfühlte sich übervorteilt. Aalens Ver-treter hätten sich „uns gegenüberausnahmslos verhalten wie moder-ne Raubritter“, schrieb er, „niemals,niemals bekommt ihr auch nur einkleines Stück von uns“.

Wenig später ging es Schmaudergesundheitlich zunehmend schlech-ter: erst das Herz, dann Depressio-nen. Ein gutes halbes Jahr späterkonnte er sich nicht mehr wehren.

Seine Tochter Petra erzwang, dassfür ihn ein amtlicher Betreuer ein-gesetzt wurde. Fortan konnteSchmauder nicht mehr über seinVermögen verfügen. Und mit das

Erste, was der Betreuer machte: Er ver-kaufte das begehrte Grundstück an dieStadt. Jutta, Schmauders andere Tochter,ist davon überzeugt, dass der Deal rund30000 Euro unter Marktpreis abgewickeltwurde. Im vergangenen Jahr stellte sieStrafanzeige und klagte gegen den Be-treuer sowie gegen den Notar, der ihneingesetzt hatte.

Die amtliche Betreuung ist einer derschwersten Eingriffe in das Persönlichkeits-recht: Der Betreuer kann regeln, was mitdem Geld seines Klienten geschehen soll,in welches Heim er kommt und zu wel-chem Arzt er geht. Aber zuallererst sollendie vom Amt bestellten Helfer dafür sorgen,dass die ihnen anvertrauten Menschen ihrLeben so selbstbestimmt wie möglich wei-

terführen können. Sie sollen derenWillen ermitteln, respektieren und er-füllen. So fordert es das Betreuungs-gesetz, das vor 20 Jahren das anti-quierte Vormundschaftsrecht ablöste.

In der Praxis sehe es jedoch andersaus, urteilt Peter Winterstein, der Vor-sitzende des Betreuungsgerichtstages,in dem Juristen, Beamte und Sozial-arbeiter zusammengeschlossen sind:„Die rechtliche Betreuung wird ent-weder als Vormundschaft mit Macht-befugnissen oder als allumfassendeSorge für alle Belange und Bedürfnis-se einer Person missverstanden.“

Mehr als 1,3 Millionen Deutschesind derzeit abhängig von Betreu-

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Seniorenheim in Dresden: Ohne Grund werden alte Menschen ihrer Selbständigkeit beraubt

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Betreuungs-behörde0,4 %

Betreuungs-verein 6,2%

sonst. Ehren-amtliche5,5 %

Familien-angehörige58,2%

Selbständige

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29,7 %

Selbständige

Berufsbetreuer

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Anteil nach Betreuungsart*

Quelle: Bundesamt für Justiz*bei Erstbestellungen

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„Als Depperte abgestempelt“Mehr als 1,3 Millionen alte und kranke Deutsche stehen unter amtlicher Betreuung.

Mit der wachsenden Zahl nehmen auch die Fälle von Unrecht und Missbrauch zu – etwa wenn die Betreuten Opfer der Raffgier ihrer angeblichen Helfer werden.

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ern. Jedes Jahr stellen die Gerichte inrund 240000 Betreuungsverfahren fest,dass ein Individuum nicht für sich selbstentscheiden kann – meist geschieht diesauf Antrag der Angehörigen, wenn Men-schen dement oder psychisch krank wer-den, wenn sie ins Koma fallen oder durchDrogen handlungsunfähig werden. Oftübernehmen nahe Verwandte die Auf -gabe, doch in einem Drittel der Fälle be-stimmt ein Gericht einen der 12000 Be-rufsbetreuer in Deutschland (siehe GrafikSeite 54).

So geschehen auch bei LandwirtSchmauder aus Aalen in Baden-Württem-berg. Er lebte zu Hause, zusammen mitseiner Tochter Jutta. Die ausgebildeteArztassistentin hatte eine notarielle Voll-macht, kümmerte sich um ihn. IhreSchwester Petra war mit dieser Rollenver-teilung jedoch nicht einverstanden. Siestellte den Antrag für einen amtlichenBetreuer. In einem vom Notar veranlass-ten Gutachten dia gnostizierte daraufhinein Psychiater, dass Schmauder unter ei-ner depressiven Episode leide. Schmau-ders Hausarzt urteilte später, der Mannsei „geistig voll orientiert“ und „voll ge-schäftsfähig“. Trotzdem blieb er unter Be-treuung.

Alwin Schmauder beklagte sich mehr-fach schriftlich über den fremden Betreu-er. Die zuständigen Stellen ignoriertenjedoch seine Eingaben, sie ließen sogarden Grundstücksverkauf zu. „HerrSchmauder möchte dies eigentlich nicht“,schrieb der Betreuer an den Notar, aberes sei „unumgänglich“, weil noch Rech-nungen zu begleichen seien. Das sei „al-les Quatsch“, sagt Jutta Schmauder. IhrVater habe über eine gute Rente verfügt.

Alwin Schmauder starb im Altersheim.Wegen des Verkaufs des Grundstücks be-schwerte sich Tochter Jutta beim Ober-bürgermeister. Aufgrund des Zustandesdes Grundstücks sei „ein Abschlag vomRichtwert“ vorgenommen worden, recht-fertigte Aalens Verwaltungschef das Vor-gehen. Schließlich schaltete Jutta Schmau-der den Freiburger Rechtsanwalt Frank-Ulrich Mann ein. Seine Einschätzung:Der Notar, der über die Betreuung ent-scheidet, und die Stadt hätten „Hand inHand gearbeitet“.

Die Causa Schmauder mag in einigenBelangen ein Extrem darstellen. Und inTausenden Fällen steht die Lauterkeit derBetreuer außer Frage. Aber in vielen Ver-fahren werden die hehren Ziele des Ge-setzes verfehlt.

Das hat viel zu tun mit dem enormenAnstieg der Betreuungsverfahren. Undweil nicht alle Alten über ein Vermögenoder eine üppige Rente verfügen, müssendie Bundesländer mit Zuschüssen an dieBetreuer aushelfen – im vergangenenJahr rund 800 Millionen Euro.

Um die Kosten zu dämpfen, beschlossder Gesetzgeber 2005 eine Pauschalver-gütung. Das hatte fatale Folgen: FürRechtsanwälte sind die Betreuungen beieinem festgeschriebenen Stundensatz vonmaximal 44 Euro unattraktiv geworden.Einige Berufsbetreuer versuchen, mit derÜbernahme von immer mehr Fällen ih-rem Einkommensverlust entgegenzuwir-ken. Manche haben inzwischen bis zuhundert Menschen zu versorgen.

Eine intensive Betreuung ist da schlichtunmöglich. Auch deshalb werden vieleBetreute gegen ihren Willen in Heime ab-geschoben. Das mindert den Aufwand für

den einzelnen Fall. „Es ist eine Schande,wie mit diesen Menschen umgegangenwird“, sagt Michael Ramstetter, Vorstandder Vereinigung für Vorsorge- und Be-treuungsrecht. Auch Gerichte spielten da-bei eine zweifelhafte Rolle.

Jüngst hat Anwalt Ramstetter einendieser Fälle verloren. Eine vorausschau-ende Frau hatte einen Freund zum Ver-walter und Teilerben ihres Vermögensvon rund fünf Millionen Euro bestimmt.Als die alte Dame dement wurde, ließein Neffe das Testament zu seinen Guns-ten ändern und seine Tante unter Betreu-ung stellen. Die Seniorin kam in einHeim. Der eigentliche Wille der Frau –zu Zeiten klaren Geisteszustandes schrift-lich niedergelegt – wurde ignoriert. IhrFreund hatte fortan keinen Einfluss mehr.

Zu selten, klagen Anwälte, machtensich die Richter die Mühe, genau heraus-zufinden, wie sich alte Menschen ihrenLebensabend vorstellen. Das Selbstbe-stimmungsrecht bleibe auf der Strecke,der Willkür seien die Türen geöffnet.

Das gilt besonders in Württemberg.Dort entscheidet nicht ein Richter, son-dern der örtliche Notar, ob eine Betreu-ung eingerichtet wird. Juristen halten die-se Konstruktion für verfassungswidrig.

In der Praxis hat sie zuweilen absurdeFolgen: So passte ein Mitarbeiter des Aa-lener Ordnungsamts den ehemaligen Kon-strukteur Karl K., der zeitweise unter De-pressionen litt, beim Brötchenholen ab.Der Beamte sorgte dafür, dass K. in diePsychiatrie eingewiesen und wenige Wo-chen später zu einem Notar vorgeladenwurde, der ihn unter amtliche Betreuungstellte. Betreuerin wurde die Ehefrau desOrdnungsamts-Mitarbeiters – obwohl der

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Rentner Schmauder 2002, Tochter Jutta: „Niemals bekommt ihr auch nur ein kleines Stück von mir“

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Bruder von Karl K. angeboten hatte, sichum dessen finanziellen Belange zu küm-mern.

Eigentlich sollen Angehörige laut Ge-setz Vorrang haben vor professionellenBetreuern. Im Fall des Karl K. brauchtees aber das Einschalten eines Gutachters,einen fast zwei Jahre dauernden Rechts-streit und ein Urteil des Landgerichts Ell-wangen, um die Entscheidung des Notarszu heilen. K. hat inzwischen geheiratetund lebt in seiner eigenen Wohnung.

Nach ähnlichem Muster wie K. sollteauch der Mathematiker Herbert B. unterZwangsbetreuung gestellt werden. Her-bert B. beschwerte sich leidenschaftlichbei Mitgliedern des Gemeinderates. Zwarverbot ihm der Bürgermeister daraufhinwegen seiner vorgetragenen Klagen, Mit-arbeiter des Rathauses zu belästigen – dieangedrohte Betreuung konnte B. aber im-merhin abwenden.

Am besten wäre der Gerechtigkeit ge-dient, meint der Mannheimer Betreuungs-rechtsexperte Ramstetter, wenn sich dieRichter mehr Mühe gäben, sich von derHilfsbedürftigkeit persönlich zu überzeu-

gen. Viele jedoch seien wegen Überlas-tung dazu gar nicht in der Lage: Im Be-zirk des für Betreuungsrecht zuständigenAmtsgerichts in München etwa verwalten16 Richter 13300 Fälle.

Willkür in der Betreuungsmaschineriegibt es also nicht allein, wenn es ums Geldgeht. Auf einen Gefährdungshinweis folgtallzu oft die beinahe routinemäßige Be-auftragung eines Betreuers. Behördenund Gerichte würden Menschen ihre Selb-ständigkeit in viel zu vielen Fällen ohnesorgfältige Prüfung abnehmen, moniertder Münchner Anwalt Alexander Frey:„Die werden als Depperte abgestempelt,so vernichtet man Menschen.“

Dabei hat das Bundesverfassungs -gericht im Oktober 2010 die Rechte derBetroffenen noch einmal ausdrücklich ge-stärkt: Bei Entscheidungen von Betreu-ungsgerichten müssten sie persönlich ge-hört werden, betonten die Richter.

In dem Fall, der seinerzeit zur Verhand-lung anstand, hatten die Kinder ihre El-tern aufgefordert, ihr Haus zu räumen.Sie wollten das Grundstück verkaufen,um Schulden abzuzahlen. Als sich derVater weigerte, sein Haus zu verlassen,veranlassten die Kinder, dass Strom, Gasund Wasser abgedreht wurden – und siestellten einen Betreuungsantrag. Der zu-ständigen Behörde fiel bei einem Kon-trollgang auf, dass die Wohnung unbe-

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heizt war. Als der alte Mann bei einemzweiten Besuch in höflichem Ton erzähl-te, man wolle ihn umbringen, vermutetendie Prüfer eine wahnhafte Krankheit undbefürworteten eine Betreuung.

Irgendwann zogen die Eltern freiwilligaus dem Haus aus. Die Kinder nahmendaraufhin ihren Antrag auf Betreuung zurück. Da war es aber schon zu spät.Das Amtsgericht Wetzlar verlangte eineUntersuchung des Mannes, notfalls mitZwangsmaßnahmen. Der Fall landeteschließlich in Karlsruhe. Die Verfassungs-richter entschieden gegen die Behörden,weil dem alten Mann nicht die Chanceeingeräumt worden war, sich zu äußern.

Jutta Schmauder hatte bisher wenigerErfolg. Ihre Anzeige gegen den Betreuerund den Notar stellte die Staatsanwalt-schaft ein. Ihr Zivilverfahren scheiterte,zumindest teilweise, in der ersten Instanz.Es sei zwar nicht alles korrekt verlaufenmit dem Herrn Schmauder, befand dasGericht, er sei etwa nicht in alle Entschei-dungen eingebunden gewesen, aber„grob falsch“ habe niemand gehandelt.

Der Notar bestreitet alle Vorwürfe. Erhabe sich an die Gesetze gehalten, teilteer dem Gericht mit. Auch der Betreuerwill alles rechtmäßig gemacht haben. Al-lerdings verurteilte ihn das LandgerichtEllwangen in erster Instanz zu einer Zah-lung von 3000 Euro, weil er mit Schmau-ders Geld zu lax umgegangen war.

Es gibt, so lehren derartige Fälle, viele,die für die Misere der Betreuten verant-wortlich sind: Angehörige, die voreiligAnträge stellen; Ärzte, die schnelle Gut-achten schreiben; Behörden und Richter,denen das Schicksal der Betroffenengleichgültig scheint – und schließlich über-forderte oder geldgierige Betreuer.

Wie wichtig die Arbeit eines umsichti-gen Betreuers sein kann, zeigt ein Fallaus Hopsten im Münsterland. Dort küm-merte sich der Sozialpädagoge WernerDrees-Leggewie um eine über 90-jährigeFrau, die in einem Haus für BetreutesWohnen lebte und schwerst dement war.

Schon lange gab es in der kleinen Ort-schaft Gerüchte, dass sich das Geschäfts-führer-Ehepaar des Heims seinen aufwen-digen Lebensstil auf nichtlegale Art fi-nanzierte. Drees-Leggewie kontrolliertedie Kontobewegungen seines Schützlings.Er stellte fest, dass unter anderem vielGeld für hochhackige Schuhe und Reiz-wäsche ausgegeben wurde. Als er die Ge-schäftsführer zur Rede stellte, antworte-ten die, die alte Dame ziehe sich ebengern schön an.

Der Fall kam vor Gericht. Die Betrei-ber des Heims, so stellte sich heraus, hat-ten die Seniorin ausgeplündert. Und nichtnur die: Nun müssen sie sich wegen wei-terer Fälle betrügerischer Abrechnungenvor Gericht verantworten.

GUIDO KLEINHUBBERT, MICHAEL LOECKX, UDO LUDWIG

Der Geschäftsführer eines

Heims kaufte Reizwäsche

– angeblich für eine

über 90 Jahre alte Dame.

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Der Rocker ist auf dem Handy er-reichbar, kein Problem. Das magerstaunen angesichts seiner Pro-

minenz und seines Rufs. Eine Menge Polizeifahnder halten ihn schließlich fürden Kopf einer kriminellen Organisation.

Natürlich würde Frank Hanebuth, 47,ehemaliger Boxer, Kiezgröße und Prä si -dent des „Charters Hannover“ der Ro-ckergruppe Hells Angels, lieber schwei-gen; würde den Mythos des Männer -bundes wirken lassen, die Kutten, diemartialischen Aufnäher, all diese ein-schüchternden Symbole.

Aber Schweigen geht jetzt nicht mehr.Nicht mehr, seitdem sich in der Wochevor Pfingsten um fünf Uhr morgens überseinem wie eine Festung gesichertenHaus GSG-9-Kräfte aus einem Hub-schrauber abseilten, seinen anatolischenHirtenhund erschossen, Hanebuth in Fesseln legten und bei der Razzia zweiLaptops, eine Handvoll Handys und einpaar Dekorationsgewehre beschlagnahm-ten. Und erst recht nicht, seit vergan -genen Donnerstag ein Kronzeuge vor einem deutschen Gericht behauptete,Frank Hanebuth habe den Auftrag erteilt,einen lästigen Kieler Rivalen zu er -morden.

Am Telefon verweist der Rocker boss dieDarstellungen des Aussteigers Steffen R.ins Reich der Phantasie. Er ist noch immerhörbar sauer über die Polizeiak tion auf sei-nem Grundstück, den Tod seines Hundesund darüber, „dass mein elfjähriger Sohnalles mitansehen musste“. Den Mordvor-wurf weist er hingegen betont cool zurück.Er kenne weder Steffen R. noch den an-geblich getöteten Türken Tekin Biçer.

Und dass, wie vom Kronzeugen ausge-sagt, ein Hells Angel als Belohnung für

den Mord ein eigenes Charter, wie sieihre Gruppen nennen, in Hamburg habegründen dürfen? „Alles Blödsinn“, versi-chert Hanebuth. Es habe nie einen Mord-auftrag oder derartige Befehle in Rich-tung Kiel gegeben: „Ich bin Präsident vonHannover, das war’s.“ Der angeblicheMord sei vorgeschoben, in Wahrheit seidas Ziel, „Zufallsfunde für ein Verbots-verfahren zu machen“.

In der Tat geht es in diesen Wochennicht um Frank Hanebuth allein, denschillernden Inhaber einer Sicherheits -firma, einer Immobilienverwaltung undzweier Bordelle: Es geht um die Existenzder Hells Angels in Deutschland. Ihr Fort-bestand hängt davon ab, ob der Kronzeu-ge, ein Mann mit krimineller Vergangen-heit, die Wahrheit gesagt hat.

Beschuldigt wegen Zuhälterei, räube-rischer Erpressung und Körperverlet-zung – was er überwiegend bestreitet –,hatte Steffen R., 40, acht Monate lang inUntersuchungshaft geschwiegen, so wiees die Regeln unter Rockern verlangen.Mitte Februar aber begann der ehemaligeChef der Hells-Angels-Hilfstruppe „Legi-on 81“ zu reden, über die illegalen Ge-schäfte der Rockergilde, über Prostitution,Drogen, Schutzgeld – und über angebli-che Mordaufträge.

Etwa ein Dutzend Mal ließ sich der ausSachsen-Anhalt stammende Vorbestraftevernehmen. Dabei berichtete er auch voneinem zweiten Mordauftrag, den Hane-buth abgesegnet habe – der vorige Wochevor Gericht aber nicht zur Sprache kam.Demnach habe Hanebuth „grünes Licht“gegeben, den Chef der Rockertruppe Tigers, einen Mann namens Hakan, zutöten. Man solle es so machen, dass es„keinen großen Aufriss“ gebe. Drei Hells-

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Leichensuche in einer Lagerhalle bei Kiel

„Alles Blödsinn“

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Der Präsident von HannoverHat ein Hells-Angels-Boss einen Mord in Auftrag gegeben?

Ermittler sehen sich durch die Aussagen eines Kronzeugen bestätigt:Sie halten die Rockergilde für eine kriminelle Organisation.

Hells Angel Hanebuth (r.) 2010 auf dem Steintorfest in Hannover: Hierarchisch strukturierte Organisation, vergleichbar mit der Mafia?

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Angels-Mitglieder hätten dann den Auf-trag bekommen, Hakan auszukundschaf-ten. Warum der Mordplan nicht umge-setzt wurde, konnte Steffen R. indes nichtsagen. Hanebuth bezeichnet auch diesenVorwurf als „völligen Blödsinn“.

Die umfangreichen Aussagen des Kron-zeugen führten kurz vor Pfingsten zu ei-nem massiven Schlag der Polizei gegendie Hells Angels. 1200 Beamte rücktenzur Großrazzia in norddeutsche Gaststät-ten, Bordelle und Wohnungen aus, amKieler Stadtrand suchen Experten mitschwerem Gerät eine Lagerhalle ab, inderen Fundament laut Steffen R. der spur-los verschwundene Türke einbetoniertworden sein soll. Die Staatsanwaltschaftführt rund 200 Ermittlungsverfahren ge-gen 69 Beschuldigte.

So wie Steffen R. hat bislang noch keinInsider ausgepackt. Seine Einlassungenschärfen den Blick auf die Hells Angels –und sie stützen, wenn sie denn wahr sind,die These der Ermittlungsbehörden. Dem-nach bilden die Rocker eine hierarchischstrukturierte Organisation, vergleichbarmit der Mafia.

Schon seit Jahren beobachtet das Bun-deskriminalamt, dass Rockergangs immeröfter in Verfahren der Organisierten Kri-minalität auftauchen. In vielen Städtenkontrollieren sie inzwischen das Rotlicht-milieu. Und wo sie die Vorherrschaftnoch nicht erlangt haben, versuchen sieihren Einfluss mit großer Brutalität, mitMacheten, Beilen und Schusswaffen zuerweitern. BKA-Vizepräsident JürgenStock konstatiert „ein hohes Gewalt -potenzial und brutale Auseinandersetzun-gen auch im öffentlichen Raum“. BeiDurchsuchungen finde die Polizei regel-mäßig Pistolen, Handgranaten undSprengstoff.

Das BKA zählt laut einem internen Be-richt mehr als 3500 Mitglieder allein inden vier größten Clubs Hells Angels, Ban-didos, Outlaws und Gremium. Ihre kri-minellen Geschäfte, so die Ermittler, versuchten die Gangs mit vermeintlichsauberen Firmen zu tarnen, etwa als Si-cherheitsunternehmen, Bar- oder Bordell-betreiber. Insbesondere Security-Betriebedienten oft der Schutzgelderpressung.

In der Öffentlichkeit präsentieren sichdie Rocker gern als raue Gesellen mit wei-chem Herz, Frank Hanebuth war Gastder Herrenabende des hannoverschenProminentenanwalts Götz von Fromberg,an denen auch schon lokale Größen wieCarsten Maschmeyer, Michael Frenzeloder Gerhard Schröder teilnahmen.

Die Nähe zu Politikern oder Wirt-schaftsmanagern zu suchen gehört zumKonzept. Spenden für soziale Zweckesind ein gängiges Mittel: So überreichtenBandidos am Brandenburger Tor einenScheck für die Kinderkrebshilfe, die HellsAngels stifteten für Alzheimer-Patienten.Für BKA-Vize Stock ist das pure Camou-

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flage: „Das sind äußerst beunruhigendeMerkmale Organisierter Kriminalität.“

Bei Teilen der Hells Angels registrier-ten die Fahnder zudem einen „massivenExpansionsdrang“ nach Südeuropa. Lautder europäischen Polizeibehörde Europolgebe es Bestrebungen, auf der sogenann-ten Balkanroute, dem klassischen Wegdes Heroins nach Mitteleuropa, neueGruppen zu gründen, etwa in Kroatien,Serbien, Albanien und der Türkei. DieGewinne aus dem Drogengeschäft, davongehen die EU-Fahnder aus, werden zu ei-nem Gutteil in der Schweiz angelegt.

Seit mehr als zehn Jahren sammeltEuropol Informationen über „Outlaw Motorcycle Gangs“, wie die Rocker dortgenannt werden. Deutschland sei, wasdie Zahl der Mitglieder angehe, europa-weit am stärksten betroffen. Laut Europolsind 64 Prozent aller Rocker vorbestraft.„Bei nahezu jeder Hausdurchsuchung fin-det die Polizei Waffen und Drogen“, be-

richtet ein Beamter aus der Zentrale inDen Haag.

Die Erkenntnisse von Europol deckensich mit den Ermittlungen der BerlinerFahnder, die jüngst zum Verbot des„Hells Angels Motorcycle Club BerlinCity“ geführt haben. Wer die Geschäfteder Rocker störte, heißt es in der Verbots-verfügung der Innenbehörde, wurdedurch „Einschüchterungsversuche odernotfalls gewaltsam und unter Inkaufnah-me von schwersten Verletzungen bis hinzum Tod ausgeschaltet“.

Aus dem Landeskriminalamt heißt es,bereits im Jahr 2008 hätte man gegen denspäteren Kopf der Bande Kadir P. vorge-hen können – und müssen. Laut einemLKA-Insider gab es bereits damals eineVorlage für eine Verbotsverfügung, dieaber in der Senats-Innenverwaltung hän-genblieb.

In Kreisen der Hells Angels wird be-hauptet, ihnen sei seit Februar bekanntgewesen, dass der Senat eine Verbotsver-fügung vorbereite. Dass ihnen der Zeit-punkt der Razzia vergangene Woche ver-

raten wurde und die Polizei in leergefegteRäume eindrang, war dabei der Höhe-punkt einer offenbar seit langem beste-henden fruchtbaren Zusammenarbeit derRocker mit korrupten Beamten.

Der Kreis der Verdächtigen ist groß.Im Landeskriminalamt befassen sich zweiFachkommissariate mit der Rockerkrimi-nalität, aber auch ein Leck in Verwaltungoder Justiz ist nicht auszuschließen.

Die Nähe zwischen Rockercliquen undPolizei ist auch andernorts eklatant. Man-che Beamte werden offenbar von denMotorradclubs mit ihren Ritualen undUniformen, mit ihren Rangabzeichen undihrem Machotum geradezu angezogen.So ermittelte die Essener Polizei 2010 ge-gen einen Kripo-Mann, weil er die Ban-didos mit Informationen aus dem Dienst-computer versorgt haben soll.

In Frankfurt wurden im selben Jahrfünf Beamte suspendiert, darunter ein 50-jähriger Erster Hauptkommissar des LKA,

weil sie Interna an die Hells Angelsdurchgestochen haben sollen; zwei Be-schuldigte sollen sogar selbst mit Drogengehandelt haben. In einem weiteren Fallin Berlin fand die Polizei bei einer Durch-suchung einen Zettel vor: „Ihr brauchtdie Tür nicht einzutreten. Sie ist offen.“

In Schleswig-Holstein, so hat es Kron-zeuge Steffen R. behauptet, sollen dreiBeamte – je einer von der Polizei, demJustizvollzug und der Kieler Stadt - verwaltung – den Hells Angels bei ihrenGeschäften behilflich gewesen sein. In-nenminister Klaus Schlie ist entsetzt,„welche Anstrengungen die Rocker unter-nehmen, tief in staatliche Strukturen ein-zudringen“.

Schlie war der erste deutsche Minister,der nach vielen Jahren mal wieder einVerbotsverfahren einleitete, 2010 gegenBandidos und Hells Angels. Manche sei-ner Kollegen in den Bundesländern wa-ren damals nicht erbaut vom Tatendrangdes ebenso bodenständigen wie furcht-losen Holsteiners. Bei der Innenminister-konferenz vorigen Donnerstag bemerkte

Schlie mit Genugtuung eine neue Auf -geschlossenheit: Beeindruckt von denAussagen des Kronzeugen, denken nunmehrere Innenminister aus den Bundes-ländern darüber nach, andere Saiten auf-zuziehen.

Und Schlie geht gleich einen Schrittweiter: „Wenn sich in den laufenden Ver-fahren der Verdacht verdichten sollte,dass die Rocker ein kriminelles Netzwerkbilden und bestimmte Personen Füh-rungspositionen in diesen kriminellenStrukturen einnehmen, wird es Zeit, überein bundesweites Verbot nachzudenken.“

Denn die Zweifel mehren sich unterExperten, ob der Kampf gegen die Ge-setzlosen im föderalen Kleinklein erfolg-reich geführt werden kann. Der Vorsit-zende des Bundes Deutscher Kriminal-beamter, André Schulz, ist überzeugt,dass ein bundesweites Phänomen wie Rockerbanden auch „zentral untersucht“werden müsse.

Für Schulz belegen die jüngs-ten Vorwürfe gegen Frank Ha-nebuth, dass die örtlichen oderregionalen Charter längst nichtso eigenständig sind wie immerbehauptet; und dass ein kon-zertiertes Eingreifen der Si-cherheitsorgane auf Bundes-ebene sinnvoll sein könnte.

Wie mächtig Hanebuth inWahrheit ist, wie weit sein Ein-fluss reicht, erschloss sich imMai 2010: In der Kanzlei seinesIntimus und RechtsanwaltsGötz von Fromberg besiegelteer mit PR-Getöse den bundes-weiten Friedensschluss mitBandidos-Boss Peter Maczol-lek. Der Handschlag mit demErzfeind war verbindlich für

alle Hells Angels in Deutschland und be-siegelte auch die Verabredung, ein Jahrlang keine neuen Charter zu gründen.

Diese Woche wird die Suche nach derangeblich einbetonierten Leiche fortge-setzt. Innenminister Schlie will nicht lo-ckerlassen, er hält den Kronzeugen fürglaubwürdig.

In einem Detail jedoch mussten ihmseine Ermittler inzwischen erklären, dassSteffen R. wohl falschliege. Der Kronzeu-ge hatte ausgesagt, für die Hilfe beimMord an dem Türken habe ein weitererGefolgsmann ein eigenes Charter in Polen gründen dürfen.

Als die Rockerclique am 10. April 2010die neue Dependance mit einer großenSause feierte, war Tekin Biçer jedochnoch gar nicht verschwunden – das ge-schah erst 20 Tage später.

An der Party nahmen auch zweiRocker teil, die sich heute gegenseitig derLüge bezichtigen: Steffen R. und FrankHanebuth.

MARKUS DEGGERICH, HUBERT GUDE, ANDREAS ULRICH

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Razzia in Potsdam am vergangenen Mittwoch: Fruchtbare Zusammenarbeit der Rocker mit Polizeikreisen

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Die Mutter war früh genug dran,das dachte sie jedenfalls. Derzweite Geburtstag ihrer Tochter

stand erst in einigen Monaten an, daschrieb die Frau der Mainzer Stadtver-waltung, dass sie für ihr Kind einen Platzin einer Tagesstätte brauche. Mehrmalshakte sie nach, immer vergebens.

Dabei ist das Gesetz in Rheinland-Pfalzeindeutig formuliert. Seit 2008 ist festge-schrieben, dass alle Zweijährigen in demBundesland einen Anspruch auf „Erzie-hung, Bildung und Betreuung im Kinder-garten“ haben. Ohne Wenn und Aber –und seit zwei Jahren sogar ohne Gebüh-ren. Mehr als 500 neue Betreuungsplätzehat allein die Landeshauptstadt seit 2009geschaffen.

Doch die Mainzer Mutter ging leer aus.Sie meldete ihr Kind schließlich in einerprivaten Einrichtung an. Die Kosten fürdie Privatbetreuung, knapp 400 Euro proMonat, wollte sie von der Stadt ersetzthaben. Nach längerem Hin und Her er-hob sie Klage – und das Verwaltungsge-richt gab der Mutter vor wenigen Tagenweitgehend recht. Wenn eine Kommunekeine ausreichenden Kapazitäten bereit-halte, stelle dies eine „Pflichtverletzung“dar, für die sie geradestehen müsse.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts istnoch nicht rechtskräftig, aber es schürtdie Befürchtungen von Kämmerern auchin anderen Bundesländern. Im Sommerkommenden Jahres, am 1. August 2013,soll bundesweit eine ähnliche Regelungin Kraft treten: ein verbindlicher An-spruch auf Förderung in einer Kinder -tagesstätte oder bei einer Tagesmutterschon ab dem ersten Geburtstag.

Vielerorts dürfte sich dies als leeres Ver-sprechen herausstellen, vermutlich werdenZehntausende Plätze fehlen. Bundesfami-lienministerin Kristina Schröder (CDU)präsentierte in der vergangenen Wocheein Zehn-Punkte-Programm, um bis zumStichtag ein „bedarfsgerechtes Angebot“zu schaffen. Doch die Nachfrage dürftegrößer sein. Die Folge: Zu den hohen Kos-ten für den Kita-Ausbau könnten beträcht-liche Zahlungen an Eltern kommen.

Es bestehe „eindeutig die Gefahr“, dassbis Sommer 2013 „nicht überall genügend

* Bei einem Besuch im Stuttgarter Kinderhaus Bärchen-insel am 14. Februar 2011.

Plätze für Kinder unter drei Jahren zurVerfügung stehen“, konstatiert der Haupt-geschäftsführer des Deutschen StädtetagsStephan Articus. Und sein Kollege GerdLandsberg vom Deutschen Städte- undGemeindebund prophezeit: „Die Klagenwerden sich gegen die Kommunen rich-ten, und die Kommunen werden die Kla-gen verlieren.“

Kommunalvertreter haben bisher vorallem Fälle wie jenen aus Mainz im Blick.Dabei geht es um, wie Juristen sagen,„Aufwendungsersatz“ für die zusätzli-chen Kosten, die Eltern bei privaten An-bietern entstehen – also die Differenzzwischen den Gebühren, die in einerstaatlichen Krippe anfallen, und höherenPreisen auf dem freien Markt.

Das würde für die Kommunen schonteuer genug, ist aber noch nicht alles.Fachleute gehen davon aus, dass die An-sprüche der Eltern weiter reichen. Waspassiert, wenn die Eltern keine Betreuungfinden, weder staatlich noch privat, und

deshalb ein Elternteil nicht arbeiten ge-hen kann? Was also, wenn eine Grund-schullehrerin zu Hause bleiben und sichum ihren eigenen Sohn kümmern muss,statt die Kinder anderer zu unterrichten?Wenn eine Verkäuferin nur noch in denwenigen Stunden arbeiten kann, in denender Vater trotz Vollzeitjob auf die Tochteraufpasst?

In solchen Fällen müssen die Kommu-nen nach Ansicht von Thomas Meysen,Fachlicher Leiter des Deutschen Institutsfür Jugendhilfe und Familienrecht, „Scha-densersatz aus Amtshaftung“ leisten –und der umfasse Einkommensverluste,die auf fehlende Betreuungsmöglich -keiten zurückzuführen seien. „Die An-spruchsvoraussetzungen liegen vor“, sagtder promovierte Jurist.

Mit anderen Worten: Die Grundschul-lehrerin und die Verkäuferin können fürdie Zeit, in der sie ihr Kind betreuenmussten, ihren Verdienstausfall in Rech-nung stellen.

Die Kommunen stehen vor einem un-kalkulierbaren Risiko. Niemand weiß, inwie vielen Fällen und in welcher Höhesolcher Schadensersatz künftig verlangtwird. Sicheren Schutz vor Klagen bötenur ein Angebot, das tatsächlich „be-darfsgerecht“ ist, so dass alle einen Platzfinden. Stattdessen werden wohl nochmehr Kita-Plätze fehlen als bislang an-genommen.

Die Bundesregierung rechnete zu-nächst damit, dass etwa 750000 Plätzebenötigt würden. Doch in ihrem jüngsten

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Bauen oder zahlenDer Mangel an Kita-Plätzen dürfte für den Staat teuer werden:

Verdienen die Eltern weniger, weil sie zu Hause bleiben müssen, können sie Schadensersatz verlangen.

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Familienministerin Schröder*: Unkalkulierbares Risiko

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Zwischenbericht geht sie von einem hö-heren Bedarf aus. Sie erwartet nun, dassfür 42 Prozent der Einjährigen und für65 Prozent der Zweijährigen Betreuungs-plätze benötigt werden. Die Regierunghabe ihre Prognose um 30000 Plätze er-höht, sagte Ministerin Schröder in dervergangenen Woche.

Selbst das ist womöglich nicht genug.Nach neuen Berechnungen der Dortmun-der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfe -statistik werden im August 2013 für dieBetreuung der Kinder unter drei Jahrensogar etwa 80000 Plätze mehr benötigt alsursprünglich geplant.

Während die neuen Bundesländer gutdastehen, hinken weite Teile des Westenshinterher. Vor allem in Nordrhein-West-falen gebe es viele „Nachzügler“, hat dasDeutsche Jugendinstitut in München ermittelt: Bezirke, die nur eine geringeZahl an Plätzen anbieten und gleichwohlnur geringe Anstrengungen unternom-men haben, daran etwas zu ändern.

„Viel hängt von den Kommunalpoli -tikern vor Ort ab“, sagt der Jugendin sti -tut-Abteilungsleiter Bernhard Kalicki,„und ob es Eltern gibt, die Druck ma-chen.“

Dabei wird der Betreuungsbedarf inden Regionen stark unterschiedlich aus-fallen. Ausgerechnet Großstädte und pro -sperierende Kommunen, von denen diemeisten über ein vergleichsweise großesAngebot verfügen, werden wohl am här-testen von Klagen getroffen werden: weilhier viele Mütter berufstätig sind oder zu-mindest sein wollen – und weil beim „ge-bildeten, hochqualifizierten Publikum dieKlagebereitschaft höher sein dürfte“, wiees Henriette Katzenstein vom DeutschenInstitut für Jugendhilfe und Familienrechtformuliert.

Selbst die Hoffnung, mit einer verstärk-ten Ausbildung von Tagesmüttern zusätz-liche Betreuungsangebote zu schaffenund so die befürchtete Klagewelle abzu-schwächen, könnte trügen. Grundsätzlichbestehe „Wahlfreiheit“ der Eltern zwi-schen Kindertagesstätte und Tagesmutter,sagt der Karlsruher Anwalt und Betreu-ungsrechtsexperte Eckart Riehle. „Wenneine Mutter sagt, ich möchte bitte unbe-dingt einen Kita-Platz, und sie bekommtden nicht, dann könnte sie schon deswe-gen klagen.“

Im Mainzer Fall wird die Stadt vermut-lich in Berufung gehen, doch der Anwaltder Mutter gibt sich siegessicher: „Wenndas keine Konsequenzen hätte, könnteder Gesetzgeber ja beliebig Rechte ein-führen, ohne eine Sanktionierung fürch-ten zu müssen“, sagt Ulrich Mühl.

Seine Mandantin hat mittlerweile er-reicht, was sie ursprünglich erreichenwollte. Kaum hatte der Prozess begonnen,fand die Stadt einen Kita-Platz für dieTochter.

DIETMAR HIPP

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„Stümperei“Christoph Matschie, 50 (SPD), Vize-Ministerpräsident und Bildungsminister von Thüringen, über das Betreuungsgeld

SPIEGEL: Glückwunsch,Herr Matschie, Thürin-gen hat ein Betreuungs-geld schon vor sechsJahren eingeführt. Nunfolgt der Bund dem Er-furter Modell.Matschie: Ach wo, dieBundesregierung stiftetChaos. Die Familienmi-nisterin spricht vonWahlfreiheit für Eltern.Für mich heißt das: Wer seine Kinderin die Kita schicken will, sollte dastun können. In Thüringen haben wirausreichend Betreuungsmöglichkeitengeschaffen. Ein Großteil der Republikist davon noch weit entfernt.SPIEGEL: Wie kommt das Betreuungs-geld – monatlich mindestens 150 Europro Kind – in Thüringen an?Matschie: Das Betreuungsgeld wirdvor allem von sozial schwachen Fami-lien in Anspruch genommen. Dasführt dazu, dass Kinder, die professio-nelle Betreuung dringend nötig hätten,zu Hause bleiben.SPIEGEL: Warum wollen Sie vorschrei-ben, wie Eltern ihre Kinder erziehen?Matschie: Das tue ich nicht. Aber ichwehre mich entschieden gegen das Be-treuungsgeld, es setzt die falschen An-reize. Es hemmt viele Kinder in ihrerEntwicklung. Und es lockt Eltern mitniedrigen Einkommen in die Armuts-falle, weil sie nach längerem Ausstiegnur schwer wieder Jobs bekommen.SPIEGEL: Sind die Thüringer Kindergär-ten verwaist, seit es das Betreuungs-geld gibt?Matschie: Nein. In Thüringen besuchtfast die Hälfte der Kinder unter dreiJahren eine Kita. Das zeigt: Die Elternnehmen dieses Angebot gern an. Wirhaben bereits 2010 einen gesetzlichenAnspruch auf täglich zehn Stundenprofessionelle Betreuung für jedesKind geschaffen. Und anders als derBund sind wir in der Lage, diesem An-spruch nachzukommen. In Thüringenmuss niemand klagen, weil dem Kindein Kita-Platz verwehrt wird.SPIEGEL: Thüringen zahlt 30 MillionenEuro jährlich an Eltern, die ihre Kin-der zu Hause betreuen. Diese Summekönnten Sie sparen, sobald der Bundsein Betreuungsgeld einführt. Sie soll-ten sich freuen.

Matschie: Wie könnteich? Die Bundesregie-rung ist dabei, die Ver-einbarkeit von Berufund Familie zu erschwe-ren. Sie mindert die Zu-kunftschancen unsererKinder. Die Rechnunglautet offenbar: Wir ma-chen ein paar Millionenfür das Betreuungsgeldlocker und drücken uns

so vor Investitionen in Kindergärten.Das ist eine zynische Politik.SPIEGEL: Thüringen ist mit Kita-Plät-zen gut versorgt. In anderen Bundes-ländern ist das Angebot bei weitemnicht ausreichend. Bundesfamilienmi-nisterin Schröder will nun mit einemZehn-Punkte-Plan gegensteuern.Matschie: Das ist schlimmste Stümpe-rei. Die Engpässe bei der Betreuungwaren absehbar, aber die Bundesre-gierung hat das Problem ignoriert.Wir brauchen mehr Kita-Plätze, undwir brauchen mehr Erzieher. Um bei-des hat sich Frau Schröder bis heutenicht gekümmert.SPIEGEL: Die Kinderbetreuung ist Län-dersache.Matschie: Aber die Länder müssenvom Bund besser unterstützt werden.Die Bundesregierung hat für den 1.August 2013 einen Rechtsanspruch aufBetreuungsplätze geschaffen. Dannmuss sie diesen auch durchsetzen.Stattdessen diskutiert Schwarz-Gelbseit Monaten über das irrsinnige Be-treuungsgeld, das niemandem hilft.SPIEGEL: Warum haben Sie das Betreu-ungsgeld in Thüringen nicht abge-schafft, wenn Sie es für einen Fehlerhalten?Matschie: Wir sind in einer Großen Koalition – die CDU verhindert dasbisher. Aber ein Blick auf den Haus-halt zeigt: Das Betreuungsgeld istauch finanziell untragbar. Die Zu-schüsse aus dem Solidarpakt sinken,Thüringen kann in Zukunft wenigerGeld ausgeben. Wir müssen uns alsoentscheiden. Entweder wir investierenin eine moderne Familienpolitik undbauen unser Betreuungsangebot aus.Oder wir verschwenden weiterhin Mil-lionen für das Betreuungsgeld. Beidesist nicht zu haben.

INTERVIEW: MAXIMILIAN POPP

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Szene

L’Oquenz

Was war da los, Frau L’Oquenz?L’Oquenz, Musikerin aus Toronto,

über eine königliche Party: „Ichhabe Prinz Charles die Basicsdes Plattenauflegens gezeigt.Seine Hauptaufgabe bestanddarin, einen Song zu mischen.Es war Elektromusik, ein Liedmit dem Namen ,Lick‘. Ich ar-beite für eine Organisation, dieJugendlichen beibringt, Turn -tables zu bedienen, und PrinzCharles hat uns auf einer Mes-se besucht. Er sah scharf ausin seinem Anzug, und er hatteeinen guten Style am Platten-spieler. Er hat mir auch gesagt,dass er Musik möge, aber lei-der kein Instrument spiele. Ersagte, er sei ein Disco-Fan. Ichglaube, wenn wir ein wenigmehr Zeit gehabt hätten zuüben, hätte die königliche Ho-heit ihre eigene Party schmei-ßen können.“

Der Stilkritiker Bernhard Roetzel, 45,schrieb die Modebibel „Der Gentleman“. Nun erklärt er, was auf Deutschlands Köpfen los ist.

SPIEGEL: Hat der deutsche Sänger Roman Lob nur den achten Platz inBaku gemacht, weil er diese Mützetrug?Roetzel: Ich habe mich auch gewun-dert, was das auf seinem Kopf war. Essah ein wenig aus wie eine Feinripp-Unterhose. Ich glaube aber, seine Plat-zierung lag eher an der Musik.SPIEGEL: Wieso tragen Männersolche Mützen, wenn es garnicht kalt ist?Roetzel: Ich bin heute MorgenS-Bahn gefahren und habe ei-nen Mann gesehen, der kurzeHosen und eine Mütze trug.Ich wollte ihn erst fragen, wasdas soll. Ich meine, beobach-tet zu haben, dass bei diesemTrend auch wichtig ist, dieMütze weit nach hinten zuschieben, wie ein Rastamann.

SPIEGEL: Was sehen Männer, die sichsolche Mützen aufsetzen, wenn sie inden Spiegel schauen?Roetzel: Peter Mustermann sieht wahr-scheinlich Ashton Kutcher. Ich glaube,Kutcher hat diesen Trend gesetzt.Aber Mode ist ja immer ein wenigseltsam. Plötzlich finden Menschendas toll, was sie vorher blöd fanden.Und dann setzen sie sich eben auchsolche Teewärmer auf den Kopf.SPIEGEL: Es gibt auch andere Männermit seltsamen Kopfbedeckungen alsMarkenzeichen. Wie finden Sie

den Hut von Udo Linden-berg?Roetzel: Lindenberg ist einAltrocker, das passt.SPIEGEL: Die Hüte von ErichHonecker?Roetzel: Honecker trug imSommer einen Kunstpanama-hut, der war zwar nicht ausPanamapalme, aber manmusste an Lateinamerikadenken – somit an Kuba, unddas hat dann auch gepasst.

SPIEGEL: Die Mütze von SherlockHolmes?Roetzel: Engländer nennen diese Mütze„Deerstalker“. Wird meist bei derJagd getragen.SPIEGEL: Wann darf ein Mann eine Roman-Lob-Mütze tragen?Roetzel: In der Freizeit. Wenn jungeLeute Flipflops, Tanktop und Shortsanhaben, können sie auch dieseSchlumpfmützen aufsetzen.SPIEGEL: Gibt es eine stilvollere Mög-lichkeit, sein Haupt zu bedecken?Roetzel: Ich habe eine umfangreicheHutsammlung. Filzhut zum Anzug,eine Baskenmütze auf Reisen. Ichhabe auch einen Bowler, aber den setze ich nur für mich zu Hause auf.Damit traue ich mich nicht vor die Tür.SPIEGEL: Wenn ein 18-jähriger Jungesich eine Schlumpfmütze wünscht,was soll man ihm sagen?Roetzel: Wer 18 ist, darf machen, waser will. Da können Sie nur vorleben,wie es schöner wäre. Meine Kindersind zwei und drei Jahre alt. Sie tra-gen Hut.

Warum tragen Männer Schlumpfmützen, Herr Roetzel?

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Gesellschaft

Der letzte SchlagEINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Ein Südafrikaner zieht wegen eines Straßenschadens vor Gericht.

Drei Stunden lang saß er neben sei-nem Auto mit den zerfetzten Rei-fen, wartete auf Hilfe, mehr als

500 Kilometer lagen noch vor ihm, überder Landstraße wurde es hell. WannieCarstens konnte nun deutlich erkennen,was ihn aufgehalten hatte.

Er sah ein Schlagloch, mehr als andert-halb Meter lang, einen Krater im grauenAsphalt, mit zackigen Rändern.

Zwei Monate ist das her, Cars-tens ist längst wieder zu Hause,sein Auto repariert, aber dasSchlagloch beschäftigt ihn immernoch. An dem Schlagloch kanner erklären, was in seinem Land,Südafrika, schiefläuft. Möglicher-weise geht von dem Schlaglochsogar eine kleine Protestbewe-gung aus, bei Carstens habensich schon einige Leute gemeldet,die sich ihm anschließen wollen.

Er hat wegen des Schlaglochseinen Anwalt beauftragt, der be-reitet eine Klage gegen die Re-gierung der Nordwestprovinzvor. Dort lebt Carstens, dort ge-schah der Unfall, gegen sechsUhr am Morgen des 24. März,auf der R507, etwa 15 Kilometerhinter dem Ort Ottosdal.

Carstens war auf dem Weg zurTrauerfeier für seine Mutter. Ne-ben ihm saß seine Frau Wilma,sie waren seit zwei Stunden un-terwegs, es war noch dunkel.

Eigentlich fahre er nicht gernnachts, sagt Carstens. Er leitetdie Sprachfakultät der NorthwestUniversity in der Stadt Potchef -stroom, am Telefon meldet ersich mit „Professor Wannie“. Er ist 60Jahre alt, seine Stimme klingt freundlich,man will ihm glauben, wenn er sagt, dasser sonst ein positiv gestimmter Menschsei, keiner, der dauernd Ärger suche.

An diesem Tag musste er nachts los,seine Mutter hatte in Upington gelebt,mehr als 650 Kilometer von Potchef-stroom entfernt. Die Trauerfeier warnachmittags um drei. Carstens rechnetemit acht Stunden für die Fahrt und schlugnoch drei Stunden drauf, er nahm dengroßen Wagen, seinen Mercedes C200,nicht das kleine Auto seiner Frau.

„Es reist sich hier leider nicht wie inEuropa“, sagt er. In Europa ist er oft, vorallem in den Niederlanden und in Bel-

gien. Sein Forschungsgebiet ist die Spra-che Afrikaans, die aus dem Dialekt derniederländischen Siedler entstand, die im17. Jahrhundert in den Süden Afrikas kamen. Er wirbt auf der ganzen Welt fürdie Sprache, deren Ruf noch darunter leidet, dass sie auch die Sprache des Regimes der Rassentrennung war. Apart-heid ist ein Wort aus dem Afrikaans. Cars-tens hat in der Stadt Gent in Belgien ge-

holfen, eine Sammlung von Gedichtbän-den in Afrikaans aufzubauen.

Er fühlt sich Europa nah, sprachlich,auch kulturell. Aber er liebe auch Süd-afrika, sagt er. Verrät er sein Land, wenner sich in ihm glatte Straßen wie inEuropa wünscht? Er zahle doch Steuern,er sei doch ein guter Staatsbürger, sagter. Er habe doch als Hochschullehrer undForscher viel für sein Land getan.

Das Schlagloch zerriss beide Reifen aufder linken Seite, Carstens brachte dasAuto zum Stehen, seiner Frau und ihmwar zum Glück nichts passiert. Er rief sei-ne Versicherung an, dann wartete er.

Nach drei Stunden kam der Abschlepp-wagen. Bis sie in der Werkstatt waren, in

der Stadt Klerksdorp, waren noch malanderthalb Stunden vergangen. Die Män-ner in der Werkstatt zogen neue Reifenauf und rieten Carstens davon ab, nochweit zu fahren. Das Fahrgestell könnteetwas abbekommen haben.

Wannie Carstens rief seine Schwesteran, in ihrem Haus wollten sie später gemeinsam essen. Wannies Bruder warschon bei ihr, er war 900 Kilometer weit

gefahren, allerdings die ganzeStrecke bei Tageslicht. Die Ge-schwister wollten eine kleine,persönliche Feier für ihre Mutter,einen Gottesdienst, das Essen,und Wannie, der Älteste von ih-nen, sollte eine Rede halten.

Er würde es nicht schaffen,sagte er seiner Schwester. Wie-der nicht. Drei Tage zuvor wardie Mutter gestorben. Sie war 79Jahre alt und seit einer Weile anKrebs erkrankt. Als es ihr plötz-lich schlechter ging, war Carstensauf einer Reise und konnte nichtschnell genug zu ihr.

„Jeder verdient doch eine Ge-legenheit, sich von einem gelieb-ten Menschen zu verabschieden“,sagt er, man hört ihn schluchzenam Telefon. Die Regierung hatihn um seinen Abschied ge-bracht, weil sie dieses Schlaglochnicht hat reparieren lassen. Sosieht er die Sache inzwischen.Carstens hat einen Teil seinerTrauer in Wut verwandelt.

Seine Frau und seine Kinderhaben versucht, ihn von der Klage abzuhalten. Aber es ist dasLetzte, was Carstens noch für

seine Mutter tun kann. Falls er gewinnt,will er das bekannt machen, ständig ver -unglücken Menschen wegen der kaputtenStraßen, niemand solle das mehr hinneh-men müssen, sagt er.

Carstens will 4500 Rand, etwa 430Euro, für die Reparaturen am Auto undSchmerzensgeld für seinen emotionalenSchaden, er muss jetzt zum Psychologen,sich begutachten lassen.

Am vergangenen Wochenende ist ernoch einmal zu der Unfallstelle gefahren,auf die R507, hinter Ottosdal. Er wolltedas Schlagloch fotografieren, für seineUnterlagen und die Klage. Als er ausstieg,sah er es nicht mehr. Die Straße war frischgeteert. WIEBKE HOLLERSEN

Carstens

Aus der „Süddeutschen Zeitung“

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Nach dem Abspann gehen sie nochraus vors Kino, blinzeln in dieSonne. „Ich fass es nicht, das war

komplett Achtziger, Action wie bei DonSiegel.“ – „Ein paar gute Ideen gab’sschon, aber die hätte man weiter -drehen müssen. Ich mag Ballerfilme so-wieso nicht.“ – „Wie kann man Sylves -ter Stallone heute noch so zeigen?

Meine Güte. Und? Gehen wir noch wastrinken?“

Drei Leute vor dem Kino „Olympia“ inCannes. Der eine, ein Lockenkopf mit derStatur eines Wagner-Helden, kramt denMopedhelm aus dem Sitz seiner Vespaund zwängt sich hinter den Lenker: „Kannnicht, muss weiter.“ Eine sehr gewöhnli-che Szene, vor dem Kino, nach einem

schlechten Film. Mit einem Unterschied.Der Mann auf der Vespa hat gerade nichtein paar Euro für den Film bezahlt.

Sondern ein paar Millionen Euro.Gefallen hat er ihm trotzdem nicht.

Martin Moszkowicz knattert los. „Das isteben Kino“, hat er gesagt. „Du weißtnicht genau, was kommt.“ Was natürlichgelogen ist. Wenn jemand weiß, was

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Harvey will Tarzan kaufenIn der Unterwelt von Cannes läuft der echte Film, dort dealen die Produzenten

und Händler und bestimmen, was in die Kinos der Welt kommt – wenn ihnen Piraten nicht das Milliardengeschäft kaputtmachen. Von Alexander Smoltczyk

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Constantin-Film-Boss Moszkowicz, Schauspielerin Diane Kruger in Cannes: Wenn die Palme verliehen wird, ist das Geschäft längst vorbei und

Gesellschaft

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nächsten Sommer in Deutschlands Kinoskommt, dann ist es Martin Moszkowicz.

Das Filmfestival von Cannes gibt esseit 66 Jahren. Immer Ende Mai verdrei-facht sich die Bevölkerungszahl des Städt-chens, und in der Marina liegen engver-täut die Superyachten, am Heck einschlä-gig exotische Namen, „St. George – Cayman“, „Kingstown“, „Isle of Man“.

Dann promenieren auf der Croisettehendlbraune Ruheständler in Tennis-shorts, baumlange Verwaltungsfachfrau-en mit Bollywood-Taillen, echte Hurenauf falschen Louboutins und falsche aufechten. Es ist ein ungeniertes Gewimmel,wo jeder fröhlich zeigt, was er zu zeigenhat: Hubraumgröße oder Körbchenmaße,Schweizer Uhren, Cineasten-Augenringe,Trophy-Ladys. Alles geht, und jedermannhier steht für die zwölf Festival-Tage un-term Generalverdacht der Wichtigkeit.

Als Allerheiligstes von Cannes gilt derrote Teppich vor dem Festspielgebäude,ein 60 Meter langes Stück Nadelflor-Spannware, das Glamour von Versagern

trennt. Es heißt, wer diese 24 Stufen imBlitzgewitter der Fotografen einmal em-porgeschritten ist, der sei aufgenommenin den Olymp des Kinos.

Wie jedes Jahr lagern gegenüber dieUnbedingten, die Salafisten des Kino-kults, die Fans und Groupies. Zu Dutzen-den haben sie ihre Alu-Leitern in Positiongebracht, wachen nächtelang davor, umden besten Blick auf Brad und Isabellezu erwischen und die anderen Ikonen desTapis rouge.

Aber es gibt eine Welt jenseits des Tep-pichs, unerreichbar für die meisten Festi-val-Besucher. Unter den Treppen desFestspielgebäudes liegen die Katakombendes Palastes, eine luft- und lichtlose Welt,wo Gestalten auf dem Boden kauern, dieGesichter matt von ihren iPads beschie-nen, neben sich die Bibel von Cannes,den 1140-seitigen Katalog aller Klein- undKleinstproduzenten, -verleiher, -techni-ker und Subsubhändler. Hier beginnt dieGegenwelt des Marché du Film, der Film-markt. Grob geschätzt ein Vier-Milliar-

den-Dollar-Geschäft um Rechte an Fil-men und Stoffen.

Mit weniger Pailletten und Lipgloss alsin der Oberwelt, aber voller Illusionen,Freundschaft und frecher Lüge, voll Bluffund Traum und tragischem Irrtum, mitabsurden Plots, oft unmöglichen Beset-zungen und, irgendwo verborgen, sehrviel Geld. Großes Kino eben.

Und deswegen ist Martin Moszkowiczhier. Er ist im Vorstand von ConstantinFilm für Film und Fernsehen zuständig.Er sagt: „Ich kenne Leute, die seit 30 Jah-ren nach Cannes kommen und noch nieeinen Film gesehen haben. Hi Bruno, niceto see you ...“ – und begrüßt einen fal-tenlosen Chinesen, der an einem der vor-deren Tische des Eden Roc sitzt. Das istBruno Wu, ein Medientitan, der geradedabei ist, Hollywood aufzukaufen.

Das Eden Roc ist die VIP-Lounge indiesem Markt des Films, dem Festspiel-gebäude weit vorgelagert auf einem Fel-sen außerhalb der Stadt. Hier sitzen sie,die wirklich Reichen, hier sind die Frauen

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die eigentlichen Akteure sind schon wieder abgereist

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unmenschlich schön, jedes Pigment sitztwie mit Photoshop gezeichnet, jede Be-wegung erfolgt mit einer Nonchalance,wie sie nur strengste Selektion hervor-bringt. Moszkowicz bestellt das Lamm.

Es ist sein 35. Cannes. Das erste Malwar kurz vor dem Abi. Er schlief mitKumpels im Auto. Es war das Jahr vonMartin Scorseses „Taxi Driver“, und vonWim Wenders lief „Im Laufe der Zeit“im Wettbewerb. Seine Schulzeit hatteMoszkowicz großteils in der Cinemathekdes Münchner Stadtmuseums verbracht.Cannes war wie – Cannes. Wie der ersteSex, aber in Breitwand und Technicolor.

Von da an kam er jedes Jahr hierher.Irgendwann, als Kleinproduzent, dann zu-sammen mit Bernd Eichinger und dessenFirma Neue Constantin Film. 1982 hatteMoszkowicz im Palais eine Erscheinung:

„‚E.T‘., ich habe erlebt, dass man Leutein 90 Minuten glücklich machen kann.“Heute, mit 54 Jahren, ist er einer derMächtigen im deutschen Filmgeschäft.Projekte unter fünf Millionen kann erohne Rücksprache abnicken.

„Im Grunde ist der Markt hier reineFiktion, Pre-Sale, Vorverkauf“, sagt Mosz-kowicz. „Von praktisch keinem Film, derin Cannes gehandelt wird, ist bis jetztauch nur ein Meter gedreht worden.“

Am Nebentisch sitzen wie frisch ver-liebt Arielle Dombasle, die Actrice, undihr Gatte, der Philosoph Bernard-HenriLévy. Sie essen Obstsalat, und die Pla-teau-Schuhe der Dombasle sind fast soschwindelerregend wie die These vonLévys Festival-Beitrag: Ihm allein sei derNato-Einsatz in Libyen zu verdanken.

„Es geht nur um Lizenzen“, fährt Mosz-kowicz fort, „eigentlich ein Futures-Ge-

schäft mit Risikostaffelung wie auf denFinanzmärkten ...“ Sein BlackBerry regtsich, es scheint wichtig zu sein. „Harveywill Tarzan kaufen“, sagt Moszkowiczdann, steckt das Handy weg und vertieftsich wieder in sein Lamm.

„Tarzan“ ist das, was derzeit in den Ba-varia-Studios produziert wird. ConstantinFilm hatte zufällig erfahren, dass Film-rechte am Tarzan-Stoff frei seien. Jetztschwingen in München Stuntmen an Ka-beln herum, mit Sensoren, Armverlänge-rungen und gewaltigen Gorilla-Hinternausgestattet.

„Harvey“ sitzt derzeit auf der Terrassedes Eden Roc, trägt sein schäbiges schwar-zes Sweatshirt und ist Harvey Weinstein,einer der mächtigen Studiobosse derUSA. Ein Gewächs aus Queens mit denvollendeten Umgangsformen eines Gentle -

man oder eines Berggorillas, je nachdem.„Der einzige Mensch, gegenüber dem ichje handgreiflich geworden bin“, sagtMoszkowicz. Aber das ist eine alte, längstvergessene Geschichte. Es ging wohl dar -um, dass Weinstein „Das Geisterhaus“dann doch nicht wollte und für die Rechteauch nichts mehr zahlen wollte.

Aber Weinstein hat einen Riecher fürErfolg. Er hat „Pulp Fiction“, „Der engli-sche Patient“, „The King’s Speech“ ge-wittert. Wenn er die US-Lizenz für „Tar-zan“ kauft, wird 2013 kein Unglücksjahrfür Constantin.

Harvey sitzt unten auf der Terrasse desEden Roc und schaut über die Bucht. Ermacht nicht viele Worte: „Ich will mit diran der Liane schwingen, Martin.“

Film ist etwas, das über Jahre vorbe-reitet wird, um eventuell an einem Wo-chenende zu scheitern, wenn der Hype

ausbleibt. Das erklärt, weshalb Filmbossealles tun, das Risiko zu verteilen.

Um einen Film zu finanzieren, werdendie Aufführungs-, DVD-, Fernsehrechtenach Territorien verkauft. Für die Rechtein Deutschland muss man gut zehn Pro-zent der Produktionskosten übernehmen,Frankreich ist billiger, Lateinamerikaganz billig. Es ist eine Art Vorverkauf,um den Markt besser abzuschöpfen. „Ter-ritorialisierung ist das Kernstück der Film-finanzierung.“

Verleihfirma und Produzent oder Zwischenhändler unterschreiben ein ein-seitiges „Deal Memo“, in dem eine un -gefähre Beschreibung des Films steht, ne-ben der Lizenzart und -dauer und denKonditionen. Bei internationalen Produk-tionen wird etwa die Hälfte der Kostendurch Lizenzen aufgebracht. Der Restdurch Kredite und staatliche Produktions-hilfen.

Mit dem Memo kann sich der VerleiherGeld bei der Bank leihen, um die Lizenzzu bezahlen. Und er kann die Rechte wei-terverkaufen. Für den Fall, dass dieHauptdarstellerin und/oder der ganzeFilm stirbt, gibt es Versicherungen, „Com-pletion Bonds“. Bald geht es nur nochdarum, den Film fertigzustellen und dieBeteiligten bei Laune zu halten, bis zudem Tag, an welchem sie im Kino Olym-pia sitzen und erstmals präsentiert be-kommen, wofür sie ein paar MillionenEuro im Vorverkauf bezahlt haben.

Film ist ein Geschäft mit Futures, wieman es von den Finanzmärkten kenntund fürchtet. Und die Akteure haben ähn-lich blanke Nerven.

Zwischen dem Fußvolk in den Kata-komben und den Herren des Dschungelsim Eden Roc erstreckt sich eine MixedZone, markiert von der Lounge des Ho-tels Majestic, dem Grand und der Terrassedes Carlton. Hier haben die großen Ver-leiher, Rechtehändler, Produktionsfirmenihre Logos aus dem Fenster gehängt.

Der Großteil des weltweiten Film -geschäfts läuft hier, die wichtigsten Dealswerden in den ersten Tagen des Festivalsgemacht. Wenn die Goldene Palme ver-geben wird, sind die Lizenzhändler, Pro-ducer, Verleiher, Käufer und Zwischen-händler längst abgereist. Sie können auchohne das Bling-Bling von L’Oréal undSwarovski. Umgekehrt nicht.

Im 30-Minuten-Rhythmus ihrer Out-look-Kalender werden die „Sales Di-rectors“ und „Heads of Acquisitions“ vonTermin zu Termin getrieben, unterm Armdie Extraausgaben des „Hollywood Re-porter“ und „Screen“, wo kryptischeMarktmeldungen stehen à la „Woo bringtBiest-Nachmache nach Hause“.

Jeder will wissen, was der andere imRohr hat. Da werden Hochglanzmappenverteilt und wild zusammengeklebte„Teaser“-Filme, die „einen Eindruck ge-ben“ sollen und an denen oft nichts rea-

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Mogul Weinstein: Wer blinzelt, hat verloren

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listisch ist außer den Rechnungen, dieschon aufgelaufen sind.

Es ist ein Jagen, Lauern, Locken umRechte und Ideen, ein meist vergeblichesWittern nach dem Hype der Saison, einUmeinanderkreisen auf kleinstem Raum,dessen Beteiligte sich oft seit Jahrzehntenkennen wie das Personal einer DailySoap. All dies in einer rauen Umwelt, woder Espresso zehn Euro kostet und die1000-Dollar-Zimmer zehn Tage im Vorauszu bezahlen sind. Constantin lässt sichCannes 100 000 Euro kosten.

Couchecken werden zu Büros, Café-haus- zu Konferenztischchen, ein iPadund ein BlackBerry genügen, um Fea -turettes zu zeigen, und hinter all den Luftküssen ist deutlich das Klingeln vonKinokassen zu hören. Ein aufgeschnapp-tes „400“ bedeutet im Zweifelsfall 400 000 Dollar für irgendwelche Rechte.

Es gibt nur eine Handvoll europäischerProduzenten, die auf dem internationalenMarkt Erfolg haben, wie Pathé in Frank-reich, Medusa in Italien, Senator undConstantin Film in Deutschland.

Constantin Film ist Produktionsfirmaund Verleih zugleich. Moszkowiczbraucht ungefähr alle zwei Wochen einenneuen Film: „Zehn bis zwölf davon pro-duzieren wir selbst, davon zwei für deninternationalen Markt. Den Rest kaufenwir, das meiste in Cannes.“

Seine neue Tochterfirma „MisterSmith“ hat eine Suite gemietet, kunst-samtbezogene Werbeboxen aufstellen las-sen und ist das ganze Festival über damitbeschäftigt, „3096 Tage“ zu verkaufen,einen Film über die Gefangenschaft derNatascha Kampusch. Und die erste Folgevon „Die Chroniken der Unterwelt“, ei-nem Fantasythriller, der die Teenager imnächsten Jahr umtreiben soll.

Nur mit dem richtigen Zugangsumhän-ger sind die Hotels entlang der Croisettein diesen Tagen zu erreichen. Aber ein-mal angekommen auf diesem Archipel,genügt es, sich in eines der aufgeblasenenPlastiksofas vorm Grand Hotel zu setzen,um die großen Fische vorbeischwimmenzu sehen. Da sitzt David Cronenberg.Dort drüben, ein Mann mit Skilehrer -gesicht, der jetzt wieder allgemein hofiertwird, seit er mit „Ziemlich beste Freunde“seine Kasse aufgefüllt hat, und weiter hin-ten flirtet ein älterer Herr mit dem Aus-sehen eines Revival-Rockstars: „Das istBob“, sagt jemand. „270 Filme. Zwei Cha-galls im Wohnzimmer. Ohne den hätte es,Herr der Ringe‘ nicht gegeben.“

Es ist unmöglich, im Majestic oderGrand einen Flur zu überqueren, ohnemindestens eine Filmmusik und dreiScripts aufgedrängt zu bekommen. „Michhat mal jemand auf dem Klo angespro-chen: Hey, I’ve got a cool project.“

Das sagt Roman Paul von Razor Film,einer unabhängigen Produktionsfirmaaus Berlin. Es ist sein 15. Cannes. Er und

sein Partner Gerhard Meixner sind über-nächtigt, ausgelaugt vom 18-Stunden-Tagaus Kontaktemachen und Werben, Erklä-ren, Imagebauen. „Der Markt ist einSpeed-Dating, aber auf Marathonstre-cke“, sagt Roman Paul. „Nicht vier Tage,wie bei der Frankfurter Buchmesse, son-dern zehn.“ Und wer klein ist, geht überdie volle Distanz.

Es ist ein fortwährendes Suchen undSichten. Der Drehbuchschreiber suchtden Produzenten, der Produzent suchtden Lizenzkäufer, der sucht nach Verlei-hern, Förderern, Pre-Sales-Partnern, In-vestmentfonds, Festival-Zusagen, und allehaben ihren Blick im Scanning-Modus.

Im Kinofilm würde man jetzt in eineHotelsuite des Grand Hotel hineinzoo-men, wo Sasha Bühler, die Chefeinkäu-ferin von Constantin, gerade ihren achten

Termin des Tages hat. Drei Wochen vor-her hat sie die Drehbücher bekommen,lesen lassen und sich eine „Tracking“-Lis-te von 50, 60 Projekten zusammengestellt.Darunter die „Musst-du-haben“ und die„Wäre-gut-zu-haben“.

Pathé hat eine Art „Rocky“ im Ange-bot, nur angesiedelt im Springreiter -milieu. Das läuft nicht. Dafür ist die neueKomödie mit Sophie Marceau besser alsgedacht: „Dranbleiben“, hat Bühler sichnotiert. Der jungen Frau gegenüber sitzendrei Herren eines britischen Lizenzhänd-lers, die ihr ein Filmprojekt verkaufenwollen, die aber nicht wissen, dass auchSasha Bühler längst weiß: Die Finanzie-rung dieses „handschweißtreibendenThrillers mit Blockbuster-Potential“ istkeineswegs gesichert.

„Wir haben eine You’ll-love-it-Beset-zung“, sagt der eine und beginnt – erstes

Zeichen von Schwäche – nacheinanderund jedes Mal aufblickend die Liste derSchauspieler herunterzulesen. Es sind be-kannte Namen darunter. Bühler ist nichtüberzeugt: „Der hier, der ist ein Ein-Trick-Zirkuspony ... Okay, solange er seinenOberkörper nicht frei macht ... Habt ihrden tatsächlich gebucht? Ich hörte, derdreht mit Stephen.“

„Pitching“ nennt man es. Darum gehtes, 16 Stunden am Tag. Das eigene Pro-jekt so unwiderstehlich zu machen wiedie Starlets auf dem Teppich. Und dasProjekt der anderen nach allen Regelnder Kunst zu dekonstruieren: Drehbuch,Besetzung, Regie, Drehort, Zielgruppe,Lizenztauglichkeit.

„Thank you, boys, wir sehen uns.“ Sa -sha Bühler verschwindet zum nächstenTermin.

Es war im Mai ’68, als ein Kommandorevolutionärer Regisseure – darunterkünftige Klassiker wie Truffaut, Polanski,Lelouch und Godard – das Festival-Palaisenterte und aus Solidarität mit den Stu-denten und Arbeitern den Abbruch desSpektakels durchsetzte. Inzwischen gibtes für ästhetische und soziale Anliegeneine feste Programmnische, und Rebel -lion wird nur noch als Klamauk simuliert,wenn Sacha Baron Cohen mit seinen Ka-laschnikow-Amazonen auf einem Kamelüber die Croisette reitet.

Es sind andere Kommandos, die denBetrieb ernsthaft stören. Es sind die Frei-beuter der Download-Portale und Tausch-börsen. Denn die Studenten und Arbeiterhaben längst die Macht übernommen. Siepraktizieren den Kino-Kommunismusund laden sich herunter, was sie brauchen.„Wir müssen etwa zehn Prozent auf die

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Kleinproduzenten Paul, Meixner im Palais des Festivals: „Der Markt ist ein Speed-Dating“

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Produktionskosten für Piratenabwehr zu-schlagen. Netzbeobachtung, Anwälte etcetera“, sagt David Garrett von MisterSmith Entertainment. Er findet das nichtlustig. Der Branche sei es gelungen, dieLecks während der Herstellung zu stop-fen, per „Wasserzeichen“ und sicherenDatenleitungen. Aber der unentgeltlicheTausch von DVDs im Netz ist als Ge-schäftsmodell ziemlich unschlagbar.

Es trifft auch die kleinen. Die Leutevon Razor Film entdeckten ihren „Waltzwith Bashir“-Film neulich in voller Längeauf YouTube. Jeder nicht bezahlte Down -load bremst jetzt die Finanzierung ihresneuen Films über ein Mädchen in Saudi-Arabien, das Rad fahren möchte.

„Es würde schon reichen, Warnhinwei-se nach dem Downloaden zu verschicken,wie in Frankreich. Drei Warnungen unddann Internetsperre“, sagt Moszkowicz.„Aber die Telekom stellt sich taub, unddie Politik fürchtet, dass sie es sich mitder Jugend verderben könnte.“

Er erhebt sich mühsam – Sportunfallbeim Joggen – und geht zum Goeland-Gebäude, wo auf der Terrasse im 6. Stockschon ein Chinese mit einer erloschenenCohiba in den Kinderhänden auf einemFünf-Euro-Campingstuhl sitzt, um Mosz-kowicz ein Angebot zu machen. DerMann trägt Gaultier und ist James Wang,der zusammen mit seinem Bruder Deniseinen Großteil von Chinas Kinogeschäftkontrolliert. „James ist interessiert, sichan ihrem Weltvertrieb Mister Smith zubeteiligen“, lässt James einen gepierctenDolmetscher sagen, obwohl er hervorra-gend Englisch spricht. „James schlägt vor,einen Film über chinesische Mythologiezu produzieren.“

Moszkowicz fühlt sich da sehr müdeund verspricht ein Treffen in Shanghai.

„Wir haben hier Paradiesvögel“, sagter, „die Leuten mit zu viel Geld von ir-gendwelchen Filmprojekten erzählen, diereine Phantasie sind“, sagt Moszkowicz.Manche dieser Projekte zirkulieren schonseit Jahren durch den Markt. „Und es gibtLeute, wir nennen sie die Barzahler, dieversenken 300 000 in ein Projekt, nur umsagen zu können: Ich bin beim Film.“

Kino ist sexy, jedenfalls verglichen mitder Produktion von Dichtungsringen.

Ein hagerer, fast kahler Mann tigertdurchs Gedränge vor dem Grand Hotelund sagt: „Filme sind immer schlechterals das Drehbuch. Aber in jedem schlech-ten Film, der erfolgreich ist, steckt ein gu-ter Film. Die Leute wollen keine schlech-ten Filme sehen.“ Das ist Herman Weigel,der Mann, der von sich sagt, er sei der„Chefideologe der Constantin Film“. Sei-ne Kollegen nennen ihn „Dr. No“.

„Ich habe einen schlechten Ge-schmack“, sagt Weigel von sich. „Aberder ist super.“ Außerdem hat er den ku-riosen Grundsatz, jeden Film zu Ende zuschauen. Er ist jetzt 62 Jahre alt. Vermut-lich hat niemand in Cannes mehr Filmegesehen als Herman Weigel.

Er sagt, es sei schwerer geworden, Leu-te ins Kino zu bringen. Da reicht nicht

mehr ein guter Trailer. Es muss ein Hypeim Netz aufgebaut werden, mit einer Fol-ge von Trailern und Fangruppen, die aufMachinima.com eigene Filme zu demFilm produzieren, bevor der ins Kinokommt. „Panem“ ist das Vorbild.

„Die Leute müssen einen Film schonmögen, bevor sie ins Kino gehen. Aberwenn sie dann reingehen, muss der Filmsie auch noch überraschen.“ In den USAsind die Kosten für Kopien und Werbungoft so hoch wie die der ganzen Produktion.

Umso wichtiger, Leute zu finden, dieeinem die Last abnehmen. Auch wennsie schäbige schwarze Sweatshirts tragen.

„Tarzan“-Produzent Robert Kulzersteht im Olympia-Kino, vor sich einen de-monstrativ gelangweilten Harvey Wein-stein, umgeben von seinem Hofstaat.„Der Film spielt in der Gegenwart. Na-türlich in 3-D. Wir haben Tarzan als 19-Jährigen genommen. Sein Körper ist ab-solut realistisch, sein Gesicht nicht, wegendes uncanny valley ...“

Aus den Tiefen der Sitze kommt einwissendes Grunzen. „Uncanny valley“ istein Begriff aus der Wahrnehmungspsy-chologie: Wenn eine animierte Figur zurealistisch ist, identifiziert sich der Zu-schauer nicht mehr mit ihr. Das war Spiel-bergs Problem bei „Tim und Struppi“.

Weinstein lässt den Trailer regungslosüber sich ergehen. „Thanks“, sagt er undverschwindet. Nur keine Begeisterung. Esist das übliche Spiel: Wer zuerst blinzelt,hat verloren. Harvey kennt das Gesetzdes Dschungels. Er will die US-Rechte ha-ben. Er blinzelt nicht.

Alles nur Kino. „Für Harvey ist ein Ver-trag nur der Beginn des Verhandelns“,sagt Moszkowicz, als er wieder vor demOlympia steht. Diesmal unter einemSchirm, es regnet seit Tagen. „Er will vorallem seine Finger überall drinhaben.“

Es sei in diesem Jahr kein Mammut-markt gewesen, sagt er und meint damit,dass seine Constantin nur gut 50 Millio-nen Euro umgesetzt hat. Nicht 100 wieim Jahr zuvor. Moszkowicz hat dafür ge-sorgt, dass in den deutschen Kinos imSommer nächsten Jahres „Scary MovieV“ und „Die Chroniken der Unterwelt“laufen werden, weltweit die Geschichteder Natascha Kampusch und in den USAein deutscher „Tarzan“ in 3-D.

Nachher kommen noch seine Vor-standskollegen, dann Kulturstaatsminis-ter Bernd Neumann, und Harvey mussauch noch angerufen werden. Moszko-wicz zählt die Tage, bis das alles hier vorüber ist. Die falschen „Muss-man-ha-ben“ und die verpassten Kinoknüller ausNordfrankreich. Dieser Mahlstrom derWichtigen, Schönen, Klugen und Nicht-blinzler. „Das Absurde ist“, sagt er, „dass90 Prozent all dieser so unglaublich wichtigen und phantastischen Filme nie-mals gemacht werden.“ Es klingt wie Erleichterung. �

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Satiriker Cohen bei Werbeaktion in Cannes: Die Rebellen verbergen sich im Netz

Manche Projekte

in Cannes sind reine

Phantasie. Das ist

vielleicht auch besser so.

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Friedrich Engelke sieht nervös aus.Er hat viel nachgedacht in den ver-gangenen Wochen. Wenn sein Plan

heute funktioniert, könnte alles anderswerden. Ein Befreiungsschlag. Deutsch-land würde danach vielleicht sagen,schaut, Burschenschaftler, das sind keineIrren, keine Rechtsextremen, nur Typenmit Mütze, Bändchen über der Brust undder albernen Vorliebe, sich mit KlingenNarben ins Gesicht zu hauen. Aber keineNazis, nur etwas konservativer als andere.Das würde Deutschland vielleicht den-ken. Allerdings, glaubt En-gelke, müsse dafür sein Planfunktionieren.

„Seit 1815 gibt es Bur-schenschaften, heute ist einSchicksalstag“, sagt Fried-rich Engelke. Ein älterer, etwas aufgeregter Herr,Mitglied der Rostocker Bur-schenschaft Obotritia. En-gelke ist 63 Jahre alt,Rechtsanwalt in Hamburg,seit Ende der sechziger Jah-re Burschenschaftler undpolitisch irgendwo zwi-schen Gauweiler, Koch undBeckstein zu verorten. Ein„Wertkonservativer“, wieer sagt.

Es ist kurz nach drei Uhr,in zehn Minuten beginntder Deutsche Burschentagin der Werner-Aßmann-Halle, das Jahrestreffen derrund 120 deutschen undösterreichischen Burschenschaften. DerVerband hat knapp 10 000 Mitglieder.Rund 400 Delegierte sind angereist. Ein-mal im Jahr treffen sich die deutschenBurschenschaften in Eisenach. Engelkesteht schon eine Weile vor der grauenHalle. Er raucht Kette.

Es ist eine Revolution, die Engelke davorhat. Er möchte mit einem Dringlich-keitsantrag dafür sorgen, dass NorbertWeidner, Chefredakteur ihrer Verbands-zeitung „Burschenschaftliche Blätter“, ab-gesetzt wird. Weidner rauszuwerfen wäreein Zeichen, das alle verstehen würden.So einer gehört nicht zu uns.

Weidner, ein Chefredakteur, der ungernmit Journalisten redet, hatte kürzlich Diet -rich Bonhoeffer einen „Landesverräter“genannt und seine Hinrichtung durch dieNazis „rein juristisch“ gerechtfertigt. Bon-

hoeffer, evangelischer Theologe und Wi-derstandskämpfer, war kurz vor dem Endedes Zweiten Weltkriegs nach einem SS-Standgerichtsurteil gehängt worden. Mitt-lerweile ermittelt die Bonner Staatsanwalt-schaft wegen des Verdachts auf Verun-glimpfung des Andenkens Verstorbener.

Im vergangenen Jahr hatte WeidnersVerbindung, die „Alte Breslauer Bur-schenschaft der Raczeks zu Bonn“, denVorschlag gemacht, eine Verbindung ausdem Dachverband auszuschließen, weildie einen Burschenschaftler mit chinesi-

schen Eltern aufgenommen hatte. Unteranderem, weil er zu einer „außereuropäi-schen populationsgenetischen Gruppie-rung“ gehöre und nicht zur deutschen „ge-schichtlichen Schicksalsgemeinschaft“.

Sich von der Welt abwenden, in die eigene Burg zurückziehen – Burschen-schaftler sind eine besonders harte Spe-zies von Globalisierungsverweigerern.Seit Jahren gehen die Mitgliederzahlenzurück. Studentische Burschenschaftenstehen für Vaterlandsliebe, für einen et-was ranzigen Patriotismus. Opis alte Ge-schichten. Königsberg, Dresdner Bomben-nacht, Ostgebiete. Solche Dinge.

Dabei ist es keine schlechte Zeit für Pa-triotismus. Seit der Weltmeisterschaft2006 kommen die Deutschen wieder bes-ser mit ihrem Nationalstolz klar. Aller-dings denkt man beim neuen Patriotis-

mus an Autofähnchen, bunte Perückenund Fanmeilen, die bei Özil-Toren aus-flippen. Man hat nicht das Gefühl, dassirgendjemand wieder in Polen einmar-schieren möchte. Heute kommen Deut-sche fahnenschwenkend als EM-Schlach-tenbummler.

Engelke kehrt euphorisch aus der Hallezurück. Er sieht aus wie ein Schaffner mitseiner roten Tellermütze. Die Halle ist fürJournalisten gesperrt. Burschenschaftlerhaben jahrzehntelang ihre Debatten interngeführt. Man redete nicht mit den Medien.

Engelke ist das jetzt egal. Esist die neue Zeit. Neue Of-fenheit. Transparenz wiebei den Piraten.

Der Dringlichkeitsantragist angenommen. In dernächsten Stunde wird ent-schieden, ob Weidner raus-fliegt. Um den Dringlich-keitsantrag auf die Tagesord-nung zu setzen, brauchte ereine Zweidrittelmehrheit.War kein Problem. Ein gu-tes Zeichen, findet Engelke.

Es könnte der Momentsein, in dem die deutschenBurschenschaften im Jahr2012 ankommen. Der Au-genblick, in dem die Rück-wärtsgewandten nach vornschauen, eine Art Achtund-sechzig, über vierzig Jahrezu spät, aber immerhin.Vor ein paar Tagen hatteein Bündnis von Gewerk-

schaften, SPD und Bündnis 90/Die Grü-nen noch erklärt, dass der „rechte Aka-demikerbund“ immer weiter nach rechtsrücke. Teilweise dominiert von einer „of-fen völkischen und extrem rechten Strö-mung“. Vielleicht dreht sich das heute.Engelke tänzelt in die Halle zurück.

Vier Stunden später ist alles vorbei. En-gelke, der in seiner Wohnung mehr als1800 Bücher zur NS-Zeit hat, sitzt in derBar des Thüringer Hofs in der EisenacherInnenstadt. Er betrinkt sich. Der Bur-schentag hat Weidner nicht entlassen. DieMehrheit der Delegierten findet, der Ver-bandsfunktionär solle bleiben.

„Was sind das für Menschen“, fragt En-gelke nach ein paar Bier und schaut insGlas.

Burschenschaftler.JUAN MORENO

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Der PiratORTSTERMIN: In Eisenach zeigt sich die Deutsche Burschenschaft als rechtsextremer Haufen.

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Rebell Engelke: „Was sind das für Menschen“

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Trends

Demonstrierende Opel-Mitarbeiter

A U T O I N D U S T R I E

General Motors düpiert den Vizekanzler Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler hofft, dass er aufseiner USA-Reise Mitte Juni endlich mit einem Vorstands-mitglied des Opel-Mutterkonzerns General Motors (GM) spre-chen kann. Rösler will wissen, was GM mit dem kriselndendeutschen Autobauer plant. „Bislang hat GM nicht mit offe-nen Karten gespielt“, sagt Rösler. „Das unwürdige Schauspielmuss endlich aufhören, die Mitarbeiter brauchen Klarheit.“GM hat auf die Terminanfrage des Ministers bislang nichtreagiert. Im Opel-Entwicklungszentrum Rüsselsheim wächstunterdessen die Unruhe: Manager fürchten eine Entmachtung.GM hat intern die Organisation des VW-Konzerns zum Vor-bild erklärt. Demnach soll die Entwicklung neuer Modelle

von einem Entwicklungszentrum weltweit geführt werden.Bei VW ist das Wolfsburg, bei GM soll es Detroit werden.Opel-Manager fürchten, dass die Techniker in den USA dieVorgaben für neue Modelle an den Erwartungen der US-Kun-den ausrichten und nicht an den anspruchsvolleren Anforde-rungen europäischer Autokäufer. Opel würde technisch nochweiter hinter Volkswagen zurückfallen. Auf Unterstützungdurch Wirtschaftsminister Rösler bauen die Opel-Entwicklergar nicht erst. Sie wissen, wie wenig die GM-Führungsriegevon dem FDP-Politiker hält. Bereits zweimal war ein Ge-spräch zwischen Wirtschaftsministerium und GM angesetzt.Beide Termine sagte der Konzern kurzfristig ab.

B A Y E R N L B

Ex-Vorstand darfProzess schwänzen

Es ist eine beispiellose juristische Aus-einandersetzung: Die BayernLB hatacht frühere Vorstände auf 200 Millio-nen Euro Schadensersatz verklagt.2007 hatte die Landesbank das Kärnt-ner Skandalinstitut Hypo Group AlpeAdria gekauft, das sich in der Finanz-krise zum Milliardengrab entwickelte.Beim Auftakt zum ersten Zivilverfah-ren vor dem Münchner Landgerichtam 19. Juni dürfte der prominentesteBeklagte allerdings fehlen. Zwar ord-nete die zuständige Richterin persönli-

che Anwesenheitspflicht an, derHauptgeschäftsführer des Bundesver-bandes Deutscher Banken, MichaelKemmer, wird an diesem Tag aberwohl nicht in München sein. Der frühere BayernLB-Vorstand hat einewichtige Besprechung mit EU-Ver-bandsvertretern. Deshalb gewährte dieRichterin ihm Dispens. Den anderenBeklagten wie Ex-BayernLB-ChefWerner Schmidt oder dem unter ande-rem wegen Bestechung angeklagteneinstigen Risikovorstand GerhardGribkowsky dürfte es dagegen kaumgelingen, sich zu drücken. Im Gegen-satz zu Kemmer haben sie zumeist keinen Fulltime-Job: Sie beziehen teil-weise schon Rente, Gribkowsky sitztin U-Haft. Er bestreitet die gegen ihnerhobenen Vorwürfe.

ZAHL DER WOCHE

470833 Euro

Übergangsgeld pro Monat bekommt

Ex-Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann

bis einschließlich November 2012.

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V E R L A G E

WWF-Buch hates schwer

Bereits Mitte April erschien ein kriti-sches Buch über den World WideFund for Nature (WWF) – doch es istnoch immer schwer erhältlich. Das„Schwarzbuch WWF“ stammt von Wil-fried Huismann, der insgesamt drei -mal den renommierten Adolf-Grimme-Preis gewonnen und für den WDRauch einen Film über die mächtigsteUmweltschutzorganisation der Weltund ihre Nähe zur Industrie gedrehthat. Gegen den Film erwirkte der Ber-liner Medienanwalt Christian Schertzbereits einstweilige Verfügungen. Und

auch gegen das Buch ging Schertzvor – allerdings zunächst mit Schrei-ben an Buchhändler wie zum BeispielAmazon. Darin warnte er potentielle„Störer“. Obwohl es bisher keine ge-richtliche Entscheidung gegen Inhaltedes Buches gibt, verfehlten die War-nungen offenbar nicht ihr Ziel: Wederbei Amazon noch bei großen deut-schen Buchhändlern wie Thalia ist dasWerk vorhanden. Bei Thalia rechtfer-tigt man den Schritt mit bestehendenRechtsunsicherheiten – das Unterneh-men führe nur „unstrittige Titel“ imSortiment. Dass zu einer Veröffentli-chung so massiv Druck ausgeübt wer-de, habe er „noch nie erlebt, nicht malbei Schwarzbüchern über Scientology“,sagt dagegen Rainer Dresen, Justitiarbeim Huismann-Verlag Randomhouse.„Das gleicht einer Vorzensur.“

A R B E I T N E H M E R

Mehr Rechte fürHaushaltshilfen

Der Deutsche Gewerkschaftsbund(DGB) fordert von der Bundesregie-rung, die Rechte von Angestellten inPrivathaushalten zu stärken und deshalb ein entsprechendes Überein -kommen der Internationalen Arbeits-organisation zu ratifizieren. Das er-kennt erstmals Hausarbeit als reguläreLohnarbeit an und fordert unter ande-rem den Zugang der Angestellten zuden sozialen Sicherungssystemen. Mitder Ratifizierung ein Jahr nach derVerabschiedung des Übereinkommenswürde die Bundesregierung ein Zei-chen setzen, sagt DGB-Chef MichaelSommer: „Es ist einem so fortschritt -lichen Land wie Deutschland unwür-dig, dass ins besondere Frauen alsHausangestellte mit Niedriglöhnenund ohne jede Sicherung im Alter ab-gespeist werden.“ In Deutschland sindin vier Millionen Haushalten Angestell -te beschäftigt. Doch über 80 Prozentder Arbeitgeber zahlen weder Steuernnoch Sozialabgaben, so der DGB.

D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 2 77

Wirtschaft

V E R K E H R

Ramsauer will Lkw-Maut neu ausschreiben

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WWF-Aktivisten auf Bali

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Bundesverkehrsminister Peter Ram -sauer (CSU) ist offenbar bereit, sichbeim milliardenschweren Geschäft mitder Lkw-Maut vom bisherigen Betrei-berkonsortium Toll Collect zu trennen.Wie aus einem internen Vermerk desMinisteriums hervorgeht, heuerteRamsauer Ende Mai hochrangige Bera-tungsfirmen an. Sie sollen den Bundbei der „zukünftigen technischen,wirtschaftlichen und rechtlichen Aus-gestaltung des neuen Mautsystems“ sowie bei der Vorbereitung und Durch-führung des europaweiten Vergabe -verfahrens unterstützen. Den Zuschlag

erhielt ein Konsortium, dem die TÜV-Rheinland-Tochter InterTraffic, die Anwaltskanzlei Beiten Burckhardt unddie Unternehmensberatung KPMG angehören. Der Betreibervertrag mitToll Collect, zu dessen Gesellschafter-kreis unter anderem die KonzerneDaimler und Deutsche Telekom gehören, läuft Ende August 2015 aus.Zwar funktioniert der Betrieb derLkw-Maut inzwischen ohne größereProbleme, allerdings hat es in Ram -sauers Ressort immer wieder Vor -behalte gegen einen weiteren Auftragfür Toll Collect gegeben.

Page 78: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

Der Mann, der über mehr als 450Milliarden Euro herrscht, trägt tür-kis-rosa-rote Ringelsocken, eine

Pünktchenkrawatte und die Vollglatze ak-kurat poliert. Auch sonst ist Yngve Slyng -stad eher der norwegisch-lockere Typ. Erlacht viel und garniert seine Antwortengern mit einem Schuss Selbstironie.

Wie es so ist als einer der mächtigstenInvestoren der Welt im Jahre 2012? „Frü-her waren wir auf der Suche nach der ri-sikofreien Rendite.“ Kunstpause. „Heutewissen wir, dass es vor allem Anlagen mitrenditefreiem Risiko gibt.“

Der 49-Jährige macht diese Erfahrunggerade immer wieder: Jeden Tag muss erviel neues Geld investieren und altes er-neut anlegen. Aber er weiß nicht wie.

Als Chef des norwegischen Staatsfondssammelt er die Öleinnahmen seines Lan-des ein, zurzeit mehr als hundert Millio-nen Euro. Täglich. Mit diesen Erträgen

soll der Fonds dem Land dauerhaftenWohlstand sichern. Keine leichte Auf -gabe, denn die Regierung erwartet, dassSlyngstad und seine mehr als 300 Mit -arbeiter eine Rendite von vier Prozenterwirtschaften.

Früher hätten Investmentprofis diesenAnspruch als langweilig abgetan. Dochdie Zeiten haben sich geändert: Zwischen1999 und 2007 erzielte der norwegischeStaatsfonds im Schnitt fast sechs ProzentRendite pro Jahr, seitdem ist das jährliche

Professionelle Anleger verwalten rundum den Globus zurzeit über 60 BillionenEuro – mehr als doppelt so viel wie vorzehn Jahren. Von einem „Anlagenot-stand“ ist auf den internationalen Finanz-märkten die Rede, und das Bedenklicheist, dass er weniger unter Milliardärenoder gierigen „Heuschrecken“ grassiertals vielmehr unter den größten Akteurendes Finanzmarkts: Staatsfonds wie deraus Norwegen, japanische Versicherun-gen, US-Pensionskassen oder deutscheVersorgungswerke.

Das Gros dieser Investoren sammeltdas Geld von Kleinanlegern ein, die Ver-walter der Milliarden wollen damit nichtzocken, sondern es so investieren, dasssie den Kunden später eine schöne Renteoder Lebensversicherung auszahlen kön-nen. Das funktioniert in der Regel aller-dings nur, wenn das Geld sicher verwahrtist und gleichzeitig ein paar Prozent Ren-dite abwirft.

Doch davon kann vielfach keine Redemehr sein, seit die Gläubiger Griechen-lands auf einen Großteil ihrer Forderun-gen verzichten mussten. Damals wurdeein Grundgesetz der Geldanlage zerstört.Staatsanleihen von großen Industrielän-dern galten über Jahrzehnte als risikolos.Nun kann man auch damit sein Geld ver-lieren. Niemand weiß mehr, was über-haupt noch eine sichere Anlage ist.

Der Frankfurter Bankier Friedrich vonMetzler, 69, erlebt das gerade als spätenTriumph, er hat seinen Kunden schon immer Bescheidenheit gepredigt. An derWand des Konferenzraums in seiner Zen-trale hängen Ölgemälde mit Porträts derVorfahren: Die Privatbank ist seit fast 350Jahren im Familienbesitz, sie hat Seuchen,Hyperinflationen und Weltkriege überlebt.Metzlers Privatkunden können ihr Geldin Anleihen, Aktien oder Liquidität anle-gen. Basta. „Wem das nicht reicht, dermuss zur Konkurrenz gehen“, sagt er.

Viele Vermögende schreckt das nichtab – im Gegenteil. Das Geschäft läuft bes-ser denn je. Immer öfter muss der Bank-chef sein Mantra vortragen, das dermenschlichen Gier zuwiderläuft: „Auflange Sicht ist es bereits ein Erfolg, seinVermögen real zu erhalten.“

Wirtschaft

78 D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 2

Plus auf rund ein Prozent gesackt. „DieLage auf den Finanzmärkten ist extremschwierig geworden“, sagt Slyngstad.

Weltweit sind die Zinsen auf Talfahrt,und die Bundesrepublik profitiert wiekein zweites Land in Europa von derAngst, dass die Euro-Zone auseinander-brechen könnte.

Seit der Austritt Griechenlands aus derWährungsunion eine realistische Optionist, Spanien verzweifelt um seine finan-zielle Selbständigkeit kämpft und die Bür-ger Südeuropas ihre Konten räumen, hatsich die Fluchtbewegung in den vermeint-lich sichersten Hafen Europas noch einmalverstärkt.

In der vorvergangenen Woche besorgtesich der deutsche Finanzminister für zweiJahre Kredite – ohne dass er dafür einenCent Zinsen zahlen muss. Selbst wer demhiesigen Fiskus für ein Jahrzehnt Geldleiht, gibt sich derzeit mit einer Prämie

von 1,2 Prozent pro Jahr zufrieden. DieRenditen von US-Staatsanleihen und ja-panischen Schuldscheinen bewegen sichauf ähnlich mickrigen Niveaus.

Doch was manchen Finanzministernhilft, sorgt für Frust bei den Anlegern.Rechnet man die Inflation heraus, bleibtvielen Investoren angesichts der Miniren-diten am Ende nur ein Minus. Die Geld-anlage wird zur Geldvernichtung; denn esgibt wenige Investments, die wirklich nochetwas abwerfen.

I N V E S T O R E N

Wohin mit all dem Geld?Während die Staaten durch die Schuldenkrise taumeln, wissen Pensionskassen,

Fonds und Versicherungen kaum noch, wie sie ihre Milliardensicher investieren sollen. Einer der Krisengewinner ist Deutschland.

Staatsfonds-Chef Slyngstad: „Die Lage auf den Finanzmärkten ist extrem schwierig“

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Das Problem ist nur, dass genau dasfür viele Akteure auf den Finanzmärktenein geradezu utopisches Ziel gewordenist; beispielsweise für die deutschen Ver-sicherer. Die Branche ist streng reguliert.Nach dem Börsen-Crash 2000 musstendie Anbieter den Großteil ihrer Aktienverkaufen, und sie sind verpflichtet, min-destens zwei Drittel ihrer Kundengelderabsolut sicher anzulegen – und das heißtnach allgemeiner Lesart noch immer vorallem in Staatsanleihen allerbester Bo-nität.

Nur ein Drittel dürfen sie in andereAnlageformen stecken – von Immobilienüber Unternehmensanleihen bis hin zuHedgefonds. Das ist ihr Spielgeld. Dochselbst wenn sie damit hohe Risiken ein-gehen, liegt die Gesamtrendite für neu-angelegtes Geld derzeit bestenfalls bei3,5 Prozent.

Auf Dauer führt das zu einem massivenProblem. Noch haben die Anbieter vielePapiere aus alten Zeiten in den Büchern,die für höhere Erträge sorgen. Die neuenInvestments aber werfen durchweg we-

niger Profit ab, und so sinkt die Durch-schnittsverzinsung der Anlagen. Langsamzwar, aber stetig.

Hinzu kommt: Millionen Versichertehaben Verträge abgeschlossen, die ihnenvier Prozent Verzinsung pro Jahr garan-tieren. Erwirtschaftet die Versicherung dasnicht, muss sie von ihren Reserven zeh-ren. Entsprechend groß ist der Druck aufdie Branche, mehr Rendite rauszuholen.

Volker Blau ist einer von denen, diesich daran abarbeiten. Er verwaltet fürdie Fondsgesellschaft Pimco Versiche-

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SonstigesVermögen

327

Sonstige Be-teiligungen

203

Bargeld und Einlagenz.B. Festgeld

1928 Mrd. €

Aktien

222

Ansprüche gegenüberVersicherungen

1393 Mrd. €

Stand: 4. Quartal 2011Quelle: Bundesbank

Was die Deutschen besitzenGeldvermögen der privaten Haushalte

in Deutschland, in Milliarden Euro

Fest-verzinslicheWertpapiere

247

Investment-zertifikate

395

Milliarden €

insgesamt

4715

2012

3,9%

*MarktdurchschnittQuelle: Assekurata

2002

6,1% Laufende Verzinsungvon Lebensver-sicherungen*

Febr.2012

* Laufzeit bis 2 JahreQuelle: Bundesbank

Effektivzinsen aufEinlagen privaterHaushalte*

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Börse in Frankfurt am Main

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rungsgelder der Allianz und anderer eu-ropäischer Assekuranz-Konzerne. EineVersicherung in Deutschland, das sei wieein Porsche, den man nur im ersten Gangfahren dürfe, sagt Blau. Allein in Lebens-policen stecken in Deutschland 734 Mil-liarden Euro. Reichlich PS, begrenzteMöglichkeiten.

Als die konservative Allianz AG vorzwölf Jahren den US-Investor Pimcoübernahm, war das der Versuch, wenigs-tens in den zweiten Gang zu schalten unddafür auch einmal den riskanteren Feld-weg in Kauf zu nehmen. Nur, was tun,wenn der immer unwegsamer wird?

Staatsanleihen? „Schon vor der Euro-Krise sind viele Versicherer verstärkt ausStaatsanleihen rausgegangen, die Zinsensind ja schon sehr lange sehr niedrig“,sagt Blau.

Aktien? „Die Aktienquoten der Ver -sicherer befinden sich auf historisch nied-rigem Niveau.“ Zuletzt legten sie imSchnitt nur noch 3,3 Prozent in Aktienan. Selbst Branchengrößen wie die Alli-anz und die Munich Re haben sich beimBörsen-Crash 2000 die Finger verbrannt.

Wohin also mit dem vielen Geld? Blauzeigt sich gelassen. Es gebe viele festver-zinsliche Anlagen, die ähnlich sicher sei-en wie Bundesanleihen, aber mehr Ren-dite brächten. Zehnjährige Pfandbriefeetwa werden in Deutschland mit rund 2,5

Wirtschaft

Prozent verzinst, ähnliche Produkte imeuropäischen Ausland werfen noch mehrab. Doch Schuldverschreibungen, die mitspanischen Immobilien besichert sind, ha-ben eben auch größere Risiken.

So ist das mit neuen Pfaden. Manchmalist unklar, ob es nicht nur die alten Irr -wege sind.

Früher kaufte Volker Blau bedenkenlosAnleihen von Banken. Doch seit Lehman-Pleite und Griechen-Desaster leiht keinInvestor Kreditinstituten mehr Geld,ohne dafür im Gegenzug hohe Sicherhei-ten zu fordern. Stattdessen baut Blau heu-te häufiger auf Geschäfte, wie sie früherGeldhäuser machten: Er investiert bei-spielsweise in Immobilien. Als die Deut-sche Bank ihre frisch renovierten Zwil-lingstürme vergangenes Jahr an ihreFondstochter DWS verkaufte, kamen dieKredite dafür von der Allianz.

Die Phantasie der Versicherungsmana-ger bei der Suche nach Rendite kenntkaum Grenzen: Infrastrukturprojekte,Windparks, ja sogar Parkuhren sind derneueste Schrei. Eine Milliarde Euro hatdie Allianz vor zwei Jahren mit Partnernin die Automaten in Chicago investiert.Und während Banken sich scheuen,Deutschlands klamme Kommunen zu fi-nanzieren, finden Versicherer diese Dar-lehen zunehmend interessant. Die R+VLebensversicherung gönnte kürzlich der

Stadt Wiesbaden einen Kredit von 20 Mil-lionen Euro.

Anleihen von Unternehmen undSchwellenländern, einst etwas für Mutige,gelten plötzlich als sichere Häfen. Undwährend hohe Haushaltsdefizite, Schul-den und knappe Währungsreserven vieleInvestoren früher abschreckten, ihr Geldin Boom-Regionen anzulegen, habenStaaten wie Brasilien oder Südkorea in-zwischen einen Ruf als solide Schuldner.„Starke Industrieadressen, aber auchSchwellenländer können teils mehr Si-cherheit bieten als manche Staatsanleihenaus Industriestaaten“, findet Blau.

Daniel Just steht unter noch größeremDruck als die Versicherungsmanager,langfristig eine ordentliche Rendite zu erwirtschaften. Just ist Anlagechef derBayerischen Versorgungskammer, die 55Milliarden Euro verwaltet. Ob Ärzte,Rechtsanwälte oder Schornsteinfeger –für diese Berufsgruppen sind die einge-zahlten Beiträge oft die einzige Alters-vorsorge. Würde Deutschland dauerhaftvon der Niedrigzinskrankheit angesteckt,hätte das fatale Folgen für Millionen Men-schen.

Den Zinseszinseffekt kann man garnicht hoch genug einschätzen: Wer jedenMonat 500 Euro spart, hat bei vier Pro-zent jährlicher Rendite nach 30 Jahrenfast 350000 Euro zusammen, bei nur zwei

Page 81: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

Prozent sind es rund 100 000Euro weniger.

Just hat der Versorgungs-kammer deshalb schon vor Jah-ren eine Revolution verordnet.Er setzt vor allem auf dieSchwellenländer. Die Idee da-hinter: Junge, wachsendeVolkswirtschaften in Asien undLateinamerika sollen die Ren-ten der alternden deutschenGesellschaft finanzieren. So istdie Kammer heute nicht nurstolzer Waldeigentümer in denUSA, sondern besitzt auchBüro-Immobilien in China undBrasilien sowie ein Einkaufs-zentrum in Chile.

Alles, was langfristige undstete Zahlungsströme ver-spricht, gilt als attraktiv. In -zwischen hat allerdings einWettlauf der Großinvestorenauf reale Werte wie Immo -bilien und Infrastrukturprojek-te eingesetzt. Entsprechendschnell steigen die Preise. „Es wird zu-nehmend aufwendiger, attraktive Invest-ments zu finden“, sagt Just. So besehenist das neue Problem in der Anlageweltdas alte. Die Finanzbranche ist wie eineHerde, die allzu oft in die gleiche Rich-tung läuft.

„Es ist immer falsch, das zu tun, wasalle machen“, sagt Hendrik Leber in sei-nem übersichtlich möblierten Büro imFrankfurter Bankenviertel. Er hat extraein paar Buntstifte mitgebracht. Mit Blaumalt Leber einen Setzkasten auf ein BlattPapier. Jedes der rund 50 Fächer, sagt er,

stelle eine Investitionsmöglich-keit dar – von Bundeswert -papieren über Unternehmens-anleihen aus Entwicklungslän-dern bis zu einem Rohstoff wieGold.

Im Moment stürzten sich alleauf wenige Fächer, vor allemauf das Fach mit deutschenStaatsanleihen. Er malt jetzt ei-nen dicken roten Kreis darum.

„Die meisten übersehen, wiehochattraktiv der restlicheMarkt ist“, sagt der Investor, dermit seinen Fonds insgesamt 1,1Milliarden Euro verwaltet. „Ichgenieße die Situation total.“

Dort, wo es die Anlagepoli-tik erlaubt, hat er nach demMotto „Wenn schon Risiko,dann richtig“ zum BeispielPfandbriefe irischer Geldhäu-ser gekauft (siehe Seite 102).

Sein bevorzugtes Ziel ist der-zeit das von allen verschmähteGriechenland. Gleich von meh-

reren Unternehmen hat er Aktien erwor-ben – unter anderem von einem Lotterie-anbieter. Was mehr als nur mutig wirkt,kann Leber ganz nüchtern begründen:„Die Griechen haben schon immer ge-zockt, das werden sie auch weiterhin tun.“

SVEN BÖLL, MARTIN HESSE

Nichts zu holenRenditen auf Staatsanleihen mitzehnjähriger Laufzeit ausgewählterLänder in Europa, in Prozent

bis 3,0 bis 5,5 ab 5,6

zum Vergleich:

USA: 1,5%

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Ein erstes Gefecht wurde „WorkshopRiester-Rente“ genannt und fandam vergangenen Freitag im Deut-

schen Institut für Wirtschaftsforschung(DIW) statt. Berichterstattung uner-wünscht. Denn von vornherein war klar:Es würde Krach geben.

Der Streit über Sinn und Unsinn derstaatlich geförderten Riester-Rente istzehn Jahre nach ihrer Einführung eska-liert. Und neben ihrem Erfinder WalterRiester (SPD) und Industrievertretern waram Freitag auch der Mann geladen, derdafür maßgeblich mitverantwortlich ist:Axel Kleinlein, 42, seit einem halben JahrChef des Bundes der Versicherten.

Kleinlein ist Versicherungsmathemati-ker und arbeitete früher selbst für jeneBranche, mit deren Riester-Renten er nunabrechnet. „Die Masse der Produkte istvollkommen unverständlich und wenigrentabel“, sagt Kleinlein.

Gemeinsam mit einer DIW-Wissen-schaftlerin hat er kurz nach seinem Job -antritt eine vernichtende Studie zu denRenditen der gängigen Riester-Angebotevorgelegt. Und als er am Freitag das Po -dium in Berlin bestieg, war sein zweiterCoup schon auf den Weg gebracht: Via

Brief fordert Kleinlein – diesmal in Koope-ration mit der Verbraucherzentrale Ham-burg – eine Unterlassungserklärung vonseinem ehemaligen Arbeitgeber, der Alli -anz Lebensversicherungs AG in Stuttgart.

Das Unternehmen soll sich verpflichten,seine „Allianz RiesterRente Klassik“ in deraktuellen Form nicht mehr zu vertreiben.„Sonst ziehen wir vor Gericht“, sagt Klein-lein trocken. Sein Vorwurf: Das Produktbenachteilige ausgerechnet Geringverdie-

ner, kinderreiche Familien und ältere Ver-sicherte. Ihnen würden unrechtmäßig Hun-derte Millionen Euro an Überschusszah-lungen vorenthalten. Bei einem Durch-schnittsvertrag gehe es um 3500 Euro.

Die Allianz findet das „in keiner Weisenachvollziehbar“, tatsächlich würden ge-rade die genannten Gruppen „durch dieVersichertengemeinschaft unterstützt“.

Die Verbraucherschützer dagegen spre-chen von einer „massiven Verletzung des Täuschungsverbots“. Die Ungleich-behandlung sei allenfalls für „überdurch-schnittlich qualifizierte“ Kunden über-haupt erkennbar. Starker Tobak für denVersicherungsriesen, der sich gern alsSaubermann der Branche präsentiert undmit einer „Transparenzinitiative“ punk-ten will. Doch die Kritik an den Produk-ten für die Riester-Rente wird immer lau-ter. Sogar Bundesarbeitsministerin Ursulavon der Leyen (CDU) fordert, die „Leit-planken“ für die Versicherer „enger zusetzen“. Auch sie weiß: „Riestern ist fürdie Anbieter zu einem attraktiven Ge-schäft geworden.“

20 Prozent der Sparsumme oder mehrveranschlagen die Konzerne bei manchenVerträgen als Kosten. Das zehrt teilweisedie staatlichen Zulagen komplett auf, wiedie Verbraucherzentrale Bundesverbandbeklagt. Dabei bekommt jeder Riester-Sparer pro Jahr 154 Euro staatliche För-derung und für jedes Kind noch einmalbis zu 300 Euro obendrauf.

Mathematiker Kleinlein und die DIW-Expertin Kornelia Hagen kamen jüngstbei Berechnungen zur Rendite der gängi-gen Produkte zu verheerenden Ergebnis-sen (SPIEGEL 47/2011). „Riestern ist oftnicht besser als das Geld in den Spar-strumpf zu stecken“, so das Fazit.

Die Reaktionen der Versicherungswirt-schaft waren entsprechend heftig. DerBranchenverband GDV forderte vomDIW eine „Entschuldigung für die be-wusste Irreführung der Öffentlichkeit“und präsentierte Gegenkalkulationen.Unbeteiligte Branchenkenner wollen sichnicht festlegen, wer nun besser gerechnethat. Der Grund ist schlicht: Selbst Exper-ten verlieren sich schnell im Wirrwarr ausFörder- und Steuerparagrafen.

Zehn Jahre nach ihrer Einführung sindetliche Riester-Produkte immer noch einMysterium: „Sie kriegen irgendwelcheZahlen vorgesetzt, die nicht überprüfbarsind“, fasst Edda Castelló von der Ver-braucherzentrale Hamburg ihre Erfahrun-gen mit den Policen zusammen.

Ein Produkt wie die „RiesterRenteKlassik“ der Allianz ist für Versicherungs-mathematiker Kleinlein ein besonderskrasses Beispiel. Kunden, die Genaueresüber ihre Rentenansprüche erfahren wol-len, müssten sich „auf eine Art Schnitzel-jagd durch etliche Dokumente begeben“.

Wie allen „Riester-Rentnern“ stehtauch den Allianz-Kunden nicht nur der

Wirtschaft

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A L T E R S V O R S O R G E

Schnitzeljagd für AnlegerVerbraucherschützer attackieren den Allianz-Konzern:

Der Versicherungsriese benachteilige etliche Riester-Rentner –ausgerechnet arme und kinderreiche Kunden.

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Branchenkritiker Kleinlein: „Vollkommen unverständlich und wenig rentabel“

Die dritte SäuleBestand an Riester-Verträgen in Mio.; jeweils am Jahresende

2001 2006 2011

1,4

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5

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gesetzlich verankerte Garantiezins vonderzeit 1,75 Prozent auf ihr eingezahltesKapital zu. Sie haben zudem eigentlichAnspruch auf Teile der Überschüsse, diedie Versicherer erwirtschaften, etwawenn ihre Kosten geringer sind als ge-plant. So steht es auch im „Produktinfor-mationsblatt“ der Allianz. Wenn ein Kun-de dann aber verstehen will, was das fürdie eigene Rente bedeutet, müsse er sichdurch sieben verschiedene Posten in denVersicherungsbedingungen und schließ-lich noch im Geschäftsbericht wühlen,moniert Kleinlein.

Der Wahl-Berliner hat sichtlich Spaß daran, sich mit Hilfe seines Computersdurch den Dschungel der Querverweisezu zoomen: Die Überschüsse würden nachGruppen verteilt, heißt es da etwa. „Zuwelcher Gruppe Ihre Versicherung gehört,können Sie den Versicherungsinformatio-nen entnehmen.“ Dort wiederum findetder Kunde nur die Information, dass erbeispielsweise zur Gruppe EZ, „Untergrup-pe“ HVAVMG0112 gehört.

Was das bedeutet, steht irgendwo im 86Seiten starken Geschäftsbericht – und istwenig erfreulich: Wenn der Kunde im Lau-fe seines Arbeitslebens weniger als 40000Euro in den Kapitaltopf bei der Allianzeinzahlt, muss er auf die Auszahlung vonKostenüberschüssen generell verzichten.

Die Allianz findet das nur fair: Kostenwürden „überwiegend im Verhältnis zumVolumen des Beitrags“ erhoben. Die späte-re Überschussbeteiligung erfolge also „nachdem Verursacherprinzip“. „Details“ könn-ten Kunden „mit einem Anruf in unserenServicecentern rasch in Erfahrung bringen“.

Kleinlein dagegen hält die Regel für„abstrus“. Jedes Kind mache es dem Kun-den sogar noch schwerer, die von der Al-lianz gesetzte 40000-Euro-Schwelle zuüberwinden, behauptet er. Denn dieseGrenze müsse der Versicherte alleindurch seine eigenen Einzahlungen errei-chen – also ohne staatliche Zuschüsse.Für jeden Sohn und jede Tochter aberkommt Förderung hinzu, so dass der Ei-genanteil schwindet. Und mehr als vierProzent seines Gehalts darf der Kundeinsgesamt nicht „verriestern“. Ein 35-jäh-riger Durchschnittsverdiener mit einemJahreseinkommen von 30000 Euro gehö-re nach der Geburt des ersten Kindes soschon nicht mehr zu den Vorzugskundendes Versicherers, so Kleinlein.

Dabei hatte Riester selbst doch bei sei-nem Konzept gerade auch jene Menschenim Sinn, „die wenig Geld zum Zurückle-gen haben“, wie er sagte. Der altgedienteSPD-Politiker findet dennoch, man dürfedie Policen nicht nur mit Blick auf ihreRendite beurteilen. Zugespitzt sei dieRentenversicherung am Ende „eine Wetteauf den Todeszeitpunkt“. Dafür könneder Kunde sich auf lebenslange Zahlun-gen verlassen.

ANNE SEITH

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Wirtschaft

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1. Die Banker sind nicht so schlau, wie sie denken, aber so gierig wie befürchtet.Die Facebook-Aktie startete am 18. Maimit einem Preis von 38 Dollar. Ende ver-gangener Woche war sie noch 28 Dollarwert – gut ein Viertel weniger. Die Vor-gänge hinter den Kulissen des missglück-ten Börsengangs haben die Illusion zer-stört, dass die führenden Investmentban-ken als Folge der Finanzkrise vorsichtigergeworden seien. Die Wall-Street-Bankerhatten das soziale Netzwerk deutlich zuhoch eingepreist und damit den Absturzprovoziert. Aus zwei Gründen.Der eine ist Gier: Die Börsen-experten um die Bank MorganStanley wollten heraus holen,was geht. Sie haben dabei of-fenbar einkalkuliert, dass die„dummen“ Kleininvestoren –„dumb money“ – mangels In-formationen bereit seien, fastjeden Preis für die Aktie zuzahlen. Doch sie haben nichtvorhergesehen, wie schnell das„smart money“ – große Hedge -fonds und Anteilseigner wieGoldman Sachs – die Flucht er-greifen würde. Dazu kommtSelbstüberschätzung: Die Ban-ker haben sich wieder vom eigenen Größenwahn treibenlassen, den größten, bestenTechnologie-Börsengang derGeschichte durchziehen zuwollen. Sie warfen viel zu vieleAnteile zu überhöhten Preisenauf den Markt.

2. Übertreibung bleibtÜbertreibung.Seit Monaten wurden vor al-lem Kleinanleger immer wie-der gewarnt, sie sollten im großen Me-dien-Tamtam nicht den Blick auf die nack-ten Fakten vergessen. Die kursierendenBewertungen seien zu hoch, die Aktie seiriskant. Die Facebook-Zahlen waren undsind zwar beeindruckend, aber zuletzttauchten diverse Fragezeichen auf.

Das Unternehmen macht mehr als acht-zig Prozent seines Umsatzes mit Wer-bung, dort blieb in den vergangenen Mo-naten das erwartete hohe Wachstum aus.Noch bedenklicher: Der Wert von On-line-Anzeigen sinkt generell beständigund muss durch immer mehr Nutzer und

Klicks ausgeglichen werden. Solche Pro-bleme deuten darauf hin, dass es an ei-nem ausgereiften Geschäftsmodell fehlt,um die hohe Bewertung zu rechtfertigen.All das war bekannt. Wer als Kleininves-tor nun trotzdem 10000, 20000, 30000Dollar verloren hat, ist selbst schuld.

3. Es gibt keine neue Internetblase.Vor Facebooks Börsengang hieß es oft,das Silicon Valley sei auf dem Weg zurückins Jahr 1999 – samt überdrehten Bewer-tungen und Goldrausch-Übertreibungen.Wie beim ersten Internetboom sei auch

heute eine Spekulationsblase die Folge.Diese These ist widerlegt.

Der Hype vor der Börsenpremiere umFacebook war kurzfristig und kam vor allem durch einen Mangel an Angebotbei zu hoher Nachfrage zustande: ImNachklang der Finanzkrise gibt es an derWall Street zu viel Geld auf der Suchenach neuen Erfolgsgeschichten, und dieTechnologiefirmen aus dem Silicon Valleyerfüllen diesen Wunsch noch am deut-lichsten. Doch in den vergangenen zweiJahren wagten sich nur wenige Unterneh-men an die Börse, entsprechend groß ist

das Interesse. Facebook wurde bereits vordem Börsengang am Zweitmarkt gehan-delt, wo Investoren ihre wenigen heiß -begehrten Anteile quasi unter der Handweiterreichten – was den Preis nach obentrieb. Doch sobald mit dem Beginn desoffiziellen Handels viele Aktien da warenund es erste Zweifel an den Gewinnaus-sichten gab, war die Luft raus.

4. Facebook ist kein zweites AOL.Selbst bei weiter fallendem Börsenkurshat Facebook eine große Zukunft, dennes ist längst nicht bloß ein Internetphä-nomen wie einst AOL, das nach einemkurzen Höhenflug abstürzte, sonderneine globale Kulturmacht. Auf jeden Ko-lumnisten, der Facebook nun vorschnellfür tot erklärt, kommen täglich 200000neue Nutzer in Asien hinzu. Bald wirddas Unternehmen eine Milliarde User ha-ben – ohne echte Konkurrenz.

Entsprechend werden sich die Folgendes Fiaskos für die Stimmung im SiliconValley in Grenzen halten: Den Firmengrün -

dern wird jetzt nicht das Geldausgehen. Die Risikokapital-firmen können Geld kaumschnell genug bei Investorenrund um die Welt einsammeln.In den vergangenen Wochenwurden Wagniskapitalfondsim Wert von mehreren Mil -liarden Dollar aufgelegt.

5. Die Web-Branche ist nicht die neue Auto -industrie, das muss sie aber auch nicht sein.

Der Facebook-Börsengang istnicht deshalb gescheitert, weilalle plötzlich eingesehen ha-ben, dass ein acht Jahre jun-ges Online-Unternehmen mitknapp vier Milliarden DollarUmsatz nicht fast doppelt soviel wert sein darf wie etwaDaimler. Produktion von Gü-tern im landläufigen Sinnkann nicht die Aufgabe dieserBranche sein. Es wäre einMissverständnis zu glauben,die Bedeutung der Internet-wirtschaft könne nur darin liegen, dass wir alle künftig

bei Internetfirmen arbeiten werden unddie Volkswirtschaften irgendwie Internetproduzieren.

Nein, die Bedeutung der Web-Brancheliegt in ihrer technologischen Breitenwir-kung. Zum Vergleich: Auch die Erfindungdes Flugzeugs hat nicht dazu geführt, dassdie Luftfahrt zur dominierenden Industrieder Welt wurde. Aber ohne Transport istdie globale Wirtschaft heute nicht denk-bar. Genauso wenig ist schon jetzt kaumnoch ein Wirtschaftszweig ohne Internet-anwendungen denkbar.

THOMAS SCHULZ

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I N T E R N E T

OP misslungen, Patient lebtFünf Lehren aus Facebooks Börsenfiasko

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SPIEGEL: Herr Geiwitz, Sie wollten bisPfingsten den Verkauf der insolventenDrogeriekette Schlecker abschließen.Nun haben Sie die Zerschlagung verkün-det. Was ist schiefgelaufen?Geiwitz: Wir haben zwei große Baustellennicht in den Griff bekommen. Zum einenist es nicht gelungen, eine Transfergesell-schaft für die ersten 10000 entlassenenSchlecker-Frauen zu gründen – mit derFolge, dass wir rund 4500 Kündigungskla-gen erhalten haben. Daraufhin haben sichdie ersten Investoren zurückgezogen.Gleichzeitig haben wir zwar den Jahres-verlust von 200 Millionen auf 20 Millio-nen Euro reduziert. Aber wenn Sie jedenTag mehrere hunderttausend Euro Ver-lust machen, ist das immer noch zu viel. SPIEGEL: Die Transfergesellschaft ist vorallem an der Haltung von Bundeswirt-schaftsminister Philipp Rösler von derFDP gescheitert. Ist er also schuld?Geiwitz: Es gibt zumindest eine gewisseNähe zwischen parteipolitischen Proble-men und den Äußerungen von Herrn Rös-ler. Die FDP kann eine Transfergesell-schaft ja aus ordnungspolitischen Grün-den ablehnen. Dann muss sie aber auchdie Konsequenzen klar benennen undnicht nur auf die Vermittler der Arbeits-agentur verweisen. Das hat nicht nur unsden Garaus gemacht, sondern war aucheine Farce für die Betroffenen. SPIEGEL: Ende Januar sagten Sie noch, dasUnternehmen habe „in vielerlei HinsichtSubstanz“, die Marke Schlecker werdenicht spurlos von der Landkarte ver-schwinden. Haben Sie sich verschätzt?Geiwitz: Die Lage war tatsächlich viel dra-matischer, als ich in den ersten Wochen

erkennen konnte. Es waren deutlich mehrInvestitionen in die Warenverfügbarkeitnotwendig, als uns gesagt worden ist. DieProbleme im Bereich der Personalpla-nung waren viel größer, als wir das ge-ahnt haben. SPIEGEL: Weil Anton Schlecker den Über-blick verloren hatte? Geiwitz: Die Realität war in vielen Berei-chen eine ganz andere, als das Manage-ment selbst geglaubt hat. Zum Beispielgab es die Hoffnung, man könnte alleindurch Ladenumbauten eine Sanierungrealisieren. Das war falsch, weil man da-durch den negativen Umsatztrend nurverschoben, aber nicht beseitigt hat. Daswar die erste echte Ernüchterung.SPIEGEL: Sie haben Anton Schlecker seineIntransparenz vorgeworfen. Gleichzeitighat sich Ver.di beschwert, von Ihnen zuwenig Informationen zu Geschäftszahlenund Konzepten zu bekommen …Geiwitz: … was nicht stimmt. Das war einSchattenkampf. Es gab kein Gremium, indem Ver.di nicht drin saß. Der Wirtschafts-prüfer von Ver.di hatte alle Informationenvon McKinsey und von uns. Eine Gewerk-schaft wie Ver.di muss einederartige Position aufbauen:Schlecker war ein Paradebei-spiel, um den Flächentarifver-trag im Einzelhandel zu ver-teidigen, denn in Deutschlandhaben wir zunehmend Dum-pinglöhne in diesem Bereich.Für die Sanierung aber wardas eine Giftpille.SPIEGEL: Immerhin haben SieInvestoren versprochen,Ver.diwürde auf 15 Prozent des

Lohns verzichten. Tatsächlich waren dieGewerkschafter nur zum Verzicht auf10 Prozent bereit. War das ein Fehler?Geiwitz: Ich bleibe dabei: Ich hätte das füradäquat gehalten. Im Branchenvergleichhat Schlecker Personalkosten, die 22 Pro-zent höher sind als bei dm, Rossmannoder Müller. Ich musste das Maximalefordern, um diesen Unterschied zu ver-ringern. SPIEGEL: Warum hat sich niemand aus Fa-milie oder Management richtig für dasUnternehmen in die Bresche geworfen?Geiwitz: Eine berechtigte Frage. AntonSchlecker ist ja offiziell vermögenslos.Aber die Familie hat noch Vermögen, undich habe gefragt, ob sie bereit sei, eineVerlustfinanzierung zu leisten.SPIEGEL: Für den Juni wären sieben bisneun Millionen Euro fällig gewesen.Geiwitz: Die Familie war entweder nichtbereit oder nicht in der Lage, diese Sum-me zu zahlen.SPIEGEL: Die Schlecker-Kinder Lars undMeike hatten mit dem Emirat Katar einenpotentiellen Partner gefunden, um dasUnternehmen selbst weiterzuführen. War -um ist diese Lösung gescheitert?Geiwitz: Die haben genauso die Risikengesehen wie meine Investoren. Am Endewollten sie auch einen ausreichenden Ri-sikopuffer. SPIEGEL: Zuletzt wurde der Karstadt-Besit-zer Nicolas Berggruen als Retter gehandelt,aber auch der wollte nur kaufen, wenn derHauptgläubiger die Risiken übernimmt.Geiwitz: Nach meiner Einschätzung hättenwir aber mit der Berggruen Holding amehesten eine Einigung erzielen können,nachdem hier die Chancen des Sanie-rungskonzepts ebenfalls gesehen wurden.Allerdings gab es letztendlich Bedenkenaufgrund der extremen Öffentlichkeits-wirkung des Schlecker-Verfahrens. SPIEGEL: Sie hatten bis zuletzt Kontakt zuAnton Schlecker. Räumt der inzwischeneigene Fehler ein?Geiwitz: Für die Familie ist es ein Schock.Anton Schlecker hat mir gesagt, dass ereiniges falsch gemacht habe. Er habe zuspät auf die veränderten Marktbedingun-gen reagiert, zu lange nur auf Wachstumgesetzt, auch bei der Personalführung

denkt er heute anders als voreinigen Jahren.SPIEGEL: Halten Sie das Ver-schwinden von Schlecker füreinen Verlust? Geiwitz: Ja. SPIEGEL: Kratzt es am Ego, einesolch bedeutende Insolvenznicht abgewendet zu haben?Geiwitz: Es ist frustrierend, daskann ich nicht leugnen.

INTERVIEW: SUSANNE AMANN, JANKO TIETZ

D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 286

H A N D E L

„Eine Giftpille“Schlecker-Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz, 43, rechnet mit

der Politik und dem Management des Unternehmens ab.

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Schlecker-Mitarbeiterinnen

„Die Probleme waren viel größer“

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Wirtschaftsprüfer Geiwitz

„Eine Farce“

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Jannis Fischer steht an einer Tafel undzeigt seinen Schülern, wie er grüneFiguren hin und her schiebt. Er kann

sie von der Tafel verschwinden oder aufWunsch furzen lassen. Statt mit Kreideschreibt Fischer mit dem Finger.

Sein Publikum staunt. Dabei zeigt Fi-scher nur, was mit einer elektronischenSchultafel, die mit Laptop und Beamerverbunden ist, alles möglich ist. Es siehtaus, als arbeitete er an einem riesigenTablet-Computer.

Jannis Fischer ist acht Jahre alt, besuchtselbst die zweite Klasse und macht hierklassischen Frontalunterricht. Seine Schü-ler sehen nicht nur alt aus, sie sind es: allesamt Schulleiter aus Hamburg, die ler-nen sollen, sich im Klassenzimmer derZukunft zurechtzufinden. Für die altengrünen Tafeln samt quietschiger Kreidescheint da bald kein Platz mehr zu sein.

Über 80000 der sogenannten White -boards soll es bereits in deutschen Schu-len geben. Für den Marktführer SmartTechnologies aus Kanada ist das erst derAnfang. Die „Klassenraum-Penetration“liege „Lichtjahre hinter Großbritannien“,sagt der deutsche Smart-Chef Carlo Stall-mann. 80 Prozent der britischen Schul-zimmer seien schon interaktiv versorgt,

hierzulande gerade mal 11. Für die Firmamit 790 Millionen Dollar Umsatz istDeutschland ein Markt, der wachsen soll.

Um nach dem Pisa-Schock nicht nochals digitales Entwicklungsgebiet verspot-tet zu werden, begannen die Länder, ihreSchulen nachzurüsten – erst mit Compu-tern, nun mit Whiteboards. Erste Rück-meldungen zeigen zumindest, dass dieSchüler motivierter scheinen.

Einen Song oder ein Vogelgeräusch hören oder Unterrichtsfilme sehen? In einer Umrisskarte Europas bestimmteLänder verorten? Ergebnisse aus Grup-penarbeiten grafisch zusammenfügen?Das war bislang ohne technischen Groß-einsatz kaum möglich. Wer seinen Schü-lern heute dagegen kurz das menschlicheSkelett in Erinnerung rufen will, mussnicht unbedingt mit dem alten Schiebe-gerippe in der Klasse auflaufen. Oft findeter das, was er sucht, im Netz, wo Lehrer-kollegen Tausende Unterrichtsmateria-lien zur freien Nutzung hinterlegt haben.

Recht emsig sind an diesem AustauschLehrer aus Hamburg beteiligt, dem erstenBundesland, das mit einer flächendecken-den interaktiven Ausstattung an seinenSchulen begann. Mit dem HerstellerSmart wird eng kooperiert: Das Unter-nehmen spendierte die ersten paar Dut-zend Tafeln, die Stadt legte ein paar Mil-lionen Euro aus Sondermitteln drauf.

Begeisterte Pädagogen wie MichaelWeißer, Projektleiter beim HamburgerLandesinstitut für Lehrerbildung, sorgenfür die entsprechende PR: Der Trend, be-hauptet Weißer in seinen Schulungen,gehe schon zum „Zweitboard“, die neuenModelle gebe es sogar mit Gestensteue-rung. Die Boards seien eine einmalige

* Vor Lehrern in Hamburg.

Chance, die „Parallelwelt Schule, dieHöhle mit der Kreidewand“, zu verlassen.

Doch es gibt auch Kritik: „Endlich kön-nen Schüler Musik hören statt im Unter-richt mitzuschreiben“, witzelte die „Zeit“in einem nostalgischen Schiefertafel-Plä-doyer – am Ende der Stunde könne ja ehalles ausgedruckt werden. Es klang einwenig, als würden die besseren Zeitungs-texte noch immer mit dem Füllfederhaltergeschrieben.

Skepsis ist dennoch angebracht: InHamburg etwa war es nach der staatli-chen Geldspritze den Schulvereinen über-lassen, für weiteren Nachschub bei dengut 4000 Euro teuren Tafeln zu sorgen –der Medienetat der Stadt für 2012 ist der-weil um 25 Prozent gekürzt worden.

Während einige Gymnasien in reichenStadtteilen bereits alle Klassenräume be-stückt haben, könnte manchen Schulenin ärmeren Vierteln die digitale Zweitklas-sigkeit drohen. „Das ist Mittelalter“, sagtMarianne Demmer von der GewerkschaftErziehung und Wissenschaft. Der Staatkönne nicht erst die Schulen anfixen, dieFinanzierung dann aber dem Zufall über-lassen. Auch die Wartung der teils anfäl-ligen Geräte müsse kalkuliert werden unddie Ausbildung der Lehrer, sonst verkä-men die Boards zu Daddelautomaten.

Strittig ist auch, wer Zugriff auf die ge-speicherten Bilder und Texte aus dem Un-terricht haben darf. Zudem sind Urheber-rechte betroffen, wenn munter Schulbuch-material eingescannt wird. Lizenzverträge,welche die digitale Nutzung einschließen,lassen hierzulande auf sich warten.

Roy Krüger von der Ingelheimer FirmaFischer-Tafeln, die noch die klassisch-grü-nen Tafeln produziert, ist sich angesichtssolcher Anlaufprobleme sowieso sicher,dass die ganze Digitalisierung der Schu-len „zusammenbrechen“ werde: „Das isteine Zeiterscheinung.“

Allerdings spürt auch seine Firma dieKonkurrenz: Das Vorgängerunternehmenging vor einiger Zeit pleite. Die rund tausend Euro teuren Klassik-Tafeln lässtKrügers verbliebene Restfirma nun in Un-garn herstellen.

Ob sich die Digitalisierung des Klassen -raums und das sogenannte E-Learning –vom Spaßfaktor mal abgesehen – über-haupt positiv auf schulische Leistungenauswirken werden, ist ohnehin noch nichtbelegt. Im Smartboard-Paradies Groß -britannien mögen die Schüler nun mehrMedienkompetenz besitzen. In den Pisa-Tests sind sie zurückgefallen.

NILS KLAWITTER

Wirtschaft

D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 288

B I L D U N G

Alle am Board?Interaktive Tafeln sollen zum

Standard in den Klassenzimmernwerden. Hersteller locken die

Schulen mit Rabatten, doch dieAnschaffung bleibt teuer.

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Schüler Jannis bei Vorführung des Whiteboards*: Die Höhle mit der Kreidewand verlassen

Video: So funktioniert die elek-tronische Schultafel

Für Smartphone-Benutzer:Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“.

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Page 90: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 290

C H I N A

Fassaden der Macht

Protz, Verschwendung von Steuergeldern, Imponiergehabeder Lokalfunktionäre – die Architektur chinesischer Regie-rungsgebäude spricht für sich. Die Provinz kann noch soarm sein, für ehrfurchtheischende Baumaßnahmen reichtdas Geld immer. Bestes Beispiel: das nachgeahmte Kapitolin der Stadt Fuyang. Selbst Premier Wen Jiabao sah sich zueiner Mahnung genötigt und erklärte, der Bau von Partei-und Regierungsgebäuden solle künftig strikt kontrolliert wer-den, um die Verwaltungskosten zu senken. Der Prunk, mitdem sich die Lokalregierungen umgeben, trägt zu ihremschlechten Image bei. Der Fotograf Bai Xiaoci hat sich nunin über 80 Städten umgesehen und eine Galerie von staat -lichem Pomp ins Internet gestellt. In einer Umfrage befandenüber 90 Prozent der Befragten, dass diese Bauten „von einerschweren Luxuskrankheit befallen seien“. Der Fotograf selbststellte fest: „Wenn ich vor diesen Gebäuden stehe, fühle ichmich wie eine winzige Ameise.“ Das soll wohl auch so sein.

G E O R G I E N

„Hoffnung auf Wandel“Der Milliardär undOppositionsführerBidsina Iwanischwi-li, 56, über seinenKampf gegen Präsi-dent Micheil Saaka-schwili

SPIEGEL: Jüngst folgten Ihnen 80 000Georgier zu Protesten auf die Straßenin Tiflis. Was treibt Ihre Anhänger?Iwanischwili: Die Hoffnung auf Wandelund der Hass auf die Regierung vonPräsident Saakaschwili. Die Bevölke-rung verarmt, Saakaschwilis Umfeldaber bereichert sich.

SPIEGEL: Wo wird der Machtkampf umGeorgien entschieden: auf der Straßeoder an den Urnen bei der Parlaments-wahl im Herbst?Iwanischwili: In den Wahllokalen, ichhoffe, wir kommen ohne die Straßeaus. Wir werden aber einen großenVorsprung benötigen, damit Saaka-schwili sich in seine Niederlage fügtund nicht versucht, das Ergebnis zumanipulieren. Wir sind in der Lage,zwei Drittel der Stimmen zu holen.SPIEGEL: Werden die Wahlen frei undfair verlaufen?Iwanischwili: Wir werden die Regierungdazu zwingen. Die freien Bürger Geor-giens, die Zivilgesellschaft und unab-hängige Journalisten werden über dieWahlen wachen. SPIEGEL: Was haben Sie als Nächstesvor?

Iwanischwili: Wir planen eine Demon -stration in der zweitgrößten Stadt Kutaissi. Saakaschwili hat vorsorglichden zentralen Platz dort sperren lassen, angeblich für Schulkonzerte.SPIEGEL: Saakaschwili war der Held derdemokratischen Rosen-Revolution2003 und ein Verbündeter des Wes-tens. Warum bekämpfen Sie ihn jetzt?Iwanischwili: Ich war sogar mit ihm befreundet und wollte ihm helfen, eineechte Demokratie aufzubauen. Dannaber ging er 2007 gewaltsam gegenfriedliche Demonstranten vor undzeigte sein wahres Gesicht.SPIEGEL: Falls Sie siegen: Was wird mitSaakaschwili passieren?Iwanischwili: Wir werden ihn nicht poli-tisch verfolgen. Andererseits hat erviele Gesetze verletzt. Darum werdensich die Gericht kümmern müssen.

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Regierungsgebäude in Tai`an (o.) und in Fuyang

Panorama

Page 91: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

Die Königin feiert: Weil Elizabeth II.,86, seit 60 Jahren auf dem Thron sitzt,geben sich die Briten bis Dienstag die-ser Woche gleich viertägigen Feierlich-keiten hin, unter anderem mit einerimposanten Schiffsparade auf derThemse. Beeindruckend ist auch dasLoch in der Kasse, das die Queen- Sause hinterlässt. Büros, Fabriken undBanken schließen, Millionen Arbeit-nehmer nutzen die Brückentage fürKurzurlaube im Ausland. Das Brutto-inlandsprodukt im zweiten Quartal, sokalkuliert Mervyn King, Gouverneurder Bank of England, wird sich wegendes Thron-Jubiläums um 0,5 Prozentreduzieren. Das ist umso bedenklicher,als die britische Wirtschaft ohnehin in

der Rezession steckt. Extravagant-kostspielige Familienfeste sind die Bri-ten von ihren Royals gewohnt. Als2011 der Erbe des Thronfolgers heirate-te, gönnte Premier David Camerondem Land einen Sonderfeiertag. Auf-grund der Hochzeit von Prinz Williamund Kate Middleton ging die Wirt-schaftsleistung im zweiten Quartal2011 um 0,4 Prozent zurück. Das Festsoll 1,7 Milliarden Euro gekostet ha-ben. Auch die Olympischen Spiele imSommer versprechen keinen wirt-schaftlichen Aufschwung. LondonerHotels und Gastronomen profitierenwohl vom Andrang, im großen Restdes Königreichs aber werden wenigerTouristen erwartet als sonst.

Ausland

U S A

Verzögerter ProzessDer Prozess gegen die mutmaßlichenHintermänner der Terroranschlägevom 11. September 2001 vor dem mili-tärischen Sondergericht im US-Ge -fangenenlager Guantanamo gerät ins Stocken. So wurde der zweite Pro - zess termin vom Gericht nun um zwei Monate auf Anfang August verlegt.Grund für die Verzögerung sind Be-schwerden der Verteidiger, die mehrZeit verlangen, um sich mit ihren Man-danten vorzubereiten. Außerdem be-antragten sie, Ex-Präsident George W.Bush und auch Barack Obama vor dasMilitärtribunal zu laden. Beide hättendurch ihre Verurteilungen der Ange-klagten in der Öffentlichkeit einen fai-ren Prozess unmöglich gemacht. DieVerschiebung des Termins zeigt, dassdas Gericht die Beschwerden ernstnimmt. Der Jahrhundertprozess wirdnun wohl erst 2013 richtig starten; ersoll mehrere Jahre dauern. Ob er dannnoch gegen alle fünf Angeklagtengleichzeitig geführt wird, ist ungewiss.Militärrichter James Pohl deutete an,er wolle die Verfahren möglicherweisetrennen, da eine gemeinsame Beweis-erhebung zu kompliziert werde.

ZAHL DER WOCHE

12000000000Patronen

werden pro Jahr produziert – genug,

um die Menschheit fast zweimal

auszulöschen. Im Juli will die Uno in

New York ein internationales

Kontrollabkommen beschließen, das

auch den Munitionshandel

regelt. Drei Länder sind dagegen:

Ägypten, die USA und Syrien.

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G R O S S B R I T A N N I E N

Queen senkt Bruttoinlandsprodukt

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Königin Elizabeth II.

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P O L E N

Gekränkte OpferGenau 199 Beschwerdebriefe an Zei-tungen und Sender weltweit verschick-te das Außenministerium in den ver-gangenen drei Jahren, um sich gegeneine besonders ärgerliche Form vonGeschichtsklitterung zu wehren. Tatsächlich werden immer wieder For-mulierungen wie „polnisches Kon -zentrationslager“ benutzt, wenn eigentlich ein deutsches KZ im besetz-ten Polen gemeint ist. Unter den Gerügten sind die „New York Times“,„The Economist“, „Haaretz“, die„Süddeutsche Zeitung“, aber auch derSPIEGEL. Vergangene Woche unter-lief selbst US-Präsident Barack Oba-

ma dieser Fehler, als er dem polni-schen Widerstandskämpfer Jan Karskidie „Medal of Freedom“ verlieh. Kars-ki hatte sich 1942 in ein Deportations-lager einschleusen lassen und derWelt einen der ersten Augenzeugen-berichte vom Holocaust geliefert. Inseiner Laudatio sprach nun auch Oba-ma von einem „polnischen Todes -lager“. Die Regierung in Warschaureagierte entrüstet. Offenbar sei vie-len Zeitgenossen unbekannt, welcheVerbrechen die Nazis an der polni-schen Zivilbevölkerung begangen ha-ben. Spätestens wenn die Kriegsgene-ration ausgestorben sei, so wird inWarschau befürchtet, werde in Verges-senheit geraten, dass die Polen in ers-ter Linie Opfer waren. Das WeißeHaus hat mittlerweile einen Entschul-digungsbrief geschickt.

Betende Gefangene in Guantanamo

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Page 92: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

Die Metaphern drängten sich gera-dezu auf, als die Bilder und De-tails bekannt wurden vom Massa-

ker im westsyrischen Hula: My Lai, Sre-brenica, Ruanda wurden bemüht als Em-bleme des Grauens. Mehr als hundertMenschen, davon die Hälfte Kinder undein Drittel Frauen waren am Abend des25. Mai nach dem Freitagsgebet im Orts-teil Taldu umgebracht worden, manchevom stundenlangen Beschuss durch Pan-zer und Geschütze der syrischen Armee,

die meisten von Todesschwadronen ausumliegenden Dörfern, deren Schergen ih-ren Nachbarn mit Messern die Kehledurchschnitten oder sie aus nächster Näheexekutierten.

Die Welt war entsetzt. Sogar Chinaund Russland, die treuen Verbündetendes syrischen Systems, stimmten einer Er-klärung des Uno-Sicherheitsrats zu, diedas Massaker verurteilte, ohne freilichdie Täter zu nennen. Auch der stets zu-rückhaltende Uno-Sondergesandte Kofi

Annan sprach von einem „Wendepunkt“,der neugewählte französische PräsidentFrançois Hollande forderte gleich eineMilitärintervention.

Langsam begreifen Europa, die USA,vielleicht auch Kofi Annan: Es wird kei-nen Kompromiss mit Baschar al-Assadgeben, weil es keinen geben kann. Weiljene Phase, als die Demonstranten nochfriedlich aufmarschierten und Verhand-lungen, Übergangsregierungen, Kompro-misse möglich waren, nach mehr als

D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 292

Getötetes Kind in Hula: „Wir haben die Uno-Beobachter während des Massakers gerufen, aber sie haben sich geweigert zu kommen“

S Y R I E N

Faustischer PaktDem bedrängten Assad-Clan bleibt einzig die Flucht nach vorn: Sieg über

die Opposition. Um den zu erreichen, setzt der Staatschef auf eine erprobte Mördertruppe – die „Schabiha“, Geister, denen kein Auftrag zu blutig ist.

Ausland

AFP

Page 93: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

10000 Toten und Zehntausenden Gefol-terten unwiderruflich vorbei ist.

Als das Regime seinen Abgang hätteverhandeln können, wollte es nicht. Nunkann es nicht mehr. Jedes Anzeichen vonSchwäche würde seinen Sturz bedeuten.

Nicht der Umstand, dass das Regime Zi-vilisten massakrieren lässt, um sich zu ret-ten, hat diese Erkenntnis befördert, solcheBlutbäder hat es schon früher gegeben: InHoms verschwanden im April vergange-nen Jahres über 60 Menschen spurlos,nachdem Regierungstruppen ein friedli-ches Sit-in niederwalzten. Im Südostenvon Homs wurden im Januar mehrere Fa-milien auf ähnliche Art wie in Hula mas-sakriert. Als Wochen später der zuvor inTrümmer geschossene Stadtteil Bab Amrvon Regimeeinheiten eingenommen wur-de, berichteten Zeugen von Massenexeku-tionen jener, die nicht geflohen waren.

Neu war diesmal allerdings, dass nurStunden nach der Tötungsorgie, am Sams-tagvormittag, ein Team von Uno-Beob-achtern es schaffte, nach Hula zu kom-men: die Leichen zu sehen, sie zu zählenund zu bezeugen, was Überlebende denBeobachtern berichteten und was die Spu-ren der Panzer verrieten. „Die Beweislageist mitnichten unklar“, sagte DeutschlandsUno-Botschafter Peter Wittig, „es gibt kla-re Belege für die Täterschaft der Regie-rung an diesem Massaker.“ Lagen bei frü-heren Massakern nur Berichte der syri-schen Opposition und Videoaufnahmenvor, die nicht überprüft werden konnten,so sah die Lage diesmal anders aus.

Im Scheitern, so scheint es, entfaltetdie Uno-Mission ihre Wirkung. Dieknapp 300 unbewaffneten Beobachterkönnen unmöglich eine nicht wirklichexistierende Waffenruhe überwachen, diebis Ende vergangener Woche über 2000Opfer zugelassen hat (siehe Grafik Seite94). Sie können das Geschehen nicht ver-hindern, wohl aber seine Vertuschung.Das ist nicht viel und den aufgebrachtenSyrern viel zu wenig, die Bilder von KofiAnnan verbrannten. „Wir haben die Be-obachter während des Massakers geru-fen“, wurde ein Mann aus Hula zitiert,der sich Abu Emad nennt, „aber sie ha-ben sich geweigert zu kommen und dasMorden zu stoppen. Verflucht seien sie,verflucht sei die ganze Mission!“

Sie kamen – zu spät, aber sie kamen.Nach weitgehend übereinstimmenden

Aussagen Überlebender und den Ermitt-lungen der Uno-Beobachter sowie der un-abhängigen MenschenrechtsorganisationHuman Rights Watch hatten am Mittagdes 25. Mai die Menschen aus Ortsteilenvon Hula nach dem Freitagsgebet fried-lich für den Sturz des Regimes demon -striert, als Beschuss erst durch Panzer,dann durch schwere Artilleriegeschützeeinsetzte. Andere Zeugen gaben an, dassSoldaten zuvor direkt auf Demonstrantengefeuert hätten.

Auf jeden Fall zogen daraufhin bewaff-nete Rebellen der Freien Syrischen Ar-mee, FSA, los, um die Stützpunkte derAssad-Truppen außerhalb von Hula an-zugreifen. Ob sie vor dem Panzerbe-schuss zurückwichen oder sich in dem un-übersichtlichen Gelände versteckt hielten,ist unklar. Auf jeden Fall waren nur nochwenige Männer im Ortsteil Taldu, als derschwere Beschuss am Nachmittag stoppteund danach Bewaffnete kamen.

Die Männer, teils in Zivil, teils in Ar-meeuniformen, zogen von Haus zu Haus,berichteten Überlebende wie etwa derelfjährige Ali gegenüber dem SenderCBS: „Zu uns kamen sie nachts, holtenerst meinen Vater und meinen ältestenBruder heraus. Meine Mutter schrie, war -um tut ihr das? Dann erschossen sie beide.Danach meine Mutter. Dann kam einerder Männer mit einer Taschenlampe, sahmeine Schwester Rascha. Er schoss ihr inden Kopf.“ Ali versteckte sich mit seinenzwei kleinen Brüdern, der Mann sah sie,erschoss auch sie, aber verfehlte Ali.

Andere Überlebende, die sich versteck-ten oder tot stellten, erzählten den stetsgleichen Ablauf: Haus um Haus, Raum

um Raum wurde durchkämmt, jeder um-gebracht, manche mit Messern, mancheerschossen. Bis in die Morgenstundenwährte das Morden. Als die Uno-Beob-achter kamen, fanden sie in jenen Dör-fern, die von Regimetruppen kontrolliertwerden, nur noch Tote. Die Überleben-den hatten sich in Ortsteile geflüchtet, dievon der FSA gehalten werden, wo sie diegeborgenen Leichen auf Matten in derMoschee betteten, filmten und beerdig-ten.

Das Massaker konnte die Führung inDamaskus nicht leugnen. Aber Außenmi-nisteriumssprecher Dschihad Makdissi er-klärte umgehend „bewaffnete Terroris-ten“ und „Islamisten“ für die Täter – wieimmer. Moskau, dessen eiserne Blockadebislang jede Verurteilung Syriens im Welt-sicherheitsrat verhindert hat, versuchtesich auf dem Basar der Schuldzuweisun-gen mit einem bizarren Handel: Der Pan-zer- und Mörserbeschuss, so Außenminis-ter Sergej Lawrow, gehe wohl auf Kostendes Regimes. Aber die bestialischen Mor-

* Oben: am 14. August 2011 vor der Hassan-Moschee;unten: am vergangenen Dienstag in Damaskus.

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Schabiha-Trupp in Damaskus, Gesprächspartner Annan, Assad*: „Verflucht sei die Mission“

Page 94: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

de wurden, so Alexej Puschkow, Vorsit-zender des Parlamentsausschusses für In-ternationale Angelegenheiten, „definitivvon der anderen Seite begangen“.

Igor Pankin, Russlands Vize-Uno-Bot-schafter, sekundierte: „Wir können unsnicht vorstellen, dass es im Interesse dersyrischen Regierung ist, den Besuch desSonderbeauftragten Kofi Annan in Da-maskus zu sabotieren.“ Womit er rechthat: Ein Massaker an Kindern ist nachPR-Maßgaben dem Assad-Regime nichtdienlich. Unrecht hatte er dennoch undbrachte unfreiwillig Russlands wachsendeFrustration mit seinem Verbündeten aufden Punkt: Denn Syriens Führung tutschon lange nicht mehr, was im Sinne ei-ner politischen Lösung der Krise klugwäre zu tun.

Indem sie nach und nachihre Macht auf die alawitischeMinderheit, welcher der Assad-Clan entstammt, konzentrierthat, schürt sie einen Konfes -sionskampf gegen die sunniti-sche Mehrheit, den sie zu ver-hindern vorgibt. Nun hat Assadsich in eine Ecke manövriert,aus der er nur einen Auswegkennt: Sieg. Weshalb auch derneueste Vorschlag aus Berlinund Washington, es doch mitder „jemenitischen Lösung“ zuversuchen, Baschar al-Assadabzusetzen und das Regime zuerhalten, nicht klappen wird.Das Regime setzt ausschließ-lich auf Gewalt, begleitet voneiner monströsen Propaganda-Inszenierung, nach der auslän-dische Terroristen und al-Qaidahinter dem Aufstand steckten.

Diese konspirative Manie istnicht neu: Schon ab 2003 orga-nisierten die Geheimdienste den Transfervon Dschihadisten aus Saudi-Arabien, Li-byen, Kuwait über die syrische Grenze inden Irak, um den Amerikanern jed wedenAppetit auf den angedrohten Regime-wechsel auch in Damaskus zu nehmen –während sich das Regime gleichzeitig alsBollwerk im Kampf gegen al-Qaida emp-fahl. Später festgenommene Ausländerberichteten, wie sie in Homs in Lagernder Geheimdienste auf ihren Transfer ge-wartet hatten.

Auch als Anfang 2006 mehrere skandi-navische Botschaften nach dem Karika-turenstreit in Damaskus angeblich vomislamistischen Mob verwüstet wurden,hatte das Regime die Männer geschicktund vorsorglich noch die Wachen vordem Haus eines Generals neben der nor-wegischen Botschaft abgezogen. Nachden schweren Sprengstoffanschlägen dervergangenen Monate in Damaskus, Alep-po und Deir al-Sor gibt es keine Beweisefür die Urheberschaft des Regimes, aberreihenweise Merkwürdigkeiten: Die Täter

verfügten über immense Mengen Spreng-stoff, kamen problemlos damit durch alleKontrollposten – und detonierten ihreSprengsätze dann vor zumeist leeren Ge-bäuden. Die Totenzahlen wurden vomRegime herausgegeben, die veröffentlich-ten Listen des ersten Anschlags am 23.Dezember enthielten die Namen vonMännern, die bereits zuvor andernortsgestorben waren. Bei der pompösen Be-stattungsfeier in der Umajjaden-Moscheeklebten dann lauter Zettel „anonymerMärtyrer“ an den Särgen. Als am 9. Maieine Bombe in der Nähe des Konvois vonUno-Missionschef Robert Mood explo-dierte, waren die Fahrzeuge zuvor an ei-nem Militärcheckpoint just so lange auf-gehalten worden, dass sie zum Zeitpunktder Detonation in der Nähe waren.

Konspirative Gewalt gehört in Syrienzum Überlebensprinzip des Regimes. Die-ser paranoide Zug erklärt sich aus seinerGeschichte: Als der Luftwaffengenerala. D. Hafis al-Assad im November 1970mit kalter Brillanz putschte, brachte derSenior damit seine Familie, seinen Clan,letztlich die kleine, jahrhundertelang de-klassierte Minderheit der Alawiten an dieMacht – die es fortan um jeden Preis ge-gen alle demografische Unterlegenheit zuverteidigen galt.

Die Illusion von einem Staat, der an-geblich sogar Reformen will, versucht As-sad junior aufrechtzuerhalten. Er ließ vorMonaten ein Referendum abhalten, umdie jahrzehntelang zementierte Vormachtder Baath-Partei zu beenden, inszeniertevor Wochen noch Parlamentswahlen –und lässt mit dem Massaker von Hula alldies bedenkenlos wieder einreißen.

Was dort geschah, folgte dem Musterfrüherer Angriffe etwa in Homs: Erst wirdmit Panzern und Artillerie aus großer Ent-fernung geschossen. Anschließend rollen

die regulären Truppen ein und vertreibenoder erschießen die letzten Rebellen.Dann erst kommen jene Helfer, die dasRegime rief und die es immer wenigerkontrollieren kann: die Schabiha, dieGeister.

Was früher einmal Schlägertrupps undSchmugglergruppen aus den Hügeln rundum Latakia waren, der Heimat des Assad-Clans, ist ein vieltausendköpfiges Heeraus Freischärlern geworden. Die Bandenwerden unterstützt von den Nutznießerndes Regimes, jenen, die bei der Errichtungeiner marktwirtschaftlichen Fassade fürdas Land am meisten profitiert und nunam meisten zu verlieren haben. Es ist einfaustischer Pakt: Solange sie loyal zu As-sad sind, dürfen sie morden, plündern,vergewaltigen. Wie in Hula, wo die Scha-

biha aus den südlichen Nach-bardörfern kamen.

Erkennbar war das Wirkendieser Gespenster schon im Au-gust 2011 in der Hauptstadt Da-maskus. Jeden Abend währenddes Fastenmonats Ramadanstanden sie zu Dutzenden vorden Moscheen sunnitischerViertel, bereit, jeden niederzu-knüppeln und zu verschleppen,der beim Herauskommen nachdem Gebet sein Wort gegen dasRegime erhob. Gegen 20 Uhrkamen sie in Schwärmen ausden Quartieren der Geheim-dienste, wurden in requiriertenNahverkehrsbussen zu ihrenEinsatzorten gefahren und lau-erten dort, bis sich die Beten-den nach dem Verlassen derMoscheen verliefen.

Es sind Kriminelle, Tagelöh-ner, die meisten Alawiten, aberes sind auch Kurden der PKK

darunter, Angehörige regimeloyaler sun-nitischer Clans aus Aleppo, vereinzeltChristen. Die Schattentruppe eines Re-gimes, das seiner eigenen Armee nichtmehr traut – sondern ein Monster geschaf-fen hat, das sich verselbständigt und densyrischen Staat untergräbt lange vor einermilitärischen Niederlage.

Der Autor Jassin al-Hadsch Salihschrieb vor Monaten aus dem Untergrundin Damaskus: „Selbst wenn das Regimedie Konfrontation mit den Aufständischengewinnt, wird das künftige System ein Re-gime der Mafia sein.“ Eine Herrschaft ma-rodierender Banden, getrieben von Gierund Angst vor Vergeltung, die mit jederWelle des Mordens berechtigter wird. �

Ausland

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Video: Warum eine Invasion Syriens so schwierig ist

Für Smartphone-Benutzer:Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“.

Homs

Aleppo

100 km

SYRI EN

TÜRKEI

IRAK

JORDANIEN

LIBANON

Suwaida

59

57

528

340

557252

1791

2768

Homs 6256

1384

1532

Quelle: Syrian RevolutionMartyr Database,30. Mai 2012

2122 Toteseit Kofi AnnansFriedensplan vom12. April 2012

Hasaka

Deir al-Sor

RakkaAleppo

Kunaitra

Töten ohne Ende Opfer in den syrischen Provinzen

Damaskus

Tartus

Page 95: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage
Page 96: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

I. Von Rechts wegen müsste das Morden in Syrien seit gutsechs Wochen vorüber sein. Baschar al-Assad, Präsident

seines uralten, binnen 15 Monaten zertrümmerten Landes,hätte am 10. April den Rückzug seiner Truppen befehlen und48 Stunden später eine Waffenruhe mit den Rebellen beginnenmüssen. Darauf verpflichtete ihn der Sechs-Punkte-Plan desUno-Unterhändlers Kofi Annan, dem Assad nach zwei WochenBedenkzeit am 27. März zugestimmt hatte. Der Plan redetevom sofortigen Stopp aller Kampf-handlungen, vom Fortschritt zumFrieden – und er war weiterhin inKraft, als am 25. Mai Todesschwa -dronen durch die bei Homs gelege-ne Ortschaft Hula zogen, um dortein Massaker anzurichten, dessenDetails Bilder der Hölle heraufbe-schwören.

Kaum jemand am Sitz der Unoin New York hat Zweifel daran, dassdieses Massaker auf Assads Kontound das seiner Schabiha-Milizengeht; kaum eine Regierung auf derWelt glaubt die Lügengeschichte dersyrischen Regierung, hier seien„ausländische Kräfte“ am Werk ge-wesen, Terroristen, al-Qaida. As-sads Clan, so viel ist jetzt klar, willdie Macht im Land nicht aufgeben,und sei es um den Preis, das eigeneVolk umbringen zu müssen.

Die zugehörigen Fragen aller-dings sind schneller gestellt als be-antwortet: Wieso unternimmt dieWelt nichts, um den Amoklauf des syrischen Regimes zu stop-pen? Warum steigen über Syrien nicht Kampfflugzeuge derNato auf, wie über Libyen? Warum werden nicht wenigstensdie Rebellen mit Waffen versorgt, um sich wehren zu können?Und: Was taugt die Arbeit dieses Uno-Sicherheitsrats, wenner stets dann handlungsunfähig wird, sobald es für die großenMächte ans Eingemachte geht?

II. Geschichte speist sich aus Geschichten, und wo von altenVölkern die Rede ist, liegt ein dichtes Gespinst aus Le-

genden und Erfahrungen über allem. Syrien schaut auf mehrals zehn Jahrtausende zurück, Bücher wären zu schreiben, umdem gerecht zu werden, aber selbst dann müsste einem ein-schneidenden kollektiven Erlebnis von vor 30 Jahren ein eige-nes Kapitel gewidmet sein.

Im Februar 1982 verteidigte sich das Assad-Regime, damalsnoch geführt von Hafis al-Assad, dem Vater des heutigen Prä-sidenten, gegen Umtriebe der Muslimbruderschaft in der altenStadt Hama. Zunächst wurden ausländische Beobachter desLandes verwiesen, die Journalisten zuerst, dann, am 2. desMonats, rückte die Armee gegen Hama vor.

Luftwaffe und Artillerie zerstörten große Teile der Altstadt,es wurden Menschen verschleppt, gefoltert, und vor allem wur-de gemordet: Bis zu 30000 Menschen sollen umgebracht wor-den sein, um jeden Ansatz einer Rebellion zu ersticken und allen Untertanen im Land die Botschaft zukommen zu lassen,dass Widerstand in Syrien sinnlos sei.

Bis heute sind die genauen Umstände dieses Massakers nichtaufgeklärt, aber es ist gewiss nicht falsch zu sagen, dass das

heutige Syrien damals seinen bru-talen Gründungsakt erlebte. Der Assad-Clan stabilisierte sich in denFolgejahren, und das Massaker vonHama wurde der syrischen Elitezum Muster dafür, wie mit Gegnernumzuspringen sei.

III. Wie mit ruchlosen Regimenumzugehen wäre, dafür

gibt es so klare Muster nicht. Dassdie Welt nichts versucht hätte, dieGewalt in Syrien aufzuhalten, istein falscher Eindruck. Schon vor derspektakulären Aktion von vorigerWoche, die syrischen Botschafteraus einem Dutzend großer Haupt-städte auszuweisen, waren die Ara-bische Liga, die Europäische Union,der Uno-Sicherheitsrat, die Uno-Vollversammlung, der Uno-Sonder-beauftragte Annan und nicht zuletztUno-Generalsekretär Ban Ki Moongeradezu fieberhaft darum bemüht,das Morden zu stoppen.

Seit Monaten gibt es immer neue Anläufe, scharfe Resolu-tionen und Sanktionen gegen Syrien auf den Weg zu bringen.Vielstimmig haben Regierungen in aller Welt, auch der arabi-schen, das Treiben der Assad-Regierung verurteilt – und manmag all das, angesichts ausbleibender Erfolge, für leeres Ge-fuchtel halten. Aber nur so kann Weltpolitik auf zivile Weisevonstattengehen, so wird am großen Rad der Diplomatie ge-dreht, mit Erklärungen, Textentwürfen, Debatten, weil andern-falls immer nur der Krieg als erstes Mittel zur Verfügung stündeund also weiterhin das Faustrecht gälte.

Das Schlimme ist nur: Syrien lehrt auch, dass das Faustrechtfortlebt. Dass es immer wiederkehren will, dass es nie ver-schwindet, sondern aufgehoben bleibt, bei Bedarf beanspruchtvon despotischen Regimen, die sich einen Dreck scheren umMenschenrechte und Zivilität. Und Syrien lehrt, dass sich dieVölker der Welt über Fragen des Faustrechts auch im 21. Jahr-hundert höchst uneins sind, womöglich ist sogar ein neuer Ost-West-Konflikt im Gange, denn: Wenn Assad und die Seinen indiesen Wochen weiter morden können, dann sind dafür dieRegierungen Russlands und Chinas entscheidend verant -wortlich.

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E S S A Y

Assads willige HelferWarum die Welt beim Morden in Syrien zum Zuschauen verurteilt ist

Von Ullrich Fichtner

Kinderleichname in Hula

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Assads Opfer werden mit rus -sischen Waffen, mit russischem

Kriegsgerät umgebracht.

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Vor allem die Moskauer Regierung, die als Putin-Regimeauch nicht falsch bezeichnet wäre, hätte es in der Hand, dieMörder in Damaskus aufzuhalten. Ehemalige Botschafter inder Region sind sich sicher, dass Assad sofort fallen würde,wenn ihm Russland die Unterstützung entzöge. Assads Opferwerden mit russischen Waffen, mit russischem Kriegsgerät, mitrussischer Munition umgebracht. Und die Frachtschiffe, diedas Material bringen, fahren auch jetzt, sie fuhren weiter nachdem Massaker von Hula, an Bord auch Russlands Schande.

In Kommentaren ist jetzt oft zu lesen, es bestünden zwischenMoskau und Damaskus alte Beziehungen, aber hinter diesergemütlich klingenden Floskel stecken ganz handfeste Interessen.Russland unterhält in Tartus seinen einzigen Marinestützpunktam Mittelmeer. Es mag wie ein Raunen aus fernen Zeiten desKalten Krieges klingen, wenn von der Wichtigkeit eines „eis-freien“ Hafens die Rede ist; aber dieses Interesse, schon zuSowjetzeiten jahrzehntelang strategisch verfolgt, bleibt auchfür das heutige Russland höchst bedeutsam.

Nicht zufällig fand in diesem Winter ein Marinemanöverder russischen Seekriegsflotte in den Gewässern vor Syrienstatt, nicht zufällig kreuzte der Flugzeugträger „Admiral Kusne -zow“ vor Tartus. Es ging um eine klassische Demonstrationmilitärischer Stärke, so als hätten sie im Kreml falsche Schub-laden aus den fünfziger Jahren auf-gezogen.

Für Russland steht mehr auf demSpiel als dieser Hafen im Mittelmeer.Es geht auch um mehr als denSchutz eines sehr guten Rüstungs-kunden oder um die gemeinsameErschließung eines syrischen Öl -feldes. Moskau kämpft, nach demarabischen Frühling, in dessen Wir-beln viel Einfluss verlorenging,„buchstäblich um seinen letzten An-kerplatz im Herzen des Nahen Os-tens“, wie ein Uno-Botschafter ausdem Sicherheitsrat sagt.

Ein Blick auf die Landkarte hilft.Syrien hat im Süden Israel, Jorda-nien und den Libanon als Nachbarn,im Osten den Irak, im Norden dieTürkei. Mit all diesen Ländern ist Sy-rien eng verbunden oder wenigstenstief verstrickt, mit keinem dieser Län-der kann sich Russland eng verbün-det wähnen. Überdies ist die Region,wenn man so will, der Balkan des21. Jahrhunderts. Wenn hier heute eine Lunte Feuer fängt, weißniemand, was am Ende alles in die Luft fliegt. Und dieser Um-stand erklärt, neben Russlands und Chinas Sonderrollen, diezweite Bremse gegen ein „robustes“ Eingreifen in Syrien.

IV. Hemdsärmelig wie eh meldeten sich konservative US-Politiker zu Wort und forderten, wie der einstige Präsi-

dentschaftskandidat und Vietnam-Veteran John McCain, „Flug-verbotszonen“ in Syrien. Der aktuelle Bewerber Mitt Romneyverlangte noch vergangene Woche wahlkampftauglich zumin-dest die Bewaffnung der Opposition. Aber beide wirken mitihrem simplen Geschwafel so unzeitgemäß wie die Russen, diesich wie alte Sowjets gebärden.

Es ist, als hätten ausgerechnet diese beiden Amerikaner nichtbemerkt, dass gleich neben Syrien gerade ein Krieg durch denIrak gerollt ist, der das Ansehen der USA ruiniert hat. So gründ-lich ruiniert, dass Amerika im Nahen Osten keine Lösungenmehr vorzuschlagen hat, sondern selbst Teil des Problems ge-worden ist. Iran, Israel, Syrien, Irak – nirgends ist Amerika im-stande, vernünftige Abkommen auf den Weg zu bringen, wasseine Rolle als führende Weltmacht früher doch einmal ein-

schloss. Aber dies ist eine weitere dramatische Erkenntnis ausden Vorgängen in Syrien: Zum Erbe des mit Lügen begründetenIrak-Einmarsches gehört, dass die US-Politik keine Autoritätmehr besitzt, im Nahen Osten als Ordnungsmacht aufzutreten.

Einen von der Uno, der Nato oder dem Westen angeführtenMilitäreinsatz gegen das syrische Regime wird es deshalb nichtgeben, und das ist in diesem Fall, ganz anders als im Fall Libyen,auch gut so. So verständlich der Antrieb ist, Mörder zur Re-chenschaft zu ziehen, so quälend die Bilder und Nachrichtensind, so erschütternd die Hilferufe aus Syrien, so verrückt istdoch auch die Idee, in diesem blutigen Chaos ausgerechnetmit noch mehr Waffen Frieden schaffen zu können.

Auch wer glaubt, die Rebellen bewaffnen zu sollen, riskiertein noch größeres Unheil, einen Vergeltungskrieg der sunniti-schen Mehrheit gegen den Militärapparat und die Granden deralawitischen Regierungsclique. Die Christen im Land würdenmitmischen müssen, die drusische Minderheit, und bald würdedas libanesische Szenario der achtziger Jahre neuerlich aktuell,der Horror von Beirut, das Auge-um-Auge im Kleinkrieg bru-taler Milizen. Und dass dieser Bürgerkrieg an den syrischenGrenzen haltmachte, wäre unwahrscheinlich. Der Libanon ge-riete ins Schussfeld, Jordanien könnte schnell betroffen sein,die große Türkei, das Nato-Mitglied, müsste sich rühren, allein

schon, um den Anspruch als Regio-nalmacht zu unterstreichen.

Es ist leider wahrscheinlich, dassdieses Szenario ohnehin bevorsteht,ganz gleich, wie sich der Rest derWelt zu Syrien verhält. Tatsächlichscheint Assad seinem Land nur dieWahl zwischen Friedhofsruhe undBürgerkrieg lassen zu wollen. Schonhäufen sich Berichte, dass Iran mitbewaffneten Truppen in Syrien mit-mischt, dass Saudi-Arabien die Opposition mit Waffen beliefernwill oder schon beliefert. Es fühltsich an, als seien Vorbereitungen für einen Stellvertreterkrieg auf syri-schem Boden im Gang – und daswäre für die Zivilbevölkerung dasfinsterste Szenario. Und für die gan-ze Welt ein schlimmer Rückschlag.

V. Die Arbeit der Diplomatenmuss weitergehen, trotz allem.

Gegen Syrien ist aufgrund russi-scher und chinesischer Blockaden

noch nicht einmal ein umfassendes Waffenembargo verhängt.Keine der vielen möglichen Sanktionen nach Kapitel VII derUno-Charta ist auf den Weg gebracht, das ist angesichts derimmer neuen Gewaltausbrüche unerträglich.

Der Schlüssel zur Lösung liegt aber in Russland. Das klingtwieder wie ein Satz aus vergangenen Zeiten, aber er ist aktuell.Die Regierung in Moskau hat die Gewalt, Assad zu stoppenund einen Bürgerkrieg vielleicht gerade noch zu verhindern,und sie muss mit aller zivilen Macht gezwungen werden, dieseGewalt auszuüben. Es kann nicht sein, dass aufgrund geopoli-tischer Denkmuster aus dem 19. Jahrhundert Frauen und Kin-der im 21. Jahrhundert massakriert werden.

Vergangene Woche war Wladimir Putin, von dem man garnicht mehr weiß, ob er sich gerade zum Präsidenten oder zumPremierminister hat wählen lassen, erst in Berlin, danach inParis. Seine Kollegen dort, das wäre ein Anfang und ein starkesZeichen gewesen, hätten ihn ausschließlich in Gespräche überSyrien zwingen sollen, immer wieder Syrien, über das Morden,über die Möglichkeiten, die Gewalt zu stoppen. Sie haben esnatürlich nicht getan, Syrien war nur ein Thema unter vielen.Alles andere wäre zu undiplomatisch gewesen. �

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Abstimmung im Weltsicherheitsrat

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Einen von der Uno angeführtenMilitäreinsatz wird es nicht

geben, und das ist auch gut so.

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Dimou, 76, schrieb schon vor 37 Jahren„Über das Unglück, ein Grieche zu sein“,so der Titel seines 1975 erschienenen Apho-rismenbands. Bereits damals stellte er fest,der Grieche tue alles, „was er kann, umdie Kluft zwischen Wunsch und Wirklich-keit zu vergrößern“. Zum Gespräch emp-fängt er in seiner Athener Wohnung, imBotschaftsviertel der Stadt mitten im Grü-nen gelegen. Es riecht nach Jasmin, drau-ßen läuft der Rasensprenger, auf dem Sofaschläft Dimous dreibeinige Katze Azurro.Dimou, der auch in München studiert hat,serviert Kaffee und Kuchen, obwohl er sichgerade sehr über den SPIEGEL geärgerthat. Das „Akropolis adieu!“-Titelbild hatihn, wie viele Griechen, verletzt.

SPIEGEL: Herr Dimou, Sie haben sich mitder Seele der Griechen beschäftigt wiekaum ein anderer, Sie haben sie geradezuseziert. Wie steht es um die griechischeSeele heute?Dimou: Das vorherrschende Gefühl ist Un-sicherheit. Die Griechen fühlen sich nicht

mehr sicher, das liegt zum Teil in ihrerGeschichte begründet. Sie haben ja vielgelitten. Aber Unsicherheit führt auch zuAggressionen. Wir Griechen lieben Ver-schwörungstheorien: Sie erklären und un-termauern unsere Unsicherheit irgendwie.Deshalb denken wir nicht nur mit demKopf und dem Verstand, sondern auchmit dem Gemüt. Sie müssen immer be-denken, dass die Griechen schon in derAntike von den ägyptischen Weisen als„Kinder“ bezeichnet wurden. Aber dieseUnreife hat auch eine Art Schönheit.SPIEGEL: Und Sie glauben tatsächlich, diegriechische Geschichte bestimme bis heu-te das Verhalten Ihrer Landsleute, geradejetzt in der Krise?Dimou: Ja, sicherlich, die Neu-Griechenwerden immer unter dem leiden, was diealten Griechen geschaffen haben, dennsie können es weder vergessen noch über-treffen. Meine These ist, dass der Griechedurch die Tatsache, dass er im 19. Jahr-hundert innerhalb weniger Jahre vomfeudalen Zustand in die Modernität ka-

tapultiert wurde, einen Kulturschock er-lebt hat. Irgendwo zwischen Osten undWesten, antiker Glorie und heutiger Ar-mut, zwischen Orthodoxie und Aufklä-rung hat er ein Identitätsproblem. Das istes, was ihn bis heute verunsichert undbeunruhigt. Er fühlt sich immer bedroht.SPIEGEL: Heißt das, die Griechen sind nierichtig in Europa angekommen?Dimou: Sie waren lange nicht frei, warenTeil eines multinationalen Reiches, indem es verschiedene Sprachen gab. Dannlebten sie 500 Jahre unter der Herrschaftder Türken. Und mussten danach auf ein-mal Europäer werden, alle Institutionenwurden importiert. Und deshalb hat derGrieche bis heute keine gute Beziehungzu seinem Staat. SPIEGEL: Warum ist das alles so wichtig?Dimou: Es ist wichtig, wenn man mit denGriechen zusammenarbeiten oder aberihr Land reformieren will. Dann mussman wissen, welch tiefverwurzeltenÄngste die griechische Seele quälen. Undich glaube, dass sie gerade, wenn es eineKrisensituation wie die jetzige gibt, wie-der zum Vorschein kommen. Dann sehendie traditionell gastfreundlichen Griechenandere auf einmal als Feinde an, die ih-nen ihre Seele stehlen wollen.SPIEGEL: Glauben Sie, dass diese Mischungaus Verunsicherung und Aggression zudem Wahlergebnis vom 6. Mai führte?Dimou: Ja, ganz sicher. Aber es hängt auchdamit zusammen, dass die Griechen inder Politik ihren Gefühlen freien Lauflassen. Nehmen Sie den Chef des Links-bündnisses Syriza, Alexis Tsipras: Er istjung, er sieht gut aus, er ist optimistisch.Man glaubt, mit ihm könne einem nichtsSchlechtes passieren, weil er ja so zuver-sichtlich ist. Dabei wissen alle, dass auchTsipras nicht zaubern kann. Trotzdemhaben sie ihn gewählt, aus einem Gefühlheraus. Ich hoffe, dass die Parlaments-wahl am 17. Juni rationaler ausfallen wird. SPIEGEL: Im Moment sieht es aber nichtgerade danach aus. Dimou: Bei der Wahl im Mai haben sich35 Prozent der Griechen enthalten, 19Prozent gingen an kleine Parteien, die esnicht ins Parlament geschafft haben.Macht zusammen unberechenbare 54Prozent. Und ich setze darauf, dass vieleLeute nun einen kühleren Kopf haben.Tsipras wird zwar noch mehr Stimmenbekommen, aber nicht genug, um eineRegierung zu bilden. Und dann könntees doch zu einer Koalition der Pro-Euro-Parteien kommen: der Nea Dimokratia,der Pasok und kleineren Parteien. SPIEGEL: Ist den Griechen bewusst, dassdiese Wahl auch ein Votum für oder ge-gen den Euro sein wird?Dimou: Wenn wir die Sparvorgaben nichterfüllen, dann verlieren wir auch dieWährung. Das eine geht nicht ohne dasandere. Ich hoffe, dass das viele nach-denklich macht. Diese Wahl ist nicht eine

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G R I E C H E N L A N D

„Wir denken mit dem Gemüt“Der Schriftsteller Nikos Dimou beschreibt den

Seelenzustand seiner Landsleute und spricht über die eigeneAngst, aus Europa verbannt zu werden.

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Philosoph Dimou: „Der Grieche hat ein Identitätsproblem“

Page 99: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

zwischen der Rechten und der Linken,sondern eine zwischen Euro und Drach-me. Wenn das von den Parteien so kom-muniziert würde, stünde ihr Ausgangschon jetzt fest: 78 bis 81 Prozent allerGriechen sind für den Erhalt des Euro.Aber leider kommt nicht nur das WortDemokratie aus dem Griechischen, son-dern auch das Wort Chaos.SPIEGEL: Und das Wort Dilemma. Dimou: Ja, all das ist sehr charakteristischfür die Mentalität der Griechen. Und eswird Generationen dauern, bis sich dasändert. Ich hoffe, dass wir diese Krise mitEuropas Hilfe trotzdem überleben. Aberes gibt natürlich auch das andere Dreh-buch, das sagt, es geht alles zugrunde,und wir fangen wieder am Anfang an. SPIEGEL: Macht Ihnen dieses SzenarioAngst?Dimou: Ja, als ich den SPIEGEL-Titel„Akropolis adieu!“ sah, hatte ich das Ge-fühl, dass man mich einfach aus Europarauswirft. Das war ein Schock, ich binvielleicht nicht repräsentativ, aber ich

habe mich immer als Europäer gefühlt,ein Europäer, der aus Griechenlandstammt. Nach Ihrem Titelbild hatte ichdas Gefühl, ich befinde mich auf einemSchiff, das sich vom Ufer entfernt, undEuropa verschwindet langsam, aber si-cher am Horizont, ich werde verbannt. SPIEGEL: Sie fanden es anmaßend vomSPIEGEL, einen solchen Titel zu dru-cken?Dimou: Es war ein brutaler Eingriff in einersehr empfindlichen Situation. Wissen Sie,die Akropolis ist das griechische Heilig-tum. Für uns war Ihr Titel deshalb, wieman in der Fußballersprache sagen wür-de, ein Foul. SPIEGEL: Vor über 30 Jahren haben Sie ineinem SPIEGEL-Gespräch gesagt, dassdie Griechen in schlechteren Momentenihrer Geschichte die Schuld immer beianderen suchen und nicht bei sich selbst. Dimou: Das gilt auch heute noch. WennSie mit Leuten hier sprechen, sagen sie:

* Im Mai in Olympia.

Diese Angela Merkel, dieserSchäuble, warum haben sie unsdas bloß angetan? Ich fragedann zurück: „Was hat die Mer-kel mit uns zu tun? Nichts. Wirhaben Schulden gemacht unddie Europäer um Hilfe gebeten.Deshalb sind sie hier.“ Dannantworten meine Gesprächs-partner in der Regel, die Euro-päer würden gut daran verdie-nen, oder es handle sich umeine Verschwörung der Bankenoder des Weltkapitalismus ge-gen Griechenland. SPIEGEL: Das könnte, wie Sie inIhrem Buch schreiben, einemanderen griechischen Wesens-zug entsprechen, dem derÜbertreibung.Dimou: Genau, wir leben gernüber unsere Verhältnisse. WennSie „Alexis Sorbas“ lesen, se-hen Sie diese Lust zu leben: Wirwollen alles haben, alles genie-ßen. Der Wesenszug der Über-treibung geht eng einher mitdem der Verdrängung. Grie-chenland ist nicht nur die Hei-mat der Demokratie, sondernauch die der Tragödie. Und dertragische Held ist der Mensch,der übertreibt und gegen dieWeltordnung verstößt.SPIEGEL: Können Deutsche undGriechen sich jemals verstehen,wenn sie so unterschiedlichsind?Dimou: Das können sie, wenn sieeinander ergänzen. Der Grie-che braucht den Deutschen,weil der Dinge kann, die ernicht kann, und der Deutschebraucht den Griechen, weil er

diese Lust am Leben hat, die den Deut-schen glücklich macht.SPIEGEL: Was haben die Deutschen ausheutiger Sicht bei dem RettungsversuchGriechenlands falsch gemacht? Dimou: Zunächst einmal: Die größteSchuld liegt bei den griechischen Politi-kern, sie haben diese Krise herbeigeführtund nicht schnell genug auf sie reagiert.Außerdem haben sie den Leuten nicht er-klärt, wie ernst die Situation war, sondernhaben, wieder einmal, die Schuld den an-deren gegeben, haben behauptet: „Ja, die-se Maßnahmen sind barbarisch, aber siewerden uns aufgezwungen vom Interna-tionalen Währungsfonds, der EU, derEZB, also der Troika.“ Den europäischenVertretern hatten sie zuvor gesagt: „Wirbrauchen diese Maßnahmen, bitte gebtuns das Geld.“ Es war eine doppelzüngigePolitik. Ich glaube, die Griechen sind vorallem Opfer ihrer politischen Elite.SPIEGEL: Trotzdem hätten die Deutschen,die Europäer, sicherlich das eine oder an-dere besser machen können.

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Zeremonie zur Übergabe des Olympischen Feuers*: „Griechenland ist die Heimat der Tragödie“

Page 100: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

Dimou: Ich denke, man hat die falschenMaßnahmen ergriffen. Viel zu viele Spar-programme, ergo: Es droht eine Defla -tion. Aber es gibt auch ein Kommunika -tionsproblem. Die Troika hat den Grie-chen ihre Ideen und Lösungsansätze niewirklich erklärt. Sie hatte keinen Spre-cher, der versuchte, mit den Griechen tat-sächlich ins Gespräch zu kommen, nichtals Vertreter einer Kommandantur desvierten Reiches, sondern als Teil einerGruppe von Leuten, die dem Land helfenwill. Stattdessen haben sie sich verhaltenwie autoritäre Bürokraten, die alle dreiMonate kommen, Befehle erteilen, aberdann wieder gehen und nicht dableiben. SPIEGEL: Aber die Griechen beklagen sichschon jetzt über zu viel Fremdbestim-mung.Dimou: Ich bin davon überzeugt, man hät-te das Vorgehen einfach besser erklärenmüssen. Ich verstehe, dass viele Griechenden Eindruck hatten, unter deutscheroder europäischer Besatzung zu leben,auch wenn ich diesen Eindruck nicht tei-le. Durch das Auftreten der Troika unddie Art, wie sie von griechischen Politi-kern instrumentalisiert wurde, ist einegroße Chance vertan worden. Wenn manden Griechen eine andere Mentalität na-hebringen will, muss man sehr vorsichtigsein, wie man das tut, sonst erzielt manschnell den gegenteiligen Effekt. SPIEGEL: Hinzu kamen Zurechtweisungenaus Berlin.Dimou: Ja, Wolfgang Schäuble hat wie einSchulmeister mit erhobenem Zeigefingerimmer wieder gesagt: Die Griechen sindböse Buben. Merkel war etwas humaner,aber trotzdem protestantisch streng, siehat mit dem Begriff der Schuld gearbeitet.Man hätte sehen können, dass man sonicht das gewünschte Resultat erzielt, eswar einfach das falsche Vorgehen.SPIEGEL: Was prophezeien Sie für die kom-mende Parlamentswahl?Dimou: Ich wage keine Prognose, was wie-derum auch eine Prognose ist. Aber ichhoffe inständig, dass wir einen Auswegfinden. Wenn Griechenland die Euro-Zone verlässt, wäre das ein schwererSchlag. Nicht nur für Griechenland. AmEnde würde auch ein Europa ohne Grie-chenland ein lahmes Europa sein, einStück würde fehlen. Deshalb versucheich ständig, meinen Landsleuten zu er-klären, warum es nicht in ihrem Interessesein kann, dass wir den Euro verlieren.Wie ein Psychoanalytiker rate ich demgriechischen Patienten, die Dinge diesmalsehr rational zu sehen. SPIEGEL: Wie lange wird Ihre Therapiedauern?Dimou: Das hängt vom Patienten ab.Wenn der sehr griechisch reagiert, dannwird er noch nicht einmal zur zweitenTherapiestunde kommen.

INTERVIEW: JULIA AMALIA HEYER, BRITTA SANDBERG

Kennen sich die beiden? Ist der einedie Quelle des anderen? Wolltensie etwa gemeinsam dem Ober-

haupt der katholischen Kirche schaden,dem deutschen Pontifex Benedikt XVI.?Über wenige andere Römer wird in die-sen Tagen so heftig spekuliert wie überdiese beiden, die, so will’s der Zufall, ein -ander örtlich ganz nahe sind und sich inabsehbarer Zeit wohl doch nicht treffenwerden.

Der eine blickt aus einer vier mal vierMeter großen Arrestzelle in der Vatikan-Gendarmerie auf Mauern, die den Kir-chenstaat umgeben. Seit bald zwei Wo-chen sitzt er dort, fast jeder kennt seinenNamen: Paolo Gabriele, 46 Jahre, derKammerdiener des Papstes.

Kurz vor Pfingsten soll ihn BenediktsPrivatsekretär Georg Gänswein höchst-selbst als Spion überführt haben. Vier Kis-ten mit Kopien von streng vertraulichenDokumenten an und von Papst Benediktfanden die Ermittler in seiner Wohnung.

Seitdem gilt Gabriele als Verräter, ge-nannt „il corvo“, der Rabe, ein Tier, demman einen Hang zum Diebstahl nachsagt.Anfang dieser Woche soll er endlich ver-nommen werden, seine Anwälte teiltenmit, er sei bereit auszupacken.

Ist dies der Höhepunkt einer seit Januarschwelenden Affäre, „Vatileaks“ genannt,in der immer neue Geheimdokumenteans Tageslicht dringen, oder ist es erst de-ren Anfang? Sicherlich ist die aus demVatikan hervorquellende Papierflut einIndiz für eine der „schlimmsten Krisenin der Geschichte des Kirchenstaats“, wiedas italienische Wochenmagazin „Pano-rama“ schreibt, und eine „schwere Prü-fung“ für den Papst, so die Wortwahl desVatikan-Sprechers Federico Lombardi.Auf jeden Fall ist es ein Krimi, den sichDan Brown auch nicht besser hätte aus-denken können – in dem Gabriele abermöglicherweise nur eine Randfigur ist,denn nach den wirklichen Drahtziehernwird weiterhin gefahndet.

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VA T I K A N

Im VerliesVom Papst unterzeichnete Papiere sind auch nicht mehr das, was

sie mal waren: geheim. Eine Flut von Dokumenten zeigt ein eher ungeschickt und hilflos agierendes Kirchenoberhaupt.

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Kammerdiener Gabriele, Chef Benedikt: „Schwere Prüfung“

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Ausland

Nach den jüngsten Ereignissen im Manipulationsskandal des italienischenFußballs hatte Premierminister MarioMonti angeregt, die Serie A für ein paarJahre schlicht auf die Bank zu schicken,und viele Römer finden, das sei im Prin-zip keine schlechte Idee – nur, dass dieFußballer spielen sollten und der Kirchen-staat schließen könnte.

Der Vatikan hingegen igelte sich ein.Während seiner Generalaudienz am ver-gangenen Mittwoch äußerte sich Bene-dikt erstmals zu Vatileaks und stellte sichhinter seine Mitarbeiter, auch hinter dieilloyalen. Der vatikanische Innenministergeißelte die Veröffentlichung der Geheim-dokumente sogar als einen „unmorali-schen Akt von unerhörter Schwere“ undermunterte die Journalisten, „auf Distanzzu gehen“ zur „kriminellen Energie“ einesihrer Kollegen.

Dieser Kollege heißt Gianluigi Nuzzi.Für den Vatikan ist er offensichtlich dereigentliche Verbrecher in dieser Affäre,ein bekannter investigativer Journalist,der in einem früheren Buch bereits Kor-ruption und Geldwäsche in der Vatikan-bank aufgedeckt hat. Wegen seines neuenWerks „Seine Heiligkeit. Die Geheim -dokumente von Benedikt XVI.“ drohtihm der Vatikan jetzt mit einer Anzeige.

Und dieser Nuzzi hält nur wenige Kilo -meter von der vatikanischen Gendarme-rie entfernt Hof im Hotel Ambasciatoriin der Via Veneto. Die war einmal be-rühmt für ihr Dolce Vita, als der Starregis -seur Federico Fellini noch lebte und we-der der Vatikan noch Italien von Krisenheimgesucht wurden.

Vor Nuzzi auf dem Couchtisch klingelnzwei Handys, Kollegen melden, dass einPolitiker seine Verhaftung fordere. Allepaar Minuten kommen Fans, sogar An-gestellte aus dem nahen Vatikan, die sichdas Buch signieren lassen. Sie tuschelnund rätseln über Nuzzis sagenumwobeneQuellen.

Dabei sind Nuzzis Enthüllungen kei-neswegs überwältigend, aber sie bieteneinen einzigartigen Einblick in den Vati-kan und liefern den Beweis dafür, wie imHerrschaftsbereich des Heiligen VatersPolitik betrieben wird. Wie anderswoauch: Es gibt Lügen, Intrigen und erbitter -te Fehden zwischen rivalisierenden Par-teien.

Ein paar der gut 30 Faksimiles berich-ten vom banalen Alltag des Papstes:Showgrößen bieten Geldspenden und bitten um eine Audienz. Ein Dokumentzeigt die Kontonummer des Papstes. Dassoll den Privatdetektiv Gänswein auf dieSpur von Gabriele gebracht haben, weilnur der Zugang zu diesem Papier gehabthaben konnte.

Andere Dokumente jedoch sind brisan-ter: etwa Benedikts Notiz für den Nuntiusin Berlin, er möge bei Kanzlerin AngelaMerkel protestieren, die ihn wegen seines

Verhaltens in der Affäre um die Piusbrü-der kritisiert hatte. Vor allem aber sindin dem Buch böse Briefe über den Kardi-nalstaatssekretär Tarcisio Bertone nach-zulesen. Er soll einen Erzbischof ange-schwärzt haben, der als Aufräumer galtund prompt strafversetzt wurde.

Nuzzi sagt, er befürchte keine Anzeige,er habe seine Arbeit gewissenhaft ge-macht. Natürlich gibt er seine Quellennicht preis. Er nennt sie summarisch „Ma-ria“, und die Geschichte der Kontakt -aufnahme mit Maria liest sich wie einThriller, wie das Treffen der Watergate-Enthüller mit „Deep Throat“ in einer Wa-shingtoner Tiefgarage.

Vor einem Jahr will Nuzzi zwei Ver-mittler getroffen haben, die seine Vertrau-enswürdigkeit prüften und ihn nach einerIrrfahrt im Auto in eine leere Wohnungim römischen Stadtteil Prati führten. Dortsollte er auf einem Plastikstuhl Platz neh-men, ihm gegenüber seine Hauptquelle,die „niemals“, darauf legt Nuzzi Wert,„auch nur einen Cent bekam“. Er bestä-

tigt, dass sich „Maria“ aus mehreren Per-sonen zusammensetze, sie gaben mir dieDokumente, sagt er, „sie wussten, was sietaten“.

Nuzzi sagt, die Kontaktpersonen ausdem Kirchenstaat seien frustriert gewesenüber das unerträgliche Verschweigen undVertuschen im Vatikan, das sei ihr Motivgewesen. Er hoffe jetzt auf eine Debatte,auf eine Perestroika, aber das klingt allesein wenig hergeholt und naiv.

Sein Buch sei gar kein Anti-Papst-Buch,im Gegenteil, sagt Nuzzi, er halte denPapst für revolutionär, weil er Transpa-renz in die Geschäfte der Vatikanbankbringen wolle und weil er den Kindes-missbrauch bekämpfe wie keiner seinerAmtsvorgänger. Eigentlich, so behaupteter jedenfalls, möchte Nuzzi den Papstdurch seine Veröffentlichung in Schutznehmen. In Wahrheit aber schadet er ihm,weil die Dokumente vor allem eines zei-gen: die Führungsschwäche von BenediktXVI.

Nuzzi sagt: „Das Erschütterndste war,zu sehen, wie einsam dieser Papst ist undwie groß seine Mühen, den Laden zusam-menzuhalten oder an Informationen her -anzukommen, wegen all der Filter undIntriganten um ihn herum.“

Wer steckte Nuzzi die Dokumente zu,wem ist daran gelegen, dass die Welt vonangeblichen Missständen im Vatikan er-fährt? Es wird viel spekuliert auf dem Pe-tersplatz oder in der Sala Stampa bei denjetzt täglichen Pressekonferenzen mit einem peinlich berührten Papstsprecherund Vaticanisti, die täglich viele Seitenfüllen müssen über die Palast-Intrigen amHofe Benedikts.

Die Spekulationen handeln oft vonMachtkämpfen zwischen italienischen Kir-chenfürsten, die ihre Kandidaten für dienächste Papstwahl in Stellung bringenwollten. Oder von einer Verschwörung gegen die Nummer zwei im Vatikan, ge-gen Bertone, den Vertrauten des Papstes,der vielen zu eigenmächtig ist. Anhängerdieser Theorie weisen darauf hin, dass es

im Gefolge des Missbrauchs-skandals schon einmal eineZeit gegeben habe, in der sogarKirchenmänner die AbsetzungBertones gefordert hatten.

Vatileaks und Nuzzis Ent-hüllungen beweisen vor allem,dass Vatikan-Politik noch im-mer wenig dazu taugt, ansLicht der Öffentlichkeit gezo-gen zu werden. Und insoweithat sich nichts geändert hinterden Mauern des Kirchenstaats.Gabriele ist nicht einmal dererste enttarnte Spion dort.

Der fast vergessene Fall ei-nes weiteren Raben findet sichausgerechnet bei BenediktsNamensvorgänger BenediktXV. Dessen Geheimkämmerer

Rudolf von Gerlach versuchte, die Politikdes Papstes zu hintertreiben, der im Ers-ten Weltkrieg die Neutralität der Kirchebewahren wollte.

Der Kämmerer, erheblich einflussrei-cher als der schlichte Butler Gabriele,pflegte beste Verbindungen zu den Ach-senmächten. Man klagte ihn des Verratsan, der Papst selbst geriet ins Kreuzfeuerund sah sich als Opfer einer antiklerikalenVerschwörung.

Und Rudolf, der Rabe? Der wurdezwar zu lebenslangem Gefängnis verur-teilt. Da jedoch war er längst entkommen,weilte bereits in der Schweiz, wo er seinPriesterdasein abstreifte, ein luxuriösesLeben führte und bis zu seinem Lebens-ende beste Kontakte zum Papst in Rompflegte.

Auch ein kurzer Aufenthalt in den Ver-liesen des Vatikans braucht also keines-wegs das Ende einer Karriere mit sich zubringen.

FIONA EHLERS

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Autor Nuzzi: „Sie wussten, was sie taten“

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St.Patrick’s Day, den Nationalfeiertagder Iren, verbrachte Henry Healy imWeißen Haus in Washington. Sein

entfernter Cousin Barack Obama hatteihn eingeladen, mütterlicherseits hat derUS-Präsident irische Vorfahren. „Wir gin-gen in eine Bar und tranken ein Glas Guin-ness zusammen“, erzählt Healy.

Vergangene Woche war dem Buchhal-ter aus dem irischen Marktflecken Mo-neygall nicht mehr nach Feiern. „Ich reihemich unter die Arbeitslosen ein“, twitter-te er seinen Freunden. Seine Firma, einirischer Bauzulieferer, hatte ihn nachsechs Jahren entlassen. „Es musste wohlsein“, sagt Healy einsichtig, „die Bauindu -strie in Irland wird immer kleiner.“

Wie Healy ergeht es Hunderttausen-den Iren. Seit 2008 kämpft die grüne Inselam Rande Europas gegen die Wirtschafts -krise an – und findet keinen Weg ausdem Elend. Die Arbeitslosenquote ver-harrt seit vielen Monaten bei rund 14Prozent. Viele junge Iren wandern liebergleich aus.

Die europäische Gemeinschaft musstedas Land im Jahr 2010 mit 67,5 MilliardenEuro stützen. Irlands lokale Banken hat-ten sich mit Immobilienkrediten verzocktund waren mit einer umfassenden Staats-garantie gerettet worden. Bald daraufmachten sich die Iren und mit ihnen die

anderen Europäer große Hoffnungen,dass das Schlimmste vorbei sei. Die Irengalten zuletzt als Musterknaben des ge-samten Euro-Raums. 2011 wuchs die Wirt-schaft, wenn auch nur um 0,7 Prozent.Doch die Zuversicht trog.

Nach heutigem Stand muss Irland einzweites Mal gerettet werden. Die Bankenerweisen sich als Fass ohne Boden. Siemüssen noch einmal rekapitalisiert wer-den. Die bisherigen Abschreibungen derzehn größten Verbraucherbanken inHöhe von 118 Milliarden Euro reichen im-mer noch nicht aus.

Die Finanznot des Landes war auchdas Hauptthema bei der Volksabstim-mung, bei der die Iren am Donnerstagvergangener Woche über den EU-Fiskal-pakt entschieden. Eine Mehrheit stimmtewiderwillig für den von BundeskanzlerinAngela Merkel initiierten Sparpakt, derexzessives Schuldenmachen künftig ver-hindern soll. Letztlich überwog bei denIren die Angst, dass die Europäer sonstden Geldhahn zudrehen würden.

Europa-Ministerin Lucinda Creightonging noch am Vorabend des Referendumsin ihrem Dubliner Wahlkreis von Tür zuTür, um die Wähler von einem No abzu-halten. „Wir brauchen 2014 rund 18 Mil -liarden Euro“, rechnete die Politikerinkämpferisch den vielen Skeptikern vor.

Mit 10 Milliarden Euro müssten beispiels-weise die Lehrer bezahlt und die Arbeits-losen unterstützt werden. Die Gegner desFiskalpakts könnten nicht sagen, woherdas Geld kommen soll.

Dieses Argument überzeugte offenbarviele ihrer Landsleute. Denn nur die Un-terzeichner des Fiskalpakts können Hilfs-gelder aus dem europäischen SuperfondsESM erwarten, der ab Sommer mit 700Milliarden Euro ausgestattet sein soll. Of-fiziell hält die Regierung an ihrem Planfest, ihr Defizit möglichst bald wiederüber die Kapitalmärkte zu finanzieren.Doch bei ihrer Wahlkampagne schürtendie Minister selbst Zweifel. Die Zinsenfür langfristige irische Anleihen stiegen –auch wegen der Turbulenzen in Griechen-land und Spanien – seit Mitte Mai wiederauf weit über sieben Prozent.

„Die Lage ist weiterhin sehr ernst“, sagtStefan Gerlach, der Vize-Gouverneur deririschen Zentralbank. Das jährliche Haus-haltsdefizit liegt immer noch bei überneun Prozent des Bruttoinlandsprodukts,deutlich höher als in Spanien oder Portu-gal. „Als extrem offene, exportorientierteVolkswirtschaft hängen wir direkt vonden Entwicklungen in den anderen Län-dern Europas ab“, sagt der gebürtigeSchwede, der bis Herbst 2011 an derFrankfurter Universität lehrte.

Es sind vor allem die Sünden der Ver-gangenheit, die den Iren keine Ruhe las-sen. Fünf der sechs Banken des Landeswurden verstaatlicht und insgesamt mit64 Milliarden Euro gestützt. Die irischeZentralbank stiftete zusätzlich Nothilfenin Höhe von über 40 Milliarden Euro, undüber die Europäische Zentralbank (EZB)sind alle Mitgliedstaaten mit weiteren Mil-liarden beteiligt. Doch die ganze Wahr-heit liegt immer noch nicht auf dem Tisch.Die Banken brauchten weitere drei bis

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E U R O - R A U M

Einsame InselDie Iren stimmen dem EU-Fiskalpakt zu. Doch das vermeintliche

Vorbild in puncto Staatssanierung ist noch lange nicht gerettet. Die Banken brauchen bald weitere Milliardenhilfen.

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2007 2008 2009 2010 2011

Irlands Abstieg

Wirtschaftsleistung

Veränderung gegenüberdem Vorjahresquartal, in Prozent

Arbeitslosenquote

in Prozent, saisonbereinigt

Schätzung

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6

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März 201214,5

Januar20074,4

Zunahme Rückgang

Quellen: OxfordEconomics,Eurostat

Stimmenauszählung in Dublin: Angst, dass die Europäer den Geldhahn zudrehen

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vier Milliarden Euro frisches Kapital,heißt es vorsichtig bei der Zentralbank.

Das dürfte kaum ausreichen. Es gibtGeisterstädte, in denen kein Mensch woh-nen will. Die Zeitungen sind voller An-zeigen von Zwangsvollstreckern, die Im-mobilien loswerden wollen. Im Unter-schied zur Situation vor einem Jahrkommt es heute immerhin zu tatsächli-chen Verkäufen, weil die Preise allmäh-lich ein realistisches Niveau erreichen.

Hotelangestellte konnten für 60 000Euro ihr Hotel auf dem Land erwerben,das vor wenigen Jahren für einen hohenMillionenbetrag gebaut worden war. BrocHouse, ein dreistöckiger Appartement-Block aus den Siebzigern direkt nebeneinem Dubliner Golfplatz, wird zurzeitfür 1,2 Millionen Euro angeboten. Ein Ab-schlag von 87 Prozent gegenüber demPreis aus dem Jahr 2006.

Joe Kiernan, 55, Stoppelschnitt, mus-kelbepackt, hat bei einer Abrissfirmazwölf wilde Boomjahre miterlebt. Keinerder alten Ziegelbauten in der InnenstadtDublins war vor seiner Abrissbirne undden kühnen Plänen der Immobilienent-wickler sicher, die in den Jahren desBooms darangingen, die einst von JamesJoyce so meisterhaft verewigte Stadt fürdie Zukunft fit zu machen. „Manchmalhat es einem schon leidgetan“, sagt er.

Heute steht Kiernan vor dem Arbeits-amt am Redmonds’ Hill. Seit zwei Jahrenmuss der Spezialist für Abriss- und Bo-denarbeiten sich hier einmal im Monatmelden, um seine 188 Euro wöchentlicheStütze zu bekommen.

Kiernan kann davon den Tabak für sei-ne selbstgedrehten Zigaretten, das Bierund auch die Miete zahlen. „Zum Glückhabe ich nicht auf die Banken gehört, diemir unbedingt eine Immobilienfinanzie-rung aufquatschen wollten“, sagt er. An-dere waren nicht so klug.

Bei über zehn Prozent aller Immobi-lienkredite gibt es Unregelmäßigkeiten.Dass es noch bei deutlich mehr Verträgenzu Zahlungsverzögerungen kommt, willauch Zentralbanker Gerlach nicht aus-schließen: „Diese Rückstände sind einesder größten nationalen Probleme.“ Wenndie Kreditnehmer nicht mehr zahlen kön-nen, landen die Immobilien über den Um-weg der nationalisierten Banken letztlichbeim Staat.

Bisher sind die meisten Geldinstitutedas Problem mit den Krediten noch nichternsthaft angegangen. Die Banker hofftenauf ein Wunder. Doch die Immobilien-preise fielen um beinahe 50 Prozent, tie-fer als in den USA, Spanien oder den an-deren Krisenstaaten. Mittlerweile ist dieZahlungsmoral so im Keller, dass die Ban-ken ihre Kunden in der vergangenen Wo-che sogar aufforderten, ihren geplantenTrip zur Fußball-Europameisterschaftnicht mit dem Aussetzen der Zinszahlun-gen für ihre Kredite zu finanzieren.

Nun hat die Zentralbank den Bankeneine Frist gesetzt, endlich ihre Politik dergewollten Ahnungslosigkeit aufzugeben.„Die Institute müssen wissen, wo die Kre-dite nie mehr zurückgezahlt werden kön-nen und wo vielleicht Anpassungsmaß-nahmen helfen“, sagt Gerlach.

Ein neues privates Insolvenzrecht sollhelfen, die Bürger aus der Schuldenfallezu befreien. Eigentlich vernünftig. Dochdie Analysten der Deutschen Bank war-nen bereits vor den dann notwendigenMilliardenabschreibungen.

Um den Banken und damit letztlichsich selbst das Leben zu erleichtern, ver-sucht die Regierung alle möglichen Tricks.Eigentlich müssten die verstaatlichtenBanken, so eine Auflage der EZB, neunProzent Zinsen für die ihnen gewährtenKredite in Höhe von 31 Milliarden EuroHilfe zahlen. Vergangenen Monat lieh

sich der Staat selbst das Geld, immerhin3,1 Milliarden Euro, um die Zinsen zuüberweisen.

„Irland wird durch die Zinsen für dieBankhilfe überproportional belastet“,sagt Europaministerin Creighton. Sierechnet mit Vorschlägen der EZB, dassdie Zinsen deutlich reduziert werden.

So ist es nicht verwunderlich, dass diekleine Republik zurzeit mit großer Sym-pathie den Vorstoß der Spanier begleitet,der ESM solle doch direkt ihre Bankenretten. Was die Spanier möglicherweisedurchsetzen, so das Kalkül auf der einsa-men Insel, könne ihnen ja nicht vorent-halten werden. Schon einmal ist die Rech-nung aufgegangen. Als den Griechen nied-rige Zinsen für die Hilfen durch Europaund den IWF gewährt wurden, konnteauch Irland einen Rabatt durchsetzen.

Ansonsten bestehen zwischen Grie-chenland und Irland große Unterschiede.Dank niedriger Unternehmensteuern, gutausgebildeter Arbeitskräfte sowie einerfunktionierenden Verwaltung hat die In-sel im Gegensatz zu Griechenland ein intaktes Geschäfts- und Gesellschafts -modell – Steuervorteile inklusive.

Insbesondere amerikanische Konzernenutzen Irland gern. Google, Facebookund Twitter haben ihre Europa-Zentralenhier platziert. Apple hat 500 neue Jobsversprochen. Intel will seine neuesteChipgeneration ebenfalls unter anderemin Irland produzieren. Und selbst Healy,der Verwandte des US-Präsidenten, istzuversichtlich, dass er in Kürze wiedereinen Job hat. „Der Wissensindustrie ge-hört die Zukunft“, sagt er. Mit seinem Di-plom habe er ganz gute Chancen.„DasGras auf unserer Insel wächst wieder“,sagte er bei seinem Besuch in Washingtondem besorgten Präsidenten. Die Iren sei-en gut darin, immer wieder aufzustehen.

CHRISTOPH PAULY

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Finanzzentrum in Dublin, Europa-Ministerin Creighton: „Überproportional belastet“

Page 105: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

Ganesha, der Hindu-Gott mit demElefantenkopf, gilt den Indern alsSymbol für den Neuanfang. Sie

verehren ihn als den „Entferner aller Hin-dernisse“, als Gott der Intelligenz undder Weisheit. Im Designstudio der Royal-Enfield-Fabrik im südindischen Chennaisitzt eine Ganesha-Figur auf einem Mo-torradmodell namens Bullet: Der Rüsselbiegt sich im Fahrtwind nach hinten, Ga-nesha trägt ein Grinsen im Göttergesicht.

Kein Bollywood-Star, keine Kricket- Legende käme für Venki Padmanabhanin Frage, wenn es um dieWahl einer Werbefigur fürdie legendäre britische Mo-torradmarke geht. „NurGötter können dieses Mo-torrad fahren“, sagt derRoyal-Enfield-Chef, 49.

Die Bullet ist ein Fossilauf zwei Rädern. Die Mar-ke Royal Enfield ist älterals Harley-Davidson, sieentstand 1893 durch die Fusion einer Fahrradfabrikund einer Waffenfirma ausdem britischen Enfield.Aus dieser Zeit stammt deroffizielle Slogan der Marke:„Made like a gun“, herge-stellt wie ein Gewehr.

Die britische Armeenutzte die Motorräder imZweiten Weltkrieg, spätergriff auch Indiens Armeeauf sie zurück. Doch inEngland wurde die Produk-tion 1970 eingestellt. In Thiruvottiyur, einem staubigen Stadtteil des einstigenMadras, überlebte die Marke.

Das Verhältnis der Inder zu ihrer kolo-nialen Vergangenheit ist gespalten. Vonden Briten benutzte Städte- und Straßen-namen haben sie abgeschüttelt wie muf-fige alte Kleider, aus Madras wurde Chen-nai, aus Bombay Mumbai. Auf andere Errungenschaften der alten Besatzungs-macht lassen die Inder aber bis heutenichts kommen: auf Kricket zum Beispiel,die „Tea time“ oder eben die Bullet.

„Die Seele der Bullet zu bewahren isteine große Verantwortung“, sagt VenkiPadmanabhan. „Und ich habe kein Pro-blem damit, dass wir mit dieser britischenErfindung Geld verdienen.“ Die Maschi-ne ist inzwischen von der Bremse bis zumAuspuff ein indisches Produkt.

1500 Mann schwitzen heute in der Fa-brik in Chennai. Draußen hat es um die40 Grad, Frauen in Sari und blauer Ar-beitsbluse fegen mit kleinen Grasbesendie Werkhallen. In Deutschland würdeman die Anlage wohl eine Manufakturnennen. Von einigen Neuerungen abge-sehen, wird die Bullet noch immer nachOriginalbauplan gefertigt, überwiegendin Handarbeit. In Indien, dem Land derungezählten Arbeitskräfte, ist das renta-bel. 150000 Rupien, umgerechnet 2100Euro, kostet die 500er Bullet zwischen

Mumbai und Kalkutta, etwa 6000 Eurofür Enfield-Freunde in Deutschland.

Technisch kann die Maschine mit mo-dernen Motorrädern nicht mithalten.Eine Bullet schafft nur rund 130 Stunden-kilometer, die Maschine ist vor allem einLiebhaberstück. Aber mit Tradition alleinlässt sich nur begrenzt Gewinn machen.325 Motorräder rollen täglich in Chennaivom Band, bislang gehen nur rund fünfProzent davon in den Export. Venki Pad-manabhan ist der Mann, der das ändernsoll. „Die Bullet ist Kult“, sagt er, „daraufmüssen wir bauen.“ Sein Vorbild ist dieitalienische Rollermarke Vespa.

Padmanabhan stammt aus einer Brah-manenfamilie und ist in Indien aufge-wachsen. Aber er hat in Pittsburgh stu-diert, promoviert und zuletzt zwei Jahrelang in Stuttgart bei Mercedes gearbeitet.

2008 kam er mit Frau und Kindern zurückin seine Heimat – wo er einen Kultur-schock erlebte: „Ich hatte noch nie in die-sem Land gearbeitet. Ich war an so schö-ne deutsche Tugenden wie Pünktlichkeitund Zuverlässigkeit gewöhnt.“

Seine Erfolgsstrategie hat sich der In-genieur selbst zusammengemixt, wie eingut abgestimmtes Masala, die indischeGewürzmischung: ein wenig vom „Opti-mismus der Amerikaner“, dazu die „un-schlagbare Anpassungsfähigkeit der In-der“, abgerundet mit einer Prise „brutaler

deutscher Ehrlichkeit“. Da-mit will er 2012 zum erstenMal mehr als 100000 Mo-torräder produzieren. Heu-te müssen die Käufer rundneun Monate lang auf eineRoyal Enfield warten.

Doch Venki Padmana -bhan denkt nicht nur an sei-ne ungeduldigen Privatkun-den: „Stellen Sie sich einenBrand in einem indischenSlum vor. Kein Feuerwehr-auto passt durch diese en-gen Gassen“, sagt er. „OderSie haben einen Herz -infarkt und müssen schnellins Krankenhaus. Die Am-bulanz bleibt hier doch im-mer im Stau stecken.“ Pad-manabhan deutet auf einerotlackierte Bullet, an derstatt Satteltaschen zweiFeuerlöscher und ein Blau-licht montiert sind. „Mit

dieser Bullet kommen Sie überall durch.“Seit 1994 gehört Royal Enfield zu einemFirmenverband mit dem eher unindischenNamen Eicher Group. Gegründet in derersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als„Gebrüder Eicher Traktorenbau“ im ober-bayrischen Forstern, starb die Firma 1992einen ähnlichen Tod wie Royal Enfieldin England. Doch auch Eicher überlebtein Indien und ist dort heute der drittgröß-te Lkw-Hersteller. Die gelben Laster ge-hören zum indischen Straßenbild wie dieheiligen Kühe und die Bullets.

Eine schöne Ironie der Geschichte, fin-det Venki Padmanabhan. Wo, wenn nichtim Land der stetigen Reinkarnation, kön-ne eine alte europäische Marke zu neuemLeben erwachen. „Wir Inder sind schließ-lich die Spezialisten für Wiedergeburt.“

SIMONE KAISER

Ausland

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500 ccm ReinkarnationGLOBAL VILLAGE: Wie ein indischer Ingenieur mit amerikanischem Optimismusund deutscher Ehrlichkeit britische Motorräder baut

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Fabrikchef Padmanabhan: „Die Bullet ist Kult“

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Szene Sport

B A S K E T B A L L

„Das war Stress pur“Dirk Nowitzki, 33, über die verkorksteNBA-Saison mit den Dallas Mavericksund seinen Junggesellenabschied in LasVegas

SPIEGEL: Nachdem Sie im vorigen Jahrden NBA-Titel gewonnen haben, sindSie in dieser Saison mit den Mavericksfrüh in den Playoffs ausgeschieden.Was ist dran an den Gerüchten, Siewürden den Verein verlassen oder so-gar Ihre Karriere beenden?Nowitzki: An diesen Gerüchten ist nichtsdran. Ich bleibe. Ich werde meinen Ver-trag bei den Mavs erfüllen. Er läuft bisSommer 2014.SPIEGEL: War es ein verlorenes Jahr?Nowitzki: Ich habe die verkürzte Saisonschon abgehakt. Wir hatten wegen desStreits um die Gehälter später angefan-gen. Dieser Lockout hat alles durchein -andergewirbelt. Als die Saison im De-zember überraschend startete, warkaum ein Spieler richtig fit. Wir habenuns alle mehr oder weniger durchge-wurschtelt. Wir hatten teilweise dreiSpiele in drei Tagen. Das war Stress pur.Trotzdem haben wir mit der extrem aus-gedünnten Meistermannschaft die Play-offs erreicht, und ich wurde sogar insAll-Star-Team gewählt – das ist mehr,als ich vor der Saison erwartet hatte.SPIEGEL: Kritiker werfen Ihnen vor, imvorigen Jahr wochenlang mit den Fans

gefeiert zu haben. Hinzu kam der Ein-satz für die Nationalmannschaft bei derEM – all dies soll Ihnen Regenerations-zeit geraubt haben.Nowitzki: Das ist dummes Zeug, wir ha-ben doch bis Dezember kaum trainiert.Klar haben wir gefeiert, das gehörtdoch wohl dazu. Oder hätte ich insKloster gehen sollen? Meinen EM-Ein-satz hatte ich im Jahr zuvor zugesagt,das Versprechen habe ich eingelöst.Diejenigen, die behaupten, ich hättemeine Wurfgenauigkeit verloren, soll-ten übrigens bedenken, dass zwischenden Spielen keine Zeit zum Trainierenwar. Außerdem musste ich mehr Würfeals sonst aus den abenteuerlichsten Ent-fernungen abfeuern, weil in der Truppenicht alles rund lief. Im Sommer wirddie Mannschaft durch neue Spieler ver-stärkt. Mit dem frischen Team werdenwir dann versuchen, neu anzugreifen.SPIEGEL: Sie haben vor zwei WochenIhren Junggesellenabschied in Las Ve-gas gefeiert. Unter den Gästen war un-ter anderen der englische FußballstarWayne Rooney.Nowitzki: Gast ist übertrieben. Vegas istein Dorf. Jeder weiß, wer sich geradewo aufhält. Er war, wie ein paar andereSpieler, zum selben Zeitpunkt dort undist mir über den Weg gelaufen. Dahabe ich gesagt, du kannst gerne mit-feiern. Befreundet sind wir nicht.

Nowitzki

D E P R E S S I O N E N

Hotline für AthletenDer Selbstmord des ehemaligen Fuß-ball-Nationaltorwarts Robert Enke veranlasst immer mehr Profi-Sportlerdazu, sich wegen einer möglichen psychischen Erkrankung behandeln zulassen. Deswegen plant die Robert-Enke-Stiftung, die vor rund zwei Jah-ren vom Deutschen Fußball-Bund,dem Ligaverband und Hannover 96 ge-gründet wurde, eine Service-Hotlinefür psychisch erkrankte Leistungs-sportler am Universitätsklinikum Aachen einzurichten. „Wir werden täg-lich von Sportlern kontaktiert, die unsum medizinische Hilfe bitten“, sagtJan Baßler, Geschäftsführer der Stif-tung, „darunter Profi-Fußballer, Tisch-tennisspieler, Leichtathleten und

Handballer.“ Unterder kostenfreien Ser-vicenummer sollenvon diesem Herbstan Betroffene einenPsychiater und Psy-chotherapeutennahe ihrem Wohnorterreichen können,der sie anonym be-

rät und an speziell ausgebildete Me -diziner bundesweit vermittelt. Leiterder Einrichtung ist Frank Schneider,Direktor der Klinik für Psychiatrie Aachen. „Bundesweit wird dies eineinmaliger Service für Leistungs -sportler sein. Damit wird Depressio-nen vorgebeugt“, sagt Schneider.

ZAHL DER WOCHE

172 Fußballprofis

von insgesamt 368, die bei der Euro-

pameisterschaft in den 16 National -

kadern stehen, spielten in der abge-

laufenen Saison bei Clubs im Ausland

– und nicht in der jeweiligen heimi-

schen Liga. Von den 23 irischen Fuß-

ballern spielte sogar kein einziger für

einen Verein aus Irland. Die engli-

schen Auswahlkicker dagegen stan-

den allesamt in England unter Vertrag.

Auch die deutsche Mannschaft ist

heimattreu. Nur vier Profis verdienten

ihr Geld außerhalb der Bundesliga:

Sami Khedira, Mesut Özil (beide Real

Madrid), Per Mertesacker (FC Arsenal)

und Miroslav Klose (Lazio Rom).

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Gibt es etwas Lächerli-cheres, als zwei Fußbal-ler in ihrer Einzigartig-keit zu vergleichen?Noch lächerlicher wärees, diese beiden nicht zuvergleichen. Zwergen-

haft der eine, ein Modellathlet der andere,Torjäger, Werbefiguren, Multimillionäresind sie beide, bewundert und bestauntwird der eine, gefürchtet und verlacht derandere. Sie spielten beide die Saison ihresLebens – und dann kamen diese beidenTage Ende April.

Als alles vorbei war, versuchte der eine,im Rasen des Stadions Camp Nou in Bar-celona zu versinken. Weil das nichtklappte, verbarg er sein Gesicht in sei-nem Trikot und wartete darauf, dassihn jemand tröstete. Es kam keiner.Der andere hockte traurig auf dem Ra-sen des Bernabéu-Stadions in Madrid,immerhin mit athletisch hochgestell-ten Fersen, stand abrupt auf, ging mitschnellen Schritten auf die Kabinenzu, konnte aber nicht verhindern, dasssein bleiches, leeres Gesicht zerfiel indie weinende Grimasse eines Kindes,noch bevor er aus dem Blickfeld derZuschauer verschwunden war.

Cristiano Ronaldo hatte im Halb -finale der Champions League einenElfmeter verschossen, Real Madridwar gegen Bayern München ausge-schieden. Lionel Messi hatte einen Tagzuvor im Halbfinale einen Elfmeterverschossen, der FC Barcelona war ge-gen den FC Chelsea ausgeschieden,und so mussten die beiden Übermen-schen des Weltfußballs niederen Spottertragen, der so wuchtig über sie kamwie sonst der Ruhm.

Den Champions-League-Pokal konn-ten sie in diesem Jahr nicht in den Him-mel recken; der eine wurde mit seinerMannschaft immerhin spanischer Meis-ter, der andere spanischer Pokalsieger,aber der Pokal, der sie in Wahrheitnoch mehr interessiert, ist der Ballond’Or, jener vergoldete Ball, den derbeste Spieler der Welt bekommt. Inden vergangenen drei Jahren durfteihn Messi umarmen, in diesem Jahr

können nur Ronaldo oder wieder MessiWeltfußballer werden – wegen der Anzahlvon Toren, die jeder von ihnen geschossenhat, Messi unfassbare 73 in 60 Spielen, Ro-naldo 60 in 54 Spielen.

Ronaldo – hätte er mit Real Madrid imFinale gesiegt – wäre der Goldene Ball si-cher gewesen. Und so erfasste den Portu-giesen nach dem verschossenen Elfmetereine tiefe, verzweifelte, grausame Trauer.Sein Denken, soweit es sich in seinen Re-den ausdrückt, wird beherrscht vom Gol-denen Ball, seit er Fußball spielt. Der Bes-te der Welt zu sein, „eine Legende zu wer-den“, wie er sagt, das treibt ihn an, daslässt ihn Extraschichten im Gym machen,

im Training, beim Freistoßschießen, dasbestimmt sein Spiel und jeden Tor jubel,der inszeniert wird wie die Bestä tigungder Bestimmung, der Größte zu sein.

Ja, er sei im Moment besser als Messi,hat er kürzlich in einem CNN-Interviewgesagt. Und er glaube daran, dass Portu-gal – am kommenden Samstag ersterGegner Deutschlands – bei der Europa-meisterschaft Chancen auf den Titel habeund ihm dann auch der Goldene Ball si-cher sei. Die Trainer und Kapitäne derNationalmannschaften sowie etwa hun-dert Sportjournalisten, die den Weltfuß-baller küren, wählten ihn erst einmal,vor vier Jahren.

Messi gegen Ronaldo, das ist Mu-hammad Ali gegen Joe Frazier, das istPete Sampras gegen Andre Agassi, dasist ein Duell, das es im Mannschafts-sport eigentlich nicht geben darf. Eserregt Millionen Fußballfans, füllt je-den Tag Dutzende Websites, Foren,Blogs, es tobt ein Kampf der Idioten,der Nerds, der Groupies, der Kenner.Real Madrids Alfredo Di Stéfano präg-te die Fünfziger, der Brasilianer Pelédie Sechziger, Hollands Johan Cruyffdie Siebziger, Maradona die Achtziger,Zinédine Zidane die Neunziger, Ro-naldinho die ersten Jahre des 21. Jahr-hunderts. Seither duellieren sich zweiÜberfußballer, die beide einer Ära ih-ren Namen geben könnten.

Sie befeuern die Schlacht der Gläu-bigen, sie überbieten sich von Saisonzu Saison mit Torrekorden und Tro-phäen, Messi hat mit dem FC Barcelo-na 19 Titel erobert, darunter fünfmaldie spanische Meisterschaft und drei-mal die Champions League. Ronaldohat mit Manchester United und RealMadrid elf Titel eingefahren, daruntervier nationale Meisterschaften undeinmal die Champions League.

Messi ist Torjäger und Vorbereiter,Einzelgänger und Mannschaftsspieler,seine Dribblings sind wild und ansatz-los, mit dem Ball am Fuß ist er schnel-ler als ohne Ball; stürzt er auf vier,fünf Gegenspieler zu mit viereinhalbSchritten pro Sekunde, stürzt er einehalbe Mannschaft in die Lächerlich-

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Der goldene SchreiWenn Cristiano Ronaldo der Superstar der EM wird, hat er gute Chancen, endlich

Messi zu schlagen und als Weltfußballer den Ballon d’Or zu gewinnen. Beide übertreffen einander auf der Jagd nach Rekorden. Von Cordt Schnibben

Alle Pässe von Cristiano Ronaldo im Champions-League-Halbfinalspiel

Real Madrid – Bayern München, nach 90 Minuten

Alle Pässe von Lionel Messiim Champions-League-Halbfinalspiel FC Barcelona – FC Chelsea

Quelle: Opta

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Modellathlet Ronaldo: Sein ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, sich zum Gott des Balles zu tunen

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keit. Die Richtungswechsel in seinenSturmläufen sind intuitiv, nichts ist ein-studiert, keine Übersteiger, keine Hacken-tricks, einfach nur das lustvolle Anrenneneines Jungen, der weiß, dass er es gleichwieder schaffen wird, durch die dichteKette aus massiven Körpern hindurchzu-schlüpfen und den Ball ins Tor zu heben,zu schieben, zu lupfen, zu schlenzen.

26 seiner 73 Saisontore für den FC Bar-celona hat er so erzielt, von jedem Punktin der gegnerischen Hälfte kann seinSturmlauf losbrechen, gegen Real Madridund den FC Getafe hat er mal von derMittellinie aus sein Dribbling angezogen,zwischen vier, fünf, sechs grätschende,tretende, stürzende Männer hindurch.

Das ist der eine Messi. Der andere Messiist der Mitspieler, die Gummiwand, einPassautomat, der Bälle manchmal „mit 100Stundenkilometern“ auf den Fußseiner Mitspieler jagt, genau zumrichtigen Zeitpunkt, genau in denLauf, so gespielt, dass die Bälleden Weg zurückfinden auf seinenFuß, an staunenden, verwirrten,hilflosen Gegenspielern vorbei,die nur noch den Ball aus demNetz holen dürfen. 23 seiner Sai-sontore sind solche Co-Produk-tionen, 10 davon im Doppelpass,im Doppeldoppelpass oder imDoppeldoppeldoppelpass.

Wenn man beschreiben will,wie Cristiano Ronaldo die Toreschießt, die nur er schießenkann, dann sieht man einenMann vor sich, 1,86 Meter groß,mit gezupften Augenbrauen undgegelten Haaren, der erst denTorwart fixiert und dann denBall, der die Angst genießt, diein diesem Moment seine Gegen-spieler erfasst, der vom Ball ausfünf Schritte rückwärts geht, dersich breitbeinig aufstellt, dieHände in Coltstellung wie WyattEarp im Film, der sich in Vor-freude die Lippen leckt, der mit energi-schen Schritten anläuft und den Ball mitdem vorderen, inneren Teil des Voll-spanns so trifft, dass er über die Mauerder Gegenspieler fliegt, so hoch, als wollteer die Zuschauer hinter dem Tor treffen,um dann urplötzlich die Flugbahn abzu-senken und ins Netz zu rauschen.

Wenn es ein Patent für todsichere Frei-stöße gäbe, Ronaldo wäre der legitimeInhaber. Wie kein anderer Spieler zele-briert er seine Freistöße, wie kein anderertrainiert er diese ballistischen Wunder-kurven, während seine Mitspieler schonunter der Dusche stehen.

Diese Akribie und Ausdauer, aber auchder Showdown und die Angeberei, diezu jedem seiner Freistöße gehören, ma-chen seine Art des Spiels aus. Ronaldohat aus dem schlaksigen, hoch aufgeschos-senen Körper eines pubertierenden Jun-

gen den perfekten, athletischen Body ei-nes vollkommenen Spielers geformt, derbeidfüßig, schnell, kopfballstark, trick-reich inzwischen in jeder Saison über 40Tore produziert.

Seine Lieblingsbeschäftigung seien„Sit-ups“, sagt Ronaldo. Sein ganzes Le-ben ist darauf ausgerichtet, sich zum Gottdes Balles zu tunen. Als die MotorölfirmaCastrol, einer seiner Werbepartner, ihnin einem Hochleistungslabor testen ließwie einen neuen Sportwagen, stießen dieWissenschaftler auf erstaunliche Werte:Bei seinen Freistößen beschleunigt derBall dreimal schneller als eine „Apollo“-Rakete beim Start; bei seinen Dribblingsschafft er 13 Sidesteps, Finten und Über-steiger in 13 Sekunden.

Ronaldo springt höher als durchschnitt-liche NBA-Basketballspieler, er hat die

langen Beine eines Sprinters, die Figureines Mittelstreckenläufers und wenigerKörperfett als ein Super-Model. Beson-ders verblüffend: Er traf Bälle mit demFuß und dem Kopf in vollkommener Dun-kelheit, nachdem er gesehen hatte, wiesie bei Scheinwerferlicht abgeschlagenwurden.

Wenn man irgendwann mal aus Gen-material den idealen Fußballer züchtenkönnte, würde einer wie Ronaldo aufdem Platz stehen. Messi würde aussor-tiert. Zu klein, zu schwach, zu wild, einJunge, der nur mit Wachstumshormonauf 169 Zentimeter gebracht werdenkonnte.

So unterschiedlich ihre Körper sindund ihre Art, Fußball zu spielen, so unterschiedlich sind die Spielsysteme, in denen sie Stars geworden sind. Barce -lonas verwirrendes Passkarussell lässt

einem Straßenfußballer wie Messi denRaum, sich über die ganze Breite des Platzes zu bewegen zwischen Mittellinieund Tor.

Ronaldo hat seine Sprints, Flankenläu-fe und Weitschüsse im Konterfußball beiManchester United und Real Madrid ver-vollkommnet. Wie abhängig die beiden„Außerirdischen“ – wie sie gern vonSportjournalisten genannt werden – vomirdischen Spiel ihrer Teams sind, zeigtsich besonders dann, wenn sie scheiternam Spiel ihrer Mannschaft.

In den beiden Halbfinals der Cham -pions League rissen die Kombinations -fäden zwischen Messi und den Mittelfeld-spielern zu oft, die Gegenspieler des FCChelsea konnten Messi häufig isolieren,zu ungenauen Abspielen verleiten oderzu ungenauen Schüssen. Beim Spiel in

Barcelona kamen nur 74 Prozent seinerPässe an, normal für ihn sind 90 Prozent.Er war 108-mal am Ball und verlor ihn27-mal, in Dribblings oder durch einenFehlpass, ein katastrophaler Wert für ihn.Allein in den letzten 15 Minuten, als Bar-celona die Entscheidung erzwingen muss-te, verlor er 12-mal den Ball.

Ronaldo schoss im Halbfinal-Rückspielgegen Bayern München zwei schnelleTore, ließ sich feiern, als hätte er schondie Champions League und den Ballond’Or gewonnen, und verbrachte die rest-liche Spielzeit stolzierend, hadernd undbeleidigt auf der linken Außenbahn.

Nur 6-mal gelang es ihm, den Ball ge-gen Münchner Spieler zu erobern, aber17-mal verlor er ihn, nur 65-mal war erüberhaupt am Ball – kein Madrider Feld-spieler war so unbeteiligt am Spiel wieer. Nur in 22 Zweikämpfe traute er sich,

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Freistoßkünstler Ronaldo: Die Hände in Coltstellung wie Wyatt Earp im Film

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in 120 Minuten. Messi ließ sich gegenChelsea auf 29 Zweikämpfe ein, in 90 Mi-nuten. Nur 37 Pässe spielte Ronaldo, Mes-si mehr als das Doppelte.

Weil Ronaldo den langen Anlauf fürseine Dribblings will, spielt er lieber aufder Außenbahn, statt im gesamten Raumzwischen Mittellinie und Tor seine Tech-nik, seine Ballbeherrschung und seinTempo zu nutzen. Weil Messi den gesam-ten Platz vor und im Strafraum für dieEntfaltung seiner Torgefahr beanspruchtund deshalb klassische Mittelstürmer wieDavid Villa, Samuel Eto’o und ZlatanIbrahimović aus der Sturmmitte oder ausder Mannschaft vertrieben hat, fehlt ge-gen sehr defensive Mannschaften wieChelsea ein Vollstrecker im Strafraum.

So heimtückisch ist Fußball: Immerund immer wieder führen Messi und Ro-

naldo ihre Mannschaften zum Sieg. Indiesen beiden Spielen stürzten sie Madridund Barcelona in die Niederlage – weildie Gegner die Stärke der beiden zurSchwäche der Mannschaften machten.

Die Abhängigkeit Barcelonas von Mes-si ist größer als die Madrids von Ronaldo:In den Spielen der spanischen Liga ver-wertete Messi 34 Prozent seiner Torchan-cen (Ronaldo 22 Prozent), er hatte durch-schnittlich 90 Ballkontakte pro Spiel (Ro-naldo 61), er riskierte 329 Dribblings (Ronaldo 205), von denen er gut die Hälf-te gewann (Ronaldo etwas mehr als einDrittel).

Noch mehr Zahlen? Ronaldos SponsorCastrol betreibt im Netz ein Ranking derbesten europäischen Spieler, lässt ihreLeistungen von Sportdatensammlern injedem Spiel erheben und von Expertengewichten und danach bewerten, welche

Auswirkungen die Aktionen eines Spie-lers auf den Erfolg oder Misserfolg seinerMannschaft haben. Am Ende dieser Sai-son lag Messi mit 1195 Punkten an derSpitze, Ronaldo mit 932 Punkten nur aufPlatz vier.

Zahlen sind für manche das Wichtigsteim Fußball, sie beweisen, was man gese-hen hat, wenn auch nicht immer. Unter-nehmen wie Opta und Amisco erhebeninzwischen mit aufwendiger TechnikHunderttausende Daten pro Match, umdie Spieler und das Spiel für die Trainerund die Medien zu durchleuchten. DieZahlen sprechen für Messi; wer lieber sei-nen Augen vertraut, sieht einen kleinenKerl, der Zuschauer zum Staunen bringt,zum Kopfschütteln, zum ungläubigen La-chen; und einen Model-Fußballer, derÜbersteiger macht wie kein anderer, der

Tore mit der Hacke erzielt, aus elf Me-tern – und der von gegnerischen Fansgern „Messi“ gerufen wird.

Ronaldo wird geliebt von Mädchen wieParis Hilton und Irina Shayk, dem russi-schen Unterwäsche-Model, von Marke-tingmanagern und von Schwulen, sie wäh-len ihn gern zum „Sexiest man alive“.Messi wird nie ein Tattoo haben, undwenn er seinen rotsamtenen Anzug vonDolce & Gabbana trägt, sieht er aus, alshätte ihm seine Mutter den falschen Kon-firmationsanzug gekauft.

Ronaldo hat schon mit 22 Jahren einenBildband über sein Leben veröffentlicht,er gründete sein Modelabel CR7, amHandgelenk trägt er schon mal eine „Mec-caniche Veloci Quattro Valvole PodiumNite Lite“-Uhr für 25000 Euro, er fährtvon Bugatti über Bentley, Ferrari, Merce-des bis Porsche alle Protzwagen der Welt,

und er sagt über sich: „Die Leute sindneidisch auf mich, weil ich schön bin undreich.“

Messi spricht lieber mit dem Ball alsmit Journalisten, ist Unicef-Botschafter,Gründer der Leo-Messi-Stiftung, die be-nachteiligten Kindern gleiche Chancenbieten will, und er sagt über sich: „Nacheinem Krankenhausbesuch ist mir die be-sondere Rolle als öffentlicher Menschklar geworden.“

Ronaldo inszeniert seinen Körper, sei-nen Reichtum, seinen Aufstieg, Messi seinHerz, seine Bescheidenheit, seinen Auf-stieg. Ronaldo ist böse bis zur Ehrlichkeit,Messi gut bis zur Lächerlichkeit, der Teu-fel motiviert sich durch Hass, der Engeldurch Zuneigung. Beide Inszenierungenbringen ähnlich viel Geld: Nike, Armani,Coca-Cola, Konami, Clear Shampoo und

andere Firmen zahlen Ronaldojährlich etwa 25 Millionen Euro,Real Madrid legt noch mal 13Millionen drauf. Adidas, Dolce& Gabbana, Pepsi, Herbalife,EA Sports und andere zahlenMessi 20 Millionen Euro, Barce-lona legt jährlich noch mal 11Millionen drauf.

Sie sind als Fußballtypen soverschieden wie als Werbeträ-ger, aber ihr Leben verlief ähn-licher, als man annimmt. Siesind beide der Beweis dafür,dass man Überirdische – bei ent-sprechendem Genmaterial –züchten kann wie seltene Blütenim botanischen Garten. Als Kin-der und Jugendliche waren sieAußenseiter, zu klein der eine,mit Herzproblemen der andere,an der Schule waren sie weniginteressiert, nur auf den Ball fi-xiert, früh als Ausnahmetalenteentdeckt, von Rosario in Argen-tinien nach Barcelona ver-pflanzt und von Madeira nachLissabon, auf Ball-Internaten ge-

drillt und gefördert, von der Familie ge-trennt, jahrelang und oft weinend demDebüt als Profi-Spieler entgegenschuf-tend. Messi bekommt sein erstes Spiel imProfi-Team von Barcelona im November2003 mit 16 Jahren, Ronaldo bei SportingLissabon im Juli 2002 mit 17 Jahren, beidesorgen bei Zuschauern und Gegnern fürErstaunen.

Man musste Messi nicht viel beibrin-gen, sagen seine Jugendtrainer, mit sie-ben Jahren führte er den Ball schon soeng wie heute, auch der Zug zum Tor warschon entwickelt. Der rücksichtslose Sie-geswille war bei beiden gleich, Niederla-gen wurden beweint, Ronaldo arbeiteteverbissen daran, beidfüßig gleich gut zusein, schulte sein Kopfballspiel und ersteGesten der Arroganz.

Nachdem der 18-Jährige 2003 für17 Millionen Euro zu Manchester United

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Nationalspieler Messi: Mit Tempo in den Strafraum eindringen und Angst verbreiten

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gewechselt war, pumpte er seinem Körperzehn Kilo Muskelmasse drauf und ver-schmolz seine Ballfertigkeit mit dem fürTempo und Härte berühmten englischenFußball eines Alex Ferguson zu dem Stil,den er heute bei Real Madrid unter JoséMourinho perfektioniert: Der schnellsteWeg zum Tor ist eine Gerade; ist sie ver-stellt, versuch in drei Spielzügen zum Torzu kommen, spiel den Ball vertikal, hori-zontal, vertikal! In Spanien, das mussteRonaldo lernen, wird der Weg vom eige-nen Torwart zum gegnerischen Tor spie-lerischer überwunden als in England.

Messi lernte in La Masia, dem Internatdes FC Barcelona, seinen Straßenfußballmit Barças Kombinationsgewitter zu ver-binden. Der schönste Weg zum Tor be-steht aus möglichst vielen Kurven; derzweitschönste Weg sind möglichst vieleKurzpässe; verlierst du den Ball, hol ihndir sofort zurück, verstehst du, sofort!

Im 4-3-3-System spielte er, als Linksfuß,auf der linken Seite, dann schob ihn seinTrainer Frank Rijkaard – gegen MessisProtest – auf die rechte Seite, um ihn indie bessere Position für Dribblings undSchüsse zu bringen. Sein Nachfolger PepGuardiola beförderte Messi in die Zen-trale des Offensivspektakels und machteihn so zur ultimativen Tormaschine –Messi brach in dieser Saison den legen-dären Torrekord von Gerd Müller ausdem Jahr 1973 (67 Tore).

Mehr Tore als ein klassischer Mittelstür-mer! Mal spielt Messi so, wie früher eine„9“ unterwegs war, mal ist er eine „7“,mal eine „11“, mal eine „8“, mal eine „6“.Aus Messi ist dank Guardiola eine „10“neuen Typs geworden, eine Sturmspitze,ein Flügelstürmer und ein Ballverteiler,wie es ihn vorher im Fußball so nicht gab.Messi schenkt dem Fußball die Schönheit

der Anarchie, Ronaldo gibt ihm das Vor-bild einer Menschmaschine, die kotzt,wenn seine Mannschaft 5:1 gewinnt, aberer kein Tor geschossen hat. Der eine spieltFußball mit der Energie eines Terminators,der andere mit dem Trotz eines ForrestGump. Ein besonderer Mensch zu sein,diese Gewissheit treibt sie immer wiederan, jedes Tor ist der Beweis, jeder Ballond’Or der Heiligenschein.

Messi bei Real Madrid, Ronaldo beiBarcelona, wer würde der Mannschaftmehr helfen? Messi und Ronaldo, die bes-ten Fußballer aller Zeiten? Da ist sie, dielächerlichste aller Fragen, die so ernst be-

antwortet werden muss wie alle lächer -lichen Fußballfragen und so sorgfältig wiekeine andere. Moment, sagt Pelé, die soll-ten erst mal meine 1000 Tore geschossenhaben und dreimal Weltmeister gewesensein. Pelé war halb Messi, halb Ronaldo,er hatte den angeborenen Instinkt, denGegner durch Körpertäuschungen zuüberwinden, und er hatte die Schusstech-nik einer athletischen Tormaschine.

Zinédine Zidane konnte das Spiel sei-ner Mannschaft besser dirigieren als Messi, er war halb Messi und halb Xavi,Barças Ballverteiler, Zidane bewegte sichgeschmeidig über den Platz, als hätte erOpernarien im Ohr. Messis Bewegungenfolgen einem nervösen Beat. Allerdingsmüssen sich Messi und Ronaldo heut -zutage durch Abwehrreihen schlagen, die

vielbeiniger sind und enger stehen als zuZeiten ihrer legendären Vorbilder.

Maradona, der über Messi sagt, er spü-re seinen Geist in dessen Körper, warlangsamer, berechenbarer und wenigertorgefährlich als Messi (allerdings mehrauf Droge), aber er wurde mit Argenti-nien Weltmeister. Messi und Ronaldo sindeinzigartige Vereinsspieler, als National-spieler umweht sie der Makel der Erfolg-losen. Der Materialist kann sagen, Siegeim Nationaltrikot lassen sich schlechtervermarkten, weltweit. Der Idealist wirdsagen, nach 60 Spielen im Vereinstrikotbleibt am Ende der Saison zu wenig Messiübrig und zu wenig Ronaldo, um auchnoch im Nationaltrikot zu triumphieren.

Nach der EM-Finalniederlage 2004,nach dem vierten Platz bei der WM 2006könnte die EM nun für Ronaldo zwei Er-folge bringen: endlich als guter National-spieler zu gelten und den Ballon d’Or zugewinnen.

Aber ihm hängt der Elfmeter aus demverlorenen Halbfinale gegen Bayern Mün-chen im Kopf: Ronaldo verschoss danachnoch einen Elfmeter. Messi traf nach sei-nem Halbfinaltrauma in der Liga viermalvom Elfmeterpunkt und zudem noch fünf-mal, einmal auch im Pokalfinale: Er holtemit Barcelona nach dem Weltpokal, demspanischen und dem europäischen Super-cup den vierten Titel der Saison. Aberauch für ihn blieb das verpasste Münch-ner Finale in der Champions League diegroße Enttäuschung seiner Karriere.

In der 71. Minute dieses spanischen Po-kalfinales vor eineinhalb Wochen sahendie Zuschauer ihn allerdings wieder, denunwiderstehlich tanzenden Messi, denKleinen in kurzen Hosen, der über sichsagt, mit Tempo in den Strafraum einzu-dringen und Angst zu verbreiten, das seifür ihn Fußball, Angst zu verbreiten wieein Hai, der Blut gerochen hat.

Messi schnappt sich den Ball in der ei-genen Hälfte, verfolgt von einem SpielerBilbaos, der ihn mit einer Beinschere nie-derreißen will, ein zweiter Gegenspielerkommt ihm von der Seite in die Quere,Messi schüttelt sie ab wie Kampfhundeohne Zähne, spielt den nächsten Mannaus, überläuft zwei weitere, schießt nun –nachdem die halbe Mannschaft erledigtist – aus spitzem Winkel aufs Tor.

Ein Slalomtanz wie das Jahrhundert-solo gegen den FC Getafe ist das. DerTorwart erwischt das Leder mit der Fuß-spitze und verhindert, dass die Kugel zumgoldenen Ball wird und zum goldenenSchrei, und dennoch ist es dieser Moment,von dem die Zuschauer nach dem Spielsprechen, dieser Moment, der auf You -Tube über 100000-mal geklickt wird, ob-wohl kein Tor zu bestaunen ist, dieserMoment, in dem Fußball mehr wird alseine Ballsportart, dieser Moment, in demein Fuß mit einem Ball etwas macht, dasman nie wieder vergisst. �

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Rivalen Messi, Ronaldo: Gut bis zur Lächerlichkeit, böse bis zur Ehrlichkeit

Messi schenkt dem

Fußball die

Anarchie, Ronaldo die

Mensch maschine.

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Mats Hummels, der Dort-munder Verteidiger, hatkürzlich verraten, dasser neuerdings von geg -nerischen Stürmern ge-deckt werde. Sie attackie-ren ihn, weil er als der

heimliche Spielmacher seiner Mannschaftgilt. Er kenne kaum einen Innenvertei -diger, dem das passiere. Das mache ihnstolz.

Jetzt sitzt Holger Badstuber, der Ver-teidiger des FC Bayern, wenige Tage vorder Abreise zur Nationalmannschaft ineinem Balkonzimmer der MünchnerKommunikationsagentur, die ihn berät.Er trägt einen sommerlichen Schlabber-style zur Schau, zur Sprache kommt dieBewachung durch gegnerische Stürmer.Das habe er „schon oft“ erlebt, dass sieihn „zustellen“, wie Fußballer sagen, weilsie ihn aus dem Spiel nehmen wollen.Nicht erst in der vorigen Saison sei dasvorgekommen, sagt Badstuber achsel -zuckend, irgendwie emotionslos.

Im Trainingslager der Nationalmann-schaft im französischen Tourrettes machtHummels es sich dann vier Tage späterim Leseraum des Spa-Bereichs bequemund erklärt das mit den Stürmern nochmal genau. Dass ihn einer ständig atta-ckiere, bevor er auch nur mit dem Ball inBerührung komme, sei im Grunde nichtneu. Schon im Oktober 2010 sei ihm daspassiert, gegen Bayern München.

Also kann er immer noch stolz sein. Erwar der Erste. Vor Badstuber.

Die Nationalspieler Hummels und Bad-stuber, beide 23, sind die besten Innen-verteidiger der abgelaufenen Bundesliga-Saison, der eine wurde Deutscher Meisterund Pokalsieger, der andere gewann dasHalbfinale der Champions League gegenReal Madrid. Nun sollen sie für Deutsch-land bei der Europameisterschaft vertei-digen, vielleicht gleich zu Beginn des Tur-niers gemeinsam. Sie kennen sich langegenug. Würden sie auch harmonieren?

Immerhin erfüllen sie als Fachkräftealle Kriterien für gehobene Spitzenklasse.Es reicht nicht mehr aus, hinten die Zwei-kämpfe zu gewinnen, die Angreifer desGegners zu befehden am Boden und inder Luft. Weil im Mittelfeld zusehends

Zeit und Raum für den überlegten Spiel-aufbau fehlen, obliegt es den Hünen inder Abwehrzentrale, von hinten den Tonanzugeben. Sie entscheiden, über welcheSeite ein Angriff gestartet wird, obschnell gespielt wird, hoch oder flach.

Hummels und Badstuber wurden inBayern Münchens Nachwuchsschule aus-gebildet, sie lernten dann in der zweitenMannschaft bei Trainer Hermann Ger-

land, der war mit den Vätern beider Spie-ler befreundet. Vor vier Jahren prophe-zeite Gerland, Entdecker ungezählter Talente: Badstuber und Hummels, daswerde mal das InnenverteidigerpaarDeutschlands.

Bei Paaren, die eine dauerhafte Bezie-hung eingehen sollen oder wollen, gibtes schon mal Potential für Konflikte. DerAnspruch auf Anerkennung genügt, um

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Das ungleiche PaarHolger Badstuber und Mats Hummels sind moderne Verteidiger, die das Spiel mitgestalten.

Sie entstammen derselben Nachwuchsschule und scheinen als Gespann in der Abwehrzentrale der Nationalelf wie füreinander bestimmt. Ob sie auch harmonieren würden?

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Nationalspieler Hummels: „Schwierig und risikoreich“

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sie auszulösen, Missgunst auch. Nochwirkt das ungleiche Fußballer-Paar nichtwie ein Team, kurz vor der EM reden diebeiden eher wie rivalisierende Brüder.

Die Abwehr erwies sich in Testpartienzuletzt als Problembezirk in der deut-schen Elf. Bundestrainer Joachim Löwhat sich noch nicht festgelegt, wen er amSamstag gegen Portugal in der Defensiv-zentrale spielen lässt.

Er hatte die einstigen LieblingsschülerGerlands als Lösung im Blick, bevor PerMertesacker, der alte Platzhirsch undStammspieler schon bei der WM 2006,

aus seiner dreimonatigen Verletzungspau-se kam. Mertesacker wirkte im Trainingüberraschend präsent und beweglich.

Auch technisch, sagt Löw, erscheineder Wahl-Londoner nach nur einer Sai-son beim FC Arsenal in der Premier Lea-gue „ein Stück versierter“. Zuletzt beim2:0 gegen Israel blieb Mertesacker, kaumgefordert, an der Seite Badstubers zumin-dest fast fehlerfrei.

Muss Hummels, den mancher am Ballfür stärker hält und er sich selbst vermut-lich auch, also erst einmal weichen? Dersmarte Anführer des Deutschen MeistersBorussia Dortmund lässt erkennen, dasser die Kunst des Wartens beherrscht. Beider Junioren-EM der U 21 vor drei Jahrenhabe er auch anfangs nicht in der Startelfgestanden, bemerkt er trocken, doch imgewonnenen Finale war er dabei. Er kannDruck ausüben auf die Konkurrenz undsubtil für sich werben.

Man redet zum Beispiel über Statistik.Es wird ja über jeden Schritt und Tritt im

Fußball öffentlich Buch geführt. So hatetwa Badstuber eine überragende Pass-quote; in der Bundesliga kamen 89,4 Pro-zent der von ihm gespielten Bälle an, derMünchner ist der fünftbeste Passgeberder Liga. Hummels liegt auf Platz 115.

Solche Zahlen, erklärt Hummels, seienihm ein Gräuel. Sie sagten nichts überdie Qualität der Pässe aus. Wenn er wolle,könne er in jedem Spiel eine Quote „von

über 95 Prozent“ erreichen, dann sei aberkein entscheidender Ball dabei.

Bei Borussia Dortmund schlägt ermanchmal ansatzlos Pässe bis vorn in denStrafraum, beckenbaueresk mit dem Au-ßenrist, manchmal fällt daraufhin ein Tor.Davon kämen natürlich nicht acht vonzehn Bällen beim Mitspieler an, sagt er,dafür seien die Pässe „zu schwierig undrisikoreich“.

Löw hat ihm diese hochfliegenden Vor-lagen verboten. Der Bundestrainer willden Ball flach halten und den Gegner amBoden ausspielen lassen. Im Test gegendie Schweiz in Basel misslang Hummelsein halbhoher Beckenbauer-Pass, undLöw bekam einen mittleren Tobsuchts -anfall.

Badstuber, sein Lieblings-Innenvertei-diger, mache es richtig: „sehr, sehr gut inder Spielauslösung“ – ein modernerTrainerbegriff für die ersten Ballkontakte,die das Spiel von hinten in Gang bringen,auslösen sollen. Badstubers Pässe kom-men scharf und flach, oft diagonal übersFeld auf die offensiven Außenspieler.

Hummels sagt, das könne er auch. Der Dortmunder, im Rheinland gebo-

ren, wuchs in München auf, der VaterFußballlehrer, die Mutter Sportjourna -listin. Mit sieben kickte er schon beimFC Bayern.

Als er 14 war, trainerte ihn sein VaterHermann. Damals trat der etwas jüngereund schmächtigere Badstuber, vom VfBStuttgart gekommen, ins Team, er spielteim offensiven Mittelfeld. Hummels warMittelstürmer, doch als er nach einemWachstumsschub an Schnelligkeit einbüß-te, zog ihn der Vater ins Mittelfeld zurück.

Später spielten sie zusammen in Bay-ern Münchens Regionalliga-Team. TrainerHermann Gerland, den sie den „Tiger“nennen, nahm gern die Talentiertestenbesonders hart ran. „Wer mehr kann,muss mehr leisten“, sagte er. Hummelshatte kein Problem damit und wechseltetrotzdem zur Saisonhalbzeit Anfang 2008den Verein.

Damit ebnete er dem dünnen Badstu-ber den Weg nach oben. Hummels, da-mals körperlich weiter entwickelt, hatteschon einen Profivertrag unterschriebenund ein Bundesliga-Spiel für Bayern ab-solviert. Doch er kam an den Abwehr-konkurrenten Martín Demichelis, Lúcio,Daniel van Buyten nicht vorbei, oben-drein wurde der Brasilianer Breno ge-kauft.

Er wollte es als Leihspieler woandersversuchen. Der Vater riet zur TSG Hof-fenheim, damals ein aufstrebender Zweit-ligist. Also rein in das Dorf im Kraichgau,„doch nach hundert Metern war der Ortzu Ende“, erinnert sich GroßstadtmenschHummels mit Schrecken. Er entschiedsich für Dortmund, Liga eins.

Dort setzte er sich in der folgenden Sai-son bei Coach Jürgen Klopp durch – den

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Nationalspieler Badstuber: „Sehr, sehr gut in der Spielauslösung“

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hatte Vater Hermann Hummels frühermal bei Mainz 05 trainiert. Anfang 2009gab Mats Hummels den Plan von derRückkehr nach München auf, für 4,2 Mil-lionen Euro Ablöse gehörte er nun end-gültig der Borussia.

Als er verkauft war, wurde Badstuberbei Bayern Profi. „So war für jeden vonbeiden etwas dabei“, scherzt Vater Hum-mels – der eine geht und macht Platz fürden anderen, beide treffen sich in der Na-tionalelf wieder. So wären ja alle zufrie-den.

Doch Mats Hummels hält noch einenAspekt für „relevant“. Damals war inMünchen Jürgen Klinsmann Trainer, dererwies sich dort nicht gerade als ein För-derer der Jugend. Wäre Louis van Gaalschon da gewesen, „hätte es sein können,dass ich zu Bayern zurückgegangenwäre“, sagt Hummels. So aber nahm vanGaal in der Saison 2009/2010 den jungenBadstuber in seine Stammelf.

Badstuber, das ist die versteckte Bot-schaft in Hummels’ Hypothese, hat alsoGlück gehabt.

Der Nationalspieler Badstuber ist trotz-dem stolz, dass er sich bei Bayern durch-gesetzt hat, „ohne Ausleihe“ zwischen-durch, wie er betont.

Er spielte schon 2010 bei der WM inSüdafrika, ein Umstand, für den MatsHummels, der selbst gern dabei gewesenwäre, in einem Interview einen Bayern-Bonus verantwortlich machte. Er selbsthabe bei Dortmund, damals zwischenPlatz 13 und 6 in der Tabelle, halt nichtso im Blickpunkt gestanden.

Badstuber ärgert diese Aussage. Erstellt klar, dass er 2010 bereits inter -nationale Erfahrung in der ChampionsLeague gesammelt hatte, „auf hohem Niveau“, und außerdem vielseitig gewe-sen sei. Löw wollte ihn links als Außen-verteidiger.

Manchmal wird Badstuber eigentüm-lich laut im Gespräch, er wirkt konzen-triert, streut hier und da ein entgeistertes„Ach so“ in die Unterhaltung ein, auchdas Fußballer-typische „Ja“, das immerso klingt, als werde eine prägnante For-mulierung angekündigt. Er arbeitet sichin die Themen hinein wie sonst – ja – inden Zweikampf.

Dort, auf dem Platz, sucht er oft mitmerkwürdig verdrehten Armen die Ba-lance oder die richtige Stellung zum Ball.Das sieht nicht elegant aus wie bei Hum-mels, doch das Resultat ist seine Präzision.Badstuber will seiner Mannschaft „vonhinten raus Vertrauen geben“. Ein „siche-res Auftreten“ nennt er das.

Jahrelang gab es Zweifel, ob er für ei-nen Verteidiger schnell genug werdenwürde. Gerland, der Entdecker, vertrauteden Genen. Er hatte die Mutter HelgaBadstuber mal gegen seine eigene Toch-ter rennen sehen, den Vater Hermannkannte er vom Sport sowieso. Die beiden

machten einst zusammen den Fußballleh-rer-Schein.

Hermann Badstuber starb, gerade alsder Sohn den Profivertrag hatte, vor gutdrei Jahren an einem Krebsleiden; er sahden Jungen nie im Profifußball spielen.Als Jugendcoach beim VfB Stuttgart undbeim SSV Ulm sowie im Lehrstab desWürttembergischen Verbandes war Bad-stuber senior Ausbilder der sogenanntenStuttgarter Schule, die als Keimzelle desmodernisierten deutschen Fußballs gilt:hohe Laufbereitschaft, giftige, systemati-sche Balleroberung, offensives Spiel – sol-che Ideen kommen von dort.

Der Mainzer Bundesliga-Trainer Tho-mas Tuchel hat erzählt, wie ihn Lehrmeis-ter Badstuber mit seiner Akribie geprägt

habe. Der habe die Spieler Demut gelehrtund ihnen erklärt, dass ihr Talent eineVerpflichtung bedeute: an sich zu arbei-ten, das Talent für höchste Ansprüche zunutzen.

Holger Badstuber sagt, das sei klug.„Es entscheidet sich in den Köpfen. Dienicht zu den Hellsten gehören, ruhen sichauf ihrem Talent aus.“ Über den Vaterund dessen Tod will er nicht reden.

Heute ist er ein selbstbewusster Spieler,der seinen Hang zur übertriebenen Selbst-kritik („mein Naturell“) in den Griff be-kommen hat. Badstuber gehört in Mün-chen der sogenannten Gärtnerplatz-Gangum die Bayern-Stars Bastian Schweinstei-ger, Mario Gomez und Manuel Neuer an,die dort die angesagten Cafés aufsuchen.

Früher, weiß Mentor Gerland, sei Bad-stuber, wenn ihm ein Fehler unterlaufenwar, in sich zusammengefallen. Jetzt rüg-

te ihn Joachim Löw nach einem Gegentorim Test gegen Frankreich für eine falscheEntscheidung: Er hatte die Abwehrlinieverlassen, um den Ballführenden zu atta-ckieren. „Ob das Kritik war, glaube ichnicht“, sagt Badstuber, „das war einfacheine Analyse von ihm, was ich beimnächsten Mal besser machen kann.“

Solche Entscheidungen würden „in Milli -sekunden getroffen“. Er spricht vom„Raumverhältnis“ und dem Vertrauen,das er in der Situation in die Mitspielerhabe, die ihm den Rücken stärken sollenfür den Fall, dass er ausgespielt wird. „Ichhabe keine Angst, die falsche Entschei-dung zu treffen. Ich bin der festen Über-zeugung, dass ich gut genug geschult bin.“

Auf dem Rasen in Südfrankreich ginges beim Taktiktraining in der vorvergan-genen Woche um genau diese Dinge. DieBayern-Spieler waren noch nicht da, PerMertesacker bildete mit Hummels die Innenverteidigung. Und Mertesackerübernahm wie selbstverständlich dasKommando. „Zurückweichen. Wiedervor. Gut so. Rücken stärken. Vorsicht“,so hörte man ihn rufen. Von Hummelshörte man nichts.

„Wenn ich weiß, der Per sagt was, mussich nicht auch was sagen, das ist sinnlos“,erklärte er kleinlaut am Nachmittag. Tagsdarauf die gleiche Übung, da sprang ihmLöw zur Seite, um sein Stellungsspiel zukorrigieren. Erst wenn der Ball den Fußdes gegnerischen Passgebers verlassenhabe, dürfe er sich vom Stürmer aus derAbwehrkette herauslocken lassen.

Hummels, das Dortmunder Alphatier,machte einen verstörten Eindruck, viel-leicht weil er nicht das Sagen hat. „Ichmag es gar nicht, Mitläufer zu sein“, be-kennt er. Das Gefühl, wichtig zu sein,brauche er, die Anerkennung der Kame-raden, um Leistung zu bringen. „Mit elfSpielern wie mir würde eine Mannschaftnicht funktionieren“, das weiß er. Dochso seien nun mal seine unterschiedlichenDarbietungen zu erklären, die starken inDortmund, die durchwachsenen im DFB-Team. „Es ist im Verein einfach eine ganzandere Akzeptanz da.“

Da kann ihm jetzt keiner helfen. Beiallem Respekt, sagt Bundestrainer Löw,ob die Dortmunder Spieler auch interna-tional Topleistungen bringen könnten,müssten sie erst noch beweisen. „Ich legeinternationale Maßstäbe an. Wir spielenbei der EM nicht gegen Stuttgart, Nürn-berg, Augsburg oder Hoffenheim.“

So steht Mats Hummels bislang anders-wo im Vordergrund. In der DFB-Werbe-kampagne für den neuen Mercedes zumBeispiel. Den entsprechenden Blick hater drauf: „Entschlossen, heroisch, das istmittlerweile in der Werbeindustrie dasGewollte“, stellt er fest.

Er habe dort einen ganz guten Ruf, inder Werbeindustrie.

JÖRG KRAMER

Sport

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Trainer Löw, Verteidiger Mertesacker

„Zurückweichen, wieder vor, gut so“

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Page 120: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

M E D I Z I N

„Fett mit Petersilieaustreiben“

Der MedizinhistorikerMichael Stolberg, 55,von der UniversitätWürzburg über die erstaunlich lange Ge-schichte der Fettsuchtund ihrer Behandlung

SPIEGEL: Sie haben untersucht, ob Men-schen schon in früheren Jahrhunder-ten fettsüchtig waren. Was haben Sieherausgefunden?Stolberg: Viele glauben, die Leute hät-ten damals gar nicht genug zu essen gehabt, um dick zu werden. Aber dasstimmt so nicht. Viele Menschen konnten es sich auch früher schon leis-ten, üppiger zu essen als nötig. Seitdem 15. Jahrhundert beschreiben füh-rende Ärzte die Fettsucht als Ursache

* Kolorierte Radierung von Charles Williams, 1806.

von Schlaganfällen und anderen töd -lichen Krankheiten.SPIEGEL: Wie dick waren die Men-schen?Stolberg: Der Arzt Thomas Bartholinusbeschrieb vor mehr als 350 Jahren einzehnjähriges Mädchen, das 200 Pfundwog und auf Jahrmärkten gezeigt wurde. Eine Straßburger Seilerin wog480 Pfund.SPIEGEL: Welches Image hatten Dickein früheren Zeiten?Stolberg: In der Medizinliteratur stehensehr abwertende Urteile. Der Tiroler

Arzt Guarinonius etwa schrieb 1610,fette Menschen hätten kaum Verstand,und verglich sie mit übermästetenSchweinen. Die Bevölkerung dagegenhatte keine Vorurteile gegen Dicke.SPIEGEL: Wie erklärten die Ärzte dieFettsucht?Stolberg: Sie dachten, die Nahrung werde von der Lebenswärme verkocht,einer Art Flamme im Körper. Bei Dicken sei die Lebenswärme überfor-dert: Die Nahrung häufe sich roh imKörper an und beginne zu faulen.SPIEGEL: Und was rieten die Ärzte?Stolberg: Neben dem Rat, weniger zuessen, wollten sie das Fett austreiben:etwa mit Petersilie, um den Harnflusszu fördern, mit Abführmitteln oderdurch Bewegung und Schwitzen.SPIEGEL: Warum war Ärzten das Themaso wichtig?Stolberg: Dass Dicke rascher sterben,stand schon bei Hippokrates. Aber dieÄrzte hatten auch ein kräftiges Interes-se daran, dicke Menschen für krank zuerklären. Sie bauschten die Gefahr aufund versuchten, sich als Experten fürErnährungsratschläge einen Markt zuerschließen.

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Prisma

App zum EierlegenExperiment eines engli-

schen Gartenbesitzers: Als

seine Henne ihren Hahn an

einen Fuchs verloren hatte,

zeigte das Herrchen ihr

Filme von Artgenossen auf

einem Tablet-Computer –

und sie legte wieder Eier.

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Dicke Männer in England*

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Asien*

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* inkl. Australien und Pazifik Schätzungen; Quelle: WHO

Demenzkranke in Millionen

2010 2050

120 Mio.

40

0

80

niedrigem und mittleremEinkommen

hohem Einkommen

Entwicklung in Ländern mit

2050

2010

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Wissenschaft · Technik

A R T E N S C H U T Z

Illegales Elfenbein in ChinaChina bleibt der wichtigste Markt fürElfenbein von gewilderten Elefantenaus Afrika, klagen Mitarbeiter des Internationalen Tierschutz-Fonds(IFAW). Die Aktivisten besuchten ver-deckt 158 Geschäfte und Werkstättenin China, in denen Elfenbein verkauftund verarbeitet wird. 101 dieser Betrie-be besaßen nicht einmal eine Lizenzfür den Handel mit legalem Elfenbein,das von Tieren stammt, die eines na-türlichen Todes starben. Und von den57 zugelassenen Betrieben machten

etwa 60 Prozent auch Geschäfte mitStoßzähnen von gewilderten Tieren.Ihr Trick: Statt das legale Elfenbeinmit Identifikationskarten zu verkau-fen, behielten sie die Dokumente ein-fach ein, um sie für illegales Elfenbeinzu benutzen oder an andere Händlerzu verhökern. Der IFAW fordert daherwieder ein generelles Handelsverbotfür Elfenbein. Die Hoffnung, legaleLieferungen würden Chinas Nachfragedecken und das Wildern von Elefantenver ringern, habe sich zerschlagen.

M I K R O B I O L O G I E

Keimbesiedlung schon im Mutterleib

Die Fruchtblase gilt als keimfreieZone – doch womöglich besiedeln Bak-terien Menschen bereits vor deren Ge-burt. So wurden spanische Forscherfündig, als sie die Ausscheidungen von20 Babys untersuchten, die gerade aufdie Welt gekommen waren. Im Innerndes „Kindspechs“, das man bisher fürsteril hielt, fanden sie DNA, die vonMilchsäure- und Kolibakterien stamm-ten. Offenbar wandern die Keime überdie Plazenta ein und bilden den Grund-stock der lebenswichtigen Darmflora.

E N E R G I E

Wasser aus WindNicht nur Strom, sondern auch Trink-wasser kann eine neuartige Turbineaus dem Wind ernten. Der französi-sche Hersteller Eole Water testet dieAnlage im Emirat Abu Dhabi. Die 24Meter hohe Windmühle stellt zunächstelektrischen Strom her, der dann be-nutzt wird, um Luft anzusaugen undsie mit einem Kompressor zu kühlen.Auf diese Weise wird der Luft Feuch-tigkeit entzogen; das Kondenswasserfließt über Stahlrohre in einen Sam-melbehälter am Fuß der Anlage. Eswird gefiltert, gereinigt und mit Mine-ralien versetzt. Die Anlage kann täg-lich tausend Liter Trinkwasser liefern.

QUERSCHNITT

Planet der GreiseDie Zahl der Demenz-patienten wird sich weltweitbis 2050 verdreifachen: auf115 Millionen. Der Zuwachswird in heutigen Entwick-lungs- und Schwellen ländernbesonders dramatisch aus-fallen, weil auch dort dieMenschen immer älter werden. Von den über 60-Jährigen leiden etwa 4,7 Prozent unter Demenz.

Beschlagnahmung von Elfenbein in Malaysia

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Ein einziges Mal kamen die Viren -jäger ihrem rätselhaften Gegenspie-ler ganz nahe. Es geschah, als sie

sich kurz von ihrem Computer abwand-ten. Minuten später waren mehrere Da-teien aus dem Speicher verschwunden.

Der Zugriff kam übers Internet von ir-gendwoher, vielleicht aus Israel, vielleichtaus den USA. Sicher war nur: Der Unbe-kannte ging planvoll zu Werk. Er vernich-tete aus der Ferne genau jenen Compu-tervirus, den die Experten gerade unter-suchen wollten – und den er vermutlichselbst geschaffen hatte.

Der Rechner, den der Angreifer mani-pulierte, stand mitten in Moskau, im un-scheinbaren Hauptquartier der Sicher-heitsfirma Kaspersky Lab. Sie ist einerder Weltmarktführer für Software, die Viren aufspürt und unschädlich macht.Jenes besondere Exemplar war ihren Spe-zialisten kurz zuvor in die Hände gefal-len: ein eigenartiges Spionageprogramm,das schon Hunderte Computer im NahenOsten befallen hatte.

Sie nannten es „Flame“.Die russischen Ermittler beschlossen,

der Sache auf den Grund zu gehen. Siepräparierten einen Computer und setztenden Schädling dort in Gang, um zu sehen,was er anstellt. Am zweiten Tag fandensie keine Spur mehr von ihm. Zuvor hatteFlame, wie das Protokoll zeigte, Verbin-dung mit einem fernen Netzrechner auf-genommen – und von dort offenbar denBefehl zur Selbstzerstörung erhalten.

„Da hat in der Zentrale wohl jemandVerdacht geschöpft“, sagt Witalij Kamljuk,Virenfahnder bei Kaspersky.

Vergangene Woche machten die Rus-sen ihren Fund publik. Das Aufsehen warenorm, denn Flame scheint ein perfekterSpion zu sein. Der Virus nimmt den er-oberten Rechner rundum in Besitz. Ohnedass der Benutzer etwas bemerkt, werdenfortan seine Lebensregungen überwacht(siehe Grafik): Das eingebaute Mikrofonschneidet Gespräche und Telefonate mit;die Tastatur zeichnet jeden Anschlag auf,um Passwörter und Zugangsdaten zu er-

gaunern. Der Virus speichert die Beutedann, um sie bei nächster Gelegenheitübers Internet in die Zentrale zu schicken,wo die Hintermänner sitzen.

Flame kann sogar Mobiltelefone aus-spionieren, die zufällig in die Nähe desWirtscomputers geraten. Dazu muss nurauf beiden Geräten der Datenfunk Blue-tooth eingeschaltet sein. Dann genügt es,dass ein Mensch mit Handy nichtsahnendvorbeispaziert – und schon ist sein Adress-buch abgesaugt, womöglich seine Identi-tät festgestellt.

Das ist eine Hinterlist neuen Typs. Bis-lang waren Viren, egal wie spukhaft undungreifbar, in die Sphäre der Computerund ihrer Netze verbannt. Flame abergreift auch in die reale Welt über.

Das meiste, was das Spähprogrammkann, ist für sich genommen nicht neu.Doch scheint Flame besonders vielseitigund wandelbar zu sein: 20 Zusatzpro-gramme, die sich bei Bedarf einzeln nach-laden lassen, zählten die Ermittler bislang.Als rundum gerüsteter Allzweckspion

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C O M P U T E R

Ansteckende NeugierRussische Sicherheitsexperten haben einen besonders raffinierten Computervirus

entdeckt. Das ferngesteuerte Spionageprogramm konnte jahrelang unbemerkt Rechner im Nahen Osten ausspähen. Hat der Cyberkrieg begonnen?

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Software-Code von „Flame“ (Auszug), Virenexperte Kamljuk (r.): Regelmäßig schickt der digitale Schädling seine Beute übers Internet an die

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kommt der Virus auf die stattliche Größevon 20 Megabyte – weit mehr als das Hun-dertfache des typischen Digitalschädlings.

Und dennoch blieb Flame lange unent-deckt. Bis mindestens Anfang 2010 lassensich erste Infektionen zurückverfolgen.Wenn so ein Brocken allen Virenwäch-tern entgeht, ist dann nicht überall mitverborgenen Spionen zu rechnen?

Gewöhnliche Viren fliegen schnellerauf, weil sie sich wie Seuchen verbreiten:Sie stecken wahllos so viele Computeran wie möglich. Eine Masseninfektionaber bleibt auf Dauer so wenig geheimwie eine Grippewelle. Flame dagegen

befällt nur auf Kommando ausgewählteRechner in Reichweite; die Softwarebleibt dabei immer in Verbindung mit ih-ren Kontrollzentren im Internet. Sie kannsogar prüfen, ob der neue Wirt eine Be-siedelung überhaupt lohnt. Wenn nicht,räumt Flame obendrein penibel hintersich auf und tilgt alle Spuren – entwederautomatisch oder, wie die Kaspersky-Leu-te beobachten konnten, per ferngezünde-ter Selbstzerstörung.

Rund 80 Kontrollrechner zur Steuerungvon Flame haben die Virenforscher ge-zählt; sie kennen auch deren Netzadres-sen, aber das hilft nicht weiter, denn diese

Rechner sind, wie üblich, ihrerseits wie-der nur ferngesteuert. Die wahren Pup-penspieler sitzen woanders. Unter ihrerRegie konnte Flame jahrelang unentdecktvon Rechner zu Rechner springen: alseine Art digitaler Spähroboter.

Wer also steckt dahinter? Wer kann soetwas programmieren? Dass staatliche Organisationen im Spiel sein müssen,schien früh klar zu sein. Der Verdachtfiel auf Israel. Dafür spricht, dass die meis-ten Infektionen in Iran gefunden wurden.Etliche ranghohe Beamte dort geben an,der Virus habe bei ihnen massive Daten-bestände ausspioniert.

Die Firma Kaspersky nennt Flame„eine der komplexesten Bedrohungen, dieje entdeckt worden sind“. Freilich heizenVirenjäger seit je ihr Geschäft gern malmit Alarmrufen an. „Die Branche findetalle paar Monate den gefährlichsten Virusaller Zeiten“, sagt Sandro Gaycken, Spe-zialist für Software-Sicherheit an der FUBerlin. „Da tritt beim Publikum eine ge-wisse Ermüdung ein.“

Dennoch machte in den Medien raschdas Wort von einer neuen „Superwaffe“die Runde, von einem Vorboten für die„Cyberkriege“ der Zukunft. In Wahrheitgeht der Virus nicht einmal als Waffedurch, weil er nichts zerstört. Schlimms-tenfalls droht Datenverlust.

Die russischen Experten stießen aufdas neue Spähprogramm, als sie ab An-fang Mai einen Vorfall in Iran untersuch-ten. „Dort war es zu einer Cyberattackeauf die ölverarbeitende Industrie gekom-men“, sagt Witalij Kamluk, leitenderFahnder bei Kaspersky. „Ein Virus hatteauf Hunderten Computern Daten ge-löscht; einige funktionierten danach nichtmehr.“ Die Suche nach diesem Schad -programm, „Wiper“ genannt, brachte die

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Der SuperspionWas der „Flame“-Virus kann

Tonüberwachung

Das Programm kann das Mikrofon steuern und Gespräche des Nutzers (z. B. bei Nutzung von Skype) sowie seine Umgebung aufzeichnen.

Fernsteuerung

Übermittlung der ausgespähten Informationen an eine Steuerungszentrale. Dort wird u. a. ent-schieden, welches benachbarte System als nächstes infiziert werden soll. Erweist sich ein befallener Computer als uninteressant, wird ein Selbstzerstörungsmechanismus ausgelöst, der alle Spuren des Befalls löscht.

Bluetooth

Zugriff über das Bluetooth-Funknetz auf aktive Geräte im Umfeld des befallenen Computers wie z. B. Head-sets oder Handys.

Netzwerk

Überwachung des Datenverkehrs und Erfassung von Passwörtern.

Bildschirmfotos

Aufnahmen des Bildschirms nach einem ausgeklügel-ten Zeit-schema, je nachdem, welches Programm gerade aktiv ist.

Textüberwachung

Der Virus protokolliert Tastatureingaben.

Festplattenzugriff

Die Software kann nach Informationen suchen, Programme nach-installieren und auch Daten löschen.

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Technik

ferne Kommandozentrale, wo die Hintermänner sitzen

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wiederum hält mit einer eigenen Einheitdagegen, die unter dem Kürzel „Maher“(zu Deutsch: Fachmann) operiert. Maherbehauptet, schon vor Monaten den VirusFlame aufgestöbert zu haben. Vergange-ne Woche reklamierten denn auch die Teheraner Tageszeitungen den Sieg fürseigene Land. Das linientreue Blatt „Kay-han“ etwa bejubelte, sichtlich erfolgstrun-ken, die Abwehr des Angriffs einer „Cy-ber-Nuklearwaffe“.

Auf der Website von Maher steht an-geblich auch schon eine Abwehr-Soft-ware zum Herunterladen bereit. Das im-merhin ist durchaus glaubhaft: Ist ein Vi-rus erst einmal identifiziert, lässt er sichohne viel Mühe unschädlich machen. Diegängigen Antiviren-Programme erken-nen Flame inzwischen ebenfalls. Damitist der Schädling vorerst erledigt. Für Pri-

vatleute bestand ohnehin nieernsthafte Gefahr.

Und wie können sich Unternehmen oder Staatenschützen vor dem nächstenCyberspion? Der Berliner Sicherheitsforscher Gayckensieht in aller Welt noch vielSchludrigkeit am Werk: „Vorvielen Ministerien stehenzwar bewaffnete Wachen,aber viele Regierungsstellenbenutzen unsichere Win dows-Computer, die nicht einmaldie neuesten Sicherheits-Up-dates aufgespielt haben.“

Sogar die Leitzentralenvon Kraftwerken, so Gay-cken, haben mehr oder weni-ger direkte Schnittstellen zumInternet: „Die Schutzwälledazwischen sind natürlich an-greifbar“, sagt er. Auch beiden Banken, die untereinan-der ein physisch selbständigesGeldnetz namens Swiftnetbetreiben, gebe es „zahlrei-che Übergänge ins Internet“.

Banken, Energieversorgerund Industrieunternehmen

sollten, wenn es nach Gaycken geht, wich-tige Computersysteme radikal vom Inter-net abkoppeln – das ist unpraktisch, um-ständlich und verlangsamt das Geschäfts-leben ungemein. Aber echte Sicherheit,glaubt der Fachmann, ist ohne gezielteEntnetzung nicht mehr zu haben.

KIAN BADRNEJAD, MANFRED DWORSCHAK, JULIANE VON MITTELSTAEDT, MATTHIAS SCHEPP,

HILMAR SCHMUNDT

Firma erst auf die Spur von Flame. EinLöschangriff macht freilich nicht viel kaputt. So gut wie jedes Unternehmenhat Sicherheitskopien aller wichtigen Daten.

Die einzige Software, die es bislang zuechter Waffenwirkung brachte, war derComputerwurm „Stuxnet“, der 2010 inder iranischen Atomanlage von Natansumging. Dort hat er wohl an die tausendZentrifugen zur Anreicherung von Uranzerstört. Stuxnet nistete sich im Kontroll-rechner ein, erhöhte nach einer Weile gezielt die Drehzahl der Rotoren, umsie später stark abzusenken – viele derschweren Maschinen hielten dem unge-planten Lastwechsel nicht stand.

Stuxnet ging so geschickt vor, dass dasPersonal keinen Verdacht schöpfte. DerVirus, einmal in die Steuerelektronik gelangt, las dort sogar mit,welche Werte die Überwa-chungssensoren der Maschi-nen meldeten, um richtig zureagieren – eine Maßarbeit,die genaueste Kenntnis desZielsystems voraussetzt.

Die Kehrseite: Software alsWaffe lässt sich meist nur ge-gen ein einziges Ziel einset-zen. Wer ein zweites Ziel an-greifen will, muss ein zweitesProgramm schreiben. EinerRakete ist es egal, wohin mansie abfeuert; sie explodiertüberall. Ein Software-Virusdagegen muss sich quasi vorOrt genau auskennen, umdie Fähigkeiten der dortigen Maschinerie destruktiv gegendiese selbst zu richten.

Deshalb sei es auch über-trieben, vor drohenden Cy-berkriegen zu warnen, meintThomas Rid, Experte fürNeue Technologien und Kon-flikte am Londoner King’sCollege. Im Gegenteil, es wer-de immer schwerer, mit Soft-ware echten Schaden anzu-richten: „Kraftwerke oder Staudämmewerden meist von speziellen, teils auf-wendig umgearbeiteten Programmen ge-steuert. Kaum eine Installation gleichtder anderen.“

Dennoch malen Visionäre unentwegtSchreckensbilder, zuletzt wieder in Mos-kau, wo sich vergangene Woche Hunder-te Hacker und Sicherheitsleute zu den„Positive Hack Days“ trafen. Dort sprachauch Mohd Noor Amin, Direktor von Im-pact, einer „Internationalen Partnerschaftgegen Cyber-Bedrohungen“ unter demDach der Uno. Amin reist seit Jahren miteinem Propagandafilm um die Welt, indem Staudämme bersten und Flugzeugevom Himmel fallen, weil sich Finsterlingeder Steuerungselektronik bemächtigt ha-ben. „Stuxnet und Flame zeigen, dass die

Realität immer mehr auf solche Horror-szenarien zusteuert“, sagt Amin.

Für den Kriegsforscher Rid zeigt Flamehingegen etwas anderes: dass die wirk -liche Gefahr in der bald allgegenwärtigendigitalen Schnüffelei liegt. Fürs Spionie-ren im Verborgenen sei die körperloseSoftware wie geschaffen.

Rid vermutet, wie die meisten Fach -leute, dass Flame und auch Stuxnet in Israel entwickelt wurden, wohl untermaßgeblicher Beteiligung der USA. Ver-gangene Woche erst meldete die „NewYork Times“, Präsident Barack Obamaselbst habe schon in den ersten Monatenseiner Amtszeit den Marschbefehl zumverstärkten Einsatz von Computervirengegen iranische Atomanlagen gegeben.

Dass Israel mit im Spiel war, ist zumin-dest plausibel, denn kaum ein Land ist so

gut für kriegerische Konflikte im Netz gerüstet. In Israel wuchs über Jahrzehnteein einzigartiges Ökosystem aus Armee,Universitäten und Hightech-Firmen heran.

Schon in der Schule werden junge Is-raelis unter eifriger Beihilfe der Armeeim Programmieren trainiert. Ihren Wehr-dienst leisten jedes Jahr Tausende künf-tiger Netzkrieger dann in speziellen Ein-heiten ab. Am bekanntesten ist die sa-genumwobene Unit 8200, aus der schonetliche Gründer von Computerfirmen her-vorgegangen sind. Besonders die Unter-nehmen für Internetsicherheit bleibendem Militär, in dem sie verwurzelt sind,häufig eng verbunden, und der Staatschießt eine Menge Fördergelder zu.

Israel hat auch ein nationales Zentrumzur Cyberabwehr gegründet, und Iran

Technik

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Kontrollraum in Atomfabrik Natans: Fast tausend Zentrifugen zerstört

Video: Woher kommt der Computervirus „Flame“?

Für Smartphone-Benutzer:Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“.

Page 125: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

Menschen hasten über Treppenund durch Gänge. Auf demBahnsteig steht ein Mittfünfziger

mit Wollmütze und Gleisarbeiterklamot-ten neben einer 25-Liter-Gasflasche.

Der Mann wirkt angespannt, er schautsich um. Dann greift er zur Rohrzangeund schraubt das Ventil auf. Laut zischtein unsichtbares Gas heraus. Besorgtbleibt ein Fahrgast stehen.

Oben am Ausgang des U-BahnhofsHermannplatz in Berlin-Neukölln ver-folgt eine Gruppe ernster Männer an ei-nem Rechner das Geschehen. Bei ihnenlaufen die Messdaten von Sensoren ein,die sie überall in der U-Bahn-Station ver-teilt haben.

Auf dem Überwachungsmonitor ist zusehen, wie sich das unsichtbare Gas aus-breitet. „ALARM“ steht auf dem Bild-schirm, daneben ein Totenkopfsymbol.Eine Grafik zeigt die Ausbreitung derGaswolke – und die Fluchtwege.

Doch keiner rennt weg.„Früher galt mein Forschungsgebiet

der U-Bahn-Klimatologie als Orchideen-

fach“, sagt der Bochumer Geografiepro-fessor Andreas Pflitsch, der Mann mitder Gasflasche im Arm. „Dabei könnenwir im Ernstfall helfen, Menschenlebenzu retten.“

Das bei dem Experiment verwendeteGas heißt Schwefelhexafluorid, es ist ungiftig und dient lediglich als Test: DieSensoren schlagen an, das versuchsweiseinstallierte Warnsystem funktioniert. „Or-gamir“ heißt das vom Bundesforschungs-ministerium mit 3,2 Millionen Euro ge-förderte Projekt. Beteiligt sind Chemiker,Psychologen und Ingenieure der Univer-sitäten in Jena, Paderborn und Bochum.

Auf den ersten Blick erscheint die Auf-gabe simpel. Warum nicht einfach einpaar Rauchmelder, wie es sie in jedemHotelzimmer gibt, an die Tunnelwändeschrauben? „U-Bahnen sind dynamischeSysteme, hier unten herrscht ein ganz eigenes Wetter“, sagt TunnelklimatologePflitsch. „Früher dachte man, dass Rauchhauptsächlich durch die Züge wie von einem Kolben durch die Tunnel gedrücktwird. Doch das stimmt nicht.“

Die Orgamir-Forscher verkabelten dieStation Hermannplatz mit elf Gas- undWindmessgeräten. Ihr erstaunlicher Be-fund: Beinahe stündlich verändern sichin einem U-Bahn-Tunnel Windrichtungund -stärke.

Aufgrund ihrer Messdaten haben dieForscher inzwischen ein Computermo-dell erstellt, das vorhersagen soll, wohinfreigesetzter Rauch ziehen wird. Kurznach der Freisetzung des Testgasesspuckt die Simulation ihre Prognose aus:Wie in einem Kamin zieht die Gaswolkedurch das zentrale Treppenhaus hoch zurU8, von dort aus weiter durch den Tun-nel aufwärts Richtung Süden. Das Gas

dürfte die nächste Station (Bod-dinstraße) in sechs Minuten er-reichen, die danach in zehn Mi-nuten. Die Nachbarstationen inanderen Richtungen dagegenwerden noch lange vom Gasunbehelligt bleiben.

Mit einem solchen U-Bahn-Wetterbericht wäre eine ge-nauere und schnellere Evakuie -rung als heute möglich. „VieleMenschen würden spontan zurgroßen, zentralen Treppe lau-fen, um sich in Sicherheit zubringen“, so Pflitsch. „Aber indiesem Fall wäre das genau dasFalsche, weil dorthin auch derRauch zieht.“ Besser wäre es,zu den Treppen an den Bahn-steigenden zu laufen; bei derderzeit herrschenden Tunnel-wetterlage blieben sie rauchfrei.

Dass menschliche Intuitionins Verderben führen kann,

zeigte sich vor gut zehn Jahren im öster-reichischen Kaprun, als im Führerstandeiner Gletscherbahn ein Feuer ausbrach.Viele Passagiere rannten vom Feuer wegden Tunnel hinauf – ein tödlicher Fehler.Hauptrisiko bei Bränden sind nicht dieFlammen selbst, sondern der Rauch. Nurwenige liefen damals dem Feuer entge-gen, an den Flammen vorbei – sie über-lebten.

„In Notsituationen suchen wir nachFührung, und wenn ein paar Leute in diefalsche Richtung laufen, gibt es meist ei-nen Herdeneffekt“, sagt die PsychologinGesine Hofinger, die für das Projekt dieFluchtwege untersucht hat. „Außerdemsind wir Gewohnheitstiere, dort, wo wirreingehen, gehen wir meist wieder hin -aus – auch wenn es dort verraucht ist.“

Kleinere Brände brechen in deutschenU-Bahnen immer wieder aus. Die Orga-mir-Forscher wollen aber auch Terror -attacken vorbeugen: Giftgasanschlägenwie in Tokio, Bomben wie in London undMadrid. Doch auf welche Gase solltenWarnsensoren reagieren?

„Wir hatten auf unserer Liste ursprüng-lich 180 gefährliche Stoffe“, sagt KarinPotje-Kamloth vom Institut für Mikrotech-nik in Mainz, die für Orgamir das Analy-sesystem entworfen hat. Eine derart um-fassende Überwachung sei jedoch lang-sam und teuer; allzu häufig komme esauch zu Fehlalarmen. Aus diesem Grundbeschränken sich die Forscher derzeit auf14 hochgiftige gasför mige Stoffe, darunterPhosgen („Grünkreuz“), Schwefeldioxidund CS (Tränengas).

Es ist ein schmaler Grat zwischen Vor-sorge und Panikmache. „U-Bahn-Fahrenist viel sicherer als Autofahren“, beteuertPflitsch. Er lobt die vielgescholtenen Ber-

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H Ö H L E N F O R S C H U N G

Giftgas imUntergrund

Wohin fliehen, wenn es im Tunnelbrennt? Um Fahrgäste besser

evakuieren zu können, erkundenForscher die Wetter-

verhältnisse in U-Bahn-Stationen.

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Geograf Pflitsch

Disco-Nebel im Bahnhof

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liner Verkehrsbetriebe für ihre Unterstüt-zung. Es sei nicht leicht gewesen, einenPartner für das Experiment zu finden; viele Verkehrsbetriebe fürchten, mit Ka-tastrophenplanungen ihre Kunden zu verschrecken – oder schlimmer noch: bescheinigt zu bekommen, teure Umbau-maßnahmen vornehmen zu müssen.

Bei der Feuerwehr stößt Orgamir ledig-lich auf verhaltene Zustimmung. „Aufden ersten Blick könnte so ein Systemhelfen“, sagt Karsten Göwecke, der Vizedes Berliner Landesbranddirektors. Erschränkt aber ein: „Die theoretische unddie tatsächliche Rauchausbreitung kön-nen stark voneinander abweichen.“

Seine Karriere als U-Bahn-Experte begann Pflitsch in New York. Testweisestellte er seine Messgeräte in einer U-Bahn-Station auf – mit überraschenden Ergeb-nissen über die Launenhaftigkeit des unterirdischen Wetters. Seither hat seinTeam auch das U-Bahn-Klima von Wa-shington, D.C., München, Dortmund unddem britischen Newcastle untersucht.

Noch mehr jedoch faszinieren ihn na-türliche Höhlen. Gerade hat er auf Ha-waii in 3600 Meter Höhe eine Eishöhleerkundet. Und in einem Fachaufsatz spe-kuliert er darüber, ob die Jewel Cave unddie Wind Cave in South Dakota mitein -ander verbunden sind. Die Höhlenein-gänge liegen 50 Kilometer voneinanderentfernt, möglicherweise verbundendurch windige Ritzen.

Das scheinbare Ein- und Ausatmen vonHöhlen geschieht bei Wetterumschwün-gen: Zieht ein Hochdruckgebiet auf,faucht der Wind teils mit Orkanstärkedurch die Spalten, bis der Druckausgleichzwischen innen und außen erreicht ist.Wenn eine Gewitterfront anrückt, trittdieser Effekt auch in U-Bahnen auf.

Und es gibt noch eine Gemeinsam -keit zwischen Höhlen und Tunneln: KeinU-Bahn hof gleicht dem anderen, jedermuss einzeln vermessen werden.

Berlin, Alexanderplatz, kurz nach Mit-ternacht: Touristen, Geschäftsleute, Be-soffene irren durch das Labyrinth der Un-tergrundbahn. Ein Uhr nachts, Betriebs-schluss, die letzte Bahn rattert davon, derSicherheitsdienst verschließt die Stahl -tore. Diesmal wirft Pflitsch eine Nebel-maschine an, wie sie sonst in Diskothekenzum Einsatz kommt. Träge ziehen dieSchwaden aufwärts in Richtung Ausgang.

Die Forscher schleppen Computer undMessgeräte herbei. Per Hand entnehmensie mühsam 560 Luftproben.

Wieder zischt Gas, ein weiterer Daten-satz, um die unsichtbare Welt aus Windzu enträtseln.

Um vier Uhr morgens ist der Spuk vor-bei, die Bahnen donnern wieder durchdie Tunnel, als wäre nichts gewesen. Nurder feuchtkalte Lufthauch auf der Treppefühlt sich irgendwie anders an als sonst.

HILMAR SCHMUNDT

Erst wollte Torsten Kunert, 50, einFerienhaus auf den Liparischen In-seln kaufen. Auch in der Toskana

und auf Mallorca sah er sich um. AmEnde entschied sich der Vater von vierKindern für ein Schloss in der Nähe.

Der Berliner Unternehmer steht amKummerower See, zwei Autostunden vonder Hauptstadt entfernt, und zeigt aufsein neues Eigenheim: Es hat eine baro-cke Fassade, 2500 Quadratmeter Wohn-fläche und einen Park, angelegt vom preußischen Gartenkünstler Peter JosefLenné.

Der Kaufpreis? Der Mann zögert:„136 000 Euro. Eine Zwangsversteige-rung.“

Bei der Führung wird allerdings schnellklar, dass hier noch mal der Maler durch-muss. Im ersten Stock prangen verblassteLenin-Parolen. Nach der Wende dientedas Gemäuer als Bordell. Die kostbarenFußbodenplatten in der Eingangshalle ha-ben Diebe gestohlen. An den Pfeilern haf-ten 30 Farbanstriche.

Mit vier bis fünf Millionen Euro Sanie-rungskosten rechnet der neue Besitzer. Erwill auf dem Anwesen ein Fotografiemu-seum einrichten – und dort auch wohnen.

Etwas ratlos überblickt er die Ansamm-lung potenzierter Verwahrlosung aus rot-tem Putz und eingestürzten Stallungen.Vielleicht steht Kunert nur deshalb hier,weil seine Frau aus den USA stammt. „In

Wissenschaft

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D E N K M A L S C H U T Z

Kulisse der GeisterschlösserMecklenburg-Vorpommern verliert sein steinernes Erbe.

Über 200 Feudalbauten stehen leer. Viele sind schon zu Ruinenzerfallen. Bringen Idealisten aus dem Westen die Rettung?

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Schloss Kummerow, neuer Eigentümer Kunert: „In Amerika ist die Siedleridee noch lebendig,

Herrenhaus Wrangelsburg, Eingangshalle von Schloss Lüssow: „Sehr ruhige Lage“

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Amerika“, sagt er, „ist die Siedlerideenoch lebendig, da sind die Leute bereit,sich breit im Leben aufzustellen.“

Bonanza, Big Valley, Gründerzeit: Der-lei zupackender Mut ist in Mecklenburg-Vorpommern selten geworden. Das ganzeLand wirkt verzagt und kraftlos. Jetztdroht der Kahlschlag, der Verlust der ar-chitektonischen Tradition.

Dicht bei dicht überziehen Renaissance -bauten, klassizistische Schlösser und Guts -häuser im Tudorstil den Nordosten der Republik. Viele stammen aus der Zeit, alsdie Landjunker im 19. Jahrhundert ihreErträge mit der Einfuhr von Vogelkot-Dün-ger (Guano) explosionsartig steigerten.

Doch die Pracht ist verschlissen. Erst-mals hat das Landesamt für Denkmal -pflege in Schwerin jetzt Bilanz gezogenund sein bröckelndes Erbe gesichtet. Er-gebnis: Über 400 Feudalbauten sind inkeinem guten Zustand, müssen saniertwerden oder fallen gerade auseinander.

Beatrix Dräger von der „Dezernats-gruppe Denkmale im ländlichen Raum“breitet eine Landkarte aus, auf der es vonrosa Schlosssymbolen wimmelt. Insge-samt sind es 203 Markierungen. „Rosasteht für Leerstand“, sagt Dräger.

Von der Elbe bis nach Usedom ziehtsich eine Kulisse von Geisterschlössern.Vor Ort sieht rosa so aus: tropfende Dach-rinnen, abgeplatzte Stuckdecken, Geruchvon Moder und Durchfeuchtung. Vanda-len haben Edelkamine herausgerissen,Gärten sind zugewuchert, Ringgräbenversumpft.

Für einige Herrensitze ist es bereits zuspät. In Divitz (bei Barth an der Ostsee)zerfällt gerade eine Wasserburg. Das Her-renhaus Löwitz hat im April ein Baggerniedergerissen. Grellenberg fiel von alleinum. Dräger reagiert mit Frust – undstreicht die Ruinen von der Denkmalliste:„Wir brauchten einen Rettungsfonds fürakute Bauschäden.“

Während Berlins Elite gern auf Sardi-nien urlaubt oder verfallene Weingüterin Südfrankreich aufmöbelt, verkommtvor der Haustür das geschichtliche Erbe.

Zwar rückten nach der Wende vieleLiebhaber alten Stucks an und wandeltenzerschlissene Adelssitze in Museen, Al-tenheime oder Suchtkliniken um. Wie ge-schmiert lief auch die Hotel-Idee: VomSchaalsee bis zur Oder werden heute Gäs-te in Beletagen gelockt, in denen schonKaiser Wilhelm nächtigte.

Doch die Finanzkraft der Investorenreicht nicht aus, um alle Prachtbauten vordem Zerfall zu retten. Ostelbiens Ritterlebten zu pompös. Nirgendwo sonst inEuropa türmen sich so viele herrschaft -liche Anwesen.

Eine Prüfung des Schweriner Kultur-ministeriums ergab, dass es im Lande 2192Adelssitze gibt. 1012 davon stehen unterDenkmalschutz. Der Zustand der ande-ren ist nicht aktenkundig. Der Verfallkönnte also noch umfangreicher sein.

Dabei wirkt schon Drägers Alarmkartebeschämend. Vor allem abseits der Küstesind auf dem Plan Ballungen mit hohemLeerstand zu sehen.

Cornelia Stoll wohnt in solch einer Ka-puttzone. Die Maklerin betreibt ein Bürofür Uralt-Immobilien in Anklam. Derzeithat sie neun Feudalbauten im Angebot,alle zu Schnäppchenpreisen, darunterauch die Wrangelsburg.

Über eine zerschlissene Rampe geht eshinauf zum Eingangsportal des elfachsi-gen Putzbaus, benannt nach einem schwe-dischen Feldherrn. Die Gemeinde feiertehier bis vor kurzem Kaffeekränzchen. ImWintergarten steht altes Fitnessgerät derDorfjugend.

„Sehr ruhige Lage“, lobt die Maklerin.Man könnte den Landstrich auch aus -gestorben nennen. Die Kommune hat nurnoch 14 Einwohner pro Quadratkilome-ter. Dafür stimmt der Preis: Er liegt bei120000 Euro.

Noch weniger, 100 000 Euro, kostetSchloss Lüssow nahe der Peene, einemder schönsten Urstromtäler Nordeuropas.Mit seinen Türmen und Giebeln könntedas 1867 errichtete Bauwerk fast mit Neu-schwanstein wetteifern – wenn es nichtso verlottert wäre.

Düster und dunkel, auf 2200 Qua drat -meter ziehen sich die Ballsäle und Zim-merfluchten hin. Fenster sind mit Bret-tern vernagelt. „Der jetzige Besitzer woll-te hier ein Seniorenheim einrichten“, erzählt Stoll. „Die alten Leute sollten Trecker fahren und Marmelade kochen.“

Der Plan scheiterte.Derlei verquaste Nutzungskonzepte

muss sich die Maklerin immer wieder anhören: „Oft kommen Privatleute, dievon einem Leben wie bei Rosamunde Pilcher träumen“, erzählt sie. 2000 Qua-dratmeter Wohnfläche würden solche Romantiker nicht abschrecken: „Die sa-gen: ‚Unsere Schwiegereltern ziehen jamit ein.‘“

Aber auch gewerbliche Nutzer liegennicht selten daneben. Als die Treuhanddie Liegenschaften nach 1990 billig ab-stieß, griffen viele Schaumschläger zu.Der eine projektierte ein Kinderhotel, derandere einen Swingerclub auf vier Eta-gen. Blühende Geschäfte versprachen dieGlücksritter. Am Ende verfiel alles.

Das Barockschloss Bothmer, gelegenauf einer 345 Meter langen künstlichen

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Schloss Ivenack, Eingangsportal: Ruiniertes Rittergut

da sind die Leute bereit, sich breit im Leben aufzustellen“

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habe ich auf dem Dachboden des Schlos-ses gespielt, es gehörte meinem Onkel“,erzählt sie, „wir fuhren Kutsche, es wardie schönste Zeit meines Lebens.“ Nunwächst Gras im alten Zierteich. Aus Kase -matten strömt muffiger Geruch.

Zur Ehrenrettung des Eigentümers seigesagt, dass Ivenack schon in den zwan-ziger Jahren des 20. Jahrhunderts zeit-weise leer stand. Am Ende des ZweitenWeltkriegs hausten Flüchtlinge darin. Inder DDR diente der Bau als Altenheim.

Derlei Schicksale bis hin zur sozialisti-schen Kaputtnutzung durchliefen fast alleOstschlösser. Lädiert erreichten sie dieWendezeit. Leider ging der Verfall da-nach oft noch schneller voran. In Ivenackhat jüngst ein Sturm Löcher ins Dach ge-rissen. Mit jedem Regenguss prasselt Was-ser in das Rittergut. Eichenbalken mo-dern, an Türzargen blühen Pilze.

Zwar gibt es für jeden Eigner eine „Er-haltungspflicht“. Kümmert er sich umnichts, kann die Behörde auf eigene FaustInstandsetzungsarbeiten durchführen. Da-für aber müsste sie finanziell in Vorleis-tung treten. Davor scheuen die klammenGemeinden meist zurück. Dräger: „Wirsind zahnlose Tiger.“

Bei einigen Gemeinden ist die Wut sogroß, dass sie sich wehren. Der Käuferdes Herrenhauses Johannstorf wurdekürzlich gerichtlich gezwungen, die ver-wahrloste Immobilie für 108000 Euro andie Stadt Dassow zurückzugeben.

Doch das sind Ausnahmen. Die Denk-malämter träumen nach wie vor vom guten Investor. Kunstsinnig soll er sein,finanzstark und so masochistisch veran-lagt, dass er gern mürbe Holzgauben ent-wurmt und aus Authentizitätsgründenaufs Einsetzen von Fensterdichtungenverzichtet.

Nur, wo sollen all diese Liebhaber her-kommen? Wie lassen sich die Gemäuersinnvoll nutzen? Das Bundesland ist arm,aber nicht sexy. Dem einen liegt es zuabseits, dem anderen ist die Ostsee zukalt.

Und doch gibt es sie, die neuen Siedlerund Kolonisten, die sich gegen den Trendstemmen und versuchen, weiterer Ab-wanderung und einer Verödung der hei-mischen Scholle zu trotzen.

Eine neue Gründerzeit müsse her, for-dert etwa Burghard Rübcke von Veltheim.Mit Schwielen an den Händen sitzt dergrauhaarige Herrscher von Schloss Quit-zin am lodernden Kamin und sagt: „Dumusst dich zu dem Land bekennen undhier leben wollen.“

Der Mann ist eigentlich Pfarrer. Nachder Wende besuchte er erstmals den Jagd-sitz seiner Vorfahren – und war scho-ckiert. Auf dem Dach lag Wellblech, dieFenster waren zum Teil zugemauert.

Rübcke wollte zurückkaufen. Bei ei-nem Dorftreffen blickte er in die gegerb-ten Gesichter bildungsferner Erntehelferund Mähdrescherfahrer. „Ihr müsst unswillkommen heißen und unsere Kinderannehmen“, sagte er, „sonst kommen wirnicht.“

Nach einigem Zögern gab ihm derDorfchef, ein Schmied, die Hand undnickte.

So zog der Gottesmann in die Bruch-bude im Niemandsland um. Aus der Was-serleitung floss bräunliches Wasser. DieFamilie schlief auf Feldbetten. Rübckefuhr Trecker, schulte auf Landwirt umund hob in Eigenarbeit den neuen Dach-stuhl empor. Er pflasterte, er grub, ermauerte und pflanzte. Halbtags betrieber weiter Seelsorge.

Heute ist das Schloss ein Juwel, umge-ben von Grünland und wogenden Getrei-defeldern.

„Zum Schwarzsehen besteht keinGrund“, sagt der Pfarrer. Er sieht die Ge-gend trotz aller Probleme im Aufwind:Sein Schlosskollege Kunert spricht garvon einem „Boom“.

In begehrten Ecken steigt bereits dieNachfrage. Selbst aus dem entlegenenAnklam meldet die Maklerin Stoll regesInteresse – schon wegen der verlocken-den Preise. Ihr günstigstes Angebot istein verfallenes Anwesen im englischenLandhausstil mit 40 000 QuadratmeterLand: Es kostet 35000 Euro.

Hat die geschundene Region also dieTalsohle durchschritten? Klar ist: DieSonne scheint auf Mallorca auch nichtschöner. Meck-Pomms Sandstrand ist feinund weiß, die Tierwelt einzigartig.

„Hier wird nichts veröden“, sagt Rübcke von Veltheim und stapft zum Ab-schied seine gepflasterte Auffahrt zumschmiedeeisernen Gatter hinauf. Ent-schlossen blickt er über das weite vor-pommersche Land – fast so, als wollte ergleich einen Apfelbaum pflanzen.

Dann sagt der Pfarrer: „Deutschlandist viel zu stark industrialisiert und be-siedelt. Weiße Flecken werden wir unsnie leisten können.“

MATTHIAS SCHULZ

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Insel, geriet für den symbolischen Preisvon einer Mark in die Hand eines kauzi-gen Politologen aus dem Westen – undverkam.

Laut Denkmalbehörde stehen derzeit121 der unbewohnten Schlösser „ohnePerspektive“ da. Ihnen droht der meteo-rologische Abriss: die Vernichtung durchWind und Wetter

Am schlimmsten ist es in Ivenack.Die riesige barocke Gutsanlage (Akten-

vermerk: „außerordentlich hoher ge-schichtlicher Dokumentationswert“) er-streckt sich über zehn Fußballfelder. Esgibt ein Schloss, eine Kirche, Teehaus,Orangerie, Marstall und ein Verwalter -gebäude. Um das Jahr 1750 lebte auf demAnwesen ein Reichsgraf, dem 2000 Leib-eigene zuarbeiteten.

Die Vollblutzucht des Guts war be-rühmt. Napoleon ließ hier den HengstHerodot stehlen. Der Dichter Fritz Reuterverglich den entlegenen Ort mit einer„schlummernden Najade“.

Heute sieht Ivenack aus wie das bibli-sche Sodom, nachdem Gott es mit Feuerund Schwefel strafte. Der Grund: Seit1999 gehört das Anwesen einem Parkett-fabrikanten aus Stuttgart, dem alsbalddas Geld ausging.

Bei einem Ortsbesuch ringt Marion vonKeller, 72, mit den Tränen. „Als Kind

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Schloss Quitzin, Eigentümer Rübcke von Veltheim

Der Gottesmann zog in die Bruchbude

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Um das 24-Stunden-Rennen von LeMans zu gewinnen, bedarf es zu-verlässiger, wenn auch nicht weg-

weisender Technik. Es gewann dort schonein Auto mit Kreiskolbenmotor;ein Durchbruch dieses Maschi-nentyps im Serienbau blieb bisheute aus.

Inzwischen dominiert Audidas Ausdauerrennen südlich derNormandie mit Aggregaten, diefrüher eher Traktoren und Last-wagen antrieben: Sechsmal inFolge triumphierten Diesel-Rennwagen in Le Mans, fünf-mal davon die Modelle der VW-Tochter.

In diesem Jahr soll nun erst-mals ein Öko-Antrieb Renn-ruhm erlangen: Audi und Toyo-ta treten in Le Mans mit je zweiHybrid-Rennwagen an.

Die Kombination aus Verbren-nungs- und Elektromotor gilt alsSparwunder und Schlüsseltech-nik auf dem Weg zur Elektromo-bilität, scheint jedoch eher unge-eignet für den Renneinsatz. Derphysikalische Clou des Hybridsist seine Fähigkeit, Bremsenergiein einer Batterie zu sammelnund beim Beschleunigen wiederabzugeben; das spart Kraftstoffund funktioniert besonders gutbei defensiver Fahrweise.

Der Rennbetrieb hingegen istein frenetisches Wechselspielaus Vollgas und Vollbremsung. Eine Bat-terie kann in diesem Tempo kaum Ener-gie aufnehmen. Die Hybrid-Renner wer-den deshalb mit völlig anderen Strom-tanks ausgestattet sein.

Audi setzt einen Schwungrad-Speicherein, der ursprünglich von Williams fürdie Formel 1 entwickelt wurde. Der beimBremsen generierte Stromstoß bringt darin einen Rotor auf extreme Dreh-zahl. Zum Beschleunigen wird umge-schaltet und Strom für den Antrieb ge-nutzt. In den Toyotas wiederum fangenKondensatoren die Bremsenergie blitz-artig ein und geben sie ebenso rasch wie-der ab.

Mit dem Ziel des Hybrid-Prinzips, nen-nenswerte Verbrauchssenkungen zu er-zielen, hat dieses kurzatmige Strom-Ping-pong nichts zu tun. Das Reglement er-laubt einen Elektroschub von maximal500 Kilojoule, gerade ausreichend, umfür drei Sekunden 200 zusätzliche PS andie Antriebsräder zu schicken. Der Leis-tungsgewinn ist marginal: Die Haupt -motoren – bei Toyota ein Benziner, beiAudi ein Diesel – leisten dauerhaft über500 PS und dürften im Renneinsatz 40bis 50 Liter Kraftstoff auf 100 Kilometerverbrennen.

Die elektrischen Schubser machen dasAuto nicht spürbar sparsamer, unter Um-ständen aber ein klein bisschen flotter.„Das Potential zum Schnellerfahren istdurch das System gegeben“, erklärt Audi-Sportchef Wolfgang Ullrich.

Ullrich sieht den Hauptvorteil vor al-lem bei Regen, da der Elektroantrieb desAudi auf die Vorderräder wirkt und demsonst heckgetriebenen Rennwagen vor -übergehend die Vorzüge eines Allrad -autos verleiht. Der „Teilzeit-quattro“ (Ull-rich) kann somit auf nasser, rutschigerFahrbahn zügiger beschleunigen, jeden-falls für einen kurzen Moment.

Audi wird den Effekt sogar exakt be-ziffern können, da im Team zwei Refe-renzautos ohne Hybrid-Installation mit-fahren, die sonst vollkommen baugleichsind und ebenfalls in Le Mans antretenwerden. Dass der Unterschied winzig ist,zeigte bereits das Sechs-Stunden-Rennen

von Spa im Mai, eine Art Generalprobefür Le Mans. Die Version mit Hybrid- Antrieb war dort haarscharf unterlegen,was Ullrich vorwiegend auf die unter-schiedliche Reifenwahl bei wechselndenWetterverhältnissen zurückführt. In sei-ner schnellsten Runde jedoch absolvierteder Hybrid-Audi die Sieben-Kilometer-Strecke um gut eine halbe Sekundeschneller als das Bruderfahrzeug ohneElektrohilfe. Auf der knapp doppelt solangen Rundstrecke von Le Mans schätztUllrich den technischen Vorteil auf eineSekunde.

Unklar ist indes, wo Toyota steht. Derjapanische Riesenkonzern, bekannt fürhohe Qualität und Innovationskraft im Se-rienbau, hat im Rennsport wenig Fortune.Im vergangenen Jahrzehnt verschwendeteToyota über zwei Milliarden Euro an ei-

nen erfolglosen Formel-1-Auf-tritt. „Ein Stück Wehmut hängtnoch nach“, meint Rob Leupen,Direktor bei der Toyota Motor-sport GmbH in Köln.

Das weniger aufwendige Le-Mans-Engagement soll dieSchmach nun lindern – es be-gann aber gleich mit einemschweren Trainingsunfall, beidem das Monocoque des Renn-gefährts beschädigt wurde.Toyota konnte deshalb in Spanicht teilnehmen und bringt denHybrid somit ohne Rennerfah-rung nach Le Mans, gleichwohlaber mit erbittertem Siegeswil-len. „Es ist unser klares Ziel“,sagt Leupen, „als Erster mit ei-nem Hybrid-Fahrzeug Le Manszu gewinnen.“

Weder Toyota noch Audigeht es dabei um eine konstruk-tive Weiterentwicklung derSpartechnik; es geht um Marke-ting. Der Hybrid-Pionier Toyotamag diesen Triumph nicht aus-gerechnet einem Herstellerüberlassen, der bisher sehr we-nig für die Entwicklung diesesMischantriebs geleistet hat.

Audi nutzt den Wagen alsWerbeträger für andere Felder:

Er wird als „e-tron quattro“ antreten, sollalso Audis Verdienste um Elektro- undAllradantrieb illustrieren, Techniken, diedieser Rennwagen nur als Marginalien insich trägt. Sein Sieg wäre doppelte Rekla-me – mithin die perfekte Illusion techni-schen Fortschritts.

CHRISTIAN WÜST

Technik

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A U T O M O B I L E

ElektrischeSchubser

Mit Hybrid-Autos wollen Audiund Toyota das Ausdauerrennen

von Le Mans gewinnen. Macht die Spritspartechnik die

Wagen auch schneller?

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Hybrid-Rennwagen von Toyota, Audi: Pingpong mit Strom

Video: So sehen die Hybrid-Rennwagen aus

Für Smartphone-Benutzer:Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“.

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M A S S E N P S Y C H O L O G I E

Macht und RauschPünktlich zum Beginn der Fußball-Euro pameisterschaft und mitten hineinin die Diskussion um Ultra-Fans undbengalische Feuer eröffnet Kulturstaats-minister Bernd Neumann diesen Diens-tag in der Berliner Akademie der Küns-te eine Ausstellung zum Thema „Cho-reographie der Massen“. Der ArchitektVolkwin Marg vom Büro von Gerkan,Marg und Partner sowie der Architek-turhistoriker Gert Kähler erforschen inTon und Bild ästhetische, soziale undpsychologische Aspekte des modernenStadionbaus. Gleichzeitig widmen siesich zwei Beispielen der Geschichte,dem Berliner Olympiastadion der Nazi-

Spiele von 1936 und demMünchner Olympiastadionder „heiteren Spiele“ von1972. Wie also lassen sichMenschen lenken, etwa ineiner Arena in Pjöngjang,oder: Wie geraten sie außerKontrolle wie vor kurzembeim Bundesliga-Relega -tionsspiel in Düsseldorf? Politisch ist dazu viel gesagt,meistens: Hooligans sindschuld. Wer aber, wie dieKuratoren, das Stadion „alsbauliche Reflexion sozialerOrganisation“ begreift,kommt möglicherweise zueinem anderen Schluss: Sagmir, wie du baust, und ichsage dir, wie sich die Men-schen verhalten.

F E R N S E H E N

Schock and the CityDie neue amerikanische HBO-Fernsehserie „Girls“ liefert dieBestandsaufnahme eines modernen Überlebenskampfs – vonjungen, gutausgebildeten Menschen zwischen unbezahltenPraktika, Neurosen und desillusioniertem Sex. Die Serie übervier junge Frauen in New York ist schockierend, komisch undvon lakonischer Schonungslosigkeit – und als Referenzrahmendient ihr eine andere HBO-Produktion: „Sex and the City“,die vor gut zehn Jahren aus dem Leben von vier nicht mehrganz so jungen New Yorkerinnen erzählte. Diese Frauen hat-ten noch Jobs in Medien oder Werbung, sie lebten in Lofts in

Manhattan, hatten meist glamourösen Sex. Es war eine verlo-gene Welt, die auch dadurch nicht wahrhaftiger wurde, dassdie Serie sie immer wieder ironisch brach. Die vier Mädchenaus „Girls“ aber sind aus Geldmangel nach Brooklyn ausge-wichen. Für die Hauptfigur Hannah, 24 – gespielt von LenaDunham, die gleichzeitig die Erfinderin, Drehbuchschreiberinund Regisseurin der Serie ist –, ist Sex nur noch Bedrohungaus Geschlechtskrankheiten, ungewollten Schwangerschaftenund Unterwerfung, und das New York, das die Serie zeigt,hat nichts mehr von dem einstigen Versprechen, dass jede eshier zu etwas bringen könne. Immerhin sind seit den lustigenGeschichten von „Sex and the City“ diverse Finanz- undSchuldenkrisen über die Stadt gekommen. „Girls“ zeige dasLeben, als würde man es als eine Art frühe Rohfassung leben,schrieb die Zeitschrift „New York“. Ab Herbst zeigt der deut-sche Bezahlsender Glitz die Serie.

HBO/PHOTOFEST

„Girls“-Darstellerinnen Allison Williams, Jemima Kirke, Dunham, Zosia Mamet

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Fans des FC St. Pauli

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N A C H T L E B E N

Von Hasen und HühnernFür 200 D-Mark Honorar hing ein Jesusdarsteller acht Stunden lang amHolzkreuz über der Tanzfläche, darun-ter hüpften Männer in Toga-Tüchernund ein paar „süße Schwabinger Stu-dentinnen“, kostümiert „als lasziveRömerinnen mit Kleidchen aus Nichts“– von solchen Aufregungen, die tat-sächlich in den achtziger Jahren fürBoulevardschlagzeilen sorgten, berich-tet ein neues Buch über den einstmalsberühmtesten Tanzclub in Deutsch-land: das im Münchner Haus derKunst untergebrachte P1. „Du kommsthier nicht rein! Der Mann an der här-testen Tür Deutschlands packt aus“, sosind die Erinnerungen des langjähri-gen Türstehers und zeitweiligen Ge-schäftsführers Klaus Gunschmann beti-telt (Heyne Verlag; 12,99 Euro). JungeFrauen heißen in diesem Buch „Ha-sen“ oder „Hühner“. In den Hauptrol-len: verkrachte Künstler, Zuhälter undSchlägertypen sowie eine stets in Su-perlativen gepriesene Kneipenbesat-zung. In Nebenparts aber treten Welt-stars auf wie Mick Jagger, Tom Cruiseoder Oliver Kahn. Gunschmann, 48,erzählt in einer sehr münchnerischenMischung aus Selbstbegeisterung undLeser-Ankumpelei von den Jahren ab1983, als der Junggastronom MichaelKäfer das P1 übernommen hatte: An-geblich als erster Disco-Betreiber inDeutschland wies er seine Türbediens-

teten an, nach eher willkürlichen Kri-terien auszuwählen, wem Einlass zugewähren sei und wem nicht. „Siehassten uns. Die meisten Leute hieltenmich und meinen Kollegen für Kotz-brocken, denen es Spaß bereitete, mitbrachialer Autorität über den Fortgangder Nacht zu richten“, erzählt Gunsch -mann. Diese Einschätzung ist nichtvöllig falsch. Anekdotenselig schildert

er, wie ein Lude ihn nach Dienst-schluss umbringen wollte, wie ein Son-dereinsatzkommando der Polizei vordem P1 anrückte, als der Rapper Coo-lio am Tischkicker wirbelte – und wasman im P1 gern sah und was nicht:„Hey, in Wahrheit fanden wir es allegeil, wenn es tolldreiste P1-Menschenauf den Toiletten trieben. Ficken istimmerhin besser als Koksen.“

Szene

KINO IN KÜRZE

„Knistern der Zeit – Christoph Schlingensief und

sein Operndorf in Burkina Faso“.Ein heiliger Narr sucht und findet einen Gral – das ist das

Thema von Sibylle Dahrendorfs Dokumentarfilm über das Afri-

ka-Projekt von Christoph Schlingensief. Die Regisseurin zeigt

den Künstler, wie er 2009, ein Jahr vor seinem Tod, nach Bur-

kina Faso reist. Dort, unweit der Hauptstadt Ouagadougou,

suchte Schlingensief einen Standort für sein sogenanntes

Operndorf aus, das einmal ein Gesamtkunstwerk aus Schule,

Krankenstation und Festspielhaus werden soll. Dahrendorf

filmt burkinische Musiker, die Ankunft der ersten Container

mit Theaterstühlen und den Architekten Francis Kéré bei der

Arbeit. Und sie lässt anlässlich der Eröffnung der Operndorf-

Schule im Oktober 2011 die Witwe des Meisters sprechen

sowie die Anwohner der Opernsiedlung. Dah-

rendorfs Film ist voller Neugier, komisch,

anrührend und ziemlich chaotisch – und gera-

de darum der Arbeit des Künstlers, dessen

Sterben und Vermächtnis er dokumentiert,

sehr nah.

Kultur

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P1-Eingang

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P1-Gäste Frederic Prinz von Anhalt 1984, Jagger 1986

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Noah Becker als DJ

„Deutschland von oben“ könnte kaum besser aussehen

als in diesem Film. Die Dokumentarfilmer Petra Höfer und

Freddie Röckenhaus („Terra X“) fliegen über ihre Heimat, um-

kreisen die Gipfel der Alpen, gleiten über das Wattenmeer,

manchmal setzen sie auf dem Boden auf, um sich die deut-

schen Städte genauer anzusehen. Der mit einem Off-Kom-

mentar versehene Film feiert Deutschland als eine wahre

Schönheit. Vorbei die Zeiten, in denen Günter Wallraff in sei-

ner Dokumentation „Ganz unten“ Bergarbeitern in die Tiefe

folgte und Deutschland schwarzmalte. Aus der Höhe wirken

selbst Tagebaugruben, Autobahnkreuze und Stahlwerke gran-

dios. Doch nach fast zwei Stunden Bilderpracht und dröhnen-

der Musik fühlt sich der Zuschauer wie nach einer Dauerwer-

besendung für ein Produkt, das ihm im Grunde schon gehört.

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Documenta-Beiträge von Lê, Durant, Boghiguian (u.): Mit Optimismus gegen Nationalismus, Krieg und Todesstrafe

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Das zweitbrutalste Kunst-objekt dieser Documen-ta wird sich schnell zu

einem der Lieblingswerke derBesucher entwickeln. Es stehtin der idyllischen Karlsaue amEnde einer Allee und vor ei-nem See. Die riesige Konstruk-tion aus hellem Holz ähnelt einem Klettergerüst und besitzteine erhöhte Plattform. Dortoben kann man sich ausruhen,den Ausblick genießen und viel-leicht sogar die Kunst verges-sen. Davor hat ein Eisverkäu -fer seinen Stand, aber das istZufall.

Man sieht dem Gebilde nichtsofort an, dass es ein Schafottsein soll, dass es aus Nachbau-ten von Galgen besteht – wievon jenem, der schon 1863 inden USA benutzt wurde, um 38Dakota-Indianer hinzurichten,oder von dem, mit dem 2006im Irak Saddam Hussein getö-tet wurde.

Das Werk des AmerikanersSam Durant, 50, zur Todesstra-fe ist schlicht und irreführend,eine großartige Arbeit. Schwe-rer auszuhalten dürfte die Vi-deoprojektion des LibanesenRabih Mroué, 44, sein, die dieErmordung von Regimegeg-nern in Syrien dokumentiert.Einige der Aufnahmen stammen von denHandys der Erschossenen.

Oppositionelle filmten Todesschützen,sie filmten noch in dem Moment, als dannauf sie selbst gefeuert wurde. Die Auf-nahmen fanden ihren Weg zu YouTubeund von dort zu Mroué. Am verstörends-ten ist womöglich, dass der Künstler eini-ge Bilder seiner Videos ausdruckte unddaraus ein Daumenkino bastelte. Eine ab-surde Spielerei.

Am kommenden Wochenende beginntdie 13. Ausgabe der Documenta. Und ih -re Leiterin, die Amerikanerin CarolynChristov-Bakargiev, legt viel Wert auf dieFeststellung, dass es kein düsteres Erleb-nis sein wird. „Diese Documenta ist vol-

ler Hoffnung, auch Optimismus.“ Viel-leicht sollte man daher an dieser Stelleden fast fertiggestellten Skulpturengartenfür Menschen und Hunde erwähnen.Oder die ästhetisch perfekte Welle, dieein Künstler in einem minimalistischenBassin hin- und herschwappen lässt, er-zeugt durch einen künstlich hergestelltenMini-Tsunami.

Nur: In großem Maßstab würde er eineKatastrophe auslösen. Und auch das Vor-haben einer Künstlerin, die Erdatmosphä-re zum Welterbe erklären zu lassen, zeugtzwar von Hoffnung – doch ist sie mit ihrem Anliegen, natürlich, gescheitert.

Es geht also um viel auf der Documen-ta 13. Um den Zustand der Welt, der nie

der beste ist, auch um den Zu-stand der Kunst, und darum,wie das alles zusammenhängt.Diese Schau ist eine Beschwö-rung der Kunst. Ihr und nur ihrwird die Kraft unterstellt, dieKonflikte und Traumata dieserWelt lösen und heilen zu kön-nen. Diese Documenta neigtmehr als alle Vorgängerveran-staltungen zur Überhöhung ih-rer selbst – und natürlich zu derihrer Macher.

Schon die Weise, wie dieWerke inszeniert werden, ver-rät viel. Die Arbeiten dürfenviel Raum einnehmen, so alsmüsse jedem Objekt noch Platzfür seine Aura zugestandenwerden. Manche Präsentationwirkt weihevoll. Zu den übli-chen Standorten Museum Fri-dericianum, Documenta-Halle,Orangerie und Hauptbahnhofkommen eigens errichtete Holz-häuser zwischen den Bäumender Karlsaue hinzu, die moder-ne Kapellen sein könnten.

Die Leiterin Christov-Bakar-giev sitzt in ihrem Büro, bietetTee an, in der Ecke liegt ihrMalteserhund. Draußen ver-wandelt sich Kassel in die wich-tigste Kunstschau der Welt. Siespricht von Michel Foucault,von Andy Warhol und auch da-

von, dass sie keine Apple-Produkte ver-wende, weil ihr die Politik dieses Kon-zerns nicht gefalle.

Es ist ihre Documenta, die da entsteht:Ausdruck ihres kuratorischen Selbstbe-wusstseins und ihres moralischen Sen-dungsbewusstseins, Abdruck ihrer An-sichten und ihrer Weltanschauung. Manwird nach der Eröffnung am Samstag we-niger über eine politische Kunst sprechenals über eine Kunst, die für eine gewisseHaltung steht. Und das ist die Haltungder Kuratorin.

Ihre Liste verzeichnet 188 Teilnehmer,etwa 160 Werke wurden neu produziert,also von ihr bestellt. Einige Arbeiten wür-den ohne ihren Einfluss – oder jedenfalls

Kultur

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Documenta-Chefin Christov-Bakargiev: Abdrücke ihrer Ansichten

K U N S T

Die perfekte WelleAm Wochenende startet die 13. Documenta. Erwartet werden eine Million

Besucher. Mehr als 180 Künstler nehmen teil, der größte Star aber ist die Ausstellungsleiterin Carolyn Christov-Bakargiev.

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ohne ihre Anregungen – wahrscheinlichanders aussehen. Sie fragt nach den Be-dingungen, unter denen Kunst in diesenZeiten entsteht. Sie nennt Stichworte wie„unter Belagerung“ oder „im Zustand derHoffnung“, sie kommt durchaus auch zusprechen auf das den Künstlern aufge-zwungene Gefühl, sich wie auf einer Büh-ne bewegen zu müssen – gerade in Kassel.Doch was ist mit ihrer eigenen Rolle, derRolle der Ausstellungsmacherin?

Kuratoren sind die wahren Stars desKunstbetriebs. Sie sind nicht mehr ein-fach nur die Leute, die dafür sorgen, dassdie von ihnen ausgewählten Künstlerpünktlich liefern.

Die Zahl von Überblicksschauen zurzeitgenössischen Kunst nimmt allgemeinzu. Und die Documenta, die alle fünf Jah-re in Kassel stattfindet, ist das Vorbild fürdie dominierende Form der Kunstpräsen-tation: Man zeigt möglichst viele Werke,100 oder gar 200 – und die inhaltlicheKlammer besteht darin, dass diese Arbei-ten den Geschmack des Kurators treffen,dass sie seinen Thesen entsprechen. DieSubjektivität in der Kunst ist längst diedes Kurators. Er ist der Visionär, dieAvantgarde.

Carolyn Christov-Bakargiev ist 54 Jahrealt. Ihr Vater war ein Arzt aus Bulgarien,ihre Mutter eine italienische Archäologin.Sie ist in den USA geboren, hat Literaturund Kunstgeschichte in Italien studiert,als Journalistin gearbeitet. Sie war Kura-torin in New York, auch in Turin, sie hatals Leiterin der Kunstbiennale in Sydneydie Besucherzahlen um 38 Prozent auf436000 gesteigert, und nun will sie zumersten Mal bei einer Documenta mehr alseine Million Kunstinteressierte nach Kas-sel locken. Das wären 250000 mehr als2007 bei ihrem Vorgänger Roger Buergel,dem damit bereits ein Rekord gelang. Sieerwähnt das mit der Million gleich zu Be-ginn des Gesprächs, ganz unbescheiden.

Viel von dem, was nun in Kassel zumkünstlerischen Motiv wird, lässt sich ausder Biografie der Kuratorin ableiten. IhreMutter versammelte in Washington Geg-ner des Vietnam-Kriegs um sich. Ihr Vaterflüchtete aus seiner Heimat Bulgarien.Das Engagement des Einzelnen, die er-zwungene Wurzellosigkeit vieler Men-schen, die in dem Bewusstsein leben, aneinem Ort sein zu müssen und an einemanderen Ort sein zu wollen, das sind fürsie Themen.

Diaspora-Künstler nennt Christov-Ba-kargiev Leute wie den gebürtigen Viet-namesen Dinh Q. Lê, 44. Seine Familieflüchtete in den späten siebziger Jahrenüber Thailand nach Amerika. Dort lebteer seit dem Teenageralter, kehrte späterin seine Heimat zurück und gründete einKunstzentrum. In Kassel wird er Zeich-nungen von alten Vietcong-Kriegsmalernausstellen, und zwar keine der für die Öf-fentlichkeit entstandenen Propaganda -

stücke, sondern die privaten Skizzen: mu-sizierende Soldaten; Männer, die lesen,schreiben, baden; Frauen in ziviler Klei-dung und mit Gewehr in der Hand. DasAlltägliche aber passt nicht zum Krieg,es lässt ihn noch grotesker erscheinen,und so werden die Bilder zu Mahnmalen.

Es sind nicht die einzigen. Michael Ra-kowitz, 38, ist ein Amerikaner mit jü-disch-irakischen Wurzeln. Vor ein paarMonaten hat er begonnen, in Afghanistaneinheimische Studenten in der Steinbild-hauerei zu schulen. Er unterrichtete siein Bamian, in dem Tal, wo die Taliban2001 die weltberühmten, 1500 Jahre altenBuddha-Statuen sprengten.

Ausgerechnet dort, in Afghanistan, er-schufen sie aus Bamian-Stein neu, waseinst in Deutschland zerstört worden war.

Sie bildeten Bücher nach, oder doch we-nigstens deren Form, die 1941 verbrann-ten, als Bomben die Bibliothek im Kasse-ler Fridericianum trafen.

Rakowitz hat alte Fotos gesehen, dar -auf Kinder, die versuchen, Bücher zu ret-ten. Ihn habe das sehr bewegt, sagt er.Nun hat er einige der Bücher ins Frideri-cianum zurückgebracht, oder zumindestihre Stellvertreter aus Stein. Man kannsie nicht lesen, aber sie zeigen den Verlustvon Kultur durch Krieg.

In den USA ist Rakowitz vor allem we-gen seiner „Enemy Kitchen“ ein Begriff.Er kocht irakische Rezepte nach, in Schu-len, Universitäten, Ausstellungen. Zuletztmietete er für seine „Feindesküche“ ei-nen Truck. Irak-Kriegs-Veteranen helfendarin beim Zubereiten der Speisen. Er

Kultur

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Documenta-Werke von Rakowitz, Favaretto, Mroué, Wedemeyer (r.): Weihevolle Präsentationen

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könnte von der Kocherei wahrscheinlichlängst leben, sagt er und lacht.

Die Ästhetik ordnet sich bei den Do-cumenta-Künstlern dem guten Zweck un-ter. Das muss aber nicht gegen sie spre-chen. Gegenwartskunst darf wie bei Ra-kowitz aus Stein gemeißelt sein und inaltmodischen Vitrinen ausgestellt werden,obwohl das anachronistisch wirkt. Kunstdarf am Herd entstehen, sie darf ausFundstücken bestehen, aus Zeichnungen,die man nicht selber schafft, sondern beiehemaligen Vietcong-Soldaten auftreibt.Sie darf sich bei YouTube bedienen.

Der Künstler Tino Sehgal engagierteTänzer, die auf die Bewegungen der Be-sucher reagieren werden, nennt diese Auf-führungen aber Skulpturen. Sehgal, 35,gehört zu den Teilnehmern, die längst als

Stars der Kunstwelt geführt werden.Künstler sind, mehr denn je, Ideenliefe-ranten, Impulsgeber, Choreografen. Sienähern sich der Arbeitsweise und demLeitbild des Kurators an. Angekündigtworden war diese Documenta übrigensals eine Schau ohne Konzept, ohne The-ma. Nur ein Motto wurde genannt: „Zu-sammenbruch und Wiederaufbau“.

Als Erstes führte Christov-Bakargievviele ihrer Künstler in eine Klosteranlagenahe Kassel. Das Kloster Breitenau warim 19. Jahrhundert in eine Besserungs -anstalt für Bettler und Prostituierte um-gewandelt worden, später richteten dieNazis dort ein Konzentrationslager ein.1952 – wenige Jahre vor der ersten, soatemberaubend zeitgemäßen Documen-ta – entstand dort ein Umerziehungsheim

für Mädchen. Eine Journalistin namensUlrike Meinhof prangerte Ende der sech-ziger Jahre in einem Rundfunkbeitrag diedortigen Missstände an. Auch dieses En-gagement für die der Gewalt ausgesetztenMädchen führte zu Meinhofs politischerRadikalisierung.

Es ist ein Ort der Unterwerfung, desAusschlusses, der Vernichtung. Die Grün-dung einer psychiatrischen Anstalt sollte1974 ein Neuanfang sein.

Christov-Bakargiev sagt, sie mache kei-ne Ausstellung zum Thema Gefängnisse,aber wenn man Breitenau kenne, erfahreman eine Menge über ihre Documenta.Breitenau ist womöglich sogar das Zen-trum, das dann doch düstere Herz dieserSchau. Clemens von Wedemeyer, derdeutsche Filmkünstler, hat für die Aus-stellung ein Videotriptychon über Brei -tenau geschaffen und damit ein Werk zurdeutschen Geschichte.

Christov-Bakargiev hat an alles und jeden gedacht, ihre Documenta ist intel-lektuell genug für die Intellektuellen, feministisch für die Feministinnen, mas-sentauglich, emotional, gelegentlich er-staunlich naiv, sie ist sogar tierlieb undüberhaupt ganzheitlich. Das Essen wirdbiologisch sein, das Papier der Katalogeumweltfreundlich. Sie hat arrivierteKünstler geladen wie William Kentridge,Pierre Huyghe und Rosemarie Trockelund solche, die echte Entdeckungen sind.Etwa die ägyptische Künstlerin AnnaBoghi guian, die 65 Jahre alt ist und außereiner Installation expressive autobiogra-fische Zeichnungen zeigt. Einige fast ab -strakt, andere schemenhaft. Worte wie„Nationalismus“ tauchen auf, manchmalFotos von Reisen durch die ganze Welt.Kunst im alten Sinne, Kunst, die entsteht,weil der Künstler nicht anders kann.

Alles ist ausbalanciert. Dass mancheKunstwerke schwächer sind als andere,dass eine Landschaft aus Schrott – kom-poniert von der Italienerin Lara Favaret-to – zwar imposant und bedrohlich, aberauch ziemlich plakativ wirkt, ist das klei-nere Problem.

Das größere besteht darin, dass dieseDocumenta so unbedingt alles richtig ma-chen will. In solchen Fällen springt derFunke schwerer über.

Für die Stimmung sind manchmal Klei-nigkeiten entscheidend. Gerade erst hatsich die Kuratorin – unter bundesweiterBeobachtung – mit einer nahen Kirchen-gemeinde angelegt, weil die im Rahmeneiner eigenen Ausstellung eine Skulpturauf ihrem Kirchturm installiert hatte.Christov-Bakargiev aber befürchtete, mankönne das Werk mit Documenta-Kunstverwechseln. Ihre Forderung nach Entfer-nung dieser Figur wirkte überzogen, un-geschickt.

Und nun gucken alle erst recht auf denKirchturm.

ULRIKE KNÖFEL

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mit viel Platz für die Aura

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Was an der Beschäftigung mit den Piraten wohl ammeisten verstört, ist die Bereitschaft vieler Meinungs-macher zur Regression. Was müssen wir mit unserem

Latein am Ende sein, wenn wir die Zukunft in die Hände diesermal ratlosen, mal zynischen Rasselbande legen wollen. Wirscheinen auf eine neue Jugendrevolte zu hoffen – wer kannschon den Kapitalismus leiden in diesen Tagen! Aber was fürein Trugschluss, sie unter den Piraten zu suchen. Der neueMensch, der sich da so auffällig in Szene setzt, ist erst mal nurein junger Mensch, der anders spricht und anders konsumiert.

Eine ganze Gesellschaft lächelt nachsichtig über den Netz -revolutionär, um nicht als dumm oder gestrig oder dummgestrigzu gelten. Der Streit ums Urheberrecht hat das einmal mehrvorgeführt. Stets geht es um diesen imaginären 17-Jährigen(oder noch Jüngeren), der mal einen Song „aus dem Netz“ her -untergeladen hat und nun vor maßlosen Verfolgungen durchbösartige Inkassounternehmen geschützt werden soll. Ja, einganzer rechtlicher Rahmen soll korrumpiert werden, um diesenWohlstandsteenager zu schützen, der den neuesten Lady-Gaga-Song kostenfrei haben will.

Meistens stellt man ihn sich als umweltbewegten idealisti-schen Nerd ohne Taschengeld vor. Wieso eigentlich? Könnteer nicht auch ein aufgepumpter Bully sein, der anderen Kinderndas Handy wegnimmt?

Doch die Bullerbü-Version eines geistesgeschichtlichen Epo-chenwandels hält sich hartnäckig. Vielleicht weil auch die neu-en, jungen Netzmenschen ihren Jargon der Eigentlichkeit ha-ben. Es ist nicht das ontologische Murmeln Heideggers, sonderndas genauso erratische Mechaniker-Gequatsche von Program-mierern. Er, der Netzaktivist, liest das amerikanische „Wired“-

Magazin, schwärmt von 3-D-Druckern, die Geschirr ausspuckenund anderes Zeug, hat immer das „nächste große Ding“ im Vi-sier und sowieso das Gefühl, die anderen, die Unwissenden,meilenweit abzuhängen.

Und plötzlich schweben Erfindungen wie „Liquid Democra-cy“ über uns wie bunte Luftballons über einem ewigen Kin-dergeburtstag und sollen die Welt retten.

Sie geben sich kapitalismuskritisch, aber ihre Vorstöße zumUrheberrecht sind nichts anderes als Aufstände aus der Weltder Wohlstandsverwahrlosten, die alles umsonst haben wollenund ergo diejenigen, die ihnen das verweigern, als „humorlos“beschimpfen. Die Autoren und Künstler, die sich mit ihremAufruf gegen die Ideologie des Massenklaus zur Wehr setzten,seien, so heißt es, aufgeblasen und machten Angst. Auf ihremWeg in eine grandiose Zukunft haben die Kids zwar noch keineAntworten, aber sie fühlen sich den „professionellen Antwort-habern“ moralisch um Meilen voraus.

Wie vor knapp einem halben Jahrhundert scheint der Jugend -kult der wirksamste Schutz für jede Sauerei zu sein. In einer101 Punkte umfassenden Liste zu einem neuen Urheberrechtmeldeten sich 101 Piraten mit ihren Eingaben. Schon der zweiteEintrag spricht mahnend davon, dass derzeit „Kids krimina -lisiert werden, die nichts anderes tun als wir damals, wenn wirKassetten auf dem Schulhof getauscht und kopiert haben“. Essind doch Kinder, herrgottnochmal!

Die Piraten formulieren ihre Bürgerverachtung mit der glei-chen Überheblichkeit wie die 68er. Der Unterschied: Damalswurde gelesen, gelesen, gelesen. Ein Emblem der 68er war derBüchertisch vor der Uni-Mensa mit, jawohl, den Raubdruckenvon Benjamin, Trotzki, Bakunin, Adorno, Reich. Doch dieser

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D E B A T T E

Der neue MenschÜber die alberne Hoffnung auf eine Jugendrevolte im Netz

Von Matthias Matussek

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Delegierte beim Piraten-Parteitag: Ein Cybernauten-Traum von Erlösung und ewigem Leben im Internet

Kultur

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revolutionäre Bildungshunger etablierte tatsächlich einen Ka-non unterdrückter Literatur. In der Copy-and-Paste-Kultur desNetzes von heute dagegen wird nicht mehr gelesen, sonderngescannt. Von Büchern bleiben Slogans und Klappentexte, undschon das ist eine Entwertung der Autoren.

Möglicherweise verdankt sich die dröhnende politische Leerealler Piraten-Verlautbarungen dieser feuilletonistischen Jagd nachdem neuesten Reiz. Dem nächsten Ding. Übrig bleibt das tau to -lo gische „Dada“ der Netzavantgarde, die in erster Linie auf –das Netz verweist. Sie macht ihre Methode zum Inhalt, und die -se Mechanik greift über auf andere Protestmilieus. In der NewYorker Occupy-Zeltstadt, dem Happening für Kapitalismus kri -tiker, war es die Methode des „menschlichen Megafons“, die gefeiert wurde, und nichts als das. Einer spricht vor, 5 sprechennach, dann 50, dann 500. Dass auf diese Weise nicht mehr trans-portiert werden kann als die verkürzte Losung, macht nichts.Auf solchem Entdeckerniveau wird an der neuen Welt gebastelt.Es ist das Theorieniveau des „Yps“-Magazins, das uns erklärte,wie man mit einer Scherbe und einer Paketschnur Feuer macht.

In den albernen Trivialmythen der neuen Netznomaden flie-ßen unübersehbare Elemente der Science-Fiction-Literatur undder Comics zusammen. Die Kolumne des sicherlich amüsantestenNetzkolumnisten, des Irokesen Sascha Lobo, heißt: „Die Mensch-Maschine“. Darin steckt der Cybernautentraum von Erlösungund ewigem Leben im Netz, natürlich eine kindische theologischeTravestie, die aber unendlich viele Phantasien befeuert. Derneue, der erlöste, der gerechtfertigte Mensch ist der verkabelte– erste Exemplare lassen sich auf den Parteitagen der Piratenhinter dem Kabelsalat ihrer Rechner be-sichtigen. Die reale Welt, das ist derGrundverdacht vieler Piraten-Aktivisten,verdankt ihre Probleme Programmierfeh-lern, die zu beheben wären.

Diese Maschinenmenschen rufen zwarständig den Tod des Autors aus, aber dastun sie dann doch mit der allergrößtenAutoren-Angeberei. Alles, so die Be-hauptung, sei ein großer Textfluss, derüber die Bildschirme ströme, der von Tausenden Autoren stam-me und sich nur zufällig verdichte im Einzelnen. Da ist der Ge-danke an eine völkische Textgemeinschaft nicht weit. Interes-santerweise wurde der Urhebergedanke auch während derNazi-Zeit stark abgewertet – da galt der Autor dann lediglichals „Treuhänder des Werkes“ für die Volksgemeinschaft.

Ihr Protest, so die Piraten, richte sich gegen die Verwerter,ein Begriff, der eine grauenhafte Konnotation enthält, näm-lich die einer selbst nicht kreativen Zwischenschicht, die

sich vampiristisch auf der einen Seite am Talent und auf deranderen Seite am (Netz-)Volk gütlich tut. In den Karikaturender dreißiger Jahre kam sie als Parasitenbande von jüdischenKrämern, Händlern und Finanzbossen vor.

Wird der Netzrevolutionär die Welt retten? Quatsch! Er ko-piert lediglich überholte Protestformen. Sibylle Lewi tscharoff,Autorin des wunderbaren Romans „Blumenberg“, erkanntejüngst in der Anmaßung der Piraten Ideologeme der eigenenKulturkampfzeit wieder. Sie erinnerte sich – in der „FrankfurterAllgemeinen“ – an Tage, als der Diebstahl von Büchern als re-volutionäre Tat galt. Es waren die Tage der „Klau mich“-Be-wegung. Doch dann, mit 17, sei ihr klar geworden, wie kurzge-schlossen dieses Indianerspiel war.

Für sie stand tatsächlich Kultur auf dem Spiel, und dazu ge-hörte durchaus die Tatsache, dass man warten musste, bis mansich leisten konnte, das betreffende Buch – bei ihr war es einesüber Kathedralen – besitzerstolz nach Hause zu tragen. Auchdieser kultivierte Triebaufschub erhöhte ihr den Wert des Buchs.Mit der Subito-Befriedigung durch einen Buchklau im Netz da-gegen wird das Werk entwertet und der Autor. Uns kommt etwasabhanden: die Achtung vor geistiger Leistung. Und die vorm

Mitmenschen. Das Unrechtsbewusstsein schwindet, es sei denn,es handelt sich um Politiker, die man nicht mag – dann bildendie Plagiatsfahnder die allergehässigsten Jagdgemeinschaften.

Die französischen Revolutionäre hatten im Urheberrechtnoch das Naturrecht und ergo: ein Menschenrecht er-kannt. Schon immer haben sich Autoren gegen das

Pirateriewesen zur Wehr gesetzt. Charles Dickens zum Beispiel,der unermüdliche Agitator gegen die Elendsverhältnisse desFrühkapitalismus, verwandelte seine erste Amerika-Reise ineine Kampagne gegen amerikanische Raubkopisten und machtesich die Nation zum Feind.

Dickens genoss seinen Ruhm – und kämpfte um Honorare.Aber da wären ihm die Leviten gelesen worden von Pavel Mayer,einem Cheftheoretiker der Piraten: „Materielle Unzufrieden-heit bei den Wohlhabenderen ist primär ein Problem fehlgelei-teter Willensbildung.“ Womit wir dann Bullerbü verlassen unduns direkt ins Reich der Umerziehungslager begeben.

Mayer ist nicht irgendeiner. Er rühmt sich als Verfasser derAbhandlung „Braucht die Welt die Piratenpartei oder die An-kunft der zweiten postmateriellen Internationale“. Es geht darin– wie im ehrwürdigen „Kommunistischen Manifest“ – um nichtsGeringeres als den Epochenwandel und den neuen Menschen.Mayer ist ein erster Bewohner der postmaterialistischen Welt.Er muss zwar weiterhin im Supermarkt einkaufen und bezah -len (warum eigentlich?) und wahrscheinlich auch aufs Klo undganz gewöhnliche Grippen durchstehen, aber ansonsten ist er –frei! O-Ton Mayer: „Die Piraten sind sogar derart postmateria-

listisch, dass man wohl treffender den Begriff ‚Immaterialisten‘ für die Piraten-partei nehmen sollte.“ Klingt das nichtdoch stark nach einem dieser kontakt -gestörten Spinner aus der US-Soap „TheBig-Bang-Theory“?

Piraten leben von einer höchst zwie-lichtigen Selbstlegitimation als Kultur -revolutionäre, sind aber ohne jeden mo-ralischen Kompass unterwegs. Was auf-

fällt, ist, so die „FAZ“, eine „leichtentzünd liche Wut“, mit dersie alle überziehen, die weniger ergriffen sind vom Internet alssie selber. Sie sind: dagegen. Sie sind: die Reaktion auf Origi-nale. Sie reagieren „auf offizielles Zeug“, sagt Marina Weis-band, und die ist noch eine der Sympathischen.

Sie wollen die totale Transparenz, sie wollen ohne Hierar-chien arbeiten. Das ist die nicht gerade neue Utopie, die sie inunser System tragen wollen. Im New Yorker Zuccotti-Park wur-de sie von den Occupy-Aktivisten schon einmal versucht. Siescheiterten bereits an den Trommlern, die sich auf der Südseitedes Parks breitgemacht hatten und alle anderen terrorisierten– mit ihrem Trommeln, auf dem sie als ihrer Form der Kommu-nikation bestanden. Außerdem gelang es nicht, der Übergriffeauf Frauen oder der Drogendealer Herr zu werden, geschweigedenn, den Kapitalismus zu überwinden.

Das Vertrackte am Traum totaler Herrschaftsfreiheit ist ja,dass er in der Praxis Repressionsapparate und Terror geradezugebiert. Müssen wir das immer neu lernen? Die naive Spaß-guerilla der Kommune 1 hat durchaus mitgearbeitet am Terrorder RAF, weil sie den Systemsturz zu Pop machte. Gleichzeitighaben die Aktionen der amerikanischen SDS (Students for aDemocratic Society) und der radikalen Yippies letztlich erstzum Wahlsieg Nixons geführt.

Die Verletzungsbereitschaft und die Geistfeindlichkeit man-cher Netzpropagandisten und Kolumnisten sprechen jenseitsaller Inhalte eine eigene Sprache. Es ist das rote Glühen einerneuen Religiosität, einer Selbstgerechtigkeit, die mit Zauderernnicht viel Federlesens machen wird. Auch das Begeisterungs-feuer von Halbwüchsigen kann, wie wir von den totalitärenJugendkohorten des vergangenen Jahrhunderts wissen, zu Ver-heerungen führen. �

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Ein Aufstand aus der Weltder Wohlstands -

verwahrlosten, die alles umsonst haben wollen.

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Über Sex reden. Als ich vier Jahrealt war, kam ich in einen Kinder-garten für sexuelle Frühaufklä-

rung. Wie in jedem Kindergarten habenwir dort gemalt, gesungen und getobt,und manchmal saßen wir im Schneider-sitz in einem Kreis, um darüber zu spre-chen, wie Babys entstehen. Das NDR-Fernsehen hat damals eine Dokumen -tation gedreht, sie zeigt Jungen und Mädchen, die zwei nackte Puppen herum-reichen und sagen sollen, worin sich die

Ann-Marlene Henning, Tina Bremer-Olszewski: „MakeLove“. Verlag Rogner & Bernhard, Berlin; 256 Seiten;22,95 Euro.

beiden unterscheiden. Es wird ein biss-chen gedruckst, gekichert, schließlichfasst sich ein Mädchen ein Herz: „Ist dochklar, der Junge hat einen Penis, das Mäd-chen eine Scheide.“ Das war 1970. Dieganze Gesell schaft, na ja, fast die ganzeGesellschaft redete damals über Sex.

Heute schweigen wir vom Sex. Wir zei-gen ihn nur noch. An den Litfaßsäulenhängen riesige H&M-Plakate für die Ba-demode dieses Sommers; mit zwei Klickskann jeder auf die Internetseite von You-Porn gelangen; in den Wartezonen vonFlughäfen laufen Videos von Lady Gaga.Wie offen eine Gesellschaft mit Sexualitätumgeht, sagt immer auch etwas aus über

ihren Umgang mit der Freiheit an sich.Doch die allgegenwärtigen Bilder führenzu einem Verstummen. Was soll mannoch sagen, wenn alles gezeigt wird.

Mein Sohn ist bald zwölf Jahre alt. DieKinder und Jugendlichen von heute kön-nen, wenn sie wollen, alles gesehen haben,bevor sie auch nur ihren ersten Kuss erle-ben. Was bedeutet das für ihr späte res Liebesleben? Und wie soll man sich alsMutter oder Vater da eigentlich verhalten?

Aufklärung war zwischen Eltern undKindern nie ideal aufgehoben, zu vielScham ist im Spiel. Auf Seiten der Kinderstellt sich die unausgesprochene Frage:Wie macht ihr es eigentlich?, auf die viele

Kultur

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S E X U A L I T Ä T

Liebe in Zeiten der PornografieWenn Kinder und Jugendliche wissen wollen, was Sex ist, suchen sie Antworten im Internet.

Soziologen sprechen von der Generation Porno. Ein Berliner Verlag veröffentlicht dennoch ein Aufklärungsbuch für diejenigen, die schon alles gesehen haben. Von Claudia Voigt

Junge Paare beim Sex (Fotos aus „Make Love“): Die ganze Bandbreite des Begehrens

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Kinder aber keinesfalls eine Antwort be-kommen möchten. Auf Seiten der Elternherrscht nicht selten Verlegenheit, weilüber Sex zu sprechen auch immer einNachdenken über das eigene Liebeslebenbedeutet.

Viele Jahre erlösten Kindergärtnerin-nen und Biologielehrer die meisten Fa-milien aus dieser Situation. Inzwischenhaben die Bilder schleichend die Herr-schaft übernommen, gegen ihre Machtsind die Schautafeln und Fachbegriffe imSchulunterricht nur noch lächerlich. Gibtes einen Weg aus dieser Misere?

Ein Aufklärungsbuch scheint da zu-nächst eine Idee von gestern zu sein.„Make Love“ heißt es, und der Titel er -innert vermutlich nicht nur zufällig andie Flowerpower-Zeit der siebziger Jahre.Das Buch sieht gut aus, es hatfestes Papier, ein klares, farbi-ges Layout, die Leute vom Ver-lag haben sich offensichtlichMühe gegeben, ein coolesBuch zu gestalten.

Auf dem Titelbild sind einJunge und ein Mädchen zu se-hen, die sich küssen. Fotosspielen überhaupt eine ent-scheidende Rolle in diesemBuch. Die Fotografin Heji Shin

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hat für „Make Love“ Paare fotografiert,die Sex miteinander haben, echten Sex.Ein Buch für die Generation, die schonalles gesehen hat.

Gleichzeitig gibt es eine Menge Textin „Make Love“, denn es ist auch ein idea-listisches Buch, eines, das die Sprachlo-sigkeit beenden möchte. Gleich in derEinleitung listen die Autorinnen Ann-Marlene Henning und Tina Bremer-Ol -szewski alle Wörter auf, die ihnen für dasweibliche und das männliche Geschlechts -organ einfallen, von Muschi bis Funkturmsind es zusammengenommen fast 140 Be-griffe. Manche davon sind abwegig, an-dere lustig, es ist eine Liste kleiner Tabu-brüche, ein leichthändiger Einstieg.

Der Text richtet sich direkt an den ju-gendlichen Leser. „Es begann schon imTraum. Jedenfalls bist du mit dieser Lustaufgewacht. So viel Lust, dass du dich an-fassen willst.“ Die Kapitel heißen „Daserste Mal“, „Das zweite Mal“ oder „Durchdie Betten“. Es ist ein Ratgeberbuch fürdie sogenannte Generation Porno.

„Heute gibt es ja mehr Bücher übersJoggen als über Sex“, sagt die AutorinHenning. Sie wurde in Dänemark gebo-ren, studierte in Deutschland Psycholo-gie, in Dänemark Sexologie (das Fachheißt tatsächlich so) und arbeitet heuteals Paar- und Sexualtherapeutin in Ham-burg.

Henning hat eine klare Botschaft anihre Leser: Wenn ihr miteinander schlaft,redet auch miteinander. Es ist ein Buchüber das Vergnügen am Sex. Schwanger-schaft und Krankheiten kommen nur amRande vor. Stattdessen gibt es eine Seiteüber Porno-Lügen, und durch das ganzeBuch zieht sich der Appell, die eigenenWünsche und Grenzen kennenzulernen,sie ernst zu nehmen und mit dem Partnerdarüber zu sprechen.

Sprechen, Reden, Kommunikation –trotz seines betont jugendlichen Tonfallsliest sich das Buch sehr pädagogisch. Wä-ren da nicht die Fotos von Heji Shin, hätte„Make Love“ auch schon vor 40 Jahrenerscheinen können.

Es sind romantische Fotos darunter mitverliebten Blicken und Liebkosungen,und es gibt ganz explizite Fotos, erigiertePenisse, gespreizte Schamlippen, Blow -jobs. „Die Absicht war zu zeigen, wie un-terschiedlich Sexualität von Jugendlichengelebt wird“, sagt die Fotografin Heji

Shin. Die Bandbreite sexuellenBegehrens.

Shin hat die Paare in Berlinauf der Straße oder in Cafésangesprochen, Schwule, Les-ben und Heteros, auch einTranssexueller ist zu sehen,etwa zwei Drittel der Ange-sprochenen waren bereit, beidem Projekt mitzumachen.Vorher hatte die Fotografinauch in Hamburg versucht,

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junge Männer und Frauen zu finden, er-folglos. „Dieses Projekt war so wohl ambesten in Berlin möglich“, sagt Shin, diein Süd korea geboren wurde und heute inBerlin lebt. Weil es hier eine Jugendkul-tur gebe wie in keiner anderen Stadt, inder es dar um gehe, flügge zu werden,Fami lienballast abzuwerfen.

Mehrmals haben sich die Fotografinund die Frauen und Männer, die zwischen18 und 25 Jahre alt waren, in privatenWohnungen getroffen, es gab keine ge-nauen Verabredungen für diese Treffen,jedes Paar ist so weit gegangen, wie eswollte. Shin hielt sich im Hintergrund undnahm keinen Einfluss, aber es ist natür-lich ihr subjektiver Blick auf das Gesche-hen, der sichtbar wird. Die jungen Leutesollten sich in den Fotos wiederfindenkönnen, deswegen war es Shin wichtig,dass wirklicher Sex auf den Bildern er-kennbar ist.

Es wird Diskussionen geben um dieseFotos. Weil sie pornografisch sind undgleichzeitig die Gefühle der Menscheneinfangen, die auf ihnen zu sehen sind.Es sind Fotos, die den Betrachter in dieRolle eines Voyeurs drängen. Wenn siein einer Galerie hingen, wäre das einebeachtliche Ausstellung.

Aber weil sie in einem Aufklärungs-buch veröffentlicht werden, haftet ihnenauch etwas Anbiederndes an. Sie solleneinen Anreiz liefern, dieses Buch in dieHand zu nehmen. Nicht die Grenzüber-schreitung ist das Problem, sondern dasEingeständnis, dass wir beim öffentlichenReden und Schreiben über Sex offensicht-lich nicht mehr hinter Bilder voller Geil-heit zurückkönnen.

Es gab vor fast vierzig Jahren schoneinmal ein Aufklärungsbuch, dessen Fotosdiskutiert wurden. „Zeig mal!“, hieß es.Auf Wunsch des Fotografen Will McBridewurde es Mitte der neunziger Jahre vomMarkt genommen, weil sich McBridenicht mehr länger dem Vorwurf der Pädo -philie aussetzen wollte. Heute ist „Zeigmal!“ nur noch gebraucht zu kaufen oderin Bibliotheken auszuleihen.

McBride hatte ein etwa fünf Jahre altesMädchen und einen gleichaltrigen Jungenfotografiert, die ihre Körper entdecktenund untersuchten. Neu und bahnbre-chend an McBrides Projekt war, dassnicht Text und Schaubilder, sondern Fo-tos die Funktion übernahmen, aufkläre-risch zu wirken.

Von heute aus betrachtet haben Mc -Brides Aufnahmen etwas Unschuldiges,und genau wie Heji Shins Fotos für„Make Love“ sind sie ein Ausdruck derZeit, in der sie entstanden sind.

Zu Beginn der siebziger Jahre ereigne-ten sich die großen Veränderungen in derSexualität. Mit der Einführung der Pillerutschte das durchschnittliche Alter beim„ersten Mal“ von Anfang 20 auf 17 Jahre.Heute liegt es bei 16. Die Pille veränderte

Kultur

D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 2140

BestsellerBelletristik

1 (1) Jonas Jonasson Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand Carl’s Books; 14,99 Euro

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7 (4) Suzanne CollinsDie Tribute von Panem – TödlicheSpiele Oetinger; 17,90 Euro

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Berührender Selbstfindungs-roman: Während eines

langen Fußmarschs lernt ein Renter, sich selbst

und das Leben zu begreifen

Page 141: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

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die ganze Gesellschaft. Ohne Pille wäredie 68er-Bewegung nicht denkbar gewe-sen, und bald sollte auch die Erziehungder Kinder im Geist von Liberalität undFreiheit erfolgen. Sexuelle Frühaufklärungim Kindergarten war eine größere Selbst-verständlichkeit, als man heute denkt.

Heute stellt sich die Frage, ob die all-gegenwärtige Pornografie für Sex undAufklärung eine ähnlich nachhaltige Ver-änderung bedeutet wie die Pille damals.

Die Soziologin Silja Matthiesen arbei-tet im Hamburger Institut für Sexualfor-schung und Forensische Psychiatrie. Siehat zwischen 2009 und 2011 eine um -fassende Studie über das Sexleben vonJugendlichen geleitet („Sexuelle und so-ziale Beziehungen 17- und 18-jährigerFrauen und Männer“). Auslöser war diezunehmende öffentliche Diskussion umdie Generation Porno und um se xuel leVerwahrlosung.

Die Ergebnisse sind überraschend. Diejungen Männer und Frauen haben heuteeher traditionelle Wünsche nach Liebeund Treue. Manche Beziehung dauert allerdings nur drei Monate, die nächsteschließt sich an, serielle Monogamie nenntman das. Offensichtlich können die Ju-gendlichen eine klare Trennung zwischenihrem eigenen Liebesleben und dem Sexin Porno-Filmen ziehen. Sie unterscheidenzwischen den Wünschen, die sie an ihrenPartner oder an ihre Partnerin haben, undden Bildern, die sie aus Pornos kennen.Die echte Welt, die unechte Welt.

Wobei die meisten Jungs gern Pornosgucken – es gilt unter ihnen durchaus alsSymbol von Männlichkeit, die eine oderandere Sequenz auf dem Handy zu ha-ben. Und natürlich schauen sie sich manche Stellung ab. Die Mädchen dage-gen üben ihr weibliches Rollenverständ -nis ein, indem sie Pornos erst mal ekligfinden und wenig damit zu tun haben wollen. In ihren Beziehungen aber wün-schen sich beide Geschlechter Sex mit Gefühlen.

Das alles klingt so, als profitierten diejungen Frauen und Männer auch heutenoch von der Offenheit, die mit der Ideeder sexuellen Aufklärung in die Gesell-schaft kam. Es klingt auch so, als ob siemiteinander über Sex redeten. Und siescheinen souveräner mit Pornos und ihrereigenen Lust umgehen zu können, alswir, ihre Mütter und Väter, uns das vor-stellen können. Womöglich sind wir dieÜberforderten, die Generation, für diedie Dr.-Sommer-Kolumnen in der „Bra-vo“ schon den Hauch des Verbotenenhatten und erst recht der „Playboy“, denman auf dem Flohmarkt kaufte.

Es klingt so, als könnten wir unserenSöhnen und Töchtern zutrauen, in einerWelt voller sexualisierter Bilder ihren eigenen Weg zu finden zu dem Gefühlund zu den Worten: Ich liebe dich. Unddas ist doch mal eine gute Nachricht. �

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Sachbücher

Sarrazins Euro-Schelte:zähes Zahlenwerk

zur finanziellen Lage der Nationen

Page 142: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

Kultur

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Die Couch – die Werkbank des Psy-choanalytikers – hat einen promi-nenten Platz im Arbeitszimmer

von Elisabeth Roudinesco in Paris, ob-wohl die Wissenschaftlerin und Publizis-tin seit längerem nicht mehr praktiziert.Sie kam nach dem Studium über den Um-weg der Literatur und der Philosophiezur Psychoanalyse, deren Theorie undGeschichte sie seitdem erforscht.

Zusammen mit dem marxistischen Phi-losophen Alain Badiou hat Roudinesco,67, jetzt einen Appell zur Rettung derebenso schillernden wie umstrittenen Disziplin veröffentlicht. Denn die Psy -choanalyse, die sich bis in die sechzigerJah re hinein in einem scheinbar unauf -halt samen Siegeszug um die Welt verbrei-tete und in den USA eine Modeerschei-nung wurde, ist heute für die Deutungund Behandlung psychischer Krankhei -ten in den meisten Ländern marginal geworden.

Die kognitive Psychologie, die denMenschen als informationsverarbeitendesSystem begreift, die Verhaltenstherapie,die sich mit den Möglichkeiten dermenschlichen Lernfähigkeit beschäftigt,die Neurowissenschaften mit der Erfor-schung der Gehirnfunktionen und dieVerbreitung hochwirksamer Psychophar-maka haben sie an den Rand gedrängt.

Frankreich, wo 6000 Psychoanalytikereingetragen sind, gilt als eine ihrer letztenBastionen – vor allem auch dank einerReihe von berühmten Vordenkern wiedem 1981 verstorbenen Jacques Lacan,den Roudinesco schon als Jugendliche imHaus ihrer Mutter kennenlernte.

Die Demontage der freudschen Lehrein Frankreich begann 2005 mit einer über800 Seiten starken Streitschrift: In einem„Schwarzbuch der Psychoanalyse“ (nachdem Vorbild des berühmten „Schwarz-buchs des Kommunismus“) zogen mehrals 30 internationale Autoren eine uner-bittliche Bilanz: War Sigmund Freud einLügner? Kann seine Methode überhauptheilen? Welchen Beitrag leistet sie zumVerständnis der Menschen? Seitdem reißtdie Polemik nicht ab.

Nicht Freuds Vermächtnis, nicht das sei-ner geistigen Nachfolger wie Lacan undauch nicht die psychoanalytische Disziplinals solche seien hinfällig, meint Roudi -nesco, Autorin einer auch auf Deutsch er-schienenen Lacan-Biografie und eineszweibändigen Standardwerks über die„Geschichte der Psychoanalyse in Frank-reich“. Doch die Praktiker der Psychoana-lyse müssten sich aus ihrem Dogmatismusbefreien und einen neuen Anschluss andie moderne gesellschaftliche Entwick-lung von Sexualität und Familie suchen.

SPIEGEL: Madame Roudinesco, die heroi -sche Zeit der Psychoanalyse ist lange vor-bei, als Heilmethode ist sie weltweit aufdem Rückzug. Auch in Frankreich, vonjeher eine ihrer intellektuellen Hochbur-gen, muss sie sich heftiger Attacken er-wehren. Ist die Psychoanalyse überhaupteine Wissenschaft?Roudinesco: Ich könnte es mir einfach ma-chen und eine Menge Polemik aus derDebatte entweichen lassen, indem ichsage: Weder ist sie eine exakte Wissen-schaft noch eine medizinische Therapie.SPIEGEL: Aber?

Das Gespräch führte der Redakteur Romain Leick.

Roudinesco: Ich möchte Ihnen lieber eineGegenfrage stellen: Glauben Sie, dass dieAnthropologie wissenschaftliche und phi-losophische Erkenntnisse über die Naturdes Menschen erbringt?SPIEGEL: Sie kann durchaus Wesensmerk-male des Menschen von universeller Be-deutung festlegen.Roudinesco: Sehen Sie, und ich denke, diePsychoanalyse kann das auch. Sie ist eineDisziplin, die auf einem rationalen Denk-system aus dem Bereich der Humanwis-senschaften beruht. Ich glaube, dass dasUnbewusste universell ist. Und ich glaube,dass Sigmund Freud derjenige Entdeckerist, der den Strukturen des Unbewusstenam nächsten gekommen ist – durch seineTraumdeutung und seine Studien überdie Verdrängungsmechanismen. Er hatden Apparat der Psyche erstmals systema -tisch offengelegt.SPIEGEL: Warum setzt sich dann heute dieAnsicht durch, dass es sich ohne Freudbesser lebt und denkt?

Diwan im Londoner Freud-Museum: „Der Tragik

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„Kurieren durchdas Wort“

Die französische Historikerin Elisabeth Roudinesco ist Spezialistin für die Geschichte der

Psychoanalyse – und kämpft um den Ruf der Zunft.P

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Autorin Roudinesco

„Heute leidet man an Narzissmus“

Page 143: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

Roudinesco: Darauf würde die klassischePsychoanalyse wohl erwidern, dass dieseheftige Ablehnung, die bis zum Hassaus-bruch gehen kann, Teil der Verdrängungs-problematik ist.SPIEGEL: Eine typische Reaktion des Selbst-schutzes gegen jede Kritik.Roudinesco: Keineswegs. Dagegen sage ichlieber, dass man der Condition humainein ihrer Tragik nicht entkommen kann.Davon gibt es keine Heilung.SPIEGEL: Und was zeichnet diese Condi -tion humaine, die Lebensbedingungendes Menschen aus?Roudinesco: Freuds Geniestreich, vergli-chen mit den psychologischen Theorienund Spekulationen seiner Zeit, bestanddarin, die großen Konstanten der mensch-lichen Psyche auf den griechischen Mythosund dessen Tragödien zurückzuführen.SPIEGEL: Nicht gerade eine naturwissen-schaftliche Methode.Roudinesco: Es ist ein Denken in Mythen.Ist es deshalb weniger wahr? Die Erfor-

D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 2 143

schung der Mythen, die Entschlüsselungihrer Bedeutung, ist unverzichtbarer Be-standteil der Humanwissenschaften.SPIEGEL: Sicherlich, aber bewegt man sichda nicht eher im philosophischen als imklinischen Bereich?Roudinesco: Freud hat im Grunde, ohne esso auszuführen, eine Theorie des mensch -lichen Subjekts im philosophischen Sinneausgearbeitet. Das große „ICH“ statt deskleinen „ich“. Seine Stärke ist es, indivi-duelle Schicksale aus einer rein medizini -schen Psychologie herausgenommen undauf Invariablen der Menschheit zurück-geführt zu haben.SPIEGEL: Die Medizin kümmert sich umden Einzelnen, die Psychoanalyse um dasmenschliche Subjekt in seiner Allgemein-heit? Aber wie kann die Psychoanalysemit diesem Ansatz dem jeweiligen Patien-ten individuell helfen?Roudinesco: Das Subjekt ist mehr als derEinzelne in seiner Spezifität. Die Psycho-analyse hilft dem Individuum, sich als

Subjekt zu erfassen. Insofern ist sie eben-so sehr eine emanzipatorische wie einetherapeutische Disziplin. Sie hat, wie Dar-wins Evolutionstheorie oder Marx’ Ge-sellschaftsanalyse, unsere Sicht der Weltverändert. So gesehen, sind die hasserfüll -ten Attacken auf die Psychoanalyse, de-nen ich entgegentrete, ein Symptom derglobalen intellektuellen Krise, in der wiruns befinden. Mit der Postmoderne istdas Ende der „großen Erzählungen“ ge-kommen, wie der Philosoph Jean-Fran-çois Lyotard geschrieben hat. Man akzep-tiert keine allgemeingültigen Erklärungs-prinzipien mehr.SPIEGEL: Ist damit auch das Ende des klas-sischen Humanismus und der Aufklärungerreicht, eine Rückentwicklung vom auto -nomen Subjekt zum begrenzten Indivi-duum?Roudinesco: Freud, daran besteht keinZweifel, war ein Vertreter des Humanis-mus und der Aufklärung, einschließlichihrer dunklen Seite. Er hatte, wie die Grie-chen in ihren Mythen, eine tragische Auf-fassung von der menschlichen Exi stenz.Er stand Diderot mit dessen bürgerlichemTrauerspiel und Zweifeln am optimisti-schen Weltbild näher als Rousseau.SPIEGEL: Seine Analyse der Triebstrukturverbietet den naiven Glauben, dass derMensch von Natur aus gut sei?Roudinesco: Ja, und doch hielt das Tra -gische die Griechen nicht davon ab, dieGrundzüge der Demokratie, also derEmanzipation und der Befreiung, zu denken. Bei Freud findet sich ebenfallsein fast romantischer Glaube an den mög-lichen Triumph des Guten. Er war zutiefstvom alten k. u. k. Regime geprägt, aberer dachte demokratisch, weil er an denFortschritt der Zivilisation, also an diemögliche Beherrschung der aggressiven,mörderischen Impulse des Menschendurch die Vernunft glaubte. Das ist dasThema seiner Schriften wie „Das Unbe-hagen in der Kultur“ oder „Totem undTabu“ – die Herrschaft des Gesetzes.SPIEGEL: Also besteht das gelungene Le-ben darin, Trieb und Moral in einem pre-kären Gleichgewicht zu vereinbaren?Roudinesco: Im Grunde handelt es sich inder Psychoanalyse um einen Erziehungs-prozess, um das Erlangen der Selbstkon-trolle, eine Reise zu sich selbst. Es gehtdarum, die Barbarei in der Zivilisationzu zähmen, die aggressiven Impulse, denTodestrieb, durch Sublimierung umzu -formen. Die Psychoanalyse versucht eineKur, oder meinetwegen eine Therapie,durch das Wort. SPIEGEL: Das klingt nach sanfter Medizin.Der Versuch einer Psychotherapie durchdie Rede bringt aber nicht unbedingt dieErlösung. Sie kann sogar destabilisierendwirken, wie die Praxis der Psychoanalyseoft genug zeigt.Roudinesco: Die Psychoanalyse kann nichtalle seelischen Krankheiten therapieren,

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der menschlichen Existenz kann man nicht entkommen“

Page 144: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

schon gar nicht schwerste Stö-rungen wie Psychose undSchizophrenie. Aber selbst indiesen Fällen ist sie notwen-dig, weil sie den Patienten er-mächtigt zu reden, statt ihneinfach mit Medikamentenvollzustopfen. Freud war keinHedonist, er trug das Erbe desPuritanismus in sich. DerMensch kann nicht machen,was er will, er muss seine Triebe kontrollieren, sonstwerden sie grenzenlos. DerTodestrieb, die Lust an derVernichtung des anderen undseiner selbst ist das absoluteBöse, das später in Auschwitzkulminierte. Freud steht indieser christlich-jüdischen Tra-dition.SPIEGEL: So sehr, dass seineLehre eine Art Religion wer-den konnte? Wir reden jetztüber ein Welt- und Menschen-bild, über Mythen und Erzäh-lungen, Tragik und Erlösung.Das sind spannende Geschich-ten – sie erklären, warumDichter und Filmemacher in Hollywoodsich davon faszinieren ließen. Aber dieKritik an der Psychoanalyse will diesedoch auf den Boden der Alltagsrealitätzurückholen. Letztlich geht es um Heilenoder zumindest Lindern psychischer Stö-rungen, um eine medizinische Leistung.Erweisen sich davor all die interessantenphilosophischen Theorien nicht als Ho-kuspokus?Roudinesco: Überhaupt nicht. Ja, Freudwar Arzt, ausgebildeter Neuropathologe.Er wählte dann einen anderen, theoreti-schen Weg, hielt aber am therapeutischenAuftrag fest, mit durchwachsenem Erfolg.SPIEGEL: Eher mit dürftigem Erfolg.Roudinesco: Er scheute die Behandlungwirklich schwerer Fälle, von Irren undVerrückten, wie man damals sagte. Siehaben schon recht, seine wahre Bedeu-tung liegt im Denkerischen. Er war ja auchein sehr guter Schriftsteller und unermüd-licher Briefeschreiber. Und die Idee desKurierens durch das Wort, der Offenba-rung des Menschen vor sich selbst, kommtvon weither aus den Tiefen der Geschich-te, eigentlich mit der Entstehung desBeichtstuhls.SPIEGEL: Noch ein religiöser Aspekt derPsychoanalyse.Roudinesco: Das Konzil von Trient hat im16. Jahrhundert dekretiert, dass das Sa-krament der Buße aus Reue, Beichte undGenugtuung besteht. Der Gedanke, derdem zugrunde liegt, ist die Suche des Bö-sen in sich selbst. Nicht von ungefähr sinddie Katholiken seit den fünfziger Jahrenfasziniert gewesen von der Psychoanaly-se. Und protestantische Pastoren wie Os-kar Pfister wurden selbst Psychoanalyti-

ker, schlossen sich der These vom Primatder Sexualität an und sahen im wahrenGlauben einen Schutz vor der Neurose.Freud war Atheist und Jude, für ihn wardie Psychoanalyse weder religiös nochdas Gegenteil, ein Instrument, dessen sichGeistliche wie Laien bedienen können. SPIEGEL: Rückt das die Psychoanalysenicht weg von der Wissenschaft hin zurMagie?Roudinesco: Zwischen Wissenschaft undMagie liegt noch ein weiter Bereich desRationalen. Freud wünschte ganz sichernicht, dass aus der Psychoanalyse eine Re-ligion oder eine Ideologie würde. Aber essteckte ein messianisches Element in ihm.Er wollte mit seiner Methode zum Glückdes Menschen beitragen, ohne das Tragi-sche auszublenden. Also nicht simplesWohlbefinden, einfach gut drauf sein. Daswäre nur amerikanische Seelenhygiene.SPIEGEL: Das Lustprinzip darf keinen Vor-rang haben? Sexuelle Befreiung gehörteauch zu den erklärten Zielen der 68er,die Freud mit Herbert Marcuse und Wil-helm Reich wiedergelesen haben.Roudinesco: Jedenfalls glaubte er nicht,dass Lust und totale sexuelle Befreiungein Ende von Schuld und Leiden bringenkönnten, obwohl er natürlich für den Wan-del der Familie und die sexuelle Emanzi-pation aufgeschlossen war. Und er hatterecht! Heute genießen wir alle möglichensexuellen Freiheiten, und die Menschenhören nicht auf zu leiden. Zu Freuds Zeitlitt man unter sexueller Fru stration, einerstarren paternalistischen Familienordnungmit allen möglichen Verboten und autori-tärer Erziehung. Die PsychoanalyseFreuds entstand angesichts von Sympto-

men, die puritanischen, vonsexuellen Frustrationen ge-prägten Gesellschaften eigensind und die man damals alshysterisch bezeichnete.SPIEGEL: Und heute?Roudinesco: Leidet man an sichselbst, an Narzissmus. Die Pa-thologie hat sich geändert, sowie die Gesellschaft mit ihrenSitten, aber viele Psychoana-lytiker halten am alten Modellfest, um neues Leiden zu be-handeln. Die gegenwärtigeKritik an der psychoanalyti-schen Theorie zielt daneben,die an den Psychoanalytikernund ihrer Praxis dagegen istoft genug berechtigt. Manch-mal habe ich den Eindruck,dass die meisten von ihnennur skeptische, von der mo-dernen Gesellschaft losgelös-te, unpolitische oder sogar reaktionäre Ästheten sind.SPIEGEL: Woran liegt das?Roudinesco: Die freudsche Leh-re bedarf der ständigen Inter-pretation und Evolution, sie

darf nicht wie die Bibel oder der Talmudgehandhabt werden. Die Hilfesuchendenerwarten aber eine konkrete Lösung ihrerProbleme. Sie haben keine Lust, sich aufdas endlose intellektuelle Abenteuer ei-ner Psychoanalyse als Zugang zu einerhöheren Form der Weisheit einzulassen.Die Dauer der Analyse muss begrenztund drastisch verkürzt werden, der Ana-lytiker kann sich nicht mehr darauf be-schränken, schweigend zuzuhören.SPIEGEL: Können Sie diese doktrinäre Er-starrung belegen?Roudinesco: Zum Beispiel ist es unsinnig,an der sexuellen Differenz der Eltern alsVorbedingung für die Herausbildung derkindlichen Identität festzuhalten, wennes längst homosexuelle Ehen, Leihmütter,künstliche Befruchtung und sogar einAdoptionsrecht für gleichgeschlechtlichePartner gibt. Als ob Kinder, die bei eineralleinerziehenden Mutter oder bei Homo-sexuellen aufwachsen, den Unterschiedzwischen Mann und Frau nicht mehr ken-nen würden! Freud analysierte die Sexua-lität und die bürgerliche Familie an derWende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die-ser Ballast muss weg.SPIEGEL: Klingt so, als glaubten Sie nichtan den Ödipuskomplex.Roudinesco: Ehrlich gesagt, nein. Die Faszi -nation für die „König Ödipus“-Tragödievon Sophokles liegt ja gerade nicht darin,dass Ödipus seine Mutter begehrt und denVater dafür tötet, sondern dass er schuldigwird, ohne es zu wissen, und infolgedessenvom Zenit der Macht in den tiefsten Ab-grund stürzt. Die besten Interpretationenvon Freud machen heute nicht die Psycho-analytiker, sondern Philosophen, Litera-

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Hippie-Festival in Glastonbury 1971: „Freud war kein Hedonist“

Page 145: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

ten, Künstler. Seine Überlegun-gen zur weiblichen Sexualitäthat bezeichnenderweise Si -mone de Beauvoir aufgegriffenund weiterentwickelt. Im Um-feld der 68er hat Jacques Lacander Psychoanalyse zu neuerBlüte verholfen, indem er diePhilosophie von Hegel bisHeidegger mit der freudschenLehre verband. Nietzsche undSchopenhauer und Sartre inFrankreich waren als Philoso-phen zugleich große Psycho -logen. Heute praktiziert die fünfte Generation von Psycho-analytikern nach Freud. Ich be-haupte, seit zwei Generationensehen wir keine intellektuelleNeuerung mehr, nicht die ge-ringste. Lacans Schriften wer-den heute ebenso sehr von Phi-losophen und Literaten wievon Klinikern studiert.SPIEGEL: Lacan war zwar Arzt,aber als Therapeut umstritten.Ein Meisterdenker vielleichtoder auch ein Guru, aber keinguter Praktiker.Roudinesco: Ein Guru, niemals, diesenAusdruck weise ich zurück, trotz einigerÜberschreitungen gegen Ende seines Lebens. Denn er war auch ein großer Kliniker, der sich allerdings teuer be -zahlen ließ. Zu Freud hat er eine wun-derbare Anekdote verbreitet: Danach sollSigmund Freud, als er 1909 in die USAkam, beim Anblick der Freiheitsstatue inNew York gesagt haben: „Sie wissennicht, dass wir ihnen die Pest bringen.“Psychoanalyse und eine zwischen Porno-grafie und Puritanismus hin und her ge-rissene Gesellschaft, wie die amerikani-sche, das konnte ja auch auf Dauer nichtgutgehen.

SPIEGEL: Für die von Hollywood geprägtenKulturschaffenden bot die Psychoanalyseeine Art von radikalem Schick. Inzwi-schen hat sich dagegen von den USA ausder wissenschaftliche Siegeszug der Ko-gnitivisten, Behavioristen und Verhaltens-therapeuten ausgeweitet.Roudinesco: Die Verhaltenstherapeuten,die auf dem Behaviorismus aufbauen, ha-ben Erfolg in der Konditionierung ihrerPatienten, im Beheben funktionaler An-passungsstörungen. Aber sie heilen nichtwirklich, sie gehen dem Leiden nicht aufden Grund, weil sie das menschliche Sub-

* Mit dem Bildhauer Oscar Nemon 1931.

jekt nicht in seiner Gesamt-heit er fas sen. Die psychoana-lytische Theorie wollte diepsychische Krankheit huma ni -sieren; die funktionale Verhal-tenstherapie und die kognitivePsychologie verdinglichenden Menschen zu einem ein-stellbaren Apparat.SPIEGEL: Aber sie können Er-gebnisse vorweisen, etwa inder Behandlung autistischerKinder. In Frankreich habenzornige Eltern autistischer Kin-der wegen der Unfähigkeit derPsychoanalytiker und derenTendenz, ihnen eine Mitschuldzu geben, einen regelrechtenSturm entfacht. Manche seriö-se Psychoanalytiker räumenein, dass es berechtigte Kritikan ihrer Disziplin gibt. Ist derKampf um die Psychoanalyseschon verloren? Roudinesco: Das steht zu be-fürchten. Die Psychoanalyseist zu wichtig, als dass manden Psychoanalytikern alleinihre Verteidigung überlassen

darf. Es gibt Tausende klinischer Thera-peuten, Psychologen und Psychiater, dieGrundelemente der Psychoanalyse in ihreMethodik integrieren – so wie bestimmteDenkfiguren und Begriffe Freuds ja auchBestandteile des allgemeinen Kultur ver -ständnisses geworden sind. Wenn diesesErbe verschwinden würde, ginge derMenschheit viel verloren – ein Teil derAufklärung in ihrer emanzipatorischen,rebellischen Dimension wäre dahin. Sowie man auch den Marxismus auf denMüllhaufen der Ideengeschichte zu wer-fen versucht hat.SPIEGEL: Madame Roudinesco, wir dankenIhnen für dieses Gespräch.

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Denker Freud*: „Es steckte ein messianisches Element in ihm“

Page 146: Der Spiegel 2012 23 mit grosser Hells Angel Reportage

Ein unattraktiver Titel. Eine nichts-sagende Aufmachung. Ein unbe-kannter Autor. Und ein exzellentes

Buch, ein raffiniertes literarisches Expe-riment.

Erst auf den zweiten Blick offenbartder Titel des Romans „Tony & Susan“von Austin Wright seinen Witz: Tony undSusan nämlich sind kein Paar, können esgar nicht sein. Tony ist der tragische Heldeines Romans, den Susan liest.

Klingt nach fader Literatur? Alles an-dere als das. Der Roman im Roman istein fintenreicher Thriller,der auch ohne die Rahmen-handlung bestens bestehenkönnte. Aber erst durch Susans Gegenwart als Lese-rin und ihre sehr spezielleWahrnehmung wird aus all-dem ein spannendes Vexier-spiel.

Denn Susan Morrow liestnicht irgendeinen Roman,sondern den ihres früherenEhemanns. Von ihm, Ed-ward Sheffield, hat sie 20Jahre lang nichts mehr ge-hört. Und nun bringt ihr diePost ein Manuskript mitdem Titel „Nachttiere“ insHaus. Der Ex-Mann bittetnicht nur um Lektüre, son-dern auch um Ratschlägeund Beurteilung.

Edward hat schon wäh-rend ihrer Ehe Schriftstellerwerden wollen. Damals bater sie, ihm ehrlich zu sagen, was sie vonseinen Gedichten und Erzählungen halte.„Also versuchte sie es, versuchte ihm zuerklären, was sie störte. Das war ein Feh-ler. So ehrlich musst du auch wieder nichtsein, sagte er.“ Und als ihn Susan danneines Tages auch noch fragte, ob er sichnicht lieber einen anderen Beruf suchenwolle, war das der Ehe gewiss nicht för-derlich.

Nun wird von Susan wieder ein Urteilverlangt. Sie hat sich inzwischen in ihremLeben als Mutter und Ehefrau eingerich-tet. Auf eine Universitätslaufbahn hat siezugunsten der Arztkarriere ihres treu -losen zweiten Ehemanns verzichtet. „Su-

Austin Wright: „Tony & Susan“. Aus dem amerikani-schen Englisch von Sabine Roth. Luchterhand Litera-turverlag, München; 416 Seiten; 19,99 Euro.

san, Verfechterin sämtlicher Frauenrechteaußer ihrer eigenen“, wie es lapidar heißt.

Den Beginn der Lektüre schiebt sie wo-chenlang vor sich her. Ihr ist nicht wohlbei der Sache. Sie will die Wirkung der„Nachttiere“ an sich selbst beobachten,um Argumente für das Gespräch mit Ed-ward zu sammeln. Und sie ist eine genaueund wache Leserin.

Was ist das für eine Geschichte, die ihrda vorgesetzt wird? Es ist ein Horrortripsondergleichen, in den ein Universitäts-professor für Mathematik, Tony Hastings,

mitsamt Frau und Tochter hineingezogen,ja geradezu hineingesogen wird. Die Fa-milie hat auf dem Weg in den Urlaub be-schlossen, die Nacht durchzufahren.

Plötzlich ist da dieses andere Auto aufdem einsamen Highway, und es ist keinVorbeikommen. Die drei Insassen machensich einen Spaß daraus, Tony zu einemgewagten Überholmanöver zu provozie-ren, das missglückt. Und sie zwingen ihnzum Anhalten. Zwei der Burschen fahrenmit Tonys Wagen und den verängstigtenFrauen davon, der andere zwingt den Ma-thematiker in sein Gefährt und setzt ihnnachts irgendwo in einem Wald aus. Dasist dann kein Spaß mehr.

Fasziniert folgt Susan im trauten Heimder Story, die sich ihr Ex-Mann ausge-dacht hat. Mittendrin fragt sie sich be-sorgt, wie Edward „ohne weitere Kata -

strophen einen Spannungsabfall vermei-den will“. Und worauf will er überhaupthinaus? Auf Vergewaltigung und Mord?

Susan wird bewusst, in welchem Aus-maß das, was mit den Romanfiguren ge-schieht, der Willkür des Autors unterliegt.„Willkür heißt der Wille da, wo ihn dieErkenntnis beleuchtet“, hat einst Scho-penhauer eigenwillig definiert. Susan je-denfalls ist von der Erzählkraft ihres Ex-Manns tief beeindruckt: „Das Buch hatsie in seinem Bann, so viel steht fest.“Und mehr noch: Sie sieht sich, ihr schein-

bar so sicheres Leben unddie eigene Vergangenheitin anderem Licht.

Ein gewagtes Spiel fürden Autor Austin Wright,der sich das alles ausge-dacht hat. Würde die Kri-mi-Handlung, der Romanim Roman, nicht halten,was die fiktive Leserin Su-san behauptet, so wäre dieganze Konstruktion von„Tony & Susan“ unglaub-würdig und zunichte.

Aber Wright, der 2003im Alter von 80 Jahren inCincinnati starb, hat diebeiden Ebenen seines Wer-kes elegant verknüpft undausbalanciert. Der ameri-kanische Schriftsteller warHochschullehrer für Lite -ratur und publizierte 1982eine Studie über das Form-prinzip des Romans.

Wrights 1993 erschienener Roman, dersein bekanntester geblieben ist, wurdevon hochkarätigen Schriftstellern wieSaul Bellow und Ian McEwan gepriesen,von Krimi-Autorinnen wie Ruth Rendellund Donna Leon bewundert. Eine Neu-ausgabe erschien in den USA 2010.

In deutscher Sprache ist das Buch erst-mals 1994 veröffentlicht worden und nunin vorzüglicher Neuübersetzung wiedererhältlich. Der Roman liest sich jetzt fastso gut wie im Original.

Die subtilen Beobachtungen der Lese-rin Susan bleiben faszinierend bis zuletzt,bis das Buch im Buch endet. „Susan hates dahinschwinden sehen, letztes Kapitel,letzte Seite, letzter Absatz, letztes Wort.“

Und es heißt: „Sie braucht Stille, bevorsie zu sich selbst zurückkehrt.“

VOLKER HAGE

Kultur

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Wille und WillkürBUCHKRITIK: Der Roman „Tony & Susan“ des Amerikaners Austin Wright ist Thriller und Literaturstudie zugleich.

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Autor Wright

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NIGGEMEIERS MEDIENLEXIKON

Iro|niedie: Reklamationsgrund im Journalismus

Günter Grass (Bild) hat also noch malein Fass aufgemacht und ein weiteresGedicht aus seiner Feder fließen las-sen, diesmal über Griechenland. Die„Süddeutsche Zeitung“ hat sich erneutfür den Vertrieb zur Verfügung ge-stellt. Und Volker Weidermann,Feuille tonchef der „Frankfurter Allge-meinen Sonntagszeitung“, erinnertedas Werk an eine Parodie der Satire-zeitschrift „Titanic“ – so schlecht seidas Gedicht.Natürlich hätte er das genau so formu-lieren können: „So schlecht, dass esauch von der ‚Titanic‘ stammen könn-te“, aber wo wäre da der Witz gewe-sen? Stattdessen schrieb er: „Dem Sati-remagazin ‚Titanic‘ ist es gelungen, einGedicht unter dem Namen ‚Günter

Grass‘ im Feuilleton der ‚SüddeutschenZeitung‘ zu platzieren.“ Die beabsich-tigte Aussage war dieselbe, aber derEinsatz ungleich höher. Der Text warzugleich ein Test: Würden die Leser dasneue Grass-Gedicht so bekloppt finden,dass sie es auch für eine Persiflage der„Titanic“ halten könnten?Nur unter dieser Voraussetzung konn-te man eigentlich auf WeidermannsIronie hereinfallen. Sein satirischerText war ein bisschen plump, abereine bewusste Irritation, die den auf-merksamen Leser dazu bringen sollte,sich genau diese Frage zustellen: Sind die Wort -meldungen von Grass in -zwischen so, dass man sienicht mehr von ihren eige-nen Parodien unterscheidenkann?Auf Twitter fanden sich nunsofort etliche Journalistenund andere Menschen, dieaufgeregt die bewussteFalschbehauptung als Brea-

king News weiterverbreiteten. Als dieSatire endlich als Satire verstandenwurde, schrieb ein Online-Journalistder „Rhein-Zeitung“ wütend, dass erseitdem keine Möglichkeit mehr sehe,„das Feuilleton dieser angesehenen Zei-tung weiter zuverlässig ernst nehmenzu können“.Diese Menschen wollen, dass sie nichtnachdenken müssen beim Lesen. Ironie war immer schon ein riskantesStilmittel im Journalismus. Aber imZeitalter von Twitter heißt die ver-schärfte Mindestanforderung an

Artikel: Sie müssen so formuliert sein, dass siesich unverstanden weiter -twittern lassen.Oder wie Grass selbst es inseinem Gedicht „TwittersSchande“ so treffend formu-lierte: „Was mit der Seelegesucht, als Wahrheit Dirgalt / heißt Satire nun, unter Schrottwert taxiert.Pls RT.“

147

Trends Medien

V E R L A G E

Böser Brief aus KölnDem Rauswurf von Doppel-Chefredakteur Uwe Vorkötter, 58,bei der „Berliner Zeitung“ und der „Frankfurter Rundschau“ging offenbar ein Zerwürfnis mit dem Verleger Alfred NevenDuMont, 85, voran. Vorkötter hatte im November in seinenBlättern viel Platz für ein Interview mit Springer-Chef MathiasDöpfner freigeräumt. Auf den aber ist Neven DuMont nichtgut zu sprechen. Der greise Verleger soll immer noch erbostdarüber sein, dass „Bild“ einst über den Familienstreit zwi-schen ihm und seinem Sohn Konstantin ausführlich berichtet

hatte. Dass Vorkötter danach Döpfnereine große Bühne bot, soll Neven Du-Mont als Vertrauensbruch empfundenhaben. Nach dem Interview habe Vor-kötter kaum noch einen direktenDraht zu dem Patriarchen gefunden,erzählen Verlags-Insider. Der Verlegerführte später Gespräche über Vorköt-ters Nachfolge, auch mit externen Kan-didaten. Für weiteren Groll des Verle-gers, der auch als Romancier aktiv ist,sorgte eine Lesereise nach Hamburg –wenige Tage nach dem Interview. Dortstellte Neven DuMont sein neuesBuch „Vaters Rückkehr“ vor – und

weder die Springer-Zeitung „Hamburger Abendblatt“ noch„Bild“ berichteten, nur die „Welt“ rang sich ein paar Zeilenab. Neven DuMont schrieb daraufhin einen zornigen Brief anDöpfner, in dem er sich beschwerte, nicht ohne Verweis aufden Platz, den die „Berliner Zeitung“ Döpfner geboten hatte.Der Zorn des Alten soll erst abgeebbt sein, als Döpfner sich

später für einen Text Neven DuMonts zum 100. GeburtstagAxel Springers – wiederum in der „Berliner Zeitung“ – be-dankte. Vorkötters Nachfolger in Berlin wird nun seine Stell-vertreterin Brigitte Fehrle. Bei der „Frankfurter Rundschau“soll Arnd Festerling Chefredakteur werden. Der Verlag wollteweder Briefwechsel noch Personalie kommentieren.

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Neven DuMont

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Zuletzt ist es Dieter Bohlen ergan-gen wie dem Wolf, der Kreide ge-fressen hatte, um seine Stimme

sanft zu machen – und bei den siebenGeißlein abblitzte, weil sie natürlichdurchschauten, dass da nicht ihre Mutteran die Tür klopfte, sondern ein Bösewicht.

Bohlen, der große, böse Wolf von RTL,war erschreckend lieb in den zurücklie-genden Wochen. In der ersten Kinder-Staffel von „Deutschland sucht den Super -star“ („DSDS Kids“) putzte der 58-Jähri-ge die kleinen Kandidaten nicht herunter,vielmehr fand er so ziemlich alles „super“oder „Wahnsinn“. Vor einer achtjährigenSängerin warf er sich auf die Knie.

Die Zuschauer waren befremdet – undblieben fern. Nachdem das Frühjahr überschon die nunmehr neunte Staffel von„DSDS“ mit Quotenschwund zu kämpfengehabt hatte, wurde „DSDS Kids“ zumDesaster: Das Finale am vorvergangenenFreitag wollten nur gut zwei Millionen sehen. Bohlen auf nett getrimmt, das warungefähr so überzeugend, als ließe RTLdie Klitschkos im Ring häkeln statt prügeln.

Beim Sender will man sich zwar nochnicht dazu durchringen, „DSDS Kids“ ein-zustellen. Auf Anfrage teilt RTL mit, dieSendung passe zu Bohlen „sicher auch,weil er selbst mehrfacher Vater ist undsehr gut mit Kindern umgehen kann“.Aber gerade an den Papi-Qualitäten desPop-Titanen lässt ein bislang kaum be-kannter Gerichtsbeschluss leise Zweifelaufkommen: Der Plattenmillionär ist neu-erdings dazu verpflichtet, für seinen sechs-jährigen Sohn Maurice Cassian monatlichgut 600 Euro mehr Unterhalt zu zahlenals bisher.

Mit dem Beschluss des AmtsgerichtsTostedt endet vorerst eine knapp zwei-jährige Auseinandersetzung zwischenBohlen und seiner früheren Lebensge-fährtin Estefania Küster, 32. Gestrittenworden war nicht nur um Krankenversi-cherungskosten und Schulgeld – eigent-lich Nichtigkeiten angesichts von BohlensVermögen. Es ging auch um die Kostenfür die musikalische Ausbildung des Ti-tanen-Juniors.

Nun mag es Kinder geben, denen dasSchicksal übler mitspielt als Maurice Cas-

Medien

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T V - S T A R S

Titanen-DämmerungRTL-Scharfrichter Dieter Bohlen ist angeschlagen: Während seine Quoten

schwächeln, wächst hinter den Kulissen der Unmut über seineManieren und Allüren. Selbst sein Image als treusorgender Vater hat gelitten.

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Chefjuror Bohlen bei der RTL-Show „Das Supertalent“: Der große, böse Wolf wurde lieb

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sian; aber dass Bohlen am Klavierunter-richt des eigenen Sohns spart, ist nunnicht gerade die allerbeste Referenz fürdie Präsentation einer Show mit singen-den Pimpfen. Der Richterspruch kommtfür ihn auch deshalb zur Unzeit, weil bei„DSDS“ die Titanen-Dämmerung begon-nen hat. Hinter den Kulissen wird bereitsdie Frage laut, ob die Show nicht auchohne Bohlen funktionieren könnte.

Es heißt, sein Umgang mit dem Teamunterscheide sich nur wenig von der Art,wie er in der Show mit den Kandidatenumspringt. Auch wenn die Scheinwerfererloschen sind, bespiele der Chefjuror

gern die Schimpfwortklaviatur; das Wört-chen „Scheiße“ finde inflationäre Ver-wendung. Keiner habe nämlich Ahnung.Keiner, außer ihm. Zumindest stelle erdas gern so dar: Sound und Sänger seienihm zu schlecht, er selbst fühle sich chro-nisch unterbezahlt und von RTL-ChefinAnke Schäferkordt, die nicht zu seinengrößten Fans zählt, zu wenig hofiert. Al-les Scheiße. Außer Dieter. Auf die Bitteum Stellungnahme ließ Bohlen anwaltlichmitteilen, dass er Fragen nicht beantwor-ten werde.

Im Kölner Studiokomplex Coloneum,wo seine Shows „DSDS“ und „Das Su-pertalent“ produziert werden, spürt mandie Furcht vor Bohlens Ausbrüchen. Man-che machen sich offenbar auch über ihnlustig, indem sie Bohlen-Sprüche an dieTüren kleben: „Wenn jemand ein Pro-blem mit mir hat, kann er es gern behal-ten. Es ist ja seins.“

Wehe, das VIP-Catering werde wiederso aufgebaut, dass der Duft in seine Gar-derobe zieht. Und wehe, Bohlen werdenicht recht ins Bild gerückt. Angeblichwill er am liebsten nur von vorn gefilmtwerden, mit aufgehelltem Licht, dannsieht man seine Falten nicht so. Seine 30Jahre jüngere Freundin Carina soll vorder Sendung akribisch prüfen, ob ihr Die-

ter optimal ausgeleuchtet sei. Unter ihmgelitten hat das Team zwar schon früher.Jetzt aber ist der Titan quotenmäßig aufdem Weg zum Titänchen. „Wenn es wei-ter bergab geht, muss man sich fragen,wie lange RTL sich das noch gefallenlässt“, sagt einer, der seit Jahren in wich-tiger Position bei „DSDS“ arbeitet. „Dukannst den Larry nur raushängen lassen,solange du Tore machst.“

Bislang waltete Bohlen wie ein Guts-herr. Heuerte. Und feuerte. Vor zwei Jah-ren war zu lesen, die Schauspielerin So-phia Thomalla solle Jurorin bei „DSDS“werden, Testaufnahmen waren abgedreht.

Plötzlich nahm jedoch Popsängerin Fer-nanda Brandao ihren Platz ein. In derKölner Medienszene deutete man dies alsRacheakt Bohlens an Thomallas ManagerAlain Midzic. Der war mal mit VeronaPooth liiert, als sie noch Feldbusch hieß,und in dieser Funktion der direkte Vor-gänger Bohlens.

Brandao wiederum wurde vom obers-ten Scharfrichter am Tag des Finales via„Bild“ abserviert, Co-Juror Patrick Nuogleich mit. „Ich freue mich auf zwei neueKollegen“, verkündete Bohlen dort fröh-lich. RTL-Sprecher Christian Körner sagt:„Diese Aktion war mit uns nicht abge-sprochen, und wir fanden sie nicht gut.Das haben wir Dieter Bohlen auch gesagt.Er hat es eingesehen.“

„DSDS“-Moderator Marco Schreylmusste Ende April in „Bild“ lesen, er seivon der kommenden Staffel an nichtmehr dabei. RTL beschwichtigt: Noch seizu den Veränderungen bei der Shownichts entschieden; woher die Meldungkomme, wisse man nicht. Wieder eineBohlen-Aktion? Auch dazu von ihm keinKommentar. Besonders harmoniert ha-ben er und Schreyl jedenfalls nie.

Mitarbeiter der Castingshow beschrei-ben Bohlen als kleines Kind, das so langeschreit, bis es seinen Lolli kriegt. Wenn

ihm etwas nicht passt, droht er schon mal,nie wieder bei RTL aufzutreten. Ausba-den muss es dann Tom Sänger, Unterhal-tungschef des Senders und seit nunmehrzehn Jahren persönlicher Bohlen-Beauf-tragter. Er federt ab, besänftigt, erduldet.Zur Zusammenarbeit mit Bohlen will ersich lieber nicht äußern.

Vor jeder Staffel „DSDS“ wird die Zu-sammenstellung der Jury überprüft. Esgibt eine Liste mit rund 80 Namen mögli-cher Juroren. Immer wieder wurde über-legt, ob man nicht einen anderen auf denChefsessel setzen könnte. Herbert Grö-nemeyer? Udo Lindenberg? Am Ende

griff man stets auf das bewährte Modellzurück: ein meinungsstarker Bohlen pluszwei schmückende Sekundanten.

Von „DSDS Kids“ hatte RTL sich inZeiten sinkender Quoten Aufwind er-hofft. „Ich habe selber fünf Kinder“, hatteBohlen vor dem Start der Sendung er-klärt. „Ich werde sehr, sehr nett zu denKindern in der Show sein. Ich werde siealle wie meine eigenen behandeln.“ Naja, will man das?

Während Bohlen zu den drei Kindernaus erster Ehe immer Kontakt gehaltenhat und die einjährige Tochter bei ihmund seiner aktuellen Gefährtin Carinaaufwächst, soll er Maurice Cassian seitJahren nicht gesehen haben. Angeblichkennt der Kleine seinen Vater nicht mal.

Der Sechsjährige lebt mit seiner MutterEstefania Küster auf Mallorca. Sie warfünf Jahre lang an Bohlens Seite. Im Mai2005, als sie hochschwanger war, erschien„Bild am Sonntag“ mit Fotos, die ihn aufMallorca zeigten, eine andere küssend.Knapp ein Jahr nach Maurice CassiansGeburt verließ Küster den Kindsvater.

Das alleinige Sorgerecht liegt bei ihr.Nach der Trennung war vereinbart worden,dass Bohlen monatlich 1000 Euro Unterhaltbezahlt. Plus Krankenkassenbeiträge. De-ren Zahlung stellte er Anfang 2009 ein.

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Kandidatin bei „DSDS Kids“: „Da fängt mein Herz ganz doll an zu blubbern“

Zenit überschrittenZuschauer von „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS), in Millionen

DSDS

DSDS Kids

Quelle: RTL; Zuschauer ab 3 Jahren

6. Staffel2009

7. Staffel2010

8. Staffel2011

9. Staffel2012

Sendung5. Mai

11. Mai 18. Mai Finale25. Mai

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Bohlen mag das Verfahren nicht kommen-tieren. Küsters Anwältin teilt ebenfallsmit: „Meine Mandantin möchte sich zudieser Sache nicht äußern.“

Der Rechtsstreit um das Schulgeld be-gann, als der Junge in die erste Klassekam. Seine Mutter hatte eine englisch-sprachige Privatschule ausgesucht. Boh-len lehnte eine Übernahme der Kostenab und befand, eine staatliche Einrich-tung hätte es womöglich auch getan.

Küster argumentierte, dort werde in ka-talanischer Sprache unterrichtet, was fürdas spätere Leben ihres Sohnes wenig hilf-reich sei. Zudem gebe es auf einer Privat-schule weniger deutsche Kinder, die Mau-rice Cassian Bohlen fragen könnten, ob ermit dem berühmten Dieter verwandt sei.Darauf brachte Bohlen den kostensparen-den Gedanken ins Spiel, sie könne ja denNachnamen des Kindes ändern.

Im Februar verurteilte das AmtsgerichtTostedt ihn in einem Beschluss, gegenden grundsätzlich eine Beschwerde mög-lich ist, zur Zahlung von monatlich 525Euro Schulgeld und 115 Euro für Musik-und Klavierunterricht, beides rückwir-kend zum Oktober 2010. Zudem muss ernachträglich mehrere tausend Euro Kran-kenversicherung begleichen sowie dengrößten Teil der Gerichtskosten.

Das Geld wird Bohlen, der schon maldamit prahlte, mehr zu verdienen als dergerade aus dem Amt geschiedene Deut-sche-Bank-Chef Josef Ackermann, auf-bringen. Unschön ist der Rechtsspruchfür ihn, weil er die etwas andere Seite je-nes Dieter Bohlen zeigt, der in Interviewsgern erzählt, er könne an keinem Kinder-wagen vorbeigehen, ohne hineinzuschau-en: „Da fängt mein Herz ganz doll an zublubbern.“

Vor Maurice Cassians Geburt hatte ervon seiner künftigen Patchwork-Familiegeschwärmt: „Für mich ist ganz wichtig,dass das hier mein viertes Kind ist. Nichtmein drittes plus eins. Es gibt nicht dieeine und die andere Familie. Wir sind eingroßes glückliches Ganzes.“ Offenbarwährte der Wille zur Harmonie nur kurz.

Jetzt muss er ohnehin erst mal „DSDS“retten. Wollte er dem Format etwas Gutestun, könnte Bohlen sich an Simon Cowellorientieren. Der britische TV- und Musik-produzent gilt als sein Vorbild, er war deroberste Juror bei „American Idol“, derUS-Ausgabe der Superstar-Show, unddort ein mindestens ebenso harter Hundwie Bohlen hierzulande.

Die US-Verantwortlichen hatten sichimmer vor dem Tag gefürchtet, an demCowell aussteigen würde. Vor zwei Jah-ren, als der Erfolg der Show nachließ,nahm er tatsächlich seinen Abschied undwurde ersetzt durch Steven Tyler, denSänger von Aerosmith; zur Seite bekamdieser Jennifer Lopez. Danach haben dieQuoten sich erst einmal wieder erholt.

ALEXANDER KÜHN

Axel Cäsar Springer hat seinen Er-ben eine Menge hinterlassen: sei-ne Anteile am Verlag, viel Geld,

etliche Immobilien. Und einen Parkplatz.Das kleine Areal mit Platz für zwei Autosliegt in einer Münchner Tiefgarage undbelebt neuerdings den jahrelangen Streitum das Testament des einst mächtigstendeutschen Verlegers.

Immerhin sieben Jahre lang hatte sichSpringers Enkel Axel Sven mit seinerStiefgroßmutter Friede Springer um dieVerteilung des Vermögens gestritten. 2009verlor er endgültig vor Gericht. Doch nunwird ausgerechnet wegen dieses Parkplat-zes die Frage wieder aktuell, ob bei Sprin-gers letztem Willen alles mit rechten Din-gen zuging.

Noch zu Lebzeiten hatte der PatriarchAxel Svens Mutter eine Wohnung in Mün-chen geschenkt. Die dazugehörigen Park-plätze wurden im Grundbuch nicht mitübertragen. Als die Kinder nach dem Todder Mutter die Wohnung samt Stellplät-zen verkaufen wollten, fiel der Fehler auf.

Das Grundbuchamt verweigerte denVerkauf. Die Begründung: Die Testaments-vollstreckung laufe über 30 Jahre. So ste-he es im Erbschein des Verlegers. OhneZustimmung der Testamentsvollstreckerließe sich demnach bis 2015 aus SpringersErbe nichts veräußern. Anfang Mai ver-schickte das Berliner Amtsgericht Schö-neberg einen brisanten Beschluss: „EineBeendigung der Testamentsvollstreckungist nicht aktenkundig und nicht belegt.“

Selbst altgediente Springer-Kräfte sindbeunruhigt, denn das Schreiben berührtdie Kernfrage des Erbstreits: Welcher letz-te Wille von Axel Cäsar gilt denn nun?

Und was, wenn gar Entscheidungen dervergangenen Jahre unwirksam würden?

Auch Peter Tamm, Ex-Springer-Chef,war „sprachlos“, als das zweiseitige Schrei-ben bei ihm einging. Darin fordert das Gericht den 84-Jährigen auf, binnen zweiMonaten zu erklären, ob er das Amt desErsatz-Testamentsvollstreckers annehme.„Ich war davon ausgegangen, dass die Tes-tamentsvollstreckung vor Jahren beendetwurde.“ Darauf nämlich hatten sich dieErben 1995 mit den Willensvollstreckernnach endloser Streiterei geeinigt. Fortanwollten sie das Erbe selbst managen.

Doch für das Amtsgericht gilt offenbarallein Springers letzter formgültiger Wille.Anders ist kaum zu erklären, warum sichdas Gericht jetzt an Tamm wandte. Indem Testament, das Springer zwei Jahrevor seinem Tod aufgesetzt hatte, benann-te er Tamm als Ersatz-Testamentsvollstre-cker, sollte einer der amtierenden Nach-lassverwalter versterben. Doch direktnach Springers Tod hatte der Anwalt undSpringer-Aufsichtsratschef Bernhard Ser-vatius den Erben erklärt, der Verlegerhabe sein Testament kurz vor seinem Todnoch ändern wollen, sei dazu aber nichtmehr gekommen.

In der neuen, von Servatius vorgetra-genen Version des letzten Willens spielteTamm keine Rolle mehr. Und für AxelSven blieben statt 25 Prozent nur 5 Pro-zent des Vermögens, Friede Springer be-kam indes 70 statt 50 Prozent. Die Erben,auch der Enkel, unterschrieben das neueTestament 1985. Doch Axel Sven Springerfocht die Regelung 2002 an, weil er sichim Nachhinein betrogen fühlte.

Er scheiterte mehrfach vor Gericht, un-ter anderem, weil er mit dem Ende derTestamentsvollstreckung 1995 eingewilligthatte, „alle gegenseitigen Ansprüche“ ausder Vergangenheit fallen zu lassen.

Was aber, wenn es dabei bliebe, dassdie Vollstreckung gar nicht beendet wur-de? Dass der durch alle Instanzen geführ-te Erbstreit von vorn beginnt, scheint fürsErste unwahrscheinlich, doch womöglichfördert das neue Verfahren noch weitereÜberraschungen zutage.

Friede Springer jedenfalls hat Ende Maigegen den Beschluss des Amtsgerichtsschon mal Beschwerde eingelegt.

ISABELL HÜLSEN

D E R S P I E G E L 2 3 / 2 0 1 2150

V E R L A G E

Die letztenWillen

Der lange Streit um das Erbe des Verlegers Axel Cäsar Springer

flammt wieder auf. DerAnlass könnte kaum banaler sein.

Verleger Springer, Enkel Axel Sven, spätere Ehefrau Friede 1976

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THEMA DER WOCHE

Europa feiert sein Fußballfest

www.spiegel.de – Schneller wissen, was wichtig ist

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POLITIK | Merkel gibt die Super Nanny

In der schwarz-gelben Koalition herrschen Streit und Misstrauen. Bei einem Spitzentreffen mit den Partnern von FDP und CSU will die Regierungschefin endlich wichtige Konfliktpunkte ausräumen.

WIRTSCHAFT | Der Öko-Bauer

E.on-Chef Johannes Teyssen muss Europas größten Energieversorger vom Kohle- und Atomkonzern zum Umweltunternehmen umbauen. Ein Interviewüber steigende Strompreise, sinkende Renditen und die Kulturrevolution.

NETZWELT | Zockerzentrale

Bei der Electronic Entertainment Expo in Los Angeles wird die neueste Generation der Videospiele vorgeführt – und womöglich eine neue Playstationoder Xbox. SPIEGEL ONLINE ist vor Ort.

| Advantage Wunderkind!

Sie war das Mädchen mit der Killer-Vorhand: Vor 25 Jahren gewann Steffi Graf mit gerade 17 Jahren ihren ersten Grand-Slam-Titel: im Finale der French Open gegen die Weltranglisten-Erste Martina Navratilova. einestages.de über ein legen däres Tennisduell, das mit Tränen endete – und einen Teenager zur Königin des Frauentennis machte.

MONTAG, 4. 6., 23.00 – 23.30 UHR | SAT.1

SPIEGEL TV REPORTAGE

Häuserkampf – Wenn Mieter aufSpekulanten treffen

Die Preise für Wohnimmobilien in Ber-lin stiegen im vergangenen Jahr umbis zu 45 Prozent. Entsprechend rabiatsind die Methoden der Spekulanten,um Mieter loszuwerden: zugemauerteFenster, Baulärm und ein juristischerKleinkrieg. Utta Seidenspinner überden Kampf ums Betongold.

SONNTAG, 10. 6., 22.15 – 23.00 UHR | RTL

SPIEGEL TV MAGAZIN

Impfen gegen Krebs? – Neue Wege inder Therapie; Venus-Transit – Ein Jahr-hundertereignis wird zelebriert; Alte

Mieter raus! Neue Mieter rein! – Verdrän-gung am Wohnungsmarkt.

FREITAG, 8. 6., 20.15 – 21.05 UHR | PAY-TV

SPIEGEL TV WISSEN

Die Hauptstadtklinik – Beobachtun-gen an der Berliner Charité, Teil 3

Die Berliner Charité ist Europas größ-tes Universitätsklinikum. In der sechs-teiligen Serie begleitet SPIEGEL TVWISSEN Ärzte und Patienten beimHoffen auf Heilung. Im Jahr 1710 alsPesthaus gegründet, beschäftigt dieCharité heute mehr als 13000 Mitarbei-ter und erwirtschaftet rund eine Mil -liarde Euro Umsatz im Jahr. ProfessorWolfgang Henrich steht auf der Stationfür Geburtsmedizin ein besondererKaiserschnitt bevor: Eine 31-Jährige erwartet Drillinge. Ein Team von rundzwanzig Ärzten und Schwestern ist bereit, um den Frühgeborenen sicherauf die Welt zu helfen. In der Abtei-lung von Professor Klaus Schaser stehtebenfalls eine aufwendige OP an: Einem 36-jährigen Unfallopfer wird einTitangerüst in den Oberschenkel ope-riert. Spezialisten an der Charité habeneine neuartige Knochenprothese ent-wickelt, die so geformt ist, dass sie imKörper vollständig mit Knochen durch-wächst und ein Leben lang halten soll.

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Bei der EM in Polen und der Ukraine peiltdie deutsche Nationalmannschaft den Titelgewinn an. Aber schon in der Vorrunde warten mit Portugal, Dänemark und den Niederlanden schwere Gegner.

‣ Alle Partien im neuen Liveticker

‣ Livevideos von den DFB-Pressekonferenzen

Jeden Tag. 24 Stunden.

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gezeichneter Sänger und trat jahrelangmit seinem Sohn Merle auf, der 1985 beieinem Unfall ums Leben kam. Für seinWerk wurde der bis zuletzt aktive Wat-son mit insgesamt acht Grammys ausge-zeichnet. Doc Watson starb am 29. Maiin Winston-Salem, North Carolina.

Friedrich Hirzebruch, 84. Unter den Wis-senschaften tat sich die deutsche Mathe-matik besonders schwer, wieder An-schluss an jene Bedeutung zu finden, diesie vor dem Zweiten Weltkrieg gehabthatte. Dass sie inzwischen doch wiederinternational beachtet wird, daran hatHirzebruch maßgeblich Anteil. Am In -stitute for Advanced Study im amerika-nischen Princeton hatte er als junger Gastwissenschaftler nicht nur Berühmt-heiten wie Albert Einstein und Kurt Gö-del erlebt, sondern auch eine einzigartige

Forschungsinstitutionkennengelernt. EtwasÄhnliches, beschlosser, müsse es auch inDeutschland geben.Mehr als ein Jahr-zehnt hat er dafür ge-kämpft, dann wurdesein Traum Wirklich-keit: 1980 nahm dasBonner Max-Planck-Institut für Mathema-

tik seine Forschungsarbeit auf. Bis heuteist es die wohl wichtigste Adresse derdeutschen Mathematik. Friedrich Hirze-bruch starb am 27. Mai nach einem Sturz.

Gerhard Pohl, 74. Ein paar Worte brach-ten all die Hilflosigkeit auf den Punkt,die dieser Mann ausstrahlte. Wie viel Pro-zent denn westdeutsche Firmen in Joint-Venture-Projekten mit Ost-Betriebenübernehmen könnten, wurde er gefragt.Kurzes Zögern, dann die Antwort: Bis zuhundert Prozent selbstverständlich. Daswar 1990, Gerhard Pohl war Wirtschafts-minister der DDR. Zumindest trug er denTitel. Denn Pohl, grauer Anzug, mühsa-mer Redefluss, war einfach überfordert.Der Handwerker und studierte Ingenieurstammte aus der Lausitz, einer Gegendam östlichen Rand der Republik. Überra-schend wurde er – Mitglied der DDR-CDU – ins Zentrum des sich vereinigen-den Deutschlands katapultiert. Lothar deMaizière machte ihn zum Wirtschafts -minister. Aber was war das für eine Wirt-schaft? Und was konnte ein Übergangs-minister schon ausrichten? Im August1990 bat er um seine Entlassung und ver-schwand von einer Bühne, auf die er nichtpasste. Später lebte er zurückgezogen imBrandenburgischen, zuletzt führte er einkleines Unternehmen. Gerhard Pohl wur-de am 30. Mai tot im Schwielochsee ge-funden.

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Klaas Carel Faber, 90. Er gehörte zur großen Schar der Nazi-Täter, die unbe-helligt blieben. Bei Klaas Carel Faber wa-ren es zwischenstaat-liche Verwicklungen,die ihn vor einer Strafe bewahrten. Inseiner Heimat hatteder niederländischeNationalsozialist alsSS-Freiwilliger unteranderem im Durch-gangslager Wester-bork mitgemordet.Sein Bruder Piet wur-de für diese Verbre-chen hingerichtet, Klaas’ Todesurteil wur-de in lebenslange Freiheitsstrafe umge-wandelt. An Weihnachten 1952 konnte eraus dem Gefängnis Breda fliehen und sichin die Bundesrepublik absetzen. Dortwurde Faber Deutscher, auf Grundlageeines Hitler-Erlasses, wonach ausländi-sche Schergen in SS, Polizei und Wehr-macht die Staatsbürgerschaft erhaltensollten. Die neue Nationalität schützteFaber vor der Auslieferung, um die sichdie Niederlande sofort bemüht hatten.Das Landgericht Düsseldorf stellte seineErmittlungen 1957 ein. 1961 zog Fabernach Ingolstadt, wo er über 50 Jahre langlebte. 2004 verwahrte sich das dortigeLandgericht gegen das Ansinnen, die inden Niederlanden verhängte Haftstrafezu vollstrecken. Anfang 2012 schien esnoch einmal, als könne sich die bayeri-sche Justiz bewegen. Klaas Carel Faberstarb am 24. Mai im Klinikum Ingolstadt.

Doc Watson, 89. Von der Geschwindig-keit seiner Fingerpickings konnte jedemmittelmäßigen Gitarristen schwindeligwerden. Der Folkmusiker aus den Appa-lachen spielte selbst für Geige und Banjokonzipierte Stücke wie „Black MountainRag“ so leichtfingrig auf seiner Western-gitarre, als wären deren Stahlsaiten ausButter. „Doc“, mit bürgerlichem NamenArthel Lane, war schon als Kleinkind er-blindet und lernte das Spielen nach Ge-hör. Seit den sechziger Jahren nahm erPlatten auf, es sollten über 50 Alben wer-den. Watson trug mit seinem immensenRepertoire zur Re-naissance der ameri-kanischen Country-Musik bei und bliebdabei stiloffen; seineTechnik wurde zumVorbild für Genera-tionen von Folk- undBluegrass-Gitarristen.Wie viele Instrumen-talisten seines Genreswar er auch ein aus-

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Gerhard Gribkowsky, 54, ehemaliger Ri-sikovorstand der BayernLB und Unter -suchungshäftling, singt hinter Gittern.Seit Monaten gehört der Münchner Ban-ker, den Formel-1-Chef Bernie Ecclestonemit 44 Millionen Dollar bestochen habensoll, zur Stammbesetzung des Gefange-nenchors in der JVA München-Stadel-heim. Entlassene Häftlinge berichten,Gribkowskys Einsatz bei der Sangestrup-pe sei „extrem leidenschaftlich“. Er sitztseit 17 Monaten in Untersuchungshaftund hat die Bestechungsvorwürfe, genauwie Ecclestone, von Anfang an bestritten.Gribkowsky will das Geld für Berater-dienste bekommen haben. Um die Zeitim Gefängnis besser zu ertragen, nimmter auch regelmäßig an Bibelstunden teil.

Elena Arzak, 42, ausgezeichnet mit demVeuve-Clicquot-Preis „Beste Köchin derWelt 2012“, hält nichts von bierernsterHaute Cuisine. So hat die Baskin ein Ge-richt mit dem überaus schlichten Namen„Steak mit Kartoffeln“ auf die Karte ge-bracht – um die Gäste an der Nase her -umzuführen. Denn das „Steak“ entpupptsich als Loup de Mer, den kolorierte Kar-toffeln wie Schuppen bedecken – dunkel-blau gefleckt von Tintenfisch oder rotvon Paprika. Vor der Reaktion der Kun-den habe sie gezittert, so Arzak, „aberes hat sich niemand beschwert“. Sie kochtim Tandem mit ihrem Vater Juan MariArzak im Drei-Sterne-Restaurant Arzakin San Sebastian. Schon ihre Großmutterund ihre Tante waren Chefköchinnen.

Fleur Pellerin, 38, Frankreichs neue Mi-nisterin für Innovation und E-Business,wird in Südkorea als Stolz der Nation ge-feiert. „Jong-sook“ („diskret“, „ehrlich“),wie ihr Vorname im Reisepass lautet, wur-de 1973 als Neugeborene in Seoul auf derStraße gefunden und wenig später voneinem französischen Ehepaar adoptiert.Das Findelkind entwickelte sich prächtigund schaffte in seiner neuen Heimat be-reits 16 Jahre später das Abitur an einemdeutsch-französischen Gymnasium; da-nach besuchte Pellerin mehrere Elitehoch-schulen. In ihrem Geburtsland gilt diefranzösische Politikerin nun als leuchten-des Beispiel – eine Vorbildfunktion, diePellerin offenbar nicht behagt; sie wollesich weder vereinnahmen noch auf Äu-ßerlichkeiten reduzieren lassen, sagt sieund findet dafür klare Worte: „Ich binnicht so weit gekommen, weil ich eineFrau bin oder weil ich Schlitzaugen habe,sondern weil ich kompetent bin.“

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Linde, Adelsohn Liljeroth

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„Machen Sie für eineStunde am Tag das Ding aus. Gucken Sienicht auf den Bildschirm, sondern blicken Siedem Menschen in die Augen, den Sie lieben.“

Eric Schmidt, 57, Google-Verwaltungs-

ratschef, in einer Ansprache vor

Hochschulabsolventen in Boston

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Pellerin

Lena Adelsohn Liljeroth, 56, schwedischeKulturministerin, hat sich ihr Image durchein Happening im Stockholmer Museumfür Moderne Kunst ruiniert. Der KünstlerMakode Linde, 30, hatte dort eine dunkelglasierte Torte in Form einer afrikani-schen Venusstatuette ausgestellt, dazusein Gesicht geschminkt und als Kopf desTorsos posiert. Die Besucher der Perfor-mance durften – und sollten – die Torteverzehren. Immer wenn ein Messer durchdie Kuchenmasse fuhr, schrie Linde wieam Spieß. Er wolle mit der Aktion gegendie Beschneidung afrikanischer Frauenprotestieren, sagte er. Die Ministerin ließsich für die fragwürdige Performance be-reitwillig einspannen, Fotos und Filme da-von verbreiteten sich schnell. Nachdemselbst internationale Medien wie CNNund al-Dschasira die Meldung über denangeblichen „racist cake“ verbreitet hat-ten, sah sich die Ministerin Rassismusvor-würfen und Rücktrittsforderungen ausge-setzt. Zerknirscht reagierte sie nun: „Ichwar völlig überrascht von der Aktion undhatte keine Gelegenheit, mich zuvor mitdem Kunstwerk auseinanderzusetzen.“

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Mona Eltahawy, 44, ägyptischstämmigePublizistin, fordert den Aufstand derFrauen in der arabischen Welt. In ihremEssay „Warum hassen sie uns?“, erschie-nen im US-Magazin „Foreign Policy“, be-klagt Eltahawy unter anderem, dass derarabische Frühling die Situation der Frau-en nicht verbessert habe. Die Empörunggegen die Unterdrücker in den Palästenmüsse sich auch gegen die Unterdrückerauf der Straße und in den Familien rich-ten, fordert Eltahawy und meint damitdie arabischen Ehemänner, Brüder, Väter.Wenn das nicht passiere, so die Autorin,

habe „die Revolution noch nicht einmalbegonnen“. Eine „giftige Mischung ausKultur und Religion“, so Eltahawy, sei fürdie Missachtung des weiblichen Teils derBevölkerung in Staaten wie Ägypten, Ma-rokko oder Saudi-Arabien – wo Zwangs-heirat zum Alltag gehört – verantwortlich.Ihr Kampfaufruf stößt nicht nur auf Zu-stimmung. Die ägyptische Aktivistin Sa-rah Nagib findet die Hass-These wenighilfreich: „Das ist, als würde man sagen,alle Muslime seien Terroristen, alle Judenseien böse und der amerikanische Traumfunktioniere immer noch.“

Michael Caine, 79, britischer Schauspie-ler, und seine Ehefrau Shakira Caine, 65,üben sich in bürgerlichem Ungehorsam.Beide schickten einen Protestbrief an denGemeinderat ihres Heimatdistrikts MoleValley in Surrey. Sir und Lady Caine sindgegen den Bau eines Luxushotels mitGolfplatz in ihrer Nachbarschaft – und siesind nicht die Einzigen. In den vergange-nen Wochen gingen zahlreiche Schreibenmit Einwänden gegen das Projekt bei derBehörde ein. Die Planungen betreffen dasehemalige Anwesen des einstigen Presse-Tycoons Lord Beaverbrook, der in denschlossähnlichen Gemäuern WinstonChurchill und H.G. Wells empfing. Geg-ner des Umbaus fürchten vor allem dieZerstörung der Landschaft: Ein beträcht-licher Teil des 150 Hektar großen Grund-stücks besteht aus seltenen Wiesenflächen,die Golfrasen weichen sollen.

Tony Blair, 59, ehemaliger Premierminis-ter Großbritanniens und konvertierter Ka-tholik, gefällt sich in der Rolle des Predi-gers. Der frühere Chef der Labour-Parteiwarnte vor 4000 Zuhörern in London beieiner Konferenz, eine Welt ohne Glaubenwürde unaufhaltsam in „Tragödie undUnglück“ versinken. Er forderte „mehrDemut“, denn dies erlaube der Mensch-heit, „Fortschritte zu machen“. In seinemletzten Amtsjahr (bis Juni 2007) hattenKritiker oft bemängelt, Blair trenne reli-giöse Ansichten und poli tische Aktivitä-ten nicht scharf genug. In seiner Rede of-fenbarte Blair nun, er habe oft überlegt,ob er seine Ansprachen mit einem „Gottsegne Großbritannien“ abschließen solle.Seine Berater seien entsetzt gewesen, ei-ner habe eines Tages „sehr missbilligend“gesagt: „Denken Sie daran, wir sind hiernicht in Amerika.“ Daraufhin, so Blair,habe er die Idee endgültig aufgegeben.

Alice Schwarzer, 69, Berufsfeministin,hat zusammen mit der Fernsehköchin Sarah Wiener, 49, vergangenen Mittwochbei Jörg Pilawas „Quizshow“ im ZDF150000 Euro gewonnen. Bei der öffent-lich-rechtlichen Rateshow geht es dar um,möglichst viel Geld für einen gutenZweck zu ergattern. Die beiden Frauenerzählten auch gleich, wofür sie spendenwollten. Schwarzer gibt 5000 Euro an einJugendzentrum, 70000 Euro soll der Frau-enMediaTurm in Köln bekommen. Ein„ganz stolzes Frauenarchiv“, schwärmteSchwarzer in der Sendung, vergaß aberzu erwähnen, dass es sich dabei um ihrumstrittenes Lebenswerk (SPIEGEL5/2012) handelt. Auch Wiener kämpfteüberwiegend für die eigene Sache: DerGroßteil ihres Gewinns geht an eine Ein-richtung, die sich für gesunde Ernährungvon Kindern und Jugendlichen einsetzt –die Sarah Wiener Stiftung.

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RAishwarya Rai, 38,

Bollywood-Star, brachte

mit einem Auftritt in

Cannes Kritiker zum

Verstummen. Nach der

Geburt ihres Kindes im

November vergange-

nen Jahres war sie von

der Klatschpresse als

übergewichtig verspot-

tet worden. An der

Côte d’Azur zeigte sich

die Inderin zwar nicht

ganz so schlank wie

vor der Schwanger-

schaft, bewies aber,

warum sie oft als

„schönste Frau der

Welt“ gefeiert wird.

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Die Oberhaveler „Dorfzeitung“ über ei-nen Tomatenparasiten: „Es empfiehlt sichaber vor allem Vegetariern, die angefal-lenen Früchte nicht zu verzehren, da essich bei den abgelegten Eiern um ein tie-risches Produkt handelt.“

Aus dem Bonner „General-Anzeiger“: „Mitanderen Worten: Der Lindt-Hase sieht aus,wie Schoko-Hasen halt aussehen, beson-ders zu Ostern und Weihnachten.“

Aus der „Westfälischen Rundschau“: „Alser den Fahrausweis des 25-Jährigen kon-trollieren wollte, stellte sich heraus, dasser ohne Fahrschein die S-Bahn nutzte.Beim Versuch, die Personalien festzustellen,wurde der Mitarbeiter von ihm zur Seitegestoßen und versuchte, beim Halt inUnna-Massen aus der S-Bahn zu flüchten.“

Bildunterschrift im „Reutlinger General-Anzeiger“: „Zwanzig Jahre hat sie bereitsauf den Schuppen: die giftige Prärie-Plap-perschlange des Reutlinger Exotariums.“

Aus dem „Odenwälder Echo“: „MehrereGenossinnen zeigten sich erschüttert überden Auftritt Gabriels und stellten offen des-sen Eignung als SPD-Kanzlerkandidat fürdie Bundestagswahl 2013 in Frage. ‚Ich ha -be große Zweifel, mich dir als Kanzler vor-zustellen‘, empörte sich eine Rednerin.“

Zitate

Die „New York Times“ zum SPIEGEL-Bericht „Währungspolitik – Judo am Ab-grund“ über EU-Strukturreformpläne derKanzlerin zur Euro-Rettung (Nr. 22/2012):

Das Magazin DER SPIEGEL berichtete,dass ein Sechs-Punkte-Plan entwickeltworden sei, der Anreize für mittlere Un-ternehmen enthalte, Lockerung des Kün-digungsschutzes und Sonderwirtschafts-zonen vorsehe und sogar das deutscheduale Ausbildungssystem – Schule undArbeit im Betrieb – propagiere. StaatlicheUnternehmen sollen laut dem Plan nachdem Treuhand-Prinzip verkauft werden,der Organisation, die dafür sorgte, dassOstdeutschlands Wirtschaft privatisiertwurde. „Der Mittelmeerraum soll werdenwie die Bundesrepublik, nur mit besse-rem Wetter“, schrieb das Magazin.

Die italienische Zeitung „Il Fatto Quoti-diano“ zum SPIEGEL-Bericht „Europa –Operation Selbstbetrug“ über Akten derBundesregierung, die belegen, dass Ita-lien wider besseres Wissen in die Euro-Zone aufgenommen wurde (Nr. 19/2012):

Ein Artikel des SPIEGEL enthüllt, dassDeutschland Italien 1997/98 nicht für reifhielt, dem Euro beizutreten, und dass Ita-lien geschönte Zahlen einreichte … Einlöblicher Akt der Transparenz ist die TatBerlins, den Journalisten die Akten zurVerfügung gestellt zu haben. Man könnteaber auch böse sein und ein verdächtigesTiming bemerken. Der SPIEGEL erinnertuns daran, dass wir Kohls Freundlichkeitden Euro zu verdanken haben, nicht nurder Entschlossenheit Ciampis und Prodis.Dass wir uns also gar nicht so sehr vonGriechenland unterscheiden, das sein Defizit fälschte, um angenommen zu werden. Und dass wir folglich nicht dieGlaubwürdigkeit besitzen, um der Euro-Zone eine Linie vorzugeben. Heute wiedamals, scheint der Subtext zu heißen,liegen die letzten Entscheidungen einzigbei Deutschland.

Der „Tagesspiegel“ zum SPIEGEL-Be-richt „Rundfunk – Eingemauert“ überdie ARD-Vorsitzende Monika Piel (Nr.22/2012):

WDR-Rundfunkrats-Vorsitzende Hiero-nymi lobt Piel für die Schärfung des Pro-fils „etwa durch mehr Sondersendungenbei aktuellen Themen“. Dafür schwindetder Rückhalt im eigenen Lager. So konnteder SPIEGEL aus einem Beschwerdebriefan Piel von Helmut Reitze, dem Inten-danten des Hessischen Rundfunks, zitie-ren. Reitze warf Piel vor, die anderen In-tendanten nicht schnell genug über denStand des App-Streits mit den Verlegerninformiert zu haben.

Hohlspiegel Rückspiegel

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Schild in der SPIEGEL-Kantine

Kleinanzeige im „Kölner Stadt-Anzeiger“

Schild vor einem Berliner Kunstgewerbe-geschäft

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