Perspektiven auf die Ursachen der
Lese-Rechtschreibstörung
Einstellungen und Bewertungen
in Interviews mit Betroffenen, Eltern von
Betroffenen, Trainer/-innen und
Außenstehenden
Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
einer Magistra der Philosophie (Mag.a phil.)
eingereicht von
Anna-Sophia Baldauf
an der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät
Institut für Germanistik
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
bei
Ass.-Prof. Mag. Dr. Heike Ortner
im Februar 2019
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort .............................................................................................................................. 1
2. Einleitung ........................................................................................................................... 2
2.1. Der Stellenwert der Rechtschreibung in der Gesellschaft ........................................... 2
2.2. Forschungsstand .......................................................................................................... 2
2.3. Fragestellung und Hypothese ...................................................................................... 3
2.4. Aufbau der Arbeit ........................................................................................................ 3
3. Theorieteil: Die Lese-Rechtschreibstörung .................................................................... 5
3.1. Symptomatik und Abgrenzung .................................................................................... 5
3.2. Diagnose .................................................................................................................... 10
3.3. Prävention und Förderung ......................................................................................... 13
3.4. Ursachen für eine Lese-Rechtschreibstörung ............................................................ 19
3.4.1. Historische Entwicklung der Ursachenforschung .............................................. 19
3.4.2. Genetische Disposition ....................................................................................... 22
3.4.3. Neurobiologisch versursachte defizitäre kognitive Lernvoraussetzungen ......... 24
3.4.3.1. Störung der phonologischen Informationsverarbeitung .............................. 25
3.4.3.2. Störung der visuellen Informationsverarbeitung: Magnozelluläres Defizit 26
3.4.3.3. Störung der auditiven Informationsverarbeitung ........................................ 27
3.4.3.4. Automatisierungsdefizit: Die Cerebellum-Theorie ..................................... 32
3.4.3.5. Funktionales Koordinationsdefizit .............................................................. 34
3.4.4. Negativ beeinflussende Faktoren aus der Umwelt ............................................. 35
3.4.5. Multikausalität .................................................................................................... 38
3.4.6. Fazit über die Ursachen ...................................................................................... 40
4. Analyseteil ........................................................................................................................ 42
4.1. Erklärung und Begründung der Forschungsmethode ................................................ 42
4.1.1. Narrative Leitfadeninterviews ............................................................................ 42
4.1.2. Befragte .............................................................................................................. 46
4.1.3. Leitfragen für die Interviews .............................................................................. 47
4.1.3.1. Leitfragen für die LRS-Betroffenen ............................................................ 48
4.1.3.2. Leitfragen für die Eltern von Betroffenen .................................................. 49
4.1.3.3. Leitfragen für die LRS-Trainer/-innen ........................................................ 50
4.1.3.4. Leitfragen für die Außenstehenden ............................................................. 51
4.1.4. Vorgangsweise bei der Analyse ......................................................................... 52
4.2. Analyse der Interviews .............................................................................................. 54
4.2.1. Ursachen: Annahme einer genetischen Disposition ........................................... 54
4.2.2. Ursachen: Annahme der mangelnden Intelligenz .............................................. 59
4.2.3. Ursachen: Beeinflussende Faktoren aus der Umwelt ......................................... 61
4.2.4. Ursachen: Annahme von kognitiven Defiziten .................................................. 69
4.2.5. Ursachen: Ratlosigkeit ....................................................................................... 70
4.2.6. Ursachen: Annahme der Multikausalität ............................................................ 72
4.2.7. Ursachen: Änderung der Einstellung dazu ......................................................... 74
4.2.8. Ursachen: Interesse der Trainer/-innen .............................................................. 76
4.2.9. Ursachen: Interesse der Betroffenen .................................................................. 78
4.2.10. Ursachen: Interesse der Eltern ............................................................................ 84
4.2.11. Ursachen: Interesse der Außenstehenden bzw. Fragen danach als Tabu ........... 87
4.2.12. Ursachen: Wissen darüber als Entlastung .......................................................... 89
5. Pädagogischer Teil: Der Umgang mit der LRS im Unterricht ................................... 93
5.1. Gesetzliche Regelung ................................................................................................ 93
5.2. Die Rolle der Lehrpersonen ....................................................................................... 98
6. Schluss ............................................................................................................................ 100
7. Literatur- und Onlinequellenverzeichnis ................................................................... 102
7.1. Literatur ................................................................................................................... 102
7.2. Online-Quellen ........................................................................................................ 107
8. Abbildungsverzeichnis .................................................................................................. 108
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1. Vorwort
In dieser Arbeit geht es um die Ursachen der Lese-Rechtschreibstörung, konkret um
verschiedene Perspektiven unterschiedlicher Personengruppen auf diese.
Ich habe mich für dieses Thema entschieden, weil es in einer Vorlesung von Frau Prof. Heike
Ortner über die Entwicklung sprachlicher Kompetenzen unter anderem um die Lese-
Rechtschreibstörung und deren bis heute nicht geklärte Ursachen ging, was ich sehr spannend
fand. An dieser Stelle möchte ich mich bei Frau Prof. Ortner dafür bedanken, dass sie die
Betreuung dieser Arbeit übernommen hat und mir während des Schreibprozesses
unterstützend zur Seite gestanden ist. Mein Dank gilt auch den sechzehn Personen, konkret
den jeweils vier Betroffenen, Elternteilen von Betroffenen, Trainer/-innen und
Außenstehenden, mit denen ich Interviews führen durfte. Ohne deren Zeitaufwand bzw.
Bereitschaft, mir Fragen über deren Erfahrungen mit der Leserechtschreibstörung und deren
Einstellungen und Meinungen zu dieser und den Ursachen für diese zu beantworten, wäre das
Schreiben dieser Arbeit nicht möglich gewesen.
Es sei darauf hingewiesen, dass der in dieser Arbeit oft vorkommende Begriff ‚Lese-
Rechtschreibstörung‘ in den folgenden Ausführungen mit ‚LRS‘ abgekürzt wird.
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2. Einleitung
2.1. Der Stellenwert der Rechtschreibung in der Gesellschaft
Die Rechtschreibung gehört in unserer Gesellschaft zu den „grundlegenden kulturellen
Fertigkeiten“, denn wer sie nicht beherrscht, kann in der Kultur nicht „heimisch werden“
(Wilckens 2018: 188). Richtig schreiben zu können ist Wilckens (2018: 188) zufolge darüber
hinaus implizit ein „Indikator für Persönlichkeitsmerkmale, für den Bildungsgrad und für
Intelligenz“. Steinbrink/Lachmann (2014: VII) bezeichnen die Schriftsprache in ihrem Vorwort
als „zentrale Schlüsselkompetenz in formalen Bildungssystemen wie dem unseren“. Die
Orthographie eignet sich laut Wilckens (2018: 189) nämlich unter anderem „hervorragend für
den Anspruch messbarer Objektivität“. Ein Rechtschreibfehler kann eindeutig und zweifelsfrei
objektiv festgestellt werden, weshalb er auch leicht Noten zuzuordnen ist. Diese wiederum sind
der „Gegenwert für Leistung“ (Wilckens 2018: 189). In diesem Zusammenhang führt Kettner
(2011: 225) aus, dass „selbst so elementare Kulturleistungen wie der Erwerb bzw. die
Weitergabe der schriftlichen Muttersprache nicht ohne Arbeitsaufwand verlaufen“, weshalb die
Beherrschung der Rechtschreibung in unserer Gesellschaft unter anderem als zentral gilt, wenn
es um die Bestimmung der Leistungsbereitschaft eines Menschen geht.
2.2. Forschungsstand
Steinbrink/Lachmann (2014: 10) zufolge ist die „Masse an wissenschaftlichen Publikationen
zum Thema Lese-Rechtschreibstörung“ aktuell „kaum noch überschaubar“. Die LRS steht wie
keine andere Lernstörung „im Fokus der wissenschaftlichen Forschung“ (Steinbrink/Lachmann
2014: 6) und wird seit über 100 Jahren erforscht. Trotzdem herrscht bis heute in vielen
Bereichen (z.B. Diagnosekriterien, Fördermaßnahmen) Uneinigkeit und Unklarheit vor. Auch
bezüglich der Ursachen, die für die Entstehung einer LRS verantwortlich sind, ist man sich
aktuell nicht einig (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 7). Obwohl teilweise sehr überzeugende
Theorien vorliegen, die die Entstehung einer LRS erklären, ist es laut Mayer (2016: 64) „bisher
keiner Hypothese gelungen, alle Phänomene, die bei einer Lese-Rechtschreibstörung
beobachtet wurden, befriedigend zu erklären“. Steinbrink/Lachmann (2014: 11) stellen sich in
diesem Zusammenhang aber dennoch gegen eine „pessimistische Sichtweise“. Trotz der vielen
heterogenen Theorien können ihnen zufolge auch „klare Aussagen“ (Steinbrink/Lachmann
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2014: 11) getätigt werden. Zusammenfassend wird in der Forschung aber bis heute darüber
diskutiert, was die Ursachen für eine LRS sind.
2.3. Fragestellung und Hypothese
Gerade weil die Ursachen bis heute umstritten sind, sind die Perspektiven auf diese von
verschiedenen Personengruppen in der Gesellschaft interessant. Diese haben nämlich einen
jeweils unterschiedlichen Bezug zur LRS und verschiedene Erfahrungen mit ihr gemacht.
Zudem kann davon ausgegangen werden, dass sich deren Wissen darüber unterscheidet. Auf
der Grundlage dieser Überlegungen wurde folgende Fragestellung formuliert:
Was für Perspektiven auf die Ursachen für eine LRS haben Betroffene, Eltern von Betroffenen,
LRS-Trainer/-innen und Außenstehende? Inwiefern unterscheiden sich die Perspektiven
voneinander und von den Erkenntnissen in der aktuellen Forschungsliteratur?
Auf die genaue Vorgehensweise, die verwendet wurde, um diese Fragestellung beantworten zu
können, wird in späteren Kapiteln eingegangen. Die auf Basis der Fragestellung aufgestellte
Hypothese lautet:
Die Perspektiven der Befragten decken sich weitgehend mit den Erkenntnissen aus der
Forschungsliteratur. Eltern von Betroffenen und LRS-Trainer/-innen haben ähnliche
Einstellungen zu den Ursachen, während Betroffene oft eigene Theorien haben und
Außenstehende aufgrund eines mangelnden Bezugs den Ursachen gegenüber ratlos sind.
2.4. Aufbau der Arbeit
In dieser Arbeit wird im ersten Teil zunächst einleitend auf theoretische Aspekte der LRS
eingegangen. Konkret erfolgt die Vorstellung des Forschungsstands bezüglich Symptomatik,
Abgrenzung, Diagnose und Förderung der LRS. Anschließend werden vertiefend die aktuell
relevanten Erkenntnisse zu den Ursachen, die für die Entstehung der LRS verantwortlich sind,
dargelegt. Im empirischen Teil wird zuerst die Forschungsmethode erklärt und deren Auswahl
begründet. Konkret wird auf das qualitative Leitfadeninterview und das narrative Interview
sowie die Auswahl der Befragten eingegangen. Zudem werden die Leitfragen für die vier
Personengruppen angeführt und die Vorgangsweise bei der Analyse der Interviews
beschrieben. Die Analyse von Interviewausschnitten, die in einem Zusammenhang mit den
Ursachen für die LRS stehen, erfolgt im nächsten Teil der Arbeit mithilfe der Zuordnung zu
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verschiedenen Kategorien. Anschließend wird im pädagogischen Teil dieser Arbeit auf den
Umgang mit der LRS in der Schule eingegangen, indem die gesetzlichen Regelungen bzw.
Erlässe, Handreichungen etc. diesbezüglich dargelegt werden und auf die Rolle der
Lehrpersonen eingegangen wird.
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3. Theorieteil: Die Lese-Rechtschreibstörung
3.1. Symptomatik und Abgrenzung
In diesem Kapitel wird auf die Merkmale der LRS eingegangen und der Begriff ‚Lese-
Rechtschreibstörung‘ von anderen Begriffen (z.B. ‚Lese-Rechtschreibschwäche‘) abgegrenzt.
Bevor spezifische Symptome der LRS angeführt werden, erfolgt zunächst die Vorstellung der
Klassifikation und Beschreibung der LRS nach der ICD-10 (10. revidierte Fassung der
‚International Classification of Diseases‘, 2013). Die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation
ist international gültig, auch in Österreich werden alle körperlichen und psychischen Störungen
nach diesem System klassifiziert (vgl. Schleider 2009: 20). In vielen Bereichen bezüglich der
LRS herrscht bis heute Uneinigkeit. Trotzdem lässt sich aktuell in Fachkreisen tendenziell eine
Orientierung an den Vorgaben der ICD-10 feststellen, wenn es beispielsweise um die Nennung
von Symptomen oder die Erstellung der Diagnose geht (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 51
und Schleider 2009: 18).
Unter den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten heißt es in der
Beschreibung der ICD-10:
Es handelt sich um Störungen, bei denen die normalen Muster des Fertigkeitserwerbs von frühen
Entwicklungsstadien an gestört sind. Dies ist nicht einfach Folge eines Mangels an Gelegenheit zu lernen;
es ist auch nicht allein als Folge einer Intelligenzminderung oder irgendeiner erworbenen Hirnschädigung
oder -krankheit aufzufassen (vgl. OQ11).
Diesen Entwicklungsstörungen ist unter anderem die Lese-Rechtschreibstörung zuzuordnen,
die wie folgt beschrieben wird:
Das Hauptmerkmal ist eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der
Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene
Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wiederzuerkennen,
vorzulesen und Leistungen, für welche Lesefähigkeit nötig ist, können sämtlich betroffen sein. Bei
umschriebenen Lesestörungen sind Rechtschreibstörungen häufig und persistieren oft bis in die
Adoleszenz, auch wenn einige Fortschritte im Lesen gemacht werden. Umschriebenen
Entwicklungsstörungen des Lesens gehen Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache
voraus. Während der Schulzeit sind begleitende Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich häufig
(vgl. OQ1).
1 Die Onlinequellen sind nummeriert in der Bibliographie angegeben.
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Mayer (2016: 45) definiert die Lese-Rechtschreibstörung in Anlehnung an die ICD-10 der
WHO und unter Rücksichtnahme der Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder-
und Jugendpsychiatrie und anderer Publikationen2 wie folgt:
Unter der Lese-Rechtschreibstörung wird eine Lernstörung verstanden, die sich durch Probleme beim
Erwerb und der Anwendung der indirekten Lesestrategie (= phonologisches Rekodieren) und/oder der
automatisierten Worterkennung sowie beeinträchtigter Rechtschreibung charakterisieren lässt. Sie […]
geht oft mit Spracherwerbsstörungen einher. Die Lernstörung tritt unabhängig von kognitiven Fähigkeiten
auf und ist nicht die Folge unangemessenen Unterrichts. Sie kann sich negativ auf das Leseverständnis,
die kognitive, die sprachliche sowie die sozio-emotionale Entwicklung auswirken.
Bis heute gibt es keine allgemein gültige Auflistung von Symptomen einer LRS. In Anlehnung
an die ICD-10 (2006) fasst beispielsweise Schleider (2009: 16-17) Merkmale einer LRS
zusammen. Bezüglich des Lesens und des Leseverständnisses lassen sich ihr zufolge folgende
Punkte nennen (Schleider 2009: 16):
• „Auslassen, Ersetzen, Vertauschen oder Ergänzen von Wörtern, Wortteilen oder
Buchstaben
• optische Differenzierungsschwäche bezogen auf kleine, aber Sinn tragende
Unterschiede in Wörtern
• geringes Lesetempo
• Schwierigkeiten beim Lesebeginn und im Lesefluss (z.B. fehlendes oder ungenaues
Verbinden von Wörtern, Zögern, Verlieren der Textteile)
• Reihenfolgefehler von Wörtern im Satz oder von Buchstaben im Wort
• Schwierigkeiten, Gelesenes wiederzugeben bzw. zu wiederholen, daraus Schlüsse zu
ziehen oder Zusammenhänge zu erkennen
• Nutzen des eigenen Allgemeinwissens, statt Bezug auf den gelesenen Text zu nehmen“
Bezüglich des Rechtschreibens fasst sie folgende Punkte zusammen (Schleider 2009: 17):
• „hohe Fehlerzahlen in ungeübten wie geübten Diktaten sowie beim Abschreiben
• ggf. Verdrehungen von Buchstaben (z.B. b/d, p/q, u/n)
• ggf. falsche bzw. umgekehrte Reihenfolge der Buchstaben im Wort (z.B. Brief/*Breif)
• ggf. Auslassungen von Buchstaben (z.B. deine/eine)
2 Vgl. z.B. Lyon, G. Reid/Shaywitz, Sally/Shaywitz, Benett (2003): Defining Dyslexia, Comorbidity, Teacher´s
Knowledge of Language and Reading. A Definition of Dyslexia. In: Annals of Dyslexia 53 (1), 1-14; zit. n.
Mayer (2016: 45).
und Tunmer, William/Greaney, Keith (2010): Defining Dyslexia. In: Journal of Learning Disabilities 43 (3),
229-243; zit. n. Mayer (2016: 45).
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• ggf. Einfügungen falscher Buchstaben (z.B. *wegseln)
• ggf. Regelfehler beim Rechtschreiben: Dehnungsfehler (z.B. *Baan vs. Bahn), Fehler
bei Groß- und Kleinschreibung (z.B. *strauß)
• Grammatik- und/oder Interpunktionsfehler
• ggf. Wahrnehmungsfehler (z.B. das Verwechseln harter und weicher Konsonanten, wie
etwa k/g, t/d, p/b)
• Fehlerinkonstanz, d.h. dasselbe Wort wird einmal (z.T. unterschiedlich) falsch, ein
anderes Mal richtig geschrieben
• Probleme, Lese- und Rechtschreibfehler zu erkennen und zu korrigieren
• häufig unleserliche Handschrift“
Neben dem Begriff ‚Lese-Rechtschreibstörung‘ gibt es noch eine Reihe weiterer Begriffe (z.B.
‚Legasthenie‘, ‚Lese-Rechtschreibschwäche‘, ‚Lese-Rechtschreibschwierigkeit‘), die jedoch
nach Schulte-Körne (20092: 29) nicht eindeutig definiert sind, weshalb eine Abgrenzung
zwischen diesen schwierig ist. Häufig werden sie synonym verwendet. Welcher Begriff gewählt
wird, hängt zu einem großen Teil davon ab, was für eine Position vertreten wird. Laut Schleider
(2009: 13-14) kann man bezüglich der Begriffswahl aktuell drei Positionen unterscheiden.
Anhänger der tendenziell psychologischen oder medizinischen Position verwenden die beiden
Begriffe ‚Lese-Rechtschreibstörung‘ und ‚Legasthenie‘, wobei diese synonym vorkommen. Es
wird davon ausgegangen, dass die Schwierigkeiten beim Erwerb des Lesens und Schreibens
genetisch bedingt sind und unabhängig von physischen, neurologischen oder psychischen
Erkrankungen, verminderter Intelligenz und versäumtem Schulbesuch auftreten. Innerhalb
dieser Position wird davon die ‚Lese-Rechtschreibschwäche‘ deutlich abgegrenzt. Auch hier
treten Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb auf, wobei man aber davon ausgeht, dass
diese auf soziokulturelle Bedingungen (z.B. mangelnde Beschulung) oder andere Ursachen
(z.B. organische Erkrankung) zurückzuführen sind. Während die Lese-Rechtschreibstörung als
lebenslang bestehend aufgefasst wird, ist die Lese-Rechtschreibschwäche der tendenziell
psychologischen oder medizinischen Position zufolge vorübergehend. Anhänger der
tendenziell pädagogischen Position bevorzugen den Begriff ‚Lese-
Rechtschreibschwierigkeiten‘. Argumentiert wird, dass dieser Begriff im Gegensatz zu ‚Lese-
Rechtschreibstörung‘ oder ‚Legasthenie‘ nicht auf ein langfristiges Bestehen von Problemen
beim Lesen und Schreiben hindeuten, sondern auf Lernprobleme beim Schriftspracherwerb, die
zeitweise auftreten können. Trotz aller Forschungsergebnisse hinsichtlich der genetischen
Bedingungen gehen Anhänger dieser Position davon aus, dass normal- bis überdurchschnittlich
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intelligente Kinder nicht von Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens
betroffen sein können. Zuletzt gibt es noch die tendenziell integrative Position, deren Anhänger
das Nennen verschiedener Subtypen favorisieren. Begründet wird dies mit dem Argument, dass
die Arten von Schwierigkeiten, die beim Lesen und/oder Schreiben auftreten können, heterogen
sind und deshalb die Einteilung in Untergruppen sinnvoll ist. Hier wird nach Schleider (2009:
14) beispielsweise zwischen dem „phonologischen Subtyp mit Schwierigkeiten bei der
phonologischen Informationsverarbeitung“ und dem „orthographischen Subtyp mit Problemen
im orthographischen Wissen“ unterschieden. Abgegrenzt wird beispielsweise auch die
„spezifische (zur Intelligenz diskrepante) Lese-Rechtschreibstörung“ von der „unspezifischen
(zur Intelligenz nicht diskrepanten) Lese-Rechtschreibstörung“ (Schleider 2009: 14).
Bei vielen Kindern mit LRS lassen sich Symptome komorbider Störungen feststellen, die laut
Esser (2002: 139) alle mit zunehmendem Alter rückläufig sind. Unter komorbiden Störungen
versteht man psychische Störungen bzw. Auffälligkeiten, die gemeinsam mit der LRS auftreten.
Esser/Schmidt (1994: 159-160) führten eine Studie durch, die zeigte, dass über 40% der von
einer Lese-Rechtschreibstörung Betroffenen im Volksschulalter und als Jugendliche
zusätzliche psychische Störungen aufweisen. Im Rahmen der Untersuchung wurde
herausgefunden, dass Kinder und Jugendliche mit einer Lese-Rechtschreibstörung im
Vergleich zu anderen vermehrt dissoziale Verhaltensweisen pflegen. Dazu gehören
beispielsweise Introvertiertheit oder aber auch kriminelle Handlungen. Neben den dissozialen
Störungen haben Kinder bzw. Jugendliche mit LRS auch oft Aufmerksamkeitsprobleme bzw.
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom), das „eine verkürzte
Aufmerksamkeitsspanne, eine erhöhte Impulsivität und eine gesteigerte motorische Unruhe“
mit sich bringt (vgl. Plume/Warnke 2006: 200).
Schleider (2009: 30-32) beschreibt den Prozess der Entwicklung von Folgestörungen. Die LRS
ist dabei der Auslöser für die Entstehung anderer körperlicher und/oder psychischer
Erkrankungen. Nach dem Schulbeginn beginnt das Kind innerhalb der ersten und zweiten
Klasse zu merken, dass es im Vergleich zu anderen Kindern nicht die geforderten Leistungen
im Bereich des Lesens und Schreibens bringen kann. Diese Erfahrung, in einem wichtigen
Leistungsbereich der Schule zu versagen, mindert das Selbstwertgefühl des Kindes. Die
negative Selbstbewertung führt zu psychologischen Folgen auf der motivationalen, kognitiven,
emotionalen und sozialen Ebene. Es kann nämlich unter anderem zur Abnahme der Motivation,
sich anzustrengen und mitzuarbeiten, bis hin zur Leistungsverweigerung kommen. Im
kognitiven Bereich treten Konzentrationsstörungen, Wissenslücken oder Lernausfälle auf.
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Emotional und sozial betrachtet kann das Kind Leistungsängste, ein aggressives Verhalten oder
eine Depression entwickeln und sich zunehmend zurückziehen. Gewisse Reaktionen von den
Eltern und aus dem schulischen Umfeld können in der Folge dazu führen, dass sich das
Selbstwertgefühl des Kindes weiter verschlechtert. Auf der Seite der Eltern können
beispielsweise gezeigte Enttäuschung über die Leistungen des Kindes oder Ungeduld beim
Üben negative Auswirkungen haben. Im Bereich der Schule können negative Bewertungen, ein
Unverständnis der Lehrer/-innen oder Hänseleien durch Mitschüler/-innen dazu führen, dass
das Selbstbewusstsein des Kindes weiter abnimmt. Im weiteren Verlauf kann das Kind dann
eine „generalisierte Schulleistungsstörung“ (Schleider 2009: 32) entwickeln. Das Kind hat nicht
nur in Deutsch Probleme, sondern zunehmend auch in anderen Fächern, indem es sich das
Wissen durch Lesen nicht mehr gut genug erschließen kann. Die Anstrengungsbereitschaft
nimmt in allen Fächern ab und Leistungsängste und -blockaden nehmen weiter zu. Laut
Schleider (2009: 32) muss spätestens zu diesem Zeitpunkt „umfassend interveniert“ werden
(z.B. durch Lese-Rechtschreibtraining, psychotherapeutische Behandlung), um zu verhindern,
dass sich die Folgestörungen zu schwerwiegenden psychischen Störungen laut der ICD-10
entwickeln.
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3.2. Diagnose
Laut Schleider (2009: 18) ist es aufgrund mehrerer Faktoren meist schwierig, eine LRS zu
diagnostizieren. Zum einen treten die Symptome der LRS erst auf, wenn das Lesen und
Schreiben erlernt werden. Je nach Unterricht und didaktischen Methoden können manche
Symptome somit mitunter erst am Ende der zweiten Klasse auftreten und damit diagnostiziert
werden. Zum anderen können sich Symptome einer Lese-Rechtschreibstörung im Laufe des
Lernprozesses verändern und sind teilweise zunächst nicht erkennbar, weil sie besonders bei
intelligenten Kindern durch andere Gedächtnisleistungen ausgeglichen werden. Darauf weist
auch Esser (2002: 137) hin, indem er anführt, dass gut geförderte und mit hohen kognitiven
Fähigkeiten ausgestattete Kinder ihre LRS anfangs beispielsweise durch das Auswendiglernen
von Diktaten kompensieren. Zudem sind die genannten Merkmale der LRS generell typische
Fehler zu Beginn des Schriftspracherwerbs (vgl. Plume/Warnke 2006: 199). Insgesamt werden
erste Anzeichen einer LRS meist bereits in den ersten Monaten nach Schulbeginn durch große
Probleme beim Erlernen des Lesens und Schreibens deutlich. Das Erlernen von Buchstaben
fällt schwer, vor allem gestaltähnliche Grapheme können oft nicht benannt werden. Später beim
Lesen werden Buchstaben, Wortteile oder Wörter häufig ausgelassen, ersetzt, verdreht oder
hinzugefügt, wobei die Lesegeschwindigkeit stark herabgesetzt ist. Beim Rechtschreiben
werden alle Fehlertypen häufig gemacht, da es keine für die LRS typischen Fehler gibt. Häufig
wird dasselbe Wort im gleichen Text auf verschiedene Arten geschrieben, was eine große
Unsicherheit bezüglich der Rechtschreibung zeigt (vgl. Esser 2002: 137). Eine LRS lässt sich
aber erst feststellen, wenn die Defizite über einen längeren Zeitraum nicht verschwinden (vgl.
Schleider 2009: 18).
Die diagnostische Beurteilung einer LRS setzt voraus, dass zuvor die Hör- und Sehfähigkeiten
des Kindes medizinisch überprüft wurden, um ausschließen zu können, dass die Probleme beim
Schriftspracherwerb nicht durch defizitäre auditive oder visuelle Voraussetzungen verursacht
werden (vgl. Plume/Warnke 2006: 199). Schulte-Körne (20092: 28) nennt außerdem eine Reihe
von weiteren Ausschlusskriterien, mithilfe derer eine Lese-Rechtschreibstörung
ausgeschlossen werden kann. Zu diesen gehören unter anderem:
• kein ausreichender Schulbesuch,
• nicht ausreichende kognitive Fähigkeiten,
• psychische Erkrankungen, welche die Lernfähigkeit so beeinflussen, dass auch der
Erwerb von Lese-Rechtschreibfähigkeit beeinträchtigt ist,
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• und neurologische Erkrankungen wie z.B. eine Hirnverletzung, die zu einem Verlust
bereits erworbener Lese- oder Schreibfähigkeit führt.
Bezüglich des Diagnoseverfahrens zur Feststellung einer Lese-Rechtschreibstörung ist man
sich in der Forschung und Praxis nicht einig. Ab wann von einer Störung des Lesens und/oder
Schreibens gesprochen wird, hängt davon ab, was für Kriterien bei der Diagnostik
herangezogen werden. Auch hier sind die Kriterien der ICD-10 im deutschen Sprachraum am
etabliertesten (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 138).
Steinbrink/Lachmann (2014: 136-138) nennen Schritte, die im Rahmen der Diagnoseerstellung
der LRS erforderlich sind. Erstens werden ein Lesetest und ein Rechtschreibtest durchgeführt,
deren Ergebnisse zeigen, ob eine Störung der Schriftsprache vorhanden ist und welcher Art
diese Störung ist. Der SLRT II (Salzburger Lese-Rechtschreibtest II) von Moll/Landerl (2010)
testet beispielsweise sowohl das Lesen (z.B. Genauigkeit, Geschwindigkeit) als auch das
Schreiben (z.B. orthographische Besonderheiten) (vgl. Mayer 2016: 140-141). Weitere
mögliche Tests zur Überprüfung des Lesens sind zum Beispiel die WLLP (Würzburger Leise
Leseprobe) und der HLT (Hamburger Lesetest), zur Überprüfung der Rechtschreibung eignen
sich beispielsweise die HSP (Hamburger Schreibprobe) und die OLFA (Oldenburger
Fehleranalyse) (vgl. Naegele 2014: 59). Orientiert man sich beispielsweise an den Kriterien der
ICD-10, geht man dann von einer Störung des Lesens bzw. Schreibens aus, wenn die Leistung
um mindestens zwei Standardabweichungen schlechter als die durchschnittliche Leistung beim
jeweiligen Test ist. Konkret heißt das, dass laut der ICD-10 dann eine Störung vorliegt, wenn
mehr als 97% aller Testpersonen bessere Leistungen erbringen. Diese Regelung der ICD-10
wird aber oft kritisiert, weil argumentiert wird, dass auch geringere Abweichungen vom
Durchschnitt bereits mit gravierenden Problemen beim Lesen und Schreiben verbunden sind.
In der Forschung und Praxis sind deshalb auch andere Kriterien zur Feststellung einer Störung
üblich. Bezüglich der Abklärung, ob eine Störung des Lesens und/oder Schreibens vorliegt, ist
zu beachten, dass die Ergebnisse eines Tests erst ab dem Ende der zweiten Klasse zuverlässig
interpretiert werden können. Davor können die Lese- bzw. Schreibfähigkeiten je nach
Unterrichtsmethoden etc. stark variieren. Zweitens wird mithilfe eines Intelligenztests geprüft,
ob eine verminderte Intelligenz vorliegt oder nicht. Geht man nach den ICD-10-Kriterien, spielt
die Intelligenzdiagnostik eine wichtige Rolle. Der IQ kann nämlich ein Ausschlusskriterium
sein, wenn er im unterdurchschnittlichen Bereich liegt (laut ICD-10 wäre das ein IQ < 70) und
somit die Kriterien für eine Lese-Rechtschreibstörung nicht erfüllt sind. Zentral ist, dass
Intelligenztests angewendet werden, die die non-verbale Intelligenz messen. Da Personen mit
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einer Lese-Rechtschreibstörung häufig auch Probleme im sprachlichen Bereich haben, könnten
Aufgaben, die die verbale Intelligenz betreffen, zu einer Unterschätzung der Intelligenz führen.
Drittens wird differenzialdiagnostisch überprüft, ob die Probleme beim Lesen und
Rechtschreiben auch anderweitig erklärbar sind. Alternative Erklärungen könnten
beispielsweise sein, dass eine Beeinträchtigung des peripheren Sehens oder Hörens,
neurologische Erkrankungen oder psychische Erkrankungen vorliegen, die zu Problemen beim
Lesen und Schreiben führen (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 136-138).
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3.3. Prävention und Förderung
Schulte-Körne (20092: 49) nennt mehrere Faktoren, die im Vorschulalter auf ein erhöhtes LRS-
Risiko hindeuten. Ein erhöhtes Risiko liegt laut ihm beispielsweise dann vor, wenn ein Kind
verspätet beginnt zu sprechen, einen geringen Wortschatz aufweist, Schwierigkeiten bei der
Lautunterscheidung und beim Klatschen von Silben hat, viele Artikulations- bzw.
Aussprachefehler macht und desinteressiert an Sprach- und Singspielen ist. Eventuell
vorliegende Risikofaktoren können teilweise durch präventive Maßnahmen behoben werden.
Zahlreiche Autoren (vgl. z.B. Schleider 2009: 60, Warnke/Hemminger et al. 2002: 116, Mayer
2016: 85 und Breitenbach/Weiland 2010: 42) betonen im Zusammenhang mit präventiven
Maßnahmen die Bedeutung der phonologischen Bewusstheit. Die phonologische Bewusstheit
bezeichnet laut Schleider (2009: 60) die „Fähigkeit, sich mit den formalen Eigenschaften der
gesprochenen Sprache zu beschäftigen und die lautlichen Strukturen zu analysieren“. Neben
dem phonologischen Rekodieren im Arbeitsgedächtnis und dem „phonologischen Rekodieren
beim Zugriff auf das semantische Gedächtnis im Langzeitgedächtnis“ (Schleider 2009: 60) ist
die phonologische Bewusstheit Teil der phonologischen Informationsverarbeitung. Innerhalb
der phonologischen Bewusstheit wird zwischen jener im weiteren und jener im engeren Sinn
unterschieden. Im weiteren Sinn bezeichnet sie die Fähigkeit, größere Spracheinheiten (z.B.
Wörter im Satz, Silben in einzelnen Wörtern) wahrnehmen zu können. Im engeren Sinn wird
darunter die Fähigkeit verstanden, einzelne Laute bzw. Phoneme, also kleinste
bedeutungsunterscheidende Einheiten der gesprochenen Sprache, wahrnehmen zu können (z.B.
„Maus“ vs. „Haus“). Bis heute wurde in mehreren Studien ein Zusammenhang zwischen der
phonologischen Bewusstheit im Vorschulalter und der späteren Lese-Rechtschreibfähigkeit
nachgewiesen (vgl. Schleider 2009: 61). Lundberg/Frost/Petersen (1988: 263) beispielsweise
wiesen in einer dänischen Studie nach, dass man durch ein gezieltes Trainieren der
phonologischen Bewusstheit (z.B. durch Hörübungen, Reimspiele, Silbensegmentierungen) im
Vorschulalter späteren Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb vorbeugen kann. Die Kinder,
die trainiert wurden, hatten weniger Probleme beim Erlernen des Lesens und Schreibens. Laut
Schleider (2009: 62) kann daraus abgeleitet werden, dass man einer Lese-Rechtschreibstörung
teilweise entgegenwirken kann, indem Defizite bei der phonologischen Bewusstheit früh
erkannt und entsprechend gefördert werden.
Es gibt unterschiedliche Verfahren, die zur Messung der phonologischen Bewusstheit
herangezogen werden können. Mehrere Autoren (vgl. z.B. Häfele/Häfele 2009: 164, Schleider
Seite 14
2009: 62, Esser/Ballaschk 20083: 65) heben in diesem Zusammenhang das Bielefelder
Screening, das 1999 von Jansen et al.3 zur Früherkennung von Kindern mit erhöhtem LRS-
Risiko entwickelt wurde, als zuverlässig hervor. Getestet werden bei dieser Methode mithilfe
verschiedener Aufgabenstellungen die phonologische Bewusstheit und die Aufmerksamkeit
bzw. das Gedächtnis. Jansen et al. gehen nämlich davon aus, dass einerseits eine zu wenig
ausgebildete phonologische Bewusstheit und andererseits Probleme mit der Aufmerksamkeit
bzw. dem Gedächtnis für die LRS verantwortlich sind (vgl. Esser/Ballaschk 20083: 65). Bei den
Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit müssen die Kinder unter anderem Laute assoziieren,
Reime erkennen und Silben segmentieren (vgl. Schleider 2009: 62). Esser/Ballaschk (20083:
65) äußern sich aber auch kritisch über das Verfahren: Bei manchen Aufgabenstellungen ist die
Chance, die richtige Antwort durch Zufall zu erreichen, hoch (50%), was die Reliabilität und
Validität mindert.
Um die phonologische Bewusstheit auszubauen, wurden verschiedene Förderprogramme
entwickelt. Eine Möglichkeit bietet das Würzburger Training „Hören, lauschen, lernen“, das
1999 von Küspert und Schneider4 entwickelt wurde. Hier wird die phonologische Bewusstheit
von Kindern unter anderem durch Reime und Lauschspiele gefördert. Insgesamt ermöglicht das
Training einen ersten Einblick in die Struktur der gesprochenen Sprache, was den späteren
Schriftspracherwerb erleichtert (vgl. Warnke/Hemminger et al. 2002: 119 und Schleider 2009:
63).
Neben der Förderung der phonologischen Bewusstheit ist laut Schleider (vgl. 2009: 64) bei
Kindern, die ein erhöhtes LRS-Risiko aufweisen, auch die Förderung der Buchstabenkenntnis
in der Vorschulzeit zentral. Dafür eignet sich beispielsweise das Würzburger Buchstaben-Laut-
Training „Hören, lauschen, lernen 2“, das 2004 von Plume und Schneider5 in Anlehnung an das
Training „Hören, lauschen, lernen“ entwickelt wurde. Hier geht es vorrangig um das Erlernen
der Graphem-Phonem-Verknüpfung, die die Grundlage des alphabetischen Systems darstellt.
Dies geschieht durch diverse spielerische Aufgaben, bei denen beispielsweise Anlaute den
jeweiligen Wörtern zugeordnet werden sollen (z.B. „A“ zu „Ameise“).
3 Vgl. Jansen, Heiner/Mannhaupt, Gerd et al. (20022): Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-
Rechtschreibschwierigkeiten. Göttingen [u.a.]: Hogrefe; zit. n. Esser/Ballaschk 20083: 65. 4 Vgl. Küspert, Petra/Schneider, Wolfgang (20086): Würzburger Trainingsprogramm zur Vorbereitung auf den
Erwerb der Schriftsprache. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; zit. n. Schleider (2009: 63). 5 Vgl. Plume, Ellen/Schneider, Wolfgang (2004): Hören, lauschen, lernen 2. Würzburger Buchstaben-Laut-
Training. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; zit. n. Schleider (2009: 64).
Seite 15
Schleider (2009: 46) nennt außerdem mehrere Faktoren, die das Entstehen einer Lese-
Rechtschreibstörung verhindern können bzw. den Schweregrad der Symptome senken können.
Dazu gehören:
• „die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit (Intelligenz),
• die Fähigkeit zur Selbstkontrolle,
• der Erziehungsstil der Eltern,
• Früherkennung und Frühförderung,
• Fähigkeiten/Ressourcen in schriftsprachferneren Bereichen (z.B. Technik, Sport)
• und positive Erfahrungen bei Hobbys bzw. anderen Interessen.“
Nach Grosche (2012: 21) wächst sich eine Lese-Rechtschreibstörung im Normalfall nicht aus,
sondern bleibt lebenslang bestehen. Durch geeignete Fördermaßnahmen können Betroffene
allerdings langfristig Defizite abbauen. Wird bei einem Kind eine Lese-Rechtschreibstörung
festgestellt, wird versucht, diese und eventuelle komorbide Störungen bzw.
Folgeerscheinungen zu therapieren. Laut Esser (2002: 142) sollte im Zentrum der Behandlung
ein auf den/die Betroffene/-n individuell abgestimmtes Übungsprogramm stehen. Dabei nennt
er Kriterien, die dieses Übungsprogramm erfüllen sollte. Zu diesen gehören unter anderem das
Vorgehen in kleinen Lernschritten, die Orientierung am Erstlese- und Erstrechtschreibprozess,
das Schaffen von vielen Erfolgserlebnissen und die regelmäßige Kontrolle des Therapieerfolgs.
Laut von Suchodeletz (20062: 280-281) muss die Förderung eines Kindes mit LRS komplex
gestaltet sein und „zahlreiche Aspekte der kindlichen Entwicklung berücksichtigen“. Zu den
Zielen der Behandlung einer LRS gehören die Förderung schriftsprachlicher Fähigkeiten, die
Stabilisierung der psychischen Entwicklung und die Anpassung der Anforderungen vonseiten
der Schule und des Elternhauses an die Fähigkeiten des Kindes.
Schulte-Körne (20092: 162) schreibt von einer „regelrechten Flut von Förderangeboten“.
Eltern, Trainer/-innen und Lehrer/-innen stehen demnach vor einer schwierigen Aufgabe, wenn
es darum geht, die richtigen Angebote für ein Kind auszuwählen. Um die Auswahl zu
erleichtern, nennt Schulte-Körne (20092: 219) mehrere Kriterien, an denen man sich orientieren
kann. Unter anderem sollten der Schweregrad der Störung, der Entwicklungsstand in der
Schriftsprachentwicklung, das Vorliegen von komorbiden Störungen sowie das schulische und
soziale Umfeld bei der Auswahl bedacht werden. Mehrere Personen(-gruppen) aus dem Umfeld
des Kindes können an der Förderung beteiligt sein.
Seite 16
Eine sehr wichtige Rolle schreibt Schulte-Körne (20092: 163) den Eltern bzw. der Familie zu.
Im familiären Kontext gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die zur Förderung des Kindes mit
LRS beitragen können. Hier sind aber die jeweiligen individuellen Voraussetzungen und
Ressourcen, die den Eltern bzw. der Familie zur Verfügung stehen, entscheidend. Nicht alle
Kinder können aufgrund diverser Faktoren (z.B. Bildungsstand der Eltern, Zeitmangel) zuhause
ausreichend gefördert werden (vgl. Schulte-Körne 20092: 166). Eine positive Auswirkung
haben laut Schulte-Körner (20092: 167) jedenfalls das gemeinsame Lesen und das Schaffen
eines lesefreundlichen Klimas in der Familie, die sich langfristig günstig auf die
Schriftsprachentwicklung eines Kindes auswirken. Das Nutzen einer vielfältigen Sprache
bezüglich des Wortschatzes, der Grammatik und der Syntax bzw. generell die
Ausdrucksfähigkeit der Eltern können den Sprachgebrauch des Kindes auch positiv
beeinflussen. Ebenfalls einen guten Einfluss hat die sozio-emotionale Unterstützung, die das
Kind innerhalb der Familie erfährt und die ihm helfen kann, mit seiner LRS besser umzugehen.
Eine bedeutende Rolle im Zusammenhang mit der Förderung von Kindern mit Lese-
Rechtschreibstörung kommt auch der Schule zu (vgl. Schulte-Körne 20092: 196). Die
Förderung innerhalb von Schulen kann sehr unterschiedlich stattfinden. Möglich sind
beispielsweise Fördereinheiten für Kinder, die Probleme beim Erlernen des Lesens und/oder
Schreibens haben (vgl. Schulte-Körne 20092: 199). Ebenfalls eine Art von Förderung stellt die
Rücksichtnahme auf die Lese-Rechtschreibstörung eines Kindes bei der Notengebung dar (vgl.
Mayer 2016: 195 und Schulte-Körne 20092: 211). Ein Gesetz, das die Berücksichtigung der
LRS bei der Notengebung vorschreibt, gibt es bis heute in Österreich nicht, lediglich Erlässe
und Handreichungen des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung und
der Bundesländer, die Vorgaben bzw. Empfehlungen bezüglich des Umgangs mit der LRS im
Unterricht enthalten.
Der erste bundesweite „Legasthenie-Erlass“ wurde 2001 veröffentlicht (Rundschreiben
32/2001 vom 28. Mai 2001). In diesem wird darauf hingewiesen, dass im §16 der Verordnung
über die Leistungsbeurteilung (erstmals am 24. Juni 1974 veröffentlicht) gesetzlich festgelegt
ist, welche fachlichen Aspekte für die Beurteilung von Schularbeiten in der Unterrichtssprache
herangezogen werden sollen. Zu diesen gehören der Inhalt, der Ausdruck, die Sprachrichtigkeit
und die Schreibrichtigkeit. Wenn man dies und auch die Vorgaben der Lehrpläne
berücksichtigt, ergibt sich, dass die Schreibrichtigkeit keinesfalls die einzige Grundlage für die
Leistungsbeurteilung sein kann und darf (vgl. OQ2 und Mayer 2016: 199). In der vom
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung veröffentlichten Handreichung
Seite 17
„Der schulische Umgang mit der Lese-Rechtschreibschwäche“ (aktualisierte Ausgabe, Juni
2018) werden unter anderem die Prinzipien der Leistungsfeststellung und Leistungsbeurteilung
bei Kindern mit LRS behandelt. Auch hier wird auf die oben erwähnte Verordnung verwiesen.
Eine Berücksichtigung der LRS bei der Beurteilung sollte insofern geschehen, als dass die
gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten der Leistungsbeurteilung ausgeschöpft werden. Das
bedeutet unter anderem, dass besonders die Möglichkeiten der Leistungsfeststellung und -
beurteilung herangezogen werden sollten, die nicht von der LRS betroffen sind (z.B. mündliche
Mitarbeit). Wenn schriftliche Leistungen herangezogen werden, dann müssen alle Kriterien der
Beurteilung berücksichtigt werden. Neben der Schreibrichtigkeit sind also auch der Inhalt, der
Ausdruck und die Sprachrichtigkeit entscheidend. Bezüglich der Schreibrichtigkeit ist bei
Schüler/-innen mit LRS wichtig, dass zwischen „zusammenhängende[n] Fehler[n] (akustische
Verwechslungen, optische Verwechslungen etc.)“ und „nicht zusammenhängende[n]
Fehler[n]“ unterschieden wird. Dabei sollten zusammenhängende Fehler, die man als ein
Fehlertyp auffassen kann, jeweils als nur ein Fehler gewertet werden (vgl. OQ3). 2015 wurde
vom damaligen Bundesministerium für Frauen und Bildung die Dienstanweisung „Legasthenie,
spezielle Bedürfnisse und neue Reifeprüfung“ veröffentlicht. Bei der Zentralmatura werden
Beurteilungsraster verwendet, die sicherstellen, dass schlechte Leistungen im Bereich der
formalen Schreibrichtigkeit allein nicht zu einer negativen Beurteilung führen können, wenn
andere Bereiche positiv herausstechen (vgl. OQ4). Im Zusammenhang mit der Frage nach
einem Gesetz, das die Berücksichtigung der LRS beim Benoten festlegt, sagte die Präsidentin
des „Ersten Österreichischen Dachverbands Legasthenie“ Astrid Kopp-Duller im Rahmen eines
Gesprächs mit der „Presse“: „[Es] wird […] problematisch, wenn manche Eltern und auch
Kinder glauben, eine Legasthenie […] wäre der Grund dafür, sich beim Schreiben, Lesen […]
nicht mehr bemühen zu müssen. Viele bauen auf die Mitleidsschiene, was aber schließlich
irgendwann zum Problem wird, denn jeder Mensch sollte doch in irgendeiner Form lesen,
schreiben […] können“ (vgl. OQ5).
Andere Personen, die an der Förderung eines legasthenen Kindes beteiligt sein können, sind
unter anderem Psychotherapeuten/-innen, LRS-Trainer/-innen und Erziehungsberater/-innen
(vgl. Schulte-Körne 20092: 163).
Laut von Suchodeletz (20062: 287) hat sich insgesamt gezeigt, dass „dauerhafte
Verbesserungen der Lese- bzw. Rechtschreibleistungen nur durch solche Übungen zu erwarten
sind, die direkt am Lese- und Rechtschreibprozess bzw. dessen Vorläuferfertigkeiten ansetzen“
(vgl. z.B. auch Grissemann 2001: 34). Aus der Fülle von Förderprogrammen (z.B.
Seite 18
„MORPHEUS – Morphemunterstütztes Grundwortschatz-Segmentierungstraining“, „Flüssig
lesen lernen“, „Dybuster“) wurde hier zur genaueren Erläuterung das „Marburger
Rechtschreibtraining“ ausgewählt, das von Schulte-Körne/Mathwig6 entwickelt wurde. Das
Förderprogramm ist für Kinder ab Ende der zweiten Volksschulklasse geeignet und wird im
Rahmen von Einzeltrainings bzw. Kleingruppen mit einer betreuenden Person (z.B. LRS-
Trainer/-in, Elternteil, Pädagoge/-in) durchgeführt (vgl. Jungmann 2009: 104). Die
Durchführung des Programms dauert je nach Trainingsintensität und Leistung des Kindes bis
zu zwei Jahre. Das Marburger Rechtschreibtraining ist in zwölf Kapitel gegliedert, die jeweils
einen erklärenden Teil und einen Lern- und Übungsbereich enthalten. Die Schwierigkeit der
Inhalte steigert sich mit den Kapiteln. Zu der Vielzahl von Lerninhalten, die bearbeitet werden,
gehören unter anderem das Unterscheiden von kurz und lang gesprochenen Vokalen in
Wörtern, die Verschriftlichung von Konsonanten nach kurz und lang gesprochenen Vokalen
und das Erkennen von Vorsilben. Um die Lerninhalte zu bearbeiten, steht ein umfangreiches
Material zur Verfügung. Insgesamt werden im Rahmen des Trainings acht Rechtschreibregeln
und zusätzlich Lösungsstrategien, mithilfe derer man zur richtigen Verschriftlichung eines
Worts gelangt, vermittelt. Bei den Lösungsstrategien steht eine Problemstellung im Zentrum
(z.B. ‚Enthält das Wort einen lang gesprochenen Selbstlaut? ‘) und über Ja/Nein-Antworten
gelangt man zu Lösungsschritten (z.B. ‚Ja, dann folgt nur ein Mitlaut‘ bzw. ‚nein, dann folgen
mindestens zwei Mitlaute‘) (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 182). Das Material ist grafisch
anschaulich gestaltet und enthält viele Bilder (vgl. Schulte-Körne 20092: 189). Von mehreren
Autoren (vgl. z.B. Mayer 2016: 224, Warnke/Hemminger/Plume 2004: 15) wird das Programm
als besonders effektiv und erfolgsversprechend hervorgehoben. Steinbrink/Lachmann (2014:
182-183) weisen in diesem Zusammenhang auf mehrere durchgeführte Studien bezüglich der
Wirksamkeit des Marburger Rechtschreibtrainings hin (z.B. Groth/Hasko et al. 20137).
Durchschnittlich ließen sich bei den Kindern mit LRS, die mit dem Marburger
Rechtschreibtraining gefördert wurden, Verbesserungen feststellen.
6 Vgl. Schulte-Körne, Gerd/Mathwig, Frank (20073): Das Marburger Rechtschreibtraining. Ein regelgeleitetes
Förderprogramm für rechtschreibschwache Kinder. Bochum: Winkler; zit. n. Jungmann (2009: 104) und
Steinbrink/Lachmann (2014: 182). 7 Vgl. Groth, Katharina/Hasko, Sandra et al. (2013): Interventionseffekte bei Lese-Rechtschreibstörung.
Evaluation von zwei Förderkonzepten unter besonderer Betrachtung methodischer Aspekte. In: Lernen und
Lernstörung 2 (3), 161-175; zit. n. Steinbrink/Lachmann (2014: 182-183).
Seite 19
3.4. Ursachen für eine Lese-Rechtschreibstörung
3.4.1. Historische Entwicklung der Ursachenforschung
Die Anfänge der wissenschaftlichen Erforschung der LRS können zeitlich Ende des 19.
Jahrhunderts eingeordnet werden. Die LRS wurde damals erstmals Untersuchungsgegenstand
der Medizin, als Kinder auffielen, die trotz ausreichender Intelligenz erhebliche Probleme beim
Erlernen des Lesens und Schreibens aufwiesen. Genannt wurde das Phänomen ‚Wortblindheit‘,
bis Ranschburg 1916 den Begriff ‚Legasthenie‘ (von griech. legein = lesen, asthenia =
Schwäche) einführte (vgl. Plume/Warnke 2006: 196). Der Beginn der Erforschung hing eng
mit der damaligen Entstehung der pädagogisch-psychologischen Textdiagnostik und mit den
Fortschritten der klinischen Neuropsychologie und Hirnforschung zusammen. Laut Steinbrink
können die heute existierenden Ansätze bezüglich der Ursachen für die LRS noch immer grob
den beiden ursprünglichen Impulsen zugeordnet werden: Die pädagogisch-psychologisch
orientierten Theorien sehen die Probleme beim Lesen und Schreiben als Folge einer
„unspezifischen Entwicklungsvariation“ und die medizinisch-psychologisch orientierten
Theorien gehen von „erblich bedingten Prädispositionen hirnphysiologischer Defizite des
Individuums“ (Steinbrink/Lachmann 2014: 7) aus. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich
unter Pädagogen/-innen das Interesse an der differenziellen Lernforschung. Grund dafür war,
dass sich in den damaligen Industriestaaten nun die allgemeine Meinung durchgesetzt hatte,
dass jede/-r das Recht und die Pflicht dazu hatte, zur Schule zu gehen. Außerdem waren die
Standards der Schulbildung jetzt so weit entwickelt, dass es möglich war, schulische Leistungen
von Kindern zu vergleichen und Aussagen über individuelle Lernvoraussetzungen zu machen.
Dies führte dazu, dass erste diagnostische Tests entwickelt wurden, mit denen man die
unterschiedlichen Lernvoraussetzungen von Schüler/-innen erkennen und klassifizieren wollte.
Zunächst stand das Feststellen von allgemeinen Lernbehinderungen bzw. der Schulreife eines
Kindes im Vordergrund. Später stand dann auch die spezifische Diagnose des Lesens und
Schreibens im Mittelpunkt des Interesses. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es bereits
standardisierte Lese- und Schreibtests, mit denen verschiedene Aspekte des
Schriftspracherwerbs (z.B. Worterkennung, Satzverständnis) eines Kindes skaliert werden
konnten. Als besonders wichtigen Impuls für die Erforschung der Ursachen für die LRS können
die Fortschritte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden. Vor allem die
folgende Erkenntnis regte zur weiteren Forschung hinsichtlich der Ursachen für die LRS an:
Selektive Beeinträchtigungen (Hirnläsionen, z.B. durch eine externe Verletzung, Infarkt
Seite 20
verursacht) bestimmter Areale im Großhirn (Cortex) können dazu führen, dass bestimmte
kognitive Leistungen ausfallen (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 7-8). Zahlreiche Mediziner/-
innen entwickelten in der Folge diverse Theorien und Annahmen bezüglich der Ursachen. Als
Meilensteine können die Ideen Ortons bezeichnet werden. Orton untersuchte vor allem
verschiedene Aspekte der Hirnentwicklung. 1925 veröffentlichte er seine Vermutung, dass eine
gestörte Entwicklung der Hemisphärendominanz (Dominanz der linken bzw. rechten
Gehirnhälfte bei verschiedenen Leistungen), die genetisch bedingt ist, für die LRS
verantwortlich ist. Demzufolge würde beispielsweise die Linkshändigkeit, deren Umschulung
in der Schule bis in die 1970er Jahre üblich war, zur LRS führen (vgl. von Suchodeletz 2007:
38 und Steinbrink/Lachmann 2014: 9). Aber auch Personen- und Umweltfaktoren haben laut
Orton Auswirkungen auf den Schriftspracherwerb, weshalb die LRS ihm zufolge insgesamt
therapierbar ist. Dementsprechend sprach er von einer „Entwicklungsstörung“. Ortons Theorie
wurde von Beginn an, besonders aber die letzten 50 Jahre, zum Teil heftig kritisiert. Das von
ihm aufgestellte neurologische Erklärungsmodell ist nach heutigen Erkenntnissen nicht haltbar.
Trotzdem sind Ortons Theorien wichtig, weil er zum einen das Interesse an spezifischen
Lernstörungen im Bereich des Lesens und Schreibens bei Praktikern/-innen und
Wissenschaftlern/-innen weltweit erhöhte und er zum anderen ein Konzept der LRS
entwickelte, das erstmals von einer Störung in der hirnphysiologischen Entwicklung ausging.
Des Weiteren berücksichtigte Orton auch erstmals soziale Faktoren und individuelle
Unterschiede. Zudem ging er nicht davon aus, dass die LRS eine unheilbare Hirnerkrankung
ist, sondern vertrat die Meinung, dass sie durch pädagogische Maßnahmen therapierbar ist (vgl.
Steinbrink/Lachmann 2014: 9 und Klicpera/Schabmann et al. 20134: 173).
Von den Impulsen für die Erforschung der LRS aus den vergangenen Jahrzehnten sind
besonders zwei hervorzuheben. Einerseits war es die psycholinguistische Forschung in den
späten 1960er Jahren, die eine neue Sichtweise auf die Schriftsprache und deren Erwerb
brachte. Lesen und Schreiben wurden von ihren Vertreter/-innen als primär sprachliche
Prozesse gesehen. Dementsprechend sahen sie Defizite in der Verarbeitung sprachlicher
(besonders phonologischer) Informationen als Ursache für Probleme beim Schriftspracherwerb.
In den darauffolgenden Jahren erschienen aufgrund dessen zahlreiche Studien, die
Erklärungsansätze bezüglich eines phonologischen Verarbeitungsdefizits als Grund für die LRS
lieferten. Theorien zum phonologischen Verarbeitungsdefizit bei der LRS sind auch aktuell
stark vertreten. Andererseits ist die methodische Weiterentwicklung in der kognitiven
Neuropsychologie hervorzuheben, die ebenfalls einen großen Einfluss auf die Erforschung der
Ursachen einer LRS hatte. Es wurden nämlich psychophysiologische und bildgebende
Seite 21
Verfahren entwickelt, die neue Perspektiven zur Erforschung der hirnphysiologischen und
-strukturellen Besonderheiten von Personen boten. Es konnten so unter anderem Aussagen über
die Art der Informationsverarbeitung und die dabei involvierten Teile des Gehirns gemacht
werden (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 9-10).
Über hundert Jahre Forschungsarbeit führten zu vielen heterogenen Theorien zu den Ursachen
für LRS. Bis heute herrscht in der Wissenschaft keine Einigkeit. Steinbrink/Lachmann (2014:
88) argumentieren in diesem Zusammenhang dennoch gegen eine „pessimistische
Interpretation der Befundlage“. Die heute vorliegenden Theorien sind ihnen zufolge
homogener, als man zunächst annehmen würde. Man ist sich beispielsweise weitgehend einig
darüber, dass eine genetisch bedingte „Prädisposition bzw. die Anfälligkeit zur gestörten
Entwicklung neurobiologischer Strukturen und damit verbundener Prozesse“ mit der
Entstehung einer LRS zusammenhängt. Die verschiedenen Theorien unterscheiden sich, indem
sie bestimmte neurobiologische Abweichungen annehmen oder nicht und wenn ja, welche sie
annehmen (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 88).
Seite 22
3.4.2. Genetische Disposition
Esser (2002: 139) fasst zusammen, dass genetische Faktoren als Hauptursache für die LRS
angesehen werden, weil sich die Störung innerhalb einer Familie oft häuft und bei Zwillingen
öfters beide betroffen sind. Auch Klicpera/Schabmann et al. (20134: 173) weisen darauf hin,
dass die LRS am häufigsten durch genetisch bedingte Beeinträchtigungen der Lern- bzw.
Informationsverarbeitungsprozesse erklärt wird.
Im Folgenden werden Erkenntnisse bezüglich der Genetik als Ursache für die LRS
zusammengefasst. Ab den 1970er Jahren brachten groß angelegte Untersuchungen8 mit
Familien, in denen die LRS vorkommt, Belege für die Theorie der vererbten LRS. Es wurde
herausgefunden, dass die LRS innerhalb von Familien oft gehäuft vorkommt. In diesem
Zusammenhang ist aber zu beachten, dass Familien nicht nur Gene teilen, sondern auch ihre
Umwelt, weshalb aufgrund dieser Studien nicht behauptet werden kann, dass die LRS rein
genetisch bedingt ist (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 90). Auch Mayer (2016: 54) und von
Suchodeletz (2007: 34) weisen darauf hin, dass diese Ergebnisse zwar auf einen genetischen
Zusammenhang hindeuten, aber nicht vergessen werden darf, dass sie auch durch spezifische
Umweltfaktoren entstehen können.
Zwillingsstudien, bei denen eineiige mit zweieiigen Zwillingen verglichen werden, liefern
dagegen eindeutigere Ergebnisse. Beide Zwillingspaare sind jeweils denselben
Umwelteinflüssen ausgesetzt, aber während eineiige Zwillinge sich zu 100% genetisch
gleichen, ist die Genetik bei zweieiigen Zwillingen (wie bei allen Geschwistern) lediglich zu
50% gleich. Eine von DeFries/Alarcon (1996: 39) durchgeführte Studie lieferte beispielswiese
das Ergebnis, dass bei 68% der eineiigen Zwillinge und bei nur 38% der zweieiigen Zwillinge
beide Kinder betroffen sind. Dies deutet laut Steinbrink/Lachmann (2014: 90) eindeutig auf
eine genetische Vererbung der LRS hin.
Darüber, dass die Entwicklung einer LRS zumindest teilweise genetisch determiniert ist, ist
man sich in der Forschung laut Klicpera/Schabmann et al. (20134: 174) heute weitgehend einig.
Im Zentrum des Interesses steht nun die Frage, welche Gene verantwortlich sind bzw. wie die
genetische Basis der LRS genau aussieht. Dies wollen Forscher/-innen mithilfe von
molekulargenetischen Untersuchungen klären. Bis heute wurde kein Gen gefunden, das für die
Entstehung der LRS verantwortlich sein könnte. Dass so eines überhaupt existiert, wird als
8 vgl. z.B. DeFries, John/Baker, Laura (1983): Colorado Family Reading Study: Longitudinal Analyses. In:
Annals of Dyslexia 33, 153-162; zit. n. Steinbrink/Lachmann (2014: 90).
Seite 23
unwahrscheinlich angenommen. Wahrscheinlicher ist, dass Gene auf verschiedenen
Chromosomen mit der LRS assoziiert sind. Alle im Rahmen diverser Untersuchungen
gefundenen Gene sind an der neuronalen Migration (Wanderung der Nervenzellen von ihrem
ursprünglichen Geburtsort zu ihrem endgültigen Bestimmungsort im Gehirn) und an der
Hirnentwicklung beteiligt. Dies könnte darauf hindeuten, dass die LRS eine „Konsequenz
atypischer neuronaler Migration im Rahmen der Hirnentwicklung“ ist (Steinbrink/Lachmann
2014: 91). Alle bisher durchgeführten Untersuchungen zeigten, dass es keine Gene gibt, die
ausschließlich gestörte Leseleistungen hervorrufen. Es sind also dieselben Gene, die für die
LRS und für eine unbeeinträchtigte Entwicklung des Lesens verantwortlich sind. Personen mit
LRS würden demzufolge mehr ungünstige Allele (Ausprägungen eines Gens für ein bestimmtes
Merkmal) besitzen bzw. wären mehr ungünstigen Umweltfaktoren ausgesetzt (vgl.
Steinbrink/Lachmann 90-91). Laut Steinbrink/Lachmann (2014: 91) liegen der LRS also
sogenannte „Anfälligkeitsgenorte“ zugrunde, die aber „weder notwendig noch hinreichend“
sind, um eine LRS hervorzurufen.
Zusammenfassend zeigten Untersuchungen, dass Gene, die eine Anfälligkeit für die
Entwicklung schwacher Leseleistungen vererben, für LRS verantwortlich sein könnten. Das
LRS-Risiko wird aber durch eine Konstellation mehrerer Gene, die wahrscheinlich die
Hirnentwicklung beeinflussen, vererbt. Es sind dieselben Genkonstellationen, die für LRS und
auch für den normalen Schriftspracherwerb verantwortlich sind (vgl. Mayer 2016: 54 und
Steinbrink/Lachmann 2014: 91).
Seite 24
3.4.3. Neurobiologisch versursachte defizitäre kognitive
Lernvoraussetzungen
Entscheidend ist, welche kognitiven Grundfunktionen bei Personen, die eine genetische
Veranlagung zur LRS aufweisen, gestört sind und die Probleme beim Schriftspracherwerb
verursachen. Laut Mayer (2016: 54) wird die LRS definitiv durch neurologisch verursachte
Defizite in spezifischen kognitiven Bereichen hervorgerufen. Aktuell ist man sich in der
Forschung einig, dass „subtile Störungen der Informationsverarbeitung im Gehirn“
(Steinbrink/Lachmann 2014: 94) die kognitive Basis der LRS sind. Man ist sich allerdings bis
heute nicht einig, welche Bereiche der Informationsverarbeitung konkret gestört sind.
Seit mehreren Jahrzehnten werden in der Hirnforschung die neuronalen Komponenten des
Lesens mit diversen Methoden analysiert. Mithilfe neurophysiologischer und bildgebender
Verfahren werden neurobiologische Aspekte der LRS erforscht. Beispielsweise können durch
die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) die Aktivierungen verschiedener
Hirnareale in einer bestimmten Situation (z.B. Lesen von Einzelwörtern, Beurteilung des Reims
zweier Wörter) sichtbar gemacht werden (vgl. von Suchodeletz 2007: 36).
Steinbrink/Lachmann (2014: 93) stellen überblicksmäßig dar, welche typischen Über- und
Unteraktivierungen Personen mit LRS in den drei Lesesystemen im Gehirn, die jeweils gewisse
Funktionen im Leseprozess erfüllen, aufweisen. Daraus kann abgeleitet werden, welche
kognitiven Basisprozesse des Lesens und Schreibens bei LRS gestört sein könnten.
Verschiedene Forschungsarbeiten lieferten das Ergebnis, dass bei LRS eine Unteraktivierung
des dorsalen (oben liegenden) und ventralen (unten liegenden) Lesesystems und eine
Überaktivierung des anterioren (vorne liegenden) Lesesystems vorliegen. Außerdem ist die
LRS mit Überaktivierungen in vorderen und hinteren Regionen der rechten Hirnhälfte
verbunden.
Abb. 1: Schematische
Darstellung typischer
Über- und
Unteraktivierungen
bei LRS
Seite 25
Das dorsale Lesesystem spielt bei der Zuordnung von Graphemen zu Phonemen eine wichtige
Rolle. Wenn dieses System unteraktiviert ist, kann davon ausgegangen werden, dass es zu
Schwierigkeiten bei der Buchstabe-Laut-Zuordnung und damit des sublexikalischen Lesens,
also der Verarbeitung von phonologischen Einheiten unterhalb der Wort- oder Morphemebene,
kommt. Das ventrale Lesesystem ist für die automatische Verarbeitung geschriebener Wörter
zuständig. Dementsprechend bewirkt eine Unteraktivierung dieses Systems, dass die visuelle
Worterkennung und damit das lexikalische Lesen gestört sind. In der Forschung wird heute
allgemein vermutet, dass die Überaktivierungen des anterioren Lesesystems und in den
vorderen und hinteren Regionen der rechten Hirnhälfte deshalb auftreten, weil das Gehirn
versucht, die Defizite im dorsalen und ventralen Lesesystem zu kompensieren. Dass die vordere
(anteriore) Gehirnregion überaktiviert ist, könnte bewirken, dass LRS-Betroffene beim Lesen
oft Wörter innerlich artikulieren. Dies gleicht die Defizite bei der Buchstabe-Laut-Zuordnung
aus, weil den Betroffenen somit die Lautstruktur von Wörtern bewusster wird. Dass die hinteren
Regionen der rechten Gehirnhälfte überaktiviert sind, könnte bewirken, dass die Störungen im
Bereich der visuellen Wahrnehmung, für die das in den hinteren Regionen der linken
Gehirnhälfte lokalisierte ventrale Lesesystem zuständig ist, ausgeglichen werden. Es kann
zusammengefasst werden, dass Störungen des dorsalen und ventralen Lesesystems die
neurobiologische Grundlage der LRS darstellen und LRS-Betroffene kompensatorisch vordere
Regionen der linken und rechten Gehirnhälfte und hintere Regionen der rechten Gehirnhälfte
überaktivieren, um Dysfunktionen auszugleichen (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 94).
3.4.3.1. Störung der phonologischen Informationsverarbeitung
Zentral ist die Annahme, dass die LRS eine Störung der phonologischen
Informationsverarbeitung ist, wofür eine Reihe von Befunden spricht. Aktuell ist man sich in
der Forschung weitgehend einig darüber, dass Defizite in der Verarbeitung phonologischer
Informationen zu Problemen beim Erlernen des Lesens und Schreibens führen (vgl. z.B. Mayer
2016: 55 und Moll/Landerl 2011: 12). Laut Steinbrink/Lachmann (2014: 97) sprechen
insgesamt vier Punkte dafür, dass eine gestörte phonologische Informationsverarbeitung für die
LRS verantwortlich ist. Erstens gibt es Belege dafür, dass diejenigen Kinder, die bereits vor der
Einschulung Fähigkeiten im Bereich der Phonemwahrnehmung, der phonologischen
Bewusstheit, des Buchstabenwissens etc. aufweisen, später weniger Probleme bei der
Entwicklung von Lese-Rechtschreibleistungen haben. Zweitens zeigen Kinder mit einem
genetischen LRS-Risiko oft bereits im Vorschulalter Defizite in phonologischen Bereichen
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(z.B. Sprachwahrnehmung). Drittens wurde ein eindeutiger Zusammenhang zwischen gewissen
Defiziten in der phonologischen Verarbeitung und der LRS nachgewiesen. Viertens ist noch zu
erwähnen, dass das Trainieren der phonologischen Informationsverarbeitung durch diverse
Förderprogramme nachweislich der LRS vorbeugen kann bzw. die Lese-
Rechtschreibfähigkeiten verbessert. Hier sei auf die im Kapitel über die Präventions- und
Fördermaßnahmen vorgestellten Erkenntnisse bezüglich der phonologischen Bewusstheit etc.
hingewiesen. Alle genannten Punkte könnten als Beleg dafür interpretiert werden, dass eine
gestörte phonologische Informationsverarbeitung für die Entstehung einer LRS verantwortlich
ist.
3.4.3.2. Störung der visuellen Informationsverarbeitung: Magnozelluläres
Defizit
Teilweise wird in der Forschung vermutet, dass eine visuelle
Informationsverarbeitungsschwäche für die LRS verantwortlich ist (vgl. Warnke/Hemminger
et al. 2002: 31 und Klicpera/Schabmann et al. 20134: 188). Innerhalb der Theorie gibt es eine
Reihe von Möglichkeiten, die diskutiert werden und als Ursache für die Entstehung einer LRS
angenommen werden. Die relevanteste, das magnozelluläre Defizit, wird hier vorgestellt.
Die Theorie des magnozellulären Defizits wurde von Stein Walsh (1997) veröffentlicht.
Magnozellen befinden sich innerhalb des Gehirns im hinteren parietalen Kortex, der unter
anderem zentral für den visuellen Informationsverarbeitungsprozess ist, und sind darauf
spezialisiert, schnelle Reize zu verarbeiten und weiterzuleiten. Damit könnte beispielsweise das
Phänomen erklärt werden, dass Leute mit LRS beim Lesen oft den Eindruck von
verschwimmenden Buchstaben haben. Als Folge des gestörten Leseprozesses treten Probleme
beim gesamten Schriftspracherwerb auf. Die Theorie geht allerdings nicht nur von defizitären
visuellen Voraussetzungen aus, sondern misst beispielsweise auch der gestörten
phonologischen Informationsverarbeitung eine große Bedeutung bei. Auch diese ist der Theorie
zufolge auf die defizitäre Verarbeitung und Weiterleitung schneller Reize zurückzuführen, weil
davon ausgegangen wird, dass die Magnozellen ebenfalls im auditiven Bereich eine Rolle
spielen (vgl. Stein/Walsh 1997: 147-148).
Für Steinbrink/Lachmann (2014: 108) ist es einleuchtend, dass ein magnozelluläres Defizit und
die damit verbundene beeinträchtigte Verarbeitung schneller visueller Informationen dazu
führen, dass visuelle Impulse nicht optimal integriert werden können und damit der Wechsel
zwischen Fixationen und Sakkaden beim Lesen nicht funktionieren kann. Das automatisierte
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Lesen geschieht nämlich nicht dadurch, dass das Auge kontinuierlich den Text erfasst, sondern
durch einen schnellen Wechsel sogenannter Fixationen und Sakkaden. Bei den Fixationen liegt
der Fokus für mehrere hundert Millisekunden auf einem kleinen Teil des Textes (meist ein
Wort). Die Sakkaden sind sprunghafte Blickbewegungen, bei denen das Auge innerhalb
weniger Millisekunden (10-40 ms) zu neuen Fixationspunkten springt. Um die Abfolge von
Fixationen und Sakkaden steuern zu können, braucht es „ein sehr schnelles und überaus genaues
Tuning der involvierten Teilprozesse und eine optimale Integration der zeitlichen und
räumlichen Teilinformationen des visuellen Inputs“ (Steinbrink/Lachmann 2014: 108), an
denen die Magnozellen beteiligt sind. Bis heute wurde allerdings nicht nachgewiesen, dass ein
magnozelluläres Defizit tatsächlich die Entstehung einer LRS verursacht (vgl. Mayer 2016: 56
und Steinbrink/Lachmann 2014: 111).
Neben der Annahme eines magnozellulären Defizits gibt es noch eine Reihe weiterer Theorien
(z.B. unzureichende Steuerung der Blickbewegungen, mangelnde Ausbildung eines stabilen
Referenzauges), die von einer visuellen Wahrnehmungsschwäche bzw. einem Defizit bei der
visuellen Aufmerksamkeit als Ursache für die LRS ausgehen. Zusammengefasst gibt es
teilweise Studien, deren Ergebnisse gewisse Aspekte dieser Annahmen unterstützen, aber keine
definitive Bestätigung (vgl. Klicpera/Schabmann et al. 20134: 188-189 und Mayer 2016: 55-
56). Klicpera/Schabmann et al. (20134: 190) fassen insgesamt drei Punkte zusammen, die gegen
die Theorie des visuellen Defizits als Ursache für die LRS sprechen. Erstens sind die
signifikanten Unterschiede zwischen der Lesefähigkeit bei Wörtern und derjenigen bei
Pseudowörtern, bei denen sich LRS-Betroffene deutlich schwerer tun, durch die Theorie nicht
erklärbar. Zweitens ist der Einfluss, den linguistische Merkmale auf die Leseleistung haben,
nicht erklärbar. Drittens müssten LRS-Betroffene mit visuellen Einschränkungen mehr
Schwierigkeiten damit haben, Wörter im Kontext zu lesen. Dies kann durch vorliegende
Untersuchungen nicht bestätigt werden. Eben beim Lesen einzelner Wörter (z.B. Pseudowörter)
werden die Schwierigkeiten von Betroffenen erst sichtbar.
3.4.3.3. Störung der auditiven Informationsverarbeitung
Es wird angenommen, dass die auditive Verarbeitung die Fähigkeit von Kindern beeinflusst,
phonologische Informationen aus Sprachsignalen zu filtern. Diese phonologischen
Informationen beeinflussen wiederum das Erlernen von Lesen und Schreiben. Die auditive
Informationsverarbeitung ist für den Schriftspracherwerb generell wichtig. Die schnelle
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Verarbeitung ist deshalb wichtig, weil sie für die Unterscheidung von Phonemen, die in sehr
kurzer Zeit aufeinanderfolgen, entscheidend ist. Aber auch die langsame Verarbeitung ist
wichtig, weil sie die Segmentierung von Sprachsignalen in Silben und die Wahrnehmung von
Sprachrhythmus und Betonung ermöglicht (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 23-24). Damit
liegt die Annahme nahe, dass nur dann ein unbeeinträchtigter Schriftspracherwerb erfolgen
kann, wenn die auditive Informationsverarbeitung nicht gestört ist. Es gibt diverse Theorien
dazu, welche Aspekte der auditiven Verarbeitung für die Entstehung der LRS entscheidend sein
könnten (vgl. Mayer 2016: 55 und Steinbrink/Lachmann 2014: 97).
3.4.3.3.1. Störung der Verarbeitung schneller auditiver Reize
Es gibt die Theorie, dass die LRS die Folge einer Störung der schnellen Verarbeitung auditiver
Reize ist. Erstmals formuliert wurde diese Theorie von Tallal (1980)9. Die Störung führt dazu,
dass akustische Signale, die schnell aufeinanderfolgen und innerhalb sehr kurzer Zeit neuronal
verarbeitet werden müssen, nicht richtig integriert werden können. Der Aufbau einer klaren
Phonemrepräsentation und eine normale Entwicklung der phonologischen Bewusstheit ist
somit nicht möglich und damit auch kein unbeeinträchtigter Schriftspracherwerb. Das Gehirn
kann nämlich schnell aufeinanderfolgende oder nur kurz dauernde Hörreize nicht effizient
genug verarbeiten, was folglich auch Auswirkungen auf die Sprachwahrnehmung hat.
Beispielsweise braucht es für die Differenzierung bestimmter ähnlich klingender Sprachlaute
(z.B. /b/und /p/) eine schnelle zeitliche Verarbeitung, weil der Unterschied zwischen diesen in
dem sehr kleinen Zeitfenster von lediglich ca. 20 ms liegt. Probleme bei der Lautunterscheidung
sind bei einer Störung der schnellen Verarbeitung auditiver Reize also vorprogrammiert. Diese
Probleme bei der Lautunterscheidung haben wiederum zur Folge, dass keine genauen
Repräsentationen von Lauten im Langzeitgedächtnis, die für die Entwicklung der
phonologischen Bewusstheit und den Erwerb von Buchstabe-Laut-Zuordnungen entscheidend
wären, gespeichert sein können. Wenn beispielsweise ein Kind keinen klaren Unterschied
zwischen /b/ und /p/ hören kann, kann es auch keine klar voneinander abgegrenzte
Repräsentationen dieser Sprachlaute im Langzeitgedächtnis aufbauen. Folglich kann es zum
Beispiel auch nicht erfolgreich entscheiden, ob der erste Laut des Wortes „Bild“ ein /b/ oder
ein /p/ ist. Darüber hinaus ist es für dieses Kind schwer zu lernen, dass dem Buchstaben „B“
9 Vgl. Tallal, Paula (1980): Auditory temporal perception, phonics, and reading disabilities in children. In: Brain
and Language 9 (2), 182-198; zit. n. Steinbrink/Lachmann (2014: 97-98) und Mayer (2016: 55).
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bzw. „b“ der Laut /b/ zuzuordnen ist und dem Buchstaben „P“ bzw. „p“ der Laut /p/ (vgl.
Steinbrink/Lachmann 2014: 97-98 und Mayer 2016: 55).
Verschiedene Verhaltens-, Bildgebungs- und Trainingsstudien zeigten, dass bei lese-
rechtschreibgestörten Personen ein schnelles auditives Verarbeitungsdefizit vorliegt. Erwähnt
werden kann beispielsweise die von Gaab/Gabrieli et al. durchgeführte Bildgebungsstudie
(2007), bei der die Gehirnaktivitäten von 22 Kindern mit LRS und 23 Kindern ohne LRS
mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) analysiert wurden. Die Kinder
hörten jeweils schnell wechselnden oder langsam wechselnden akustischen Reizen zu. Es
wurde herausgefunden, dass bei den Kindern mit unbeeinträchtigten Lese-
Rechtschreibleistungen gewisse Regionen der linken Gehirnhälfte auf die Verarbeitung von
schnell wechselnden akustischen Reizen spezialisiert sind und dass dies bei LRS-Betroffenen
nicht der Fall ist (vgl. Gaab/Gabrieli 2007: 295).
Die Theorie, dass ein schnelles auditives Verarbeitungsdefizit für die LRS verantwortlich ist,
wird beispielsweise auch durch eine von Temple/Deutsch et al. durchgeführte Studie (2003)
gestützt. Acht- bis zwölfjährige Kinder mit und ohne LRS wurden jeweils fünf Tage in der
Woche ca. einen Monat lang 100 Minuten pro Tag mit dem Trainingsprogramm ‚Fast ForWord‘
gefördert. ‚Fast ForWord‘ ist ein computerbasiertes Förderprogramm, das entwickelt wurde,
um die akustische und sprachliche Verarbeitung zu verbessern. Ausgehend davon, dass Kinder
mit LRS Schwierigkeiten damit haben, schnelle akustische Reize zu verarbeiten, wurden die
Höraufgaben im Rahmen des Programms adaptiert, indem die akustischen Impulse angepasst
wurden. Zum einen dauerte das Sprachsignal um 50% länger, wobei aber die
Tonhöheneigenschaften und die Natürlichkeit der Sprache erhalten blieben. Zum anderen
wurden die schnellen Übergänge in der Sprache lauter gemacht, was bewirkte, dass die
schnellen Elemente in der Sprache (v.a. Konsonanten) im Vergleich zu den langsameren
Elementen (v.a. Vokale) übertrieben deutlich gemacht wurden. Bei den Kindern wurden vor
und nach der Durchführung der Aufgaben mithilfe der funktionellen
Magnetresonanztomographie (fMRT) die Aktivitäten in verschiedenen Gehirnregionen
gemessen. Tatsächlich konnten bei den Kindern mit LRS nach dem Trainingsprogramm
Veränderungen auf der neuronalen Ebene festgestellt werden. Beispielsweise wurde eine
erhöhte Aktivierung in einer Region der linken Gehirnhälfte, die für die phonologische
Verarbeitung wichtig ist, gefunden. Auch auf der Verhaltensebene zeigten sich nach der
Förderung Veränderungen: Die betroffenen Kinder erbrachten bessere Leseleistungen und
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verbesserte Leistungen auf der mündlichen Sprachebene (vgl. Temple/Deutsch et al. 2003:
2861-2863).
Andere Studien wiederum lieferten gegenteilige Ergebnisse und deuten darauf hin, dass die
LRS keine Folge einer gestörten Verarbeitung schneller auditiver Reize sein kann. Zu erwähnen
ist hier beispielsweise eine von Bretherton/Holmes durchgeführte Studie, bei der der
Zusammenhang zwischen der zeitlichen Verarbeitung von nicht-sprachlichen auditiven Reizen
und der phonologischen Bewusstheit von 42 Kindern mit LRS und 36 Kindern ohne LRS
untersucht wurde. Die Kinder, die zwischen acht und zwölf Jahre alt waren, wurden hinsichtlich
ihrer Fähigkeiten, Sprachreize und visuelle Symbole zu verarbeiten, und ihrer phonologischen
Bewusstheit sowie Leseleistungen verglichen. Dabei kam heraus, dass ein Defizit bei der
zeitlichen Verarbeitung auditiver Reize beispielsweise nicht immer mit einer geringeren
phonologischen Bewusstheit oder mit Schwierigkeiten beim Lesen korrelierte. Dass Probleme
bei der Verarbeitung schneller auditiver Reize zu einer LRS führen, kann somit nicht behauptet
werden (vgl. Bretherton/Holmes 2003: 218).
Zusammenfassend gibt es eine Reihe von Befunden aus diversen Studien, die für diese Theorie
sprechen, eine definitive Bestätigung fehlt aber.
3.4.3.3.2. Störung der Verarbeitung dynamischer auditiver Reize
Ein neuerer Ansatz, der von Talcott/Witton et al. (2002) formuliert wurde, geht davon aus, dass
die LRS durch eine gestörte Verarbeitung dynamischer auditiver Reize entsteht. Unter
dynamischen auditiven Reizen versteht man Amplituden- und Frequenzmodulationen, also
Veränderungen der Lautstärke und Tonhöhe (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 99).
Talcott/Witton et al. führten eine Studie durch, bei der 350 Volksschulkinder getestet wurden,
um den Zusammenhang zwischen der Lese- und Rechtschreibfähigkeit und der Verarbeitung
u.a. dynamischer auditiver Reize herauszufinden. Es wurde festgestellt, dass die Fähigkeit eines
Kindes zur Verarbeitung dynamischer auditiver Reize ein Indikator für dessen phonologische
Fähigkeiten bzw. Lese- und Rechtschreibleistungen ist. Laut der Theorie führen Defizite bei
der Feststellung und Bestimmung dynamischer Sprachmerkmale dazu, dass phonologische
Fähigkeiten, die für den Schriftspracherwerb zentral sind, nicht richtig entwickelt werden
können (vgl. Talcott/Witton et al. 2002: 204). In diesem Zusammenhang weisen
Steinbrink/Lachmann (2014: 100) darauf hin, dass die Feststellung und Bestimmung
dynamischer Sprachmerkmale unter anderem eine Voraussetzung dafür sind, ähnlich klingende
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Phoneme wie /b/ und /d/ voneinander unterscheiden zu können. Diese Fähigkeit ist wiederum
zentral für die weitere Entwicklung der phonologischen Informationsverarbeitung und den
Schriftspracherwerb.
Neben mehreren Studien, die die Theorie von Talcott/Witton et al. stützen, gibt es auch
Untersuchungen, die gegenteilige Ergebnisse liefern. Hier sei exemplarisch eine Studie von
Hulslander/Talcott et al. (2004) erwähnt. 73 Kinder und Jugendliche mit und ohne LRS wurden
hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zur visuellen und auditiven Informationsverarbeitung untersucht.
Die Kinder mit geringeren Lesefähigkeiten hatten tatsächlich mehr Schwierigkeiten beim
Lösen der Höraufgaben, bei der Amplituden- und Frequenzmodulationen erkannt werden
sollten. Nachdem diese Erkenntnis in Zusammenhang mit den IQ-Werten der jeweiligen Kinder
gebracht wurden, konnte festgestellt werden, dass dieser bei denjenigen Kindern, die
Schwierigkeiten hatten, geringer war (vgl. Hulslander/Talcott et al. 2004: 274). Demnach
würde es keine spezifischen Zusammenhänge zwischen der Wahrnehmung dynamischer
auditiver Reize und der LRS geben. Zusammenfassend konnte diese Theorie bis heute nicht
eindeutig empirisch nachgewiesen werden.
3.4.3.3.3. Störung der zeitlich-rhythmischen Verarbeitung auditiver Reize
Letztlich gibt es noch die Theorie, dass die LRS eine Störung der zeitlich-rhythmischen
Verarbeitung auditiver Reize ist. Goswami, der die Theorie 2002 veröffentlichte10, geht ähnlich
wie Talcott davon aus, dass die Verarbeitung dynamischer Hörreize mit der LRS in Verbindung
steht. Goswami definiert aber eine spezifische defizitäre Verarbeitung von langsamen zeitlichen
Modulationen als Ursache für die LRS. Damit ist die Verarbeitung von Modulationen gemeint,
die im Bereich von ca. 1,5 bis 10 Hz (Zeitdauer von 667 bis 100 ms) liegen. Die Verarbeitung
dieser langsamen Modulationen ist dafür verantwortlich, dass jemand ein Sprachsignal zerlegen
und den Rhythmus und die Betonung in der Sprache wahrnehmen kann. Wenn diese
Verarbeitung gestört ist, können folglich keine Silbenrepräsentationen im Gedächtnis aufgebaut
werden und keine Sprachmelodie wahrgenommen werden. Dies führt in der Folge dazu, dass
sich die phonologische Informationsverarbeitung (z.B. phonologische Bewusstheit), für die
größere lautliche Einheiten relevant sind, defizitär entwickelt. Die Defizite in den
phonologischen Fähigkeiten sind dann schlussendlich dafür verantwortlich, dass jemand beim
Erlernen des Lesens und Schreibens Probleme hat. Um die Theorie empirisch zu untersuchen,
10 Goswami, Usha (2002): Phonology, reading development, and dyslexia: a crosslinguistic perspective. In:
Annals of Dyslexia 52 (1), 139-163; zit. n. Steinbrink/Lachmann (2014: 101-102).
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wird vor allem das Wahrnehmen von Amplitudenanstiegszeiten betrachtet. Die
Amplitudenanstiegszeit meint die Zeit vom Beginn eines Tons bis zu seiner maximalen
Amplitude und reflektiert die Amplitudenmodulationsmuster, die dazu beitragen, das
Sprachsignal in Silben zeitlich zu zerlegen. Außerdem dienen Amplitudenanstiegszeiten als
wichtige Hinweisreize für die Wahrnehmung von Sprachrhythmus und Silbenbetonung.
Diverse Studien ergaben, dass Personen mit LRS Amplitudenanstiegszeiten bzw. den
Rhythmus einer Sprache nur schwer wahrnehmen bzw. verarbeiten können. Dies spricht dafür,
dass eine gestörte zeitlich-rhythmische Verarbeitung für die LRS verantwortlich ist. Allerdings
gibt es in der Forschung aktuell die Meinung, dass die defizitäre Verarbeitung von langsamen
Modulationen im Sprachsignal vor allem in intransparenten Sprachen (z.B. Englisch,
Französisch) zu einer LRS führen kann, während sie in transparenten Sprachen (z.B. Finnisch,
Griechisch) kaum eine Rolle spielt. Es muss also noch herausgefunden werden, inwieweit eine
gestörte zeitlich-rhythmische Verarbeitung auditiver Reize als Ursache für die LRS angesehen
werden kann (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 101-102).
Zusammenfassend kann über Störungen der auditiven Informationsverarbeitung gesagt werden,
dass es viele Gründe gibt, anzunehmen, dass diese für die Entstehung einer LRS verantwortlich
sind. Durch zahlreiche Studien wurde belegt, dass Personen mit einer LRS oft Defizite bei der
Hörverarbeitung haben. Bis heute ist aber nicht sicher geklärt, ob diese wirklich die Ursache
für die LRS darstellen und welche Aspekte der auditiven Informationsverarbeitung am
relevantesten sind (vgl. Schulte-Körne 20092: 124 und Steinbrink/Lachmann 2014: 102).
3.4.3.4. Automatisierungsdefizit: Die Cerebellum-Theorie
Das Cerebellum ist ein Hirnteil, der aus zwei Hemisphären (Hälften) besteht und dessen
relativer Hirngewichts- und Hirnflächenanteil nur ca. 10% ausmacht. Es ist aber stark gefaltet
und beinhaltet mehr als die Hälfte aller Neuronen (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 103).
Die Cerebellum-Theorie, die erstmals von Nicholson/Fawcett 1990 veröffentlicht wurde, geht
davon aus, dass die LRS durch einen dysfunktionalen Fertigkeitserwerb entsteht. Im Rahmen
der Studie von Nicholson/Fawcett wurden je 23 Kinder mit und ohne LRS im Alter von 13
Jahren untersucht. Die Kinder mussten verschiedene Aufgaben lösen, wobei es sich einerseits
um solche handelte, bei denen nur eine Fertigkeit gebraucht wurde (Single-Task) und
andererseits um solche, bei denen zwei Fertigkeiten gebraucht wurden (Dual-Task). Bei den
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Dual-Tasks, bei denen beispielsweise rückwärts gezählt werden und gleichzeitig auf Hörreize
reagiert werden musste, schnitten die Kinder mit LRS wesentlich schlechter ab als die Kinder
ohne LRS. Die Theorie geht davon aus, dass bei Kindern mit LRS kognitive und andere (z.B.
motorische) Fertigkeiten nicht richtig automatisiert werden, weshalb sie beim Lösen von Dual-
Tasks große Schwierigkeiten haben, während bei Single-Tasks Defizite noch kompensiert
werden können (vgl. Fawcett/Nicolson 1990: 159). Laut Fawcett/Nicolson (1992: 46) können
durch eine Beeinträchtigung des Cerebellums unterschiedliche kognitive Defizite entstehen,
indem gelernte mentale Prozeduren (Abläufe) bzw. Aufgaben mit sich wiederholenden Mustern
nicht automatisiert werden. Beispielsweise können beeinträchtigte motorische Fertigkeiten
dazu führen, dass Kinder mit LRS nur schwer leserlich schreiben können oder die
beeinträchtigte Fertigkeit, zu artikulieren, dazu, dass die phonologische Bewusstheit nicht
richtig ausgebildet wird, was auf den Schriftspracherwerb einen negativen Einfluss hat.
Laut Steinbrink/Lachmann (2014: 105) ist die Automatisierungsdefizit-Theorie durchaus
plausibel und eine gute Alternative zu den rein phonologischen Ansätzen. Sie argumentieren,
dass es beispielsweise keinen Grund gibt, anzunehmen, dass Probleme bei der phonologischen
Verarbeitung auch zu einer schlechten Handschrift führen. Außerdem kann die Theorie laut
ihnen zahlreiche Symptome einer LRS sowohl hinsichtlich der schriftsprachlichen Leistungen
als auch der zugrundeliegenden Informationsverarbeitungsdefizite vorhersagen. Auch dass die
Symptome individuell anders ausgeprägt sind, kann die Theorie erklären, indem z.B.
verschiedene kognitive Bereiche mehr oder weniger von einem cerebellären Defizit betroffen
sein können. Außerdem kann die Cerebellum-Theorie erklären, warum bei Kindern mit LRS
oft komorbide Entwicklungs- und Verhaltensstörungen auftreten. Dass lese-
rechtschreibgestörte Kinder besonders häufig auch an hyperkinetischen Störungen leiden, lässt
sich beispielsweise dadurch erklären, dass das Cerebellum auch wesentlich an der
Impulskontrolle sowie an Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozessen beteiligt ist. Als
nachteilig an diesem Ansatz empfinden Steinbrink/Lachmann (2014: 105), dass er „sehr
allgemein bleibt“. Zudem ist laut ihnen zu hinterfragen, wieso sich ein cerebelläres Defizit
insgesamt dennoch so spezifisch auf den Erwerb des Lesens und Schreibens auswirken soll.
Hier weisen sie allerdings darauf hin, dass die Automatisierung des Schriftspracherwerbs mit
vergleichsweise sehr hohen Anforderungen verbunden ist, weshalb auch mehr
Automatisierungsprobleme auftreten können (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 106).
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3.4.3.5. Funktionales Koordinationsdefizit
Anders als andere Ansätze geht die Theorie des funktionalen Koordinationsdefizits (FCD), die
von Lachmann 2002 formuliert wurde, nicht von einer einzelnen, klar definierten Ursache aus,
sondern von multikausalen Faktoren, die dazu führen, dass die Koordination der für den
Schriftspracherwerb wichtigen kognitiven Funktionen gestört ist. Zu diesen kognitiven
Funktionen gehören unter anderem solche aus dem visuellen und auditiven Bereich. Die
gestörte Koordination kann durch diverse Verarbeitungsdefizite zustande kommen und sich auf
unterschiedliche Arten auf der kognitiven Ebene und in weiterer Folge auf der Ebene der
Schriftsprache auswirken (vgl. Lachmann 2002: 165). Laut Lachmann (2002: 174) gehört das
Lesen zu den komplexesten kognitiven Prozessen, weshalb sich eine gestörte Koordination
kognitiver Funktionen auf die Lesefähigkeit besonders stark auswirkt. (vgl. Lachmann 2002:
178).
Steinbrink/Lachmann (2015: 115) betonen, dass die Theorie des funktionalen
Koordinationsdefizits gut erklären kann, wieso experimentelle Studien teilweise
unterschiedliche Ergebnisse liefern. Die Theorie nimmt nämlich an, dass eine gestörte
Koordination der am Schriftsprachprozess beteiligten Funktionen für die LRS verantwortlich
ist. Einzelne defizitäre Verarbeitungsfunktionen bei Betroffenen können also, müssen aber
nicht nachweisbar sein. Damit wird der FCD-Ansatz der „Breite der heterogenen Befunde zu
den Ursachen gestörter Lese-Rechtschreibprozesse sicherlich besser gerecht als Modelle zu
ganz speziellen Informationsdefiziten“ (Steinbrink/Lachmann: 115). Für einzelne Fälle und
spezielle Symptome hat der Ansatz jedoch einen „geringeren Erklärungswert“
(Steinbrink/Lachmann: 115). Außerdem können die experimentellen Belege, die es bisher für
die Theorie gibt, insgesamt den Kausalzusammenhang zwischen einem funktionalen
Koordinationsdefizit und der LRS nicht beweisen.
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3.4.4. Negativ beeinflussende Faktoren aus der Umwelt
Klicpera/Schabmann et al. (20134: 197-198) weisen darauf hin, dass der soziale Hintergrund
eines Kindes einen erheblichen Einfluss auf dessen Schriftspracherwerb haben kann. Dabei
heben sie vor allem die Bedeutung der sozioökonomischen Bedingungen, denen ein Kind
ausgesetzt ist, hervor. Um die Auswirkungen von ungünstigen sozioökonomischen
Bedingungen, zu denen allen voran die Armut zählt, zu erforschen, wurden groß angelegte
Längsschnittstudien11 durchgeführt. Alle Ergebnisse zeigten, dass Kinder aus von Armut
betroffenen Familien durchschnittlich einen geringeren IQ, weniger verbale Fähigkeiten und
damit mehr Probleme beim Erlernen des Lesens und Schreibens haben als Kinder aus günstigen
sozioökonomischen Verhältnissen. Der direkte Zusammenhang zwischen Armut und
Problemen beim Schriftspracherwerb wird allerdings in der Forschung teilweise infrage
gestellt. Argumentiert wird, dass es nicht die Armut selbst ist, die zu den Schwierigkeiten beim
Lesen und Schreiben führt, sondern die mit Armut assoziierten Faktoren. Dazu gehört unter
anderem, dass Eltern aus armen Verhältnissen meist weniger zeitliche Ressourcen zur
Verfügung haben, um mit ihren Kindern zu üben. Auch aus finanzieller Sicht stehen
beispielsweise weniger Optionen zur Verfügung, den Förderbedarf eines Kindes abzudecken,
Bücher anzuschaffen oder dem Kind zuhause eine adäquate Lernumgebung mit eigenem
Schreibtisch etc. zu ermöglichen (vgl. Klicpera/Schabmann et al. 20134: 198).
Einen großen Einfluss haben nach Klicpera/Schabmann et al. (20134: 118, 199) aber auch die
Interaktionen innerhalb der Familie, die unabhängig vom soziökonomischen Status negative
Auswirkungen haben können. Eine von Klicpera/Gasteiger-Klicpera et al. durchgeführte Studie
(1993) zeigte, dass sich beispielsweise häufige Störungen des Kindes beim Bearbeiten der
Hausübungen, kein routinemäßiges gemeinsames Üben oder die Demotivation zum Lesen
durch Familienmitglieder negativ auf das Erlernen von Lesen und Schreiben auswirken (vgl.
Klicpera/Gasteiger-Klicpera et al. 1993: 210-211). Auch die Häufigkeit des außerschulischen
Lesens wirkt sich auf die Fähigkeiten im Bereich des Lesens und Schreibens aus. Nach dem
Erlernen des Lesens und Schreibens in der Schule hängen nach einer kurzen Anfangsphase die
Fortschritte lediglich zu einem geringen Teil vom Unterricht in der Schule ab.
Klicpera/Schabmann et al. nennen hier den sogenannten Matthäus-Effekt (‚wer hat, dem wird
gegeben‘) bezüglich der Leseentwicklung, der erstmals von Stanovich 1986 genannt wurde.
11 Vgl. z.B. Smith, Judith/Brooks-Gunn, Jeanne et al. (1997): Consequences of living in poverty for young
children´s cognitive and verbal ability and early school achievement. In: Consequences of growing up poor.
Hg. von Greg Duncan/Jeanne Brooks-Gunn, 132-189; zit. n. Klicpera (20134: 197-198).
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Kinder, die besser lesen können, können mit der Zeit immer noch besser lesen, weil sie sich
durch das Lesen selbst Lesestrategien und Wissen über das Lesen aneignen. Die Schule hat
dabei laut Klicpera/Schabmann et al. (20134: 200) keinen Einfluss auf diesen Effekt. Alle
Schüler/-innen erhalten hier gleich viel Zeit zum Lesen. Auch wenn bessere Leser/-innen
schneller sind und mitunter mehr Wörter lesen, ist der Unterschied kaum nennenswert.
Verantwortlich für den Effekt ist vorrangig das außerschulische Lesen, zu dem Kinder unter
anderem in ihrem sozialen Umfeld motiviert werden bzw. das durch deren soziales Umfeld erst
ermöglicht wird (vgl. Klicpera/Schabmann et al. 20134: 200-201). Klicpera/Schabmann et al.
(20134: 202) weisen außerdem darauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen einem häufigen
Fernsehkonsum und einer geringen Lese- und Schreibfähigkeit von Kindern besteht. Dabei hat
weniger der Fernsehkonsum an sich negative Auswirkungen, sondern vielmehr die Tatsache,
dass Kinder, die häufig fernsehen, weniger Zeit zum Lesen haben. Kritisch für die
Lesefähigkeiten wird es allerdings erst ab einem täglichen Fernsehkonsum von mehr als drei
Stunden. Auf den Fernsehkonsum eines Kindes hat vorrangig das soziale Umfeld einen
Einfluss, indem beispielsweise Eltern Regeln bezüglich des Fernsehens aufstellen können.
Auch Steinbrink/Lachmann betonen, dass, auch wenn Kinder auf genetischer Ebene eine
Vulnerabilität (Anfälligkeit) besitzen, eine LRS zu entwickeln, die Umwelt dennoch einen
Einfluss darauf hat, wie sich die Lese- und Rechtschreibleistungen eines Kindes entwickeln.
Beispielsweise kann bei Risikokindern durch geeignete Fördermaßnahmen frühzeitig
interveniert werden, um die Entstehung einer LRS zu verhindern bzw. um den Schweregrad der
Störung zu mindern. Das Wissen über die genetischen Veranlagungen darf laut ihnen nicht dazu
führen, dass angenommen wird, präventive und intervenierende Maßnahmen würden sich nicht
lohnen (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 92). Diverse Studien12 lieferten das Ergebnis, dass die
LRS durch eine Gen-Umwelt-Interaktion entsteht. Variable Wortlesefähigkeiten,
unterschiedliches orthographisches Wissen etc. bei Zwillingen sind demnach durch Einflüsse
aus der Umwelt erklärbar. Steinbrink/Lachmann (2014: 92) weisen außerdem darauf hin, dass
der genetische Einfluss auf LRS teilweise durch „Unterschiede in der Selektion von Umwelten“
erklärt werden könnte. Eineiige Zwillinge, die genetisch bedingte Probleme beim
Schriftspracherwerb haben, könnten sich aufgrund ihrer genetischen Ähnlichkeit beide eine
ähnliche Umwelt für das Lesen aussuchen. Bei zweieiigen Zwillingen, von denen ein Kind
genetisch bedingte Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen hat, könnte ihre genetische
12 Vgl. z.B. Gayán, Javier/Olson, Richard (2001): Genetic and environmental influences on orthographic and
phonological skills in children with reading disabilities. In: Developmental Neuropsychology 20 (2), 483-507;
zit. n. Steinbrink/Lachmann (2014: 92).
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Verschiedenheit dazu führen, dass das eine Kind sich in derselben Umwelt mehr mit dem Lesen
beschäftigt.
Der Lernpädagoge und Familientherapeut Nicolay ist der Meinung, dass jede/-r fehlerfrei lesen
und schreiben lernen kann und geht von einem ‚Legasthenie-Märchen‘ aus. Nicolay (2010: 19-
21) listet unter den Ursachen hauptsächlich Faktoren aus der Umwelt des Kindes auf. Dazu
gehören beispielsweise phonetische Unterrichtsmethoden, die zur Schriftsprachvermittlung in
der Schule verwendet werden. Bei Kindern, die sich Wörter vor allem durch deren Lautklang
merken (auditive Denkstrategie), können diese Methoden zu Schwierigkeiten beim Lesen und
Schreiben führen, weil sich der Lautklang und das Schriftbild im Deutschen oft unterscheiden.
Diese Kinder haben zu wenig Wissen darüber, wie sie ihr visuelles Vorstellungsvermögen für
die Rechtschreibung nutzen können. Umgekehrt kann laut Nicolay aber auch die visuelle
Denkstrategie zu Lese-Rechtschreibschwierigkeiten führen, wenn diese von Kindern vorrangig
benutzt wird, ihnen das Schreiben und Lesen aber mit einer phonetischen Methode beigebracht
wird. Zudem ist nach ihm oft der „Zwang, etwas Fremdbestimmtes zu einer fremdbestimmten
Zeit zu lernen“ (Nicolay 2010: 20) verantwortlich dafür, dass bei Kindern eine LRS entsteht,
weil die individuelle Entwicklung des Kindes, dessen Lerntempo und dessen Motivation und
Interesse nicht berücksichtigt werden. Dabei verweist er auf eine Untersuchung an der freien
Sudbury-Schule in den USA, auf der Kinder ohne Druck und mit ausreichend Zeit und
Eigenverantwortung lernen. Die Notwendigkeit, im Alltag lesen und schreiben zu können,
würden Kinder schnell selbst erkennen. Die Untersuchung ergab, dass kein Kind, das diese
Schule besuchte, eine LRS entwickelte. Außerdem tragen laut Nicolay die Eltern einen großen
Teil der Verantwortung für die Entstehung einer LRS bei ihrem Kind. Durch ihr inadäquates
Verhalten während des Schriftspracherwerbs ihres Kindes tragen sie teilweise wesentlich zur
Entstehung einer LRS bei. Indem sie auf das Auftreten kleiner Probleme beim Lesen und
Schreiben zu Beginn mit Ungeduld und Enttäuschung reagieren, die Zuversicht an die
Fähigkeiten ihres Kindes verlieren und mitunter Angst ausdrücken, dass das Kind später einmal
keine weiterführende Schule besuchen kann, wird das Kind enorm unter Druck gesetzt. Statt
mit dem Kind effektiv zu lernen, wird nur verlangt, dass es konzentrierter und mehr lernt.
Ständige Misserfolge führen dann zur Demotivation des Kindes, was ein Lernen von Lesen und
Schreiben ohne Schwierigkeiten verhindert (vgl. Nicolay 2010: 19-21).
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3.4.5. Multikausalität
Im Folgenden werden Überlegungen vorgestellt, die davon ausgehen, dass die LRS multikausal
bedingt ist. Mayer (2016: 58) schreibt in seiner Schlussfolgerung zu den Ursachen Folgendes:
Die bisherigen Erklärungsmodelle sind […] nur für bestimmte Teilgruppen von Personen zutreffend.
Damit kann nicht von einer eindeutigen, immer gleich verlaufenden Entwicklung einer Lese-
Rechtschreibstörung ausgegangen werden. Die Lese-Rechtschreibstörung ist demnach vielmehr ein
multidimensionales Problem mit diversen verursachenden Faktoren, die in verschiedenen Subtypen der
Störung resultieren können.
Ebenfalls nach Breitenbach/Weiland (2010: 33) kann nach allen vorliegenden Erkenntnissen
aktuell eine „multikausale Verursachung angenommen“ werden.
Auch nach Klicpera/Schabmann et al. (20134: 171) kann zusammenfassend gesagt werden, dass
eine Reihe von Ursachen für die LRS verantwortlich sein können. Meist sind es laut ihnen
mehrere Faktoren, die gemeinsam dazu führen, dass ein Kind Probleme beim
Schriftspracherwerb hat. Sie haben in diesem Zusammenhang ein „interaktives Modell der
Ursachen“ (Klicpera/Schabmann et al. 20134: 171) entworfen. Es wird davon ausgegangen,
dass sowohl individuelle Voraussetzungen (z.B. genetische, kognitive) als auch eine
unzureichende Unterstützung durch die Familie und ein für das Kind nicht adäquater Unterricht
zu einer LRS führen. Die genannten Faktoren befinden sich dabei in einer „dynamischen
Wechselbeziehung“ (Klicpera/Schabmann et al. 20134: 171), weil beispielsweise mangelnde
kognitive Fähigkeiten durch eine Förderung in der Familie und im Schulunterricht kompensiert
werden können. Auch von Suchodoletz (2007: 34) schreibt, dass für das Auftreten einer LRS
mehrere Faktoren verantwortlich sind. Zu diesen Faktoren zählt er die genetische Veranlagung,
ungünstige familiäre und schulische Bedingungen sowie biologische Risiken.
Frith bezieht in ihrem 1999 veröffentlichten Drei-Ebenen-Rahmenmodell zu den Ursachen für
eine LRS ebenfalls mehrere Faktoren mit ein. Frith (1999: 192, 200) weist darauf hin, dass es
sowohl Belege gibt, dass die LRS genetisch bedingt ist, als auch Belege dafür, dass sie durch
Defizite auf der kognitiven Ebene verursacht wird. Entscheidend sind laut ihrer Theorie nicht
nur die Bedingungen im genetischen und kognitiven Bereich, sondern auch die
Persönlichkeitsmerkmale und Einflüsse aus der Umfeld, die auf die schriftsprachlichen
Leistungen auf der Verhaltensebene eine positive bzw. negative Auswirkung haben können
(vgl. Frith 1999: 211).
Seite 39
Steinbrink/Lachmann (2014: 89) heben hervor, dass das Modell beispielsweise erklären kann,
wieso defizitäre kognitive Gegebenheiten durch Umwelteinflüsse und
Persönlichkeitsmerkmale teilweise kompensiert werden können und die Auswirkungen auf der
Verhaltensebene verhindern, abmindern oder verstärken können.
Abb. 2: Drei-Ebenen-Modell zu den Ursachen der LRS von Frith,
dargestellt von Steinbrink/Lachmann
Seite 40
3.4.6. Fazit über die Ursachen
Obwohl teilweise sehr überzeugende Theorien vorliegen, die die Entstehung einer LRS
erklären, ist es laut Mayer (2016: 64) „bisher keiner Hypothese gelungen, alle Phänomene, die
bei einer Lese-Rechtschreibstörung beobachtet wurden, befriedigend zu erklären“. Dies könnte
dahingehend interpretiert werden, dass verschiedene Untertypen der LRS differenziert werden
können (vgl. Mayer 2016: 64). Fest steht, dass eine Reihe von Studien eine genetische Basis
der LRS bzw. eine genetisch bedingte Beeinträchtigung der Lern- und
Informationsverarbeitungsprozesse bestätigen (vgl. Klicpera/Schabmann et al. 20134: 173).
Bisher konnten in der Forschung Genkonstellationen gefunden werden, die sowohl mit
Problemen beim Erlernen des Lesens und Schreibens als auch mit einem unbeeinträchtigten
Schriftspracherwerb in Zusammenhang stehen. Zusammenfassend ist die „jeweilige
Ausprägung dieser Genkonstellation“ (Mayer 2016: 54) verantwortlich dafür, wie sich die
individuelle Lese-Rechtschreibleistung entwickelt. Von allen Theorien zur kognitiven Ursache
der LRS ist die phonologische Theorie empirisch am besten belegt, sie hat sich in der
internationalen Forschung als anerkannter Erklärungsansatz etabliert (vgl. Mayer 2016: 57).
Insgesamt sprechen nämlich mehrere Aspekte für diese Theorie. Einerseits ist die Fähigkeit zur
phonologischen Informationsverarbeitung im vorschulischen Alter ein Indiz dafür, wie gut
bzw. schlecht der Schriftspracherwerb erfolgt. Andererseits liegen bei Personen mit LRS
nachweislich Defizite in verschiedenen Bereichen der phonologischen
Informationsverarbeitung vor. Zudem kann das Trainieren von phonologischen Fähigkeiten das
Risiko der Entstehung einer LRS mindern bzw. die Lese-Rechtschreibleistungen von
betroffenen Kindern verbessern (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 116). Auch Einflüsse aus der
Umwelt haben teilweise einen erheblichen Einfluss auf die Lese-Rechtschreibfähigkeiten eines
Kindes, wie in mehreren Untersuchungen gezeigt werden konnte. Zusammenfassend werden
Faktoren aus der Umwelt aber von vielen Autoren/-innen zwar erwähnt, aber nicht als primärer
Auslöser einer LRS gesehen. Vielmehr können beeinflussende Umweltfaktoren dazu beitragen,
das Risiko einer LRS zu verhindern, abzumindern oder zu verstärken (vgl. z.B.
Steinbrink/Lachmann 2014: 89). Damit eng in Zusammenhang stehen auch die multikausalen
Erklärungsansätze, denen zufolge mehrere Faktoren (z.B. genetische, kognitive, personelle)
dafür verantwortlich sind, dass eine LRS entsteht. Insgesamt wird dieser Ansatz aktuell von
einem Großteil der Autoren/-innen als sehr relevant hervorgehoben (vgl. z.B. Mayer 2016: 64
und Klicpera/Schabmann et al. 20134: 173). Generell muss im Zusammenhang mit der Frage
nach der Ursache für die LRS überlegt werden, ob die Störung monokausal oder multikausal
Seite 41
begründet ist. Heute liegen zahlreiche Studien vor, die eher auf Multikausalität hindeuten. Es
werden außerdem auch vermehrt multikausale Subtypen der LRS angenommen. Laut dieser
Annahme sind weder die Symptomatik noch die Ursachen homogen. Wenn man von
multikausalen Subtypen ausgeht, lassen sich auch die uneinheitlichen Ergebnisse, die
verschiedene Studien liefern, besser verstehen. Je nach Zusammensetzung der Stichprobe kann
Verschiedenes nachgewiesen werden (vgl. Steinbrink/Lachmann 2014: 11).
Seite 42
4. Analyseteil
4.1. Erklärung und Begründung der Forschungsmethode
4.1.1. Narrative Leitfadeninterviews
Um die Fragestellung beantworten zu können, wurden narrative Leitfadeninterviews
durchgeführt. Da quantitative Ergebnisse für die Fragestellung irrelevant sind und qualitative
Erkenntnisse im Zentrum stehen, wurde bewusst kein Fragebogen verwendet, sondern eine
qualitative Forschungsmethode ausgewählt. Qualitative Forschungsmethoden verfolgen das
Ziel, „bestimmte soziale Phänomene einer tiefen und differenzierten Analyse zu unterziehen“
(Misoch 2015: 2). Im Vordergrund steht die Erfassung von Selbstinterpretationen, die
Untersuchung subjektiver Wirklichkeiten, Sinnkonstruktionen und Alltagstheorien und die
Analyse von individuellen Sichtweisen, Meinungen oder Motiven. Repräsentativität wird dabei
„nicht im statistischen, sondern im inhaltlichen Sinne“ erreicht (Misoch 2015: 3). Da es in
dieser Arbeit darum geht, individuelle Erfahrungen und Meinungen mit bzw. zu der LRS zu
untersuchen, schien ein qualitatives Leitfadeninterview insgesamt passend. Im Gegensatz zu
standardisierten Interviews gibt es bei qualitativen Interviews keine vorgegebenen Antworten
für den/die Befragte/-n. Das Ziel dabei ist, die Redeweise des/der Befragten möglichst
authentisch zu erfassen (vgl. Küsters 20092: 13).
Die Interviews wurden zum größten Teil in Form von klassischen Leitfadeninterviews
durchgeführt, wobei aber auch Elemente des narrativen Interviews nach Schütze übernommen
wurden. Zunächst werden allerdings generelle Informationen über das Leitfadeninterview
angeführt. Dem Leitfadeninterview liegt ein strukturierendes Element (Interviewleitfaden)
zugrunde. Der Leitfaden fasst alle für das Interview relevanten Themen sowie zum Teil
vorformulierte Fragen zusammen. Die Interviewsituation ist beim Leitfadeninterview relativ
offen gestaltet, da es keine standardisierten Antwortmöglichkeiten gibt (vgl. Riesmeyer 2011:
224).
Aber sowohl qualitative offene Leitfadeninterviews als auch standardisierte Interviews sind mit
dem Problem verbunden, dass die Antworten der Befragten von unterschiedlichen Faktoren
(z.B. soziale Erwünschtheit, Interaktionsgeschehen im Interview, Platzierung und Art der
Formulierung der Fragen) beeinflusst werden können. Aus dieser Kritik heraus entwickelte
Seite 43
Fritz Schütze Ende der 1970er Jahre das narrative Interview13. Beim narrativen Interview stellt
der/die Interviewer/-in dem/der Befragten eine Eingangsfrage, auf die er/sie mit einer
Erzählung antwortet. Der/die Interviewer/-in hört dabei aufmerksam zu und unterbricht den/die
Sprechende/-n nicht, sondern wartet, bis der/die Befragte von selbst aufhört zu reden. Daraufhin
werden ‚immanente Nachfragen‘ gestellt, die einen Bezug zum Erzählten haben und deren Ziel
es ist, den/die Befragten zum Erzählen von eventuell Ausgelassenem oder unklar Gebliebenem
zu motivieren. Durch seine Interviewform überlässt das narrative Verfahren die Ausgestaltung
der vorgegebenen Interviewthematik weitgehend dem/der Befragten, während gleichzeitig auch
heikle Informationen in Erfahrung gebracht werden können. In gewisser Weise imitiert das
narrative Interview eine Kommunikationssituation aus dem Alltag, indem jemand etwas in
einer direkten Interaktion ausführlich erzählt (vgl. Küsters 20092: 18-21). Laut Küsters (20092:
14) ist bei einem narrativen Interview zentral, dass es sich bei den Antworten um
Stehgreiferzählungen handelt und der/die Befragte sich nicht auf die Fragen vorbereiten konnte.
Dadurch und durch die Tatsache, dass der/die Interviewer/-in nur einen geringen Einfluss auf
die thematische Gestaltung hat, entsteht ein „recht authentisches, wenig verzerrtes Material“
(Küsters 20092: 14).
Die übliche Vorgehensweise für das narrative Interview, das in der Forschung vorrangig für die
Erforschung von Biographien verwendet wird, wurde für die Befragungen im Rahmen dieser
Arbeit teilweise adaptiert. Im Folgenden wird auf den Ablauf des narrativen Interviews
eingegangen und anschließend wird beschrieben, inwiefern dieser für die Befragungen im
Rahmen dieser Arbeit übernommen wurde.
Küsters (20092: 54ff.) beschreibt den Ablauf eines narrativen Interviews wie folgt: Vor dem
Interview wird mit dem/der Befragten ein Vorgespräch geführt, das eine wichtige
Voraussetzung für das Gelingen des Interviews darstellt, weil es zum Aufbau einer
Vertrauensbeziehung zwischen dem/der Interviewer/-in und dem/der Befragten beiträgt. Im
Mittelpunkt können hier beispielsweise einfacher Small Talk, die Selbstpräsentation des/der
Interviewers/-in, die Vorstellung des Forschungsprojekts oder Informationen über den Ablauf
des Interviews stehen. Themen des Interviews sollte das Vorgespräch nicht vorwegnehmen, um
den Stegreifcharakter der Befragung zu erhalten (vgl. Küsters 20092: 54). Das narrative
Interview beginnt mit einer Einstiegsfrage (z.B. „Erzählen Sie mir doch bitte…“), die auch
13 Schütze, Fritz (1977): Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien. Dargestellt an einem
Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen. Bielefeld: Universitätsverlag; zit. n. Küsters
(20092: 45ff.).
Seite 44
„Eingangsstimulus“ bzw. „Erzählstimulus“ genannt wird. Diese soll eine umfassende Antwort
bzw. Erzählung des/der Befragten einleiten. Weil sie je nach Formulierung die Antwort des/der
Interviewten beeinflussen kann, sollte sie im Vorhinein sorgfältig entworfen werden. Um eine
Vergleichbarkeit der Interviews gewährleisten zu können, sollte allen Befragten die gleiche
Eingangsfrage gestellt werden (vgl. Küsters 20092: 44-45). An die Eingangsfrage anschließen
kann eine sogenannte Aushandlungsphase bzw. eine Ratifizierung des Stimulus. Dies ist der
Fall, wenn der/die Befragten nicht gleich mit der Erzählung beginnt, sondern sich bezüglich des
Themas noch einmal vergewissern muss (z.B. ‚Wie genau ist das gemeint?‘) bzw.
Erzählhemmungen (z.B. ‚Wollen Sie das wirklich wissen?‘) hat. In dieser Phase kann die
Rederolle noch mehrmals hin und her wechseln (vgl. Küsters 20092: 56). Anschließend beginnt
die Haupterzählung (auch ‚Anfangserzählung‘), die vom/von der Interviewer/-in nicht
unterbrochen wird. Der/die Befragende schweigt, hört aber aktiv und „erzählanregend“
(Küsters 20092: 58) zu. Es darf beispielswiese beigepflichtet werden, aber nicht themenlenkend
eingegriffen werden. Eventuelle Erzähllücken sollten vom/von der Befragenden erkannt und
notiert werden. Der/die Interviewte beendet seine Haupterzählung meist mit einer deutlichen
Koda (Schlusssatz), die das Ende der Geschichte kennzeichnet und die Rederolle wieder an
den/die Interviewende/-n zurückgibt (vgl. Küsters 20092: 59-60). Danach startet die erste
Nachfragephase, bei der der/die Interviewende anhand der Notizen zu Auffälligkeiten und
Lücken, die er/sie während der Haupterzählung gemacht hat, „immanente Nachfragen“
(Küsters 20092: 61) stellt. Diese zielen auf bisher Nicht-Erzähltes, aber in der Haupterzählung
kurz Erwähntes, ab und sollten wiederum „erzählgenerierend“ sein (Küsters 20092: 61). Eine
mögliche Formulierung ist beispielsweise ‚Könnten Sie mir bitte noch einmal genau erzählen,
wie das war…?‘ (vgl. Küsters 20092: 62). Anschließend können noch ‚exmanente Nachfragen‘
gestellt werden. Diese beziehen sich auf etwas, das noch nicht gesagt wurde, für den/die
Befragenden aber von Interesse ist (vgl. Küsters 20092: 62-63). Zum Schluss des narrativen
Interviews ist es üblich, soziodemographische Merkmale oder Strukturdaten von den Befragten
zu erheben, wenn dies für die Fragestellung relevant ist. Dies sollte jedenfalls nicht vor der
Befragung geschehen, weil der/die Befragte sonst möglicherweise beeinflusst wird.
Beispielsweise könnten manche Inhalte anders oder nur beschränkt behandelt werden, weil
der/die Befragte den Eindruck bekommt, bei dem Interview würde es um Daten und Fakten
gehen. Danach ist das Interview beendet. Nach der Beendigung des Interviews erfolgt der
Beginn eines Nachgesprächs, wobei sich der/die Interviewende hier nach den Bedürfnissen
des/der Befragten richten sollte. Je nach dessen/deren Stimmung kann das Nachgespräch
Seite 45
beispielsweise kurz bzw. lang sein oder von Themen des Interviews bzw. Smalltalk handeln
(vgl. Küsters 20092: 64).
Wie bereits oben erwähnt, wurde das Verfahren des narrativen Interviews für die Analyse im
Rahmen dieser Diplomarbeit teilweise adaptiert. Die Idee des Vorgesprächs wurde
übernommen, weil gerade bei den Interviews mit LRS-Betroffenen und Eltern von LRS-
Betroffenen eine Vertrauensbeziehung zwischen dem Befragenden und den Befragten wichtig
ist. Mitunter ging es nämlich um sehr persönliche Themen (z.B. subjektives Erleben bzw.
Wahrnehmen der Diagnoseerstellung). Eine einzige Eingangsfrage bzw. einen einzigen
Erzählstimulus gab es in den für diese Diplomarbeit durchgeführten Interviews nicht. Da
nämlich zu teilweise sehr unterschiedlichen Themen Antworten erreicht werden sollten, wurden
pro Personengruppe mehrere Leitfragen formuliert. Das im narrativen Verfahren übliche
Verhalten des/der Interviewenden während der Phasen der Beantwortung durch den/die
Befragte/-n wurde übernommen. Da nämlich authentische und ausführliche Antworten das Ziel
waren, wurden die Befragten nicht unterbrochen, sondern es wurde ihnen aktiv zugehört.
Ebenfalls übernommen wurde das Notieren von Erzähllücken, nach denen später gefragt wurde.
Seite 46
4.1.2. Befragte
Um die Fragestellung beantworten zu können, wurden 16 Interviews durchgeführt. Befragt
wurden Leute aus Tirol und Vorarlberg aus vier verschiedenen Personengruppen: LRS-
Betroffene, Eltern von LRS-Betroffenen, LRS-Trainer/-innen und Außenstehende. So sollten
möglichst verschiedene Perspektiven in Erfahrung gebracht werden. Alle befragten Personen
waren über 18 Jahre alt, wobei die Festlegung des Mindestalters im Vorhinein diverse Gründe
hatte. Kinder und Jugendliche, für deren Befragung es ohnehin erst die Einverständniserklärung
der Eltern gebraucht hätte, wurden bewusst deshalb nicht interviewt, weil man den Fragebogen
(besonders für Kinder) teilweise hätte adaptieren müssen. Die Fragen sind zum Teil komplex,
weil Betroffene beispielsweise gefragt wurden, welche Fördermaßnahmen für sie besonders
hilfreich waren, was ein Kind womöglich gar nicht beantworten kann, weil es noch zu wenig
reflexiv darüber nachdenken kann bzw. noch mitten in der Förderung steckt. Auch die Frage an
die Außenstehenden, was ihrer Meinung nach Leuten mit LRS helfen kann, setzt eine gewisse
Reife voraus, indem über helfende Maßnahmen nachgedacht werden muss. Außerdem sind
manche Fragen für Kinder bzw. Jugendliche zum Teil ethisch bedenklich, weil sie mit sensiblen
Themen verbunden sind. Wenn ein betroffenes Kind beispielsweise gefragt wird, ob die LRS
eine Auswirkung auf dessen allgemeine Schulleistungen hat und dies beim Kind tatsächlich der
Fall ist und es darunter leidet, kann das Interview für das Kind mitunter sehr belastend sein.
Erwachsene haben bereits eine gewisse Distanz dazu. Zudem hätte der Leitfaden für die
Interviews gekürzt werden müssen, weil teilweise über zehn Fragen gestellt werden, was für
Kinder zu lange ist. Alle befragten Personen wurden anonymisiert und werden je nach
Personengruppe mit B1/2/3/4 (für Betroffene), E1/2/3/4 (für Eltern), T1/2/3/4 (für Trainer/-
innen) und A1/2/3/4 (für Außenstehende) bezeichnet. Deren Geschlecht wird ebenfalls nicht
angegeben, weil es für die Fragestellung irrelevant ist.
Seite 47
4.1.3. Leitfragen für die Interviews
Die Fragen wurden mit dem vorrangigen Ziel formuliert, die Perspektive der Befragten zu den
Ursachen für eine LRS herauszufinden. Es wurden aber bewusst nicht nur Fragen speziell zu
den Ursachen (z.B. Theorien dazu, Interesse daran) gestellt, sondern auch Fragen zu anderen
Themen. Es wurde nämlich davon ausgegangen, dass auch somit möglicherweise Perspektiven
auf die Ursachen in Erfahrung gebracht werden könnten. Beispielsweise könnte im Rahmen der
Frage nach präventiven Maßnahmen, um eine LRS zu verhindern bzw. deren Schweregrad zu
verringern, die Perspektive eines/-r Trainers/-in deutlich werden, wenn er/sie sagt, dass es
aufgrund der genetischen Veranlagung keine Maßnahmen gibt. Auch im Rahmen der Frage an
Betroffene, wie sie die Diagnoseerstellung erlebt haben, könnte beispielsweise deutlich werden,
dass sie die Perspektive des/der Psychologen/-in auf die Ursachen übernommen haben.
Es wurden durchschnittlich jeweils zehn Leitfragen formuliert. Die Anzahl der Fragen an die
Außenstehenden war etwas geringer, weil erwartet wurde, dass diese aufgrund eines fehlenden
Bezugs nicht so ausführlich über verschiedene Aspekte des Themas erzählen können wie die
Befragten aus den anderen Personengruppen. Im Folgenden sind alle vier Leitfäden für die
Interviews angeführt.
Seite 48
4.1.3.1. Leitfragen für die LRS-Betroffenen
1. Wann wurde bei Ihnen eine LRS festgestellt?
2. Wer hat das damals eingeleitet?/ Warum wurde versucht, eine Diagnose zu erstellen?
3. Wie haben Sie die Diagnoseerstellung damals erlebt?
4. Was hat der/die Psychologe/-in damals über die Ursachen gesagt?
5. Haben Sie sich damals selbst mit den Ursachen für LRS auseinandergesetzt? Bzw.
Haben Ihre Eltern sich damals mit den Ursachen für LRS auseinandergesetzt?
Wenn ja: Wie? Auf was für Antworten sind Sie oder Ihre Eltern gestoßen?
6. Inwiefern ist es für Sie persönlich (nicht) wichtig zu wissen, was für Ursachen es für
die LRS gibt?
7. Inwiefern nehmen Sie ein/ kein Interesse der Leute aus Ihrem Umfeld an den Ursachen
für Ihre LRS wahr? Bzw. Wie oft wurden Sie schon gefragt, wieso Sie eine LRS haben?
Was antworten Sie den Leuten dann?
8. Haben Sie den Eindruck, dass Ihre LRS einen Einfluss auf Ihre schulischen Leistungen
hatte? Warum?
9. Wie wurde in der Schule mit Ihrer LRS umgegangen?
10. Was für Fördermaßnahmen haben Ihnen besonders geholfen?
11. Wollen Sie noch irgendwas ergänzen zu dem, was Sie bisher gesagt haben?
Seite 49
4.1.3.2. Leitfragen für die Eltern von Betroffenen
1. Kommt die LRS häufig in Ihrer Familie vor? Wie viele sind davon betroffen? Wer ist
davon betroffen (genetisch Verwandte/ Angeheiratete)?
2. Wann haben Sie gemerkt, dass ihr Kind Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hat?
3. Wie haben Sie die Diagnoseerstellung damals erlebt?
4. Was hat der/die Psychologe/-in damals über die Ursachen für die LRS Ihres Kindes
gesagt?
5. Haben Sie sich schon einmal näher mit den Ursachen für LRS auseinandergesetzt?
Wenn ja: Wo? Wie? Wann? Auf was für Antworten sind sie gestoßen?
Wenn nein: Wieso nicht?
6. Wie sehr interessiert sich Ihr Kind für die Ursachen seiner LRS? Was für Theorien zu
den Ursachen hat Ihr Kind? Was für Ursachen wurden Ihrem Kind genannt?
7. Inwiefern entlastet Sie das Wissen über LRS (Merkmale, v.a. Ursachen) (nicht)? Bzw.
Inwiefern hilft Ihnen das Wissen, mit der LRS Ihres Kindes umzugehen?
8. Wie sehr können Eltern Ihrer Meinung nach ihr Kind bei einer LRS unterstützen?
9. Ist bei Ihrem Kind eine kombinierte LRS aufgetreten?
Wenn ja: Was für Probleme sind aufgetreten?
10. Inwiefern glauben Sie, dass die LRS Ihres Kindes eine/ keine Auswirkung auf dessen
schulische Leistung generell hat?
Seite 50
4.1.3.3. Leitfragen für die LRS-Trainer/-innen
1. Wieso haben Sie sich dazu entschieden, Trainer/-in für LRS zu werden?
2. Wie sieht ihr Trainingskonzept aus?
3. Inwiefern stellen Sie ein/ kein Interesse an den Ursachen für LRS bei den von Ihnen
behandelten Kindern/Jugendlichen bzw. deren Eltern fest?
4. Was für Theorien haben die von Ihnen behandelten Kinder/Jugendlichen bzw. deren
Eltern zu den Ursachen für LRS?
5. Was antworten Sie den von Ihnen behandelten Kindern/Jugendlichen bzw. deren Eltern,
wenn sie nach den Ursachen für eine LRS fragen?
6. Wie oft behandeln Sie Kinder mit einer kombinierten LRS?
7. Wie sehr hängt eine LRS Ihrer Meinung nach mit den schulischen Leistungen eines
Kindes allgemein zusammen?
8. Was für präventive Maßnahmen, um das Risiko einer LRS zu mindern, würden Sie
empfehlen?
9. Hat sich Ihre Einstellung zu den Ursachen für eine LRS im Laufe der Zeit verändert?
Wenn ja: Wie? Was hat Ihre Meinung beeinflusst?
10. Was denken Sie aktuell über die Ursachen für eine LRS?
Seite 51
4.1.3.4. Leitfragen für die Außenstehenden
1. Was verstehen sie unter einer ‚Lese-Rechtschreibstörung‘? Was glauben Sie, dass das
ist? (ggf. Berichtigung)
2. Wie viele Leute mit LRS kennen Sie (ca.)? Haben Sie diese schon einmal etwas über
die LRS gefragt? Haben Sie auch schon einmal etwas über die Ursachen gefragt? Wenn
ja: Was wurde Ihnen geantwortet? Was ist Ihre persönliche Meinung zu den Ursachen
für LRS?
3. Haben Sie sich schon einmal näher mit den Ursachen für LRS auseinandergesetzt?
Wenn ja: Wie? Auf was für Antworten sind Sie gestoßen?
4. Was kann Ihrer Meinung nach Leuten mit LRS helfen?
5. Glauben Sie, dass die LRS einen Einfluss auf die Begabung eines Menschen hat?
Glauben Sie, dass sie einen Einfluss auf dessen schulische Leistungen hat? Inwiefern?
Seite 52
4.1.4. Vorgangsweise bei der Analyse
Nach der Aufnahme der Interviews wurden diese transkribiert. Die Verschriftlichung erfolgte
nach den GAT2-Konventionen in Form von Basistranskripten. Das Basistranskript enthält wie
das Minimaltranskript die Angabe von Überlappungen, Verzögerungen, Pausen, Ein- und
Ausatmen, Lachen, schwer- oder unverständlichen Segmenten und teilweise nonverbalen
Handlungen und Ereignissen (vgl. Selting/Auer 2009: 359). Zusätzlich sind beim
Basistranskript prosodische Informationen angeführt, die nötig sind, „um Missverständnisse
hinsichtlich der semantischen Struktur und pragmatischen Funktion der Segmente“
(Selting/Auer 2009: 369) auszuschließen.
Nachdem die Interviews transkribiert wurden, wurden die Antworten, die in einem
Zusammenhang mit den Ursachen für eine LRS stehen, verschiedenen Kategorien zugeordnet.
Bei der Aufstellung der Kategorien wurde induktiv vorgegangen. Im Gegensatz zur deduktiven
Kategorienbildung, bei der die Kategorien bereits vor der Analyse festgelegt werden, werden
die Kategorien bei der induktiven Kategorienbildung erst nach der Analyse des Datenmaterials
entwickelt (vgl. Früh/Früh 2015: 26-27). Die Analyse der verschriftlichten Interviews ergab,
dass sich die Antworten der Befragten in folgende zwölf Kategorien unterteilen lassen:
• Ursachen: Annahme der genetischen Disposition
• Ursachen: Annahme der mangelnden Intelligenz
• Ursachen: Beeinflussende Faktoren aus der Umwelt
• Ursachen: Annahme von kognitiven Defiziten
• Ursachen: Ratlosigkeit
• Ursachen: Annahme der Multikausalität
• Ursachen: Änderung der Einstellung dazu
• Ursachen: Interesse der Trainer/-innen
• Ursachen: Interesse der Betroffenen
• Ursachen: Interesse der Eltern
• Ursachen: Interesse der Außenstehenden bzw. Fragen danach als Tabu
• Ursachen: Wissen darüber als Entlastung
Im Analyseteil werden die Antworten innerhalb der Kategorien mit Erkenntnissen aus der
aktuell relevanten Forschungsliteratur in Verbindung gebracht. Somit ist die Vorgangsweise
der qualitativen Inhaltsanalyse zuzuordnen (vgl. Gläser/Laudel: 43, 202). Diese verfolgt nicht
Seite 53
das Ziel, quantitative Aussagen zu treffen und repräsentativ für eine Gesamtheit zu sein,
sondern erreicht Repräsentativität „im inhaltlichen Sinne“ (Misoch 2015: 3)
Seite 54
4.2. Analyse der Interviews
4.2.1. Ursachen: Annahme einer genetischen Disposition
Die Annahme, dass die LRS genetisch bedingt ist, wird von den Befragten insgesamt häufig
erwähnt. Meist wird im Zusammenhang mit dieser Theorie von den befragten Personen darauf
hingewiesen, dass die LRS innerhalb von Familien gehäuft vorkommt. Eingegangen wird
zunächst auf die Antworten von Eltern betroffener Kinder. E1 bejaht beispielsweise zunächst
die Frage, ob die LRS in der Familie öfter vorkommt.
03 I: kommt die legastheNIE,
04 in eurer familie ÖFters vor? (--)
05 E1: jo (-) scho mine MAma- (.)
06 und also ICH,
07 und jetzt da [Vorname], ((lacht))
Später im Interview wird deutlich, dass E1 von einer Vererbung der LRS innerhalb der Familie
ausgeht.
121 I: ok und ähm hast DU dich-
122 einmal damit beFASST schon,
123 mit den URsachen? (---)
124 E1: jo die URsa:chen-
125 guat durch DES dass es bei uns,
126 einfach familiÄR isch-
127 isch es han i jetzt einfach DENKT,
128 isch es geNEtisch,
129 und jetzt ((lacht)) heat_s einfach JEdes mol oana;
130 also die TOCHter heat_s nid oder,
131 die isch ÄLter-
132 und äh äh der ANdere,
133 der andere ZWILling,
134 der heat ANsätz-
135 vo legastheNIE,
Die Antwort auf die Frage, wie E1 seinem/ihrem Kind erklärt, wieso es eine LRS hat, enthält
wiederum die Annahme der genetischen Vererbung und den Hinweis auf ein gehäuftes
Vorkommen in der Familie.
151 E1: jo also erKLÄRT han i_s-
152 in DEAM sinn-
153 i han_s OU, ((lacht))
154 und JETZT heat_s halt-
155 leider DI ou erwischt oder, (-)
156 also es HÄTT ou-
157 d_SCHWESCHter treffa könna;
158 aber jetzt HEAT es-
159 einfach EAN erwischt oder,
160 I: mhm-
161 E1: und DENN han i eam-
Seite 55
162 halt SO erklört-
163 jo SCHATZ,
164 i han_s OU,
165 und mir können_s nid ÄNdra-
166 i han da DES jetzt-
167 einfach WItervererbt oder,
168 und DES isch eigentlich-
169 die erKLÄRung- (---)
In einer auf die schulischen Leistungen des betroffenen Kindes bezogenen Antwort von E2 wird
deutlich, dass auch dieser Elternteil von einer genetischen Basis der LRS ausgeht.
201 E2: i HOB eam o nid-
202 an EXtremer stress gmacht,
203 uf DES ane-
204 weil I bin sealb
205 in da RECHTschreibung-
206 o nid EXtrem guat,
207 und i tua ma O schwer-
208 und es kann o SI-
209 dass es i O ket hob,
210 des woaß ma ned oder, (.)
211 also es kummt SICHer vo da eltra-
212 also vom PApa heat er_s-
213 SICHer nid,
214 wenn_s verERBlich isch-
215 denn heat er_s sicher vo MIR,
216 weil I war o nid guat-
217 in da RECHTschreibung, (--)
218 und i bin JETZT no nid-
219 überWÄLtigend guat;
Auch E4 glaubt, dass die LRS vererbbar ist, weil sie in der eigenen Familie öfter vorkommt.
02 I: kommt die LEgasthenie,
03 in eurer FAmilie-
04 ÖFter vor? (3.0)
05 E4: äh ICH habe das gefühl,
06 dass der VAter unserer tochter- (.)
07 AUCH (-) betroffen ist-
08 ER hat es ihr wahrscheinlich-
09 WEItergegeben; (.)
10 er ist natürlich zu ALT,
11 und DAmals hat man-
12 noch nicht geTEStet, (.)
13 aber er merkt es HEUte noch- (--)
14 oder MAN merkt es, 15 dass er einfach SCHWIErigkeiten hat-
16 mit der RECHTschreibung;
Ebenfalls unter den Trainer/-innen ist die Annahme der genetischen Disposition verbreitet,
wobei auch sie mit dem gehäuften Vorkommen innerhalb von Familien argumentieren.
T1 sagt beispielsweise Folgendes:
83 T1: und für MI isch eben-
84 die legastheNIE, (.)
Seite 56
85 äh des isch die äh (.) die isch ANgeboren,
86 beziehungsweise verERBT-=
87 =geNEtisch bedingt;
Später im Interview geht es darum, ob bzw. wie T1 Eltern von betroffenen Kindern die
Ursachen für eine LRS erklärt, wobei wieder deutlich wird, dass T1 an eine Vererbung der LRS
glaubt.
296 T1: SAga_ma es gibt- 297 irgend a PROblem- 298 und i erKLÄR_s ihnen dann halt- 299 natürlich wenn ma den TEST gmacht haben- 300 und des herAUSkommt, (.) 301 und VIEle sagen dann; (.) 302 WEIL jo eben- 303 die legasthenie GEnetisch isch- 304 jo, na mei MANN tuat sich- 305 voll SCHWIErig,= 306 =oder NA jo stimmt- 307 a der BRUder oder was a immer; (--) 308 es GIBT eigentlich scho immer- (2.0) 309 jemanden wo sie erKENnen ok, 310 der hat A schwierigkeiten ghabt- (.)
Auch T3 und T4, die zwar von multikausalen Faktoren ausgehen, erwähnen unter anderem die
Möglichkeit der genetischen Vererbung von LRS. Auch hier wird auf das Phänomen der
Häufung innerhalb von Familien hingewiesen. Auf die Frage, wie sie den Eltern betroffener
Kinder die Ursachen erklären, antworten sie:
484 T3: und dass ma_s geERBT ha kann,
485 und mit DEAM können eigentlich-
486 alle immer GUAT leaba, (.)
487 i säg immer es ISCH-
488 es isch NACHgewiesen,
489 es kummt in MANchen familien-
490 geHÄUFT vor;
491 denn isch es OU verständlicher- (3.0)
286 T4: und JO-
287 i SÄG eana einfach-
288 dass es wirklich GEnetisch bedingt-
289 SEIN kann,
290 des HOT ma-
291 die erFAHRung gmacht, (2.0)
292 dass es FAmiliär-=
293 =nur heat ma_s natürlich FRÜHer-
294 wenn ma GWISST heat-
295 ah min ONkel,
296 oder min OPA,
297 DER hot sich-
298 scho SCHWER tua-
299 mit SCHRIEba;
300 oder der HOT nid-
301 GERN gschrieba; (.)
302 oder der isch IMmer jo, (--)
303 FRÜHer hot ma_ natürlich-
Seite 57
304 viel SCHNELLer in a-
305 SONderschule tua oder;
306 I: mhm- (-)
307 T4: oder so AH jo-
308 min BRUAder-
309 hot ma gleich in d_SONderschual tua,
310 und der HOT jetzt aber-
311 die Abendmatura nochgmacht; (4.0)
Hier wird ebenfalls betont, dass die LRS in manchen Familien gehäuft auftritt, wobei T3
andeutet, dass dies teilweise entlastend sein kann (siehe auch Kapitel über das Ursachenwissen
als Entlastung). Auch unter den Betroffenen gibt es die Meinung, dass die LRS angeboren ist.
B2 weist auf das gehäufte Vorkommen der LRS in seiner/ihrer Familie hin, wenn er/sie sagt,
dass eine genetische Vererbung wahrscheinlich ist.
55 B2: also EInige in meiner-
56 FAmilie hatten das schon, (--)
57 und ich habe einmal geHÖRT,
58 dass es GEnetisch übertragbar ist,
59 und ich DENke-
60 das ist bei MIR auch der fall; (---)
Bei den Außenstehenden tritt die Annahme der genetischen Basis der LRS ebenfalls auf. A1
und A3 erwähnen neben anderen Überlegungen unter anderem auch diese, wobei sie sie aber
nicht näher begründen und auf Nachfrage keine Antwort wissen, wieso sie auf diese Annahme
kommen.
103 A1: ich WEISS nicht- (.)
104 LIEGT das irgendwie-
105 im bereich der geNEtik,
106 dass das IRgendwie schon- (--)
107 WEItergegeben wird-
108 durch die GEne, (.)
[…]
126 KEIne ahnung,
127 I: mhm-
128 A1: also am ehesten in der geNEtik oder so;
54 A3: äh ich GLAUbe dass das-
55 so ANgeboren ist,
56 es ist ÜBERtragbar? (---)
57 aber ich WEISS nicht-
Indem die Theorie der Vererbung von LRS von vielen Befragten vertreten wird, entspricht
deren Perspektive auf die Ursachen derjenigen, die aktuell in der Forschung etabliert ist. Man
ist sich nämlich laut Klicpera/Schabmann et al. (20134: 174) heute weitgehend einig darüber,
dass es eine genetische Basis der LRS gibt. Im Großen und Ganzen scheint unter den Befragten
das Argument des gehäuften Vorkommens innerhalb von Familien zentral, wenn es darum geht,
die Theorie der genetischen Disposition zu stützen. Auch damit entsprechen die Aussagen den
Seite 58
Erkenntnissen aus der Forschung. Groß angelegte Untersuchungen14, bei denen Familien mit
LRS-Betroffenen untersucht wurden, belegten ein gehäuftes Vorkommen der LRS innerhalb
von Familien. Hier sei aber zu erwähnen, dass in der Forschungsliteratur oft darauf hingewiesen
wird, dass diese Ergebnisse nicht als Beweis für eine genetische Vererbung der LRS
interpretiert werden können. Familien teilen nämlich nicht nur Gene, sondern auch ihre
Umwelt, weshalb Probleme beim Lesen und Schreiben auch aus ungünstigen Faktoren aus der
Umwelt resultieren könnten (vgl. z.B. Mayer 2016: 54, von Suchodeletz 2007: 34 und
Steinbrink/Lachmann 2014: 90). In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass T3 später im
Interview noch zweimal darauf hinweist, dass es Erkenntnisse aus der Forschung gibt, die die
Annahme einer genetischen Disposition unterstützen. Auf die Frage nach der Erklärung für die
Eltern und seiner/ihrer aktuellen Perspektive auf die Ursachen für eine LRS folgen die
Antworten:
487 T3: i säg immer es ISCH-
488 es isch NACHgewiesen,
489 es kummt in MANchen familien-
490 geHÄUFT vor;
[…]
577 es gibt jo EInige theorien-
578 und einige die für MI,
579 ganz PLAUsibel sind- (--)
580 die o GUAT belegt sind;
581 ma HEAT zum beispiel-
582 jo USAgfunda-
583 vor (.) i WOASS nid;
584 zehn JOHR oda so-
585 dass es GEne gibt,
586 die mit ana legastheNIE-
587 in ZUsammenhang stond,
Bis heute wurden zwar keine Gene gefunden, die ausschließlich für die Entstehung einer LRS
verantwortlich sind. Dennoch wird aktuell davon ausgegangen, dass es Genkonstellationen
bzw. die Hirnentwicklung beeinflussende Gene mit bestimmten Allelen gibt, die dazu führen
können, dass eine LRS auftritt (vgl. Steinbrink/Lachmann: 91). Dass dies in einem Interview
erwähnt wird, zeigt, dass Erkenntnisse aus der Forschung die Perspektive auf die Ursachen
durchaus beeinflussen zu können (siehe auch Kapitel über die Änderung von Einstellungen zu
den Ursachen). Insgesamt scheint die Theorie der genetischen Vererbung der LRS in
verschiedenen Personengruppen weit verbreitet.
14 vgl. z.B. DeFries, John/ Baker, Laura (1983): Colorado Family Reading Study: Longitudinal Analyses. In:
Annals of Dyslexia 33, 153-162; zit. n. Steinbrink/Lachmann (2014: 90).
Seite 59
4.2.2. Ursachen: Annahme der mangelnden Intelligenz
Dass die LRS durch einen geringen IQ verursacht wird, wird laut den Aussagen von Trainern/-
innen teilweise von betroffenen Kindern geglaubt. Dies wird in den folgenden
Interviewausschnitten deutlich:
167 T2: es ist exTREM wichtig,
168 für ein kind zu WISsen- (.)
169 da:ss (--) es etwas GIBT,
170 ähm (.) an das an dem man FESTmachen kann;
171 DASS es das lesen und schreiben-
172 nicht so schnell erLERNT-
173 wie ANdere,
174 das NICHT gleichzeitig bedeutet-
175 dass es DUMM isch; (-)
176 weil das GLAUben sie oft- (--)
177 oder dass es das geFÜHL hat,
178 nicht INtelligent genug zu sein und so weiter-
471 T3: einfach SÄga-
472 i woaß dass da du MÜhe gibsch,
473 und mir TRAInieren des jetzt- (.)
474 die entlastung isch so WICHtig, (-)
475 ah i bin NID dumm,
476 weil des MOAnen sie oft;
205 T4: I SÄG jo-
206 i erKLÄR eana des jo wirklich-
207 immer dass DU-
208 nid DUMM bisch,
209 mir WISsen dass-
210 des einfach ISCH,
211 und des isch EINfach-
212 do im GEhirn isch,
213 einfach OAne windung, (-)
214 mit dera muss ma ANdersch lerna,
215 und an TRICK zoaga-
216 dass DES einfach-
217 BESser goht,
218 des muasch du ANdersch macha-
219 wie die ANdera-
220 dass es FUNKtioniert; (.)
Diese Aussagen passen zu den Ausführungen von Wilckens (2018: 219), die schreibt, dass
Kinder, die eine LRS haben, oft das Gefühl bekommen, nicht „richtig bzw. in Ordnung zu sein“.
Das Kind versagt nämlich beim Erwerb der Schriftsprache, deren Bedeutung für den gesamten
Bildungsweg, den Alltag etc. ständig in der Umgebung des Kindes (z.B. Schule, Elternhaus)
vermittelt wird (vgl. Wilckens 2018: 219). Darüber hinaus ist laut Wilckens (2018: 220) in
diesem Zusammenhang entscheidend, dass die Orthographie in der Gesellschaft unter anderem
als „Indikator für Intelligenz (oder deren Mangel)“ angesehen wird. Bis heute werden nämlich
„Probleme im Schriftsprachlichen mit mangelnder Intelligenz in Zusammenhang gebracht“
Seite 60
(Wilckens 2018: 188). Interessant ist, dass viele die Aufklärung über die Ursachen bzw. die
Betonung, dass es nicht an der Intelligenz liegt, mit einer entlastenden Wirkung in Verbindung
bringen (siehe Kapitel über das Ursachenwissen als Entlastung).
T4 betont im Rahmen der Antwort auf die Frage, wie er/sie betroffenen Kindern erklärt, warum
sie eine LRS haben, explizit, dass ein geringer IQ nicht die Ursache für eine LRS ist.
226 T4: also WICHtig isch immer-
227 dass es NICHT an da-
228 INtelligenz liegt oder, (3.0)
Laut der ICD-10 ist ein unterdurchschnittlicher IQ ein Ausschlusskriterium im
Diagnoseverfahren zur Feststellung einer LRS. Liegt eine unterdurchschnittliche Intelligenz
vor, kann von einer generellen Lernbeeinträchtigung ausgegangen werden. Entscheidend ist,
dass Testverfahren herangezogen werden, die die nonverbale Intelligenz erfassen. Da LRS-
Betroffene häufig Probleme im Sprachbereich haben, könnten Aufgaben, die die Intelligenz in
diesem Bereich testen, nämlich zu einer Unterschätzung des IQs führen (vgl.
Steinbrink/Lachmann 2014: 138, 149).
Seite 61
4.2.3. Ursachen: Beeinflussende Faktoren aus der Umwelt
Einflüssen aus der Umwelt auf die Entstehung einer LRS wird von den Befragten teilweise eine
Bedeutung zugeschrieben. Die Einstellung der Trainer/-innen wird besonders im Rahmen der
Fragen nach präventiven Maßnahmen deutlich.
477 I: ok und ähm (.) was für PRÄventive maßnahmen würdesch du-
478 emPFEHLen,
479 um einer legasthenie VORzubeugen?=
480 =oder GLAUBST du-
481 dass ma des überhaupt KANN,
482 T1: äh (.) DES find i jetzt-
483 also des isch GANZ a schwierige frage jetzt-
484 weil (---) eben die LEgasthenie isch,
485 nach MEInem verständnis-
486 ANgeboren; (-)
487 also VERerbt- (.)
488 GEnetisch bedingt,
489 und WENN einfach-
490 die gene UNterschiedlich sind- (.)
491 also was ma auf JEden fall machen kann,=
492 =dass man_s FRÜher erkennt-
[…]
519 also i glaub PRÄventiv kann ma-
520 NIX machen- (-)
521 a:ber also natürlich isch es BESser wenn du-
522 mit dem kind viel LIESCH und übsch,
523 als du tuasch jetzt NIX-
524 aber i glaub AUFheben kannsch des-
525 NID; (--)
T1 argumentiert mit der genetischen Veranlagung, wenn er/sie sagt, dass man das Auftreten
einer LRS nicht mit Maßnahmen, die aus dem Umfeld des Kindes gesetzt werden, verhindern
kann. Auch T2 glaubt, dass die Entstehung einer LRS nicht verhindert werden kann:
326 I: ja (--) und ähm glaubst du dass man im VORhinein,
327 also (.) vor dem SCHULeintritt-
328 präventive MASSnahmen setzen kann,
329 um eine legasthenie zu VERhindern,
330 bzw. um den SCHWEregrad später zu mindern? (--)
331 T2: also verHINdern glaube ich nicht-
332 dass man eine legasthenie KANN,
333 genauso wenig wie man sie HEIlen kann-
334 das GEHT nicht;
[…]
346 aber die legasthenie SELber ist immer da-
Später im Interview wird allerdings deutlich, dass Umwelteinflüsse nicht gänzlich außer Acht
gelassen werden können. Den Faktoren aus der Umwelt wird eine Bedeutung eingeräumt, wenn
es beispielsweise um den Schweregrad der LRS geht.
355 T2: ein beispiel ist zum beispiel geRAde-
356 da habe ich von einer EIgentlich oma gehört, ((lacht))
357 deren kind jetzt gerade in der SCHUle ist-
Seite 62
358 und die sich schulisch auch sehr inresSIERT für die kinder,
359 und sie hat eine äh eine ENkelin-
360 die eigentlich schon am LIEBsten-
361 lesen und SCHREIben können würde,
362 hat KEIne legasthenie
363 Aber die lehrerin-
364 macht das ganz ein bisschen ganz KOmisch in der schule-
365 weil die äh die schneidet die BUCHstaben-
366 mit SANDpapier aus,
367 und die fahren sie NACH,
368 und die BAUen sie mit knete,
369 und ich WEISS nicht was alles-
370 bevor sie Überhaupt ans schreiben gehn-
371 das heißt sie BAUT dort- (--)
372 EIgentlich schon eine lautbuchstabenverbindung auf,
373 die AUCH für jene kinder-
374 von VORteil ist-
375 die eben tatsächlich eine legasthenie HAben,
376 des hoaßt äh wenn ICH anders,
377 als wie auf der ZWEIdimensionalen ebene-
378 mit buchstaben UMgehe-
379 dann kann ich DOCH,
380 denke ich sehr viel ABfangen;
Dass die in der Schule verwendeten Methoden durchaus auch einen Einfluss auf die
schriftsprachliche Entwicklung von Kindern haben können, wird auch von anderen Trainer/-
innen vertreten, worauf später in diesem Kapitel eingegangen wird. Zunächst folgt noch eine
Antwort von T3, der/die sich ebenfalls zunächst eher gegen den Einfluss aus der Umwelt
ausspricht, indem er/sie sagt:
422 T3: es gibt jo BEIspiele-
423 du heasch jo bei LEgasthenie,
424 ou kinder aus BESseren verhältnissen-
425 die des HOND,
426 i han mol an SOHN ka-
427 vo nam CHIRurg zum beispiel- (--)
428 u:nd des ISCH nid,
429 schichten und BILdungsspezifisch- (.)
430 denn kann ma no dieses BEIspiel erwähna,
431 vo da äh schwedischen KÖnigsfamilie-
432 do tritt die LEgasthenie ou-
433 geHÄUFT uf; (--)
434 I: ok,
435 T3: und die hond des OFfiziell gmacht, (--)
436 und mit SO sacha-
437 kann ma die eltern beRUHiga, (2.0)
438 also es isch einfach NID schichtenspezifisch-
439 es gibt UNIprofessoren in deutschla:nd, (-)
440 die hond sich WAHNsinnig-
441 für die legasthenie INgsetzt,
442 weil ihre KINder legasthen sind;
443 die HOND sich zum beispiel-
444 dafür ingsetzt dass ihr SOHN,
445 bei der mediZINprüfung in deutschland-
446 MEHR zit kriegt, (.)
447 isch vom OBERSten gericht-
448 GEnehmigt worra,
449 also des sind FAmilien,
450 wo es a bildungsniveau GIBT-
Seite 63
451 die legasthenie heat NID,
452 mit dam BILdungsangebot zu tun; (2.0)
T3 argumentiert damit, dass die LRS nicht schichtenspezifisch auftritt, wobei eigene Beispiele
angeführt werden. Aber auch er/sie glaubt, dass es Maßnahmen aus der Umwelt gibt, die
durchaus einen Einfluss darauf haben können, ob der Schriftspracherwerb eines Kindes gestört
ist oder nicht, wenn er/sie im Zusammenhang mit präventiven Maßnahmen beispielsweise sagt:
529 T3: aber VORlesen vorlesen isch- 530 EXtrem wichtig, 531 im KLEINkindalter scho- (--)
Tatsächlich kann laut diversen Studien die Lesesituation zuhause einen erheblichen Einfluss
auf die schriftsprachlichen Leistungen eines Kindes haben. Exemplarisch sei hier auf eine von
Klicpera/Gasteiger-Klicpera et al. durchgeführte Studie (1993) hingewiesen, bei der unter
anderem Eltern und Schüler/-innen zu ihrem Leseverhalten, ihren sozialen Bedingungen etc.
befragt wurden. Es konnte gezeigt werden, dass Kinder, in deren Elternhaus das Lesen einen
hohen Stellenwert besitzt (z.B. Motivation zum Lesen durch Eltern), weniger Probleme beim
Erlernen des Lesens und Schreibens aufweisen (vgl. Klicpera/Gasteiger-Klicpera et al. 1993:
210-212).
Unter den Außenstehenden ist die Einstellung ebenfalls vorhanden, dass die Sprachsozialisation
für die Schriftsprachentwicklung eines Kindes verantwortlich sein könnte.
109 A1: oder ich KÖNNte mir auch vorstellen,
110 wenn jetzt ein kind WIRKlich-
111 richtig verNACHlässigt wird,
112 dass man nicht mit ihm REdet oder-
113 ihm nicht WIRKlich- (.)
114 halt nur so PHRAsenweise mit ihm-
115 REdet; (.)
116 oder wie auch IMmer,
117 es wirklich verNACHlässigt ist-
118 dass es DAdurch-
119 zu diesen STÖRungen kommt,
Hierzu sind die Ausführungen Schulte-Körnes (20092: 167) zu erwähnen, der schreibt, dass sich
das Nutzen einer vielfältigen Sprache bezüglich des Wortschatzes, der Grammatik und der
Syntax bzw. generell die Ausdrucksfähigkeit der Eltern positiv auf die
Schriftsprachentwicklung eines Kindes auswirken kann.
Interessant ist noch, dass T4 der Meinung ist, dass auch die Lehrpersonen einen großen Einfluss
darauf haben, wie stark eine LRS sich ausprägt.
Seite 64
378 T4: es isch jo VIELfach so,
379 dass so a KIND denn nocha-
380 des SCHRIFTlich einfach nid-
381 uf_s PApier bringt;
382 erstens brucht er LÄNGer-
383 des hoaßt es fehlt eam ZIT,
384 bei na SCHULarbeit-
385 drum GIBT_s jo o-
386 diesen legasathenieERlass,
387 wo_s DÖT stoht-
388 dass ma EINfach-
389 ma hot die MÖGlichkeit-
390 des zum LÄNGer macha,
391 o:der die MÜNDlichen-
392 gelten GLICH,
Auf die verschiedenen Erlässe und Handreichungen, die Empfehlungen bezüglich des Umgangs
mit der LRS in der Schule (z.B. Benotung) wird besonders im pädagogischen Teil dieser Arbeit
eingegangen. T4 betont die Wichtigkeit dieser und macht darauf aufmerksam, dass sich die
Lehrer/-innen an diese halten sollten.
403 T4: also und DO find i-
404 isch OFT-
405 sind VIEle lehrer oft,
406 zu STARR,
407 zum die MÖGlichkeiten-
408 wie kann i den LEIStungsstand-
409 vo deam SCHÜler feststella, (--)
410 oder und DO isch scho-
411 i HOB jetzt zum beispiel-
412 o an LEHRer ket,
413 der BUAB hot einfach-
[…]
415 FAST jede schularbeit,
416 uf FÜNF ket-
417 und denn HOT er ean einfach-
418 NOCHher nomol hergno,
419 und mit eam EINzeln des-
420 weil er GWISSt hot he,
421 des HOT er scho könna,
422 des KANN er-
423 also des isch nid AUSsagekräftig-
424 die SCHULarbeit,
425 weil er HOT_s nid-
426 uf_s PApiert brocht;
427 ERStens durch diese-
428 NEgativerwartung, (---)
[…]
438 des HOASST-
439 er isch NAtürlich o scho wieder-
440 jo i hob O was gschafft,
441 als wie JEdes mol-
442 a NICHT genügend; (4.0)
443 I: jo- (---)
444 T4: und wenn a KIND natürlich-
445 STÄNdig (-) nur-
Seite 65
446 NEgativ hot, (.)
447 des isch EINfach-
448 denn goht die NEgativspirale
449 immer WIter abe; (---)
T4 argumentiert mit der Demotivation des Kindes, die durch eine fehlende Rücksichtnahme
durch die Lehrpersonen auftreten kann, wenn er/sie sagt, dass Lehrpersonen durchaus einen
Einfluss auf die schriftsprachliche Entwicklung des Kindes haben können. Dazu führt er/sie
später im Interview aus:
472 T4: oder jetzt gad O-
473 LETZtes johr ufa-
474 FORTbildung;
475 uf da uni in WÜRZburg-
[…]
481 hond sie o wieder STUdien gmacht,
482 LANGzeitstudien,
[…]
488 und er WOASS-
489 er KANN_s nid, (.)
490 do werrand die GLEIchen-
491 HIRNareale aktiviert-
492 wie bei nam körperlichen SCHMERZ,
493 und des seht ALles oder,
494 und wenn i an körperlicher SCHMERZ han-
495 denn BLOckiert_s,
496 denn kann i die LEIStung-
497 o nid BRINGen; (--)
498 des HOASST einfach es muass-
499 einfach s_VERtrauen o scho si,
500 und do muass ma GANZ jo-
501 isch SCHWIErig,
502 ma müsst druf EINgehen,
503 dass ma DES scho-
504 LINdern kann oder;
[…]
Der Motivation von Kindern mit LRS durch die Lehrpersonen wird auch in der
Forschungsliteratur eine große Bedeutung zugeschrieben. Besonders förderlich sind ein
entgegenkommendes und verständnisvolles Verhalten. Die meisten Kinder mit LRS werden
nämlich von Selbstzweifel geplagt, da sie im Gegensatz zu anderen Kindern in einem Bereich
versagen, dessen Bedeutung allgemein als zentral eingestuft wird. Das Beherrschen der
Schriftsprache ist nicht nur für den Schul- bzw. Bildungsweg wichtig, sondern auch im Alltag
(vgl. Wilckens 2018: 219). Wichtig ist, dass Lehrpersonen den betroffenen Kindern gegenüber
verständnisvoll agieren und deren Bemühen schätzen. Eine positive Einstellung aufseiten der
Lehrer/-innen und motivierende Worte haben meist einen günstigen Einfluss auf die Motivation
des Kindes und in weiterer Folge auf dessen Lernerfolg (vgl. Frenzel/Stephens 20172: 72). T4
führt in diesem Zusammenhang später aus:
Seite 66
849 T4: i kann mi ERinnern,
850 äh a PHYsikprofessorin-
851 vo unserem SOHN,
852 die hot GSEHT sie war-
853 LEgasthenikerin;
854 oder und sie hot PHYsik studiert-
855 aber sie hot gseht NUR- (-)
856 einfach mit der UNTERstützung-
857 von DAmaligen lehrperson,
858 weil sie GMERKT hond-
859 he do ISCH irgendwas- (---)
860 I: mhm-
861 T4: also do KUMMT es sich scho-
862 ufa LEHRer druf a;
863 wie ER mit sowas-
864 und des hör i IMmer wieder,
865 jo i hob halt an LEHRer ket-
866 der isch uf mi INganga;
867 und der heat GSCHOUT-
868 dass i WIterkummt; (--)
869 I han jetzt zum beispiel-
870 in da HAK [Ortsname]-
871 i han OAnen der hot-
872 DYSkalkulie, (--)
873 der isch in da MITtelschual gsi-
874 und heat sich denkt BOAH-
875 er möcht die HAK macha,=
876 =i bin gspannt jetzt-
877 aber (.) des isch sin WUNSCH oder,
878 die äh die INformatikabteilung-
879 und i moan er KANN jo-
880 wirklich SEHR guat logisch denka,
881 er isch vom I: qu bereich-
882 und ÜBERall sehr guat,
883 er hot sunsch NIRgends probleme-
884 nur in diesem FACHbereich mathematik;
885 und döt sind sie O-
886 die LEHRpersonen-
887 sind SEHR bemüht gsi,
888 hond gseht MA-
889 des wär doch SCHAD-
890 wenn der nid WItermacha kann;
891 bloß wegen DEAM fach oder,
892 do müassama LUAga wie-
893 könnama eam HELfa,
894 WAS kan ma tua,
895 jo i moan der fühlt sich ANgnomma oder; (.)
896 I: mhm-
897 T4: als wie nur SÄga-
898 des KANNSCH du nid,
899 weil MAthe bruchsch eigentlich-
900 IMmer und überall oder;
901 des brucht er in da BErufsschual o-
902 und wenn er döt KOAN lehrer hot-
903 wo druf INgoht,
904 denn SCHEItert er döt genauso- (--)
Tatsächlich wird auch in der Forschungsliteratur (vgl. z.B. Mayer 2016: 195 und Schulte-Körne
20092: 211) die Meinung vertreten, dass das Verhalten der Lehrpersonen dafür verantwortlich
Seite 67
sein kann, wie stark sich eine LRS ausprägt. Zentral ist dabei, dass die Lehrpersonen im
Unterricht Rücksicht auf die LRS des Kindes nehmen. Dadurch, dass das Kind im
schriftsprachlichen Bereich schulisch versagt, mindert sich oft dessen Selbstwertgefühl. Eine
negative Selbstbewertung kann zu psychologischen Folgen auf der motivationalen Ebene
führen, indem die Motivation, sich anzustrengen und mitzuarbeiten, abnimmt und es bis zur
Leistungsverweigerung kommen kann. Gewisse Reaktionen aus dem Umfeld des Kindes, zu
dem unter anderem die Lehrpersonen gehören, können in der Folge dazu führen, dass sich die
Selbstwahrnehmung des Kindes zum Positiven oder Negativen weiterentwickelt. Ständig
negative Bewertungen und ein Unverständnis der Lehrer/-innen sind besonders die Ursache
dafür, dass das Selbstbewusstsein des Kindes und dessen Anstrengungsbereitschaft weiter
abnehmen können, wodurch sich dessen Leistungen weiter verschlechtern können (vgl.
Schleider 2009: 30-32).
Später im Interview wird deutlich, dass T4 auch den Methoden, mit denen in den Volksschulen
das Lesen und Schreiben gelehrt werden, eine gewisse Bedeutung zuschreibt, wenn es um die
Entstehung einer LRS geht.
615 T4: und es sind o EINfach-
616 die MEthoden teilweise-
617 SCHULD dra; (-)
618 SCHRIEba lerna-
619 wie DIE des jetzt gad-
620 also vo nam KIND-
621 WOASS i des,
622 des goht GAR nid,
623 teilweise (.) i WÜSST-
624 nid mol was zum TUA isch,
625 I han da mütter gseht-
626 HÖR zua,
627 i KANN die husufgob-
628 oder verBESserung-
629 nid MACHa; (--)
630 oder o zum BEIspiel-
631 i LASS doch o scho ger nid-
632 a KIND-
633 FÜNFzig minuta do dra hocka,
634 des isch jo FURCHTbar-
635 was MOANSCH,
636 wie die do HOCKen-
637 und HIRNen,
638 oder und wenn ma WOASS-
639 dass der EIgentlich-
640 ÜBERintelligent isch,
641 vom I qu: her;
642 denn isch des an WAHNsinn-
643 wenn der HOCHbegabt isch-
644 und denn KRIEGSCH du-
645 SOwas hoam,
[…]
Seite 68
652 I: mhm- (.)
653 T4: oder lieber am BUCHstaben schaffa,
654 denn WOASCH mol-
655 KANN er dean leasa,
656 WOASS er-
657 was des ISCH,
658 dass die einfach AUtomatisiert sind-
659 WOASS er-
660 wie man ean USspricht,
661 und wie man SCHRIEBT, (---)
662 des isch doch o s_A: und o-
[…]
669 aber do des LERna-
670 mit gaRAgenzimmer-
671 und in JEdes kummt-
672 an BUCHstabe,
673 des goht GAR nid; (--)
674 TRAge die zweite-
675 SILbe,
676 in die gaRAge ein, (.)
677 isch des gaRAge,
678 und des sind die ZIMmer oder was,
679 in JEdem garagenzimmer-
680 darf nur EIN buchstabe sein;
681 und do isch koa REgel-
682 dahinter und GAR nichts,
683 und SO müssen-
684 die des LERna, (--)
T4 betont, dass ein von ihr behandeltes Kind sogar überintelligent war, aber durch in der Schule
verwendete Methoden Probleme beim Erlernen des Lesens und Schreibens hatte. Diese
Aussagen passen zu den Ausführungen Nicolays (2010: 19-20), der davon ausgeht, dass die
LRS hauptsächlich durch Faktoren aus der Umwelt des Kindes verursacht wird. Wenn
beispielsweise phonetische Unterrichtsmethoden zum Schriftspracherwerb verwendet werden,
können ihm zufolge bei Kindern, die sich Wörter vorrangig durch deren Lautklang merken
(auditive Denkstrategie), Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens auftreten,
da das Schriftbild im Deutschen nicht immer mit dem Lautklang übereinstimmt.
Seite 69
4.2.4. Ursachen: Annahme von kognitiven Defiziten
Die Annahme, dass die LRS durch kognitive Defizite verursacht wird, wird von den Befragten
kaum bis gar nicht erwähnt. Herausstechend in diesem Zusammenhang ist eine Antwort von
T2, der/die unter anderem von Defiziten im kognitiven Bereich ausgeht. Im Rahmen der
Antwort auf die Frage nach seinem/ihrem Trainingskonzept antwortet er/sie:
260 T2: ähm ICH selber äh- (---)
261 WEIse dann eher,=
262 =also das isch sicher etwas das ich ANspreche-
263 und auch eben DAS,
264 dass ICH mich dafür entschieden habe-
265 das mit dem TEILleistungstraining auch zu machen-
266 auch aus dem GRUND,
267 weil ich tatsächlich GLAUbe dass äh-
268 dass die KINder,=
269 =nicht nur GLAUbe sondern-
270 auch immer erFAHRe,
271 dass die kinder einfach SCHWIErigkeiten haben-
272 mit den unterschiedlichen TEILprozessen
273 des schreibens und LEsens,
274 I: mhm,
275 T2: UND dass es funktioniert,
276 wenn sie das TRAInieren; (--)
[…]
280 aber i FIND_s schon-
281 unglaublich SPANnend;
282 wenn ich zum BEIspiel äh-
283 DAmals als der schulte-körne,
284 diesen verlangsamten GLUcosetransport äh-
285 entDECKT hat, (--)
286 finde ich das natürlich IRre spannend oder?
287 wenn wenn eben diese ANdere form-
288 des SCHREIben und lesenlernens-
289 die unsere legaSTEHnen kinder haben-
290 darauf zuRÜCKzuführen sind,
291 dass im HIRN-
tatsächlich EIne neurologische funktion-
ANders läuft;
T2 bezieht sich hier auf diverse kognitive Funktionen, die in den Lese-Rechtschreibprozess
involviert sind. Auch in der Forschung gibt es verschiedene Theorien (z.B. magnozelluläres
Defizit, funktionales Koordinationsdefizit), die davon ausgehen, dass defizitäre kognitive
Lernvoraussetzungen dafür verantwortlich sind, dass eine LRS entsteht. Geht man nach Mayer
(2016: 54), wird die LRS definitiv durch neurologisch verursachte Defizite in spezifischen
kognitiven Bereichen hervorgerufen. Aktuell ist man sich in der Forschung einig, dass „subtile
Störungen der Informationsverarbeitung im Gehirn“ (Steinbrink/Lachmann 2014: 94) die
kognitive Basis der LRS sind. Bis heute ist man sich allerdings uneinig, welche Bereiche der
Informationsverarbeitung konkret gestört sind.
Seite 70
4.2.5. Ursachen: Ratlosigkeit
Zu erwähnen sind auch noch Antworten von Befragten, die deutlich machen, dass keine
Annahmen zu den Ursachen für eine LRS bestehen, sondern sie diesbezüglich ratlos sind.
Auffällig ist, dass zwei LRS-Betroffene keine Theorien zu den Ursachen haben. B1 und B3
sprechen explizit aus, dass sie nicht wissen, wieso sie eine LRS haben.
76 I: ok äh u:nd (3.0) äh was denksch du perSÖNlich, (-)
77 isch die URsache für a legasthenie?
78 B1: PHU- (2.0)
79 I: also WENN die jemand fragen wü:rde,(--)
80 was würdesch du dem ANTworten? (.)
81 B1: i müsst ganz EHRlich säga-
82 i WOASS es nid, (3.0)
91 B3: also es WIRD jo a ursache ho,
92 aber es woass eigentlich KOAna-
93 was es wirklich ISCH oder; (--)
[…]
142 I: jo (2.0) was denksch du PERsönlich-
143 warum du a LEgasthenie heasch, (--)
144 B3: ((lacht)) woass I ned- (-)
145 WArum i persönlich des hob, (4.0)
146 des KANN ma ned-
147 irgendwie so beANTworta,
148 warum des so ISCH- 149 keine AHNung, 150 es gibt VIEle sacha-
151 die ma NID beantworta kann (-) jo; (2.0)
Die Ratlosigkeit der Betroffenen gegenüber den Ursachen könnte als mangelndes Interesse an
diesen interpretiert werden (siehe Kapitel über das Interesse von den Betroffenen an den
Ursachen). Auch unter den Außenstehenden lässt sich eine Ahnungslosigkeit bezüglich der
Ursachen festmachen.
120 I: mhm (.) und was GLAUBST du-
121 PERsönlich ist dafür verantwortlich,
122 dass jemand das HAT, (--)
123 A2: boah (.) also DO muass i eigentlich-
124 PASsen,
125 es ISCH wahrscheinlich-
126 wie VIELes andere o;
127 irgenda STÖRung bei den menschen-
128 wo halt DES nid so stark-
129 USprägt isch,
130 und sie sich DRUM- (.)
131 SCHWER tuan;
132 aber SUNSCH äh jo-
133 tua i ma eher SCHWER des- (-)
134 zum beURteilen, (---)
Dass A2 keine Theorien zu den Ursachen für eine LRS hat, könnte dahingehend interpretiert
werden, dass ihm/ihr der Bezug zu der LRS im Allgemeinen fehlt.
Seite 71
In gewissem Sinne entspricht die Ratlosigkeit bezüglich der Ursachen dem heutigen
Forschungsstand. Laut Mayer (2016: 64) ist es nämlich „bisher keiner Hypothese gelungen, alle
Phänomene, die bei einer Lese-Rechtschreibstörung beobachtet wurden, befriedigend zu
erklären“, obwohl teilweise sehr überzeugende Theorien vorliegen. Aktuell herrscht bezüglich
der Ursachen für eine LRS Uneinigkeit vor.
Seite 72
4.2.6. Ursachen: Annahme der Multikausalität
Einige Befragte gehen von multikausalen Faktoren aus, wenn es um die Ursachen für eine LRS
geht. T2 sagt beispielsweise explizit, dass es ihm/ihr zufolge verschiedene Gründe gibt.
247 I: ok (-) und ähm wenn die ELtern danach fragen,
248 also nach den URsachen-
249 was antwortest du DIEsen dann?
250 T2: (---) ähm (-) also die erste antwort ist SICHer immer,
251 DIEjenige dass ich sage-
252 dass es viele verSCHIEdene ursachen gibt,
253 dass es viele verschiedene RICHtungen gibt-
254 in die geFORSCHT werden,
255 geforscht WIRD-
256 dass man EIgentlich noch nicht; (.)
257 nicht die richtige SCREENingsverfahren hat-
258 wo man FESTstellen kann was isch was, (-)
Wie bereits in diesem Interviewausschnitt deutlich wird, ist seine/ihre Einstellung dadurch
geprägt, dass bis heute noch nicht sicher festgestellt wurde, was die Ursache für eine LRS ist.
Später bei der Befragung führt T2 diesbezüglich noch aus:
278 T2: also ich habe ja keine URsachenforschung gemacht; 279 des isch nummer EINS- 280 aber find_s schon unglaublich SPANnend;
281 wenn ich zum beispiel äh DAmals als der schulte-körne, 282 diesen verlangsamten GLUcosetransport äh entdeckt hat, (--)
283 finde ich das natürlich IRre spannend oder? 284 wenn wenn eben diese ANdere form des schreiben und
lesenlernens-
285 die unsere legaSTEHnen kinder haben- 286 darauf zuRÜCKzuführen sind,
287 dass im hirn tatsächlich EIne neurologische funktion anders
läuft; 288 ähm (---) ANderersei:ts kann ich dann (.) wiederum- (---)
289 solchen neurologen NICHT zustimmen, 290 wie zum beispiel SPITzer;
291 der in einem vortrag geSAGT hat- 292 es nützt NICHTS als üben üben üben, 293 er hat RECHT üben üben isch total wichtig,
294 aber es isch auch die richtige FORM- 295 oder die RICHtige form,
296 des übens extrem WICHtig oder, 297 I: mhm- 298 T2: es gibt so viele von MEInen schülern-
299 die zu MIR kommen und die- 300 ECHT viel viel viel geübt haben,
301 und die in der NÄCHSTen schularbeit- 302 oder im nächsten diktat wieder eine FÜNF schreiben, 303 und die LEHRerin oder die lehrperson-
304 schreibt darunter (-) bitte mehr ÜBEN, 305 äh es FUNKtioniert nicht so;
306 man muss immer DIFferenziert schauen- 307 und ich GLAUbe auch, 308 dass jedes KIND einfach-
309 eine unterschiedliche FORM der legasthenie hat,
Seite 73
310 und do kann AUCH-
311 DAS sein- 312 was durchaus auch bei MEInen schülern der fall ist zum
beispiel, 313 dass es tatsächlich verERBT ist- 314 also dass in der FAmilie,
315 VAter tante onkel oma opa- 316 irgendwo eine legasthenie einfach schon vorHANden ist;
317 I: mhm- (.) 318 T2: also sozusagen GEnetische ursachen sicher auch da sind, 319 ICH selber würde mich jetzt nicht-
320 auf etwas verSTEIfen;
Zusammenfassend werden auch in der Forschung aktuell Ansätze vertreten, die davon
ausgehen, dass die LRS multikausal bedingt ist. Exemplarisch sei hier auf die Ausführungen
von Klicpera/Schabmann et al. (20134: 171) hingewiesen, die schreiben, dass verschiedene
Ursachen für die LRS verantwortlich sein können. Ihnen zufolge sind es meist mehrere
Faktoren, die gemeinsam dazu führen, dass ein Kind Probleme beim Schriftspracherwerb hat,
weshalb sie ein „interaktives Modell der Ursachen“ (Klicpera/Schabmann et al. 20134: 171)
entworfen haben. Es wird davon ausgegangen, dass sowohl individuelle Voraussetzungen (z.B.
genetische, kognitive) als auch eine unzureichende Unterstützung durch die Familie und ein für
das Kind nicht adäquater Unterricht zu einer LRS führen. Die genannten Faktoren befinden sich
dabei in einer „dynamischen Wechselbeziehung“ (Klicpera/Schabmann et al. 20134: 171), weil
beispielsweise mangelnde kognitive Fähigkeiten durch eine Förderung in der Familie und im
Schulunterricht kompensiert werden können. An dieser Stelle könnte noch auf eine Reihe
weiterer Beispiele (vgl. z.B. Mayer 2016: 58, Breitenbach/Weiland 2010: 33 und
Steinbrink/Lachmann 2014: 89) hingewiesen werden, die deutlich machen, dass die Annahme
von multikausalen Faktoren, die die LRS bedingen, in der Forschung eine bedeutende Rolle
spielt.
Seite 74
4.2.7. Ursachen: Änderung der Einstellung dazu
Einige Antworten von befragten Trainer/-innen lassen darauf schließen, dass sich deren
Meinung bezüglich der Ursachen für eine LRS im Laufe der Zeit verändert hat.
563 I: ok (.) und äh hat sich deine EINstellung zu den ursachen-
564 im laufe der zeit verÄNdert, (--)
565 T3: jo also es isch äh KLAR dass-
566 die alles beEINflusst,
567 was du LIESCHT-
568 und wenn du im AUStausch bisch; (--)
787 I: jo- (3.0) heat sich dine EINstellung-
788 zu da URsache-
789 im LAUfe vo da zit,
790 verÄNdert? (--)
791 T4: jo des isch einfach vo da FORSCHung her,
792 vo da FORSCHung her-
793 WOASS ma einfach-
794 VIEL viel mehr oder,
Auffallend dabei ist, dass beide Trainer/-innen in diesem Zusammenhang die Fortschritte der
Ursachenforschung erwähnen. Die Einstellungen zu den Ursachen scheinen also durchaus von
den Erkenntnissen aus der Forschung abhängig zu sein. Hier sind Ausführungen von
Kreutzberg (2015: 33) zu erwähnen, der schreibt, dass unsere Gesellschaft durch das „Vertrauen
in die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit von Wissenschaftlern [sic!]“ geprägt ist. Das Vertrauen
beruht dabei auf der „Verlässlichkeit und Belastbarkeit des Wissens“, das die Wissenschaftler/-
innen hervorbringen. Das Wissen wird intern nämlich „einer permanenten Qualitätskontrolle“
unterzogen und da alle Forscher/-innen gegenseitig von der Korrektheit ihrer Entdeckungen
abhängig sind, sind „Offenheit, Vertrauen und Ehrlichkeit“ (Kreutzberg 2015: 33) die
Grundvoraussetzungen in der Wissenschaft. Dies ist in anderen Bereichen (z.B. Wirtschaft,
Politik), in denen zum Beispiel das Verweigern von Mithilfe oder das Geheimhalten von
Informationen üblich sind, nicht der Fall. Dem hinzuzufügen ist noch ein Aspekt bezüglich der
Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Informationen: Generell werden tendenziell solche
Informationen, die von Experten stammen, als ernstzunehmend eingestuft (vgl. Frey/Fischer et
al. 20152: 59).
Auch T2 orientiert sich an den Erkenntnissen aus der Forschung, macht aber deutlich, dass
er/sie bewertet, ob die Erkenntnisse aus der Forschung für ihn/sie nachvollziehbar sind oder
nicht.
414 I: mhm ähm dann noch eine LETZte frage zu den ursachen,
415 hat sich dein MEInung dazu-
416 also deine EINstellung dazu-
417 im laufe der zeit verÄNdert? (.)
Seite 75
418 T2: na i denk die WISsenschaft dazu hat sich verändert-
419 die FORSCHung hat sich verändert,
420 und in die FORSCHung sind natürlich mehr oder weniger-
421 EINsichten gekommen die für mich,
422 logisch NACHvollziehbar sind,
423 und solche die es NICHT sind;
424 I: mhm-
Im Allgemeinen lässt sich aber tendenziell eine Orientierung an den Erkenntnissen aus der
Forschung feststellen, wenn es veränderte Sichtweisen auf die Ursachen für eine LRS geht.
Seite 76
4.2.8. Ursachen: Interesse der Trainer/-innen
Im Großen und Ganzen ist das Interesse der Trainer/-innen an den Ursachen für eine LRS eher
gering. In diesem Zusammenhang ist lediglich die folgende Antwort herausstechend, die ein
Interesse deutlich macht:
280 T2: aber find_s schon unglaublich SPANnend;
281 wenn ich zum beispiel äh DAmals als der schulte-körne, 282 diesen verlangsamten GLUcosetransport äh entdeckt hat, (--)
283 finde ich das natürlich IRre spannend oder? 284 wenn wenn eben diese ANdere form des schreiben und
lesenlernens-
285 die unsere legaSTEHnen kinder haben- 286 darauf zuRÜCKzuführen sind,
287 dass im hirn tatsächlich EIne neurologische funktion anders
läuft;
Später im Interview weist T2 jedoch darauf hin, dass die Ursachen für ihn/sie eher zweitrangig
sind, weil es mehr um eine erfolgreiche Behandlung der LRS geht. Eine gewisse Bedeutung
wird den Ursachen aber dennoch zugesprochen, weil sie die Wahl der Trainingsmethode
beeinflussen können.
321 T2: ich nehme DAS was nützt,
322 und und verSUche-
323 eigentlich MEHR mich auf-
324 auf ein erfolgreiches TRAIning zu konzentrieren,
325 HAT natürlich auch mit den ursachen zu tun;
[…]
430 T2: ähm aufgrund der TATsache,
431 dass es IM training-
432 wirklich MEHR um die frage geht-
433 was FUNKtioniert und was hilft, (--)
434 denke ich (-) ja isch die URsachenfrage-
435 nicht SO bedeutend;
Ähnlich wie T2 argumentieren auch die anderen Trainer/-innen, wenn es um das Interesse an
den Ursachen für ein LRS geht. Da im Zentrum die Verbesserung der Lese-
Rechtschreibleistungen stehen, sind die Gründe, wieso eine LRS vorliegt, eher unwichtig.
192 T4: i hob in meiner LANGjährigen-
193 erFAHRung,=
194 =die URsachen spielen-
195 überhaupt keine ROLle, (.)
196 ob des jetzt GEnetisch bedingt-
197 in der FAmilie vorkumma isch;
198 oder aufGRUND vo nam schulischen- (-)
199 LERNsystem,
200 also die URsachen spielen-
201 KEIne rolle; (-)
[…]
829 jo die URsachen-
Seite 77
830 mit da URsachen kann i-
831 WEnig afanga; (.)
832 die sind einfach DO,
833 der HOT diese-
834 LEserechtschreibstörung,
835 und denn muass ma einfach SCHOUa-
836 WAS kann er macha,
837 und was kann er TROTZdem macha,
838 wie kann er EINfach-
839 GUAT durch a schual ko,
569 T3: aber wenn i GANZ ehrlich bin-
570 i find die URsachen irgendwo,
571 gar nid SO wichtig-
572 weil es ISCH so,
573 und i muass die beste FÖRderung macha-
574 drum mach i ma nid SO viel gedanka dazua, (--)
[…]
591 und i DENK halt so- (--)
592 ursache ABgehakt,
593 i WOASS es brucht-
594 a FÖRderung,
[…]
597 und die URsachen sind denn nid wichtig; (2.0)
598 weil EIgentlich-
599 in EInigen dingen isch es so,
600 jetzt abgseha vo da LEgasthenie,
601 die URsache kann di-
602 bis zu nam gewissa PUNKT interessiera-
603 denn überLEGT ma sich halt-
604 bi DEM kind könnt des-
605 und DES gsin sin,
606 aber es ÄNdert nix; (2.0)
607 es liegt VOR-
608 und denn muass ma des BESte drus macha- (---)
Der Fokus der Trainer/-innen liegt im Großen und Ganzen auf den Fördermaßnahmen, die zur
Verbesserung der Lese-Rechtschreibleistungen führen sollen. Tatsächlich wird auch in der
Fachliteratur öfters darauf hingewiesen, dass im Zentrum des Interesses die erfolgreiche
Therapie der LRS steht, wenn bei einem Kind eine festgestellt wurde (vgl. z.B. Esser 2002:
142). Indem die Trainer/-innen den Ursachen gegenüber eher desinteressiert sind, entspricht
deren Verhalten den Merkmalen der bewältigungsorientierten Lerntherapie. Bei dieser stehen
das Lernen des Umgangs mit der Lernstörung und das optimale Nutzen von Stärken im
Mittelpunkt. Ursachenforschung wird hier keine betrieben. Diese Art der Therapie wird als
besonders erfolgsversprechend hervorgehoben, weil u.a. die Motivation zur Verbesserung eine
bedeutende Rolle spielt (vgl. Ruff 2007: 115).
Seite 78
4.2.9. Ursachen: Interesse der Betroffenen
In diesem Abschnitt geht es um das Interesse von Betroffenen an den Ursachen für ihre LRS.
Dazu werden zunächst Antworten von Betroffenen selbst angeführt, die insgesamt deutlich
machen, dass sie sich kaum bis gar nicht dafür interessieren, wieso sie eine LRS haben.
38 I: mhm (--) ähm heasch die DU scho mol,
39 mit da ursachen USanandgsetzt? (--)
40 B1: ähm NA hob i nid, (-)
41 I: heasch die NIE damit befasst,
42 B1: NA- (---)
43 i han eigentlich SO ka- (.)
44 es isch DO,
45 BLÖD isch es,
46 a:ber i wür_s IRgendwie regla, (--)
47 I: mhm also du heasch ou NIE nochgfrogt,
48 irgendwo bei da ELtra oder so?
49 B1: NA, (---)
50 I: ok (3.0) ähm interessiert es DICH persö:nlich, (.)
51 was es für GRÜNde gibt?
52 dass jemand a LEgasthenie hat, (--)
53 B1: i WOaß nid, (.)
54 EIgentlich nid-
55 i han NIE nochdenkt-
56 was es für GRÜND gibt- (.)
57 dass es LEgasthenie gibt, (--)
58 ähm (---) es HOT mi ou nia-
59 wirklich eaba INteressiert, (-)
60 sondern isch einfach SO- (.)
61 für mi ALLtag gsin,
62 vo KLEIN auf, (--)
63 und damit (.) einfach DO gsi;
45 I: mhm ähm (--) hast DU dich schon einmal-
46 näher damit AUSeinandergesetzt,
47 wieSO du eine legasthenie hast? (.)
48 B2: nei:n also äh nein-
49 ich habe mich NICHT damit auseinandergesetzt- (.)
50 ich DACHte einfach,
51 das IST (-) eben so- (.)
47 I: ok und INteressieren dich-
48 die URsachen,
49 also AKtuell?
50 B3: zum HÜTiga tag, (--)
51 I: jo,
52 B3: keine AHNung woaß nid-
53 i BRUCH_s eigentlich numa, (.)
54 halt i kumm jo GUAT ohne deam-
55 O klar, (--)
56 I: mhm und HEAT es di mol interessiert,
57 FRÜher vielleicht,
58 B3: MOL eigentlich-
59 uf da OAna sita es würd mi scho,
60 INteressiera keine ahnung weil-
61 es isch jo nid nur in DEUTSCH,
62 sondern es isch jo ALLgemein denn o so oda, (--)
Seite 79
63 also bei SPRACHanwendung isch jo des denn-
64 eigentlich überall da FALL; (---)
65 I: mhm aber du heasch di NIE irgendwie-
66 NÄher damit usanandgsetzt, (.)
67 B3: na DES eigentlich nid, (--)
68 i hob zum beispiel so SPRACHtrainings-
69 und so SACHa gmacht-
70 in die RICHtung,
71 aber nid WArum des jetzt-
72 so SI künnt; (--)
Dass die Betroffenen den Ursachen gegenüber ein geringes Interesse zeigen, widerspricht
teilweise dem, was Rothärmel/Dippold et al. (2006: 91-92) schreiben. Sie führen nämlich an,
dass die meisten Betroffenen einer Krankheit nicht nur meist bezüglich der
Behandlungsmaßnahmen etc. ein Informationsbedürfnis haben, sondern häufig auch das
Bedürfnis nach Aufklärung über die Ursachen. Das Verstehen aller Umstände kann nämlich
erheblich dazu beitragen, dass Betroffene mit der Belastung, die eine Krankheit mit sich bringen
kann, besser umgehen können. Da die Ausführungen Rothärmels/Dippolds et al. sich aber
hauptsächlich auf somatische bzw. psychiatrische Erkrankungen beziehen, sind sie
möglicherweise nur bedingt übertragbar auf LRS-Betroffene.
Generell interessant in diesem Zusammenhang sind Ausführungen zum Thema Coping
(Krankheitsbewältigung). Coping meint konkret Bewältigungsweisen, die von Individuen
herangezogen werden, um mit einer Belastung oder Herausforderung fertig zu werden (vgl.
Kulbe 20092: 40-41). Laut Muthny (1994: 18) schließt Coping „die Ebenen des Fühlens,
Denkens und Handelns ein“ und hat „das Ziel, Belastungen durch die Erkrankung und ihre
Auswirkungen günstig zu beeinflussen“, wobei es verschiedene Copingstrategien gibt. Zu
diesen gehören unter anderem Verleugnung, Verdrängung, Behandlungsverweigerung, sozialer
Rückzug, Ablenkung, Kampfgeist, Selbstermutigung, Optimismusstrategien,
Selbstanschuldigung (vgl. Muthny 1994: 25, 31). Laut Lutz (1990: 87) sind Copingstrategien
„vielfältig und individuell recht unterschiedlich“. Als besonders günstig für den
Problembewältigungsprozess hebt er dabei positive Emotionen hervor. Damit sind Strategien
wie „Hoffnung auf Erfolg, Optimismus bzw. Zuversicht“ (Lutz 1990: 88) gemeint. Zu diesen
Strategien passend ist der Umgang von B4 mit seiner/ihrer LRS, wie im folgenden
Interviewausschnitt deutlich wird.
77 I: mhm und ähm heat di des INteressiert damals-
78 WIEso du (.) a legasthenie heasch, (--)
79 B4: WIEso: i_s han,
80 ehrlich gset (.) WEniger-
81 was MI interessiert hot-
82 was i dagegs MAcha kann,
Seite 80
83 weil MI des natürlich- (.)
84 GNERVT hot,
85 wenn i EIgentlich wie gset-
86 viele IDEA und so ket hob, 87 jetzt gad in DEUTSCH, (--) 88 und o immer GWISST hob- 89 ok i will über DES und des schrieba,
90 jetzt in da UNterstufe- 91 bei ana ERlebniserzählung oder so, 92 und DENN einfach in deutsch- 93 und o in ENGlisch einfach-
94 SCHLECHte nota kriegt hob,
95 weil i einfach die WÖRter nid- 96 richtig SCHRIEba hob könna- 97 oder mir einfach SCHWIErig to hob- 98 VOkabeln zum merka,
99 u:nd und halt bei SO sacha-
100 des war EINfach-
101 was I do dagegs tua kann, (---)
102 I: mhm (--) also heasch du di NIE,
103 näher mit da URsachen usanandgsetzt,
104 mol NOCHgforscht oder so,
105 B4: NA nia- (-)
Das Desinteresse den Ursachen gegenüber hängt mit dem Fokus auf zukünftige Besserung
zusammen. Die Hoffnung auf Besserung einer kritischen Situation kann Heide-Filipp/Aymanns
(20182: 303) zufolge als treibende Kraft wirken. Eine optimistische Sichtweise und die
Fokussierung auf Ziele, kann in belastenden Lebenslagen hilfreich sein und zur Bewältigung
dieser beitragen.
Auch aus den Antworten von Trainern/-innen lässt sich herauslesen, dass betroffene Kinder
kaum ein Interesse an den Ursachen für ihre LRS aufweisen.
257 I: u:nd heasch du des geFÜHL, (.)
258 dass die KINder- (.)
259 ähm a INteresse daran haben- (-)
260 WArum sie die schwäche haben, (---)
261 also wolllen sie WISsen was do-
262 die URsachen sind? (.)
263 STELLSCH du do-
264 irgendwas FEST, (.)
[…]
276 T1: u:nd SONST eigentlich-
277 hab i_s no NIE mitkriegt;=
[…]
284 na also i hab daVOR-
285 a bei einer legasthenietrainerin geARbeitet,
286 drei monat bevor-
287 i mi selbstständig gmacht hab- (.)
288 und do a ÜBERhaupt ned also; (3.0)
202 I: mhm (.) und die KINder-
203 fragen auch nicht NACH,
204 T4: NA-
Seite 81
Die Antworten von Eltern Betroffener machen ebenfalls deutlich, dass sich deren Kinder nicht
für die Ursachen einer LRS interessieren. Auffallend dabei ist, dass auch jeweils die Eltern
selbst den Ursachen gegenüber meist desinteressiert sind, weshalb im Folgenden auch
Antworten bezüglich des Interesses von Eltern angeführt werden.
114 I: mhm (.) äh hast DU dich einmal-
115 NÄher auseinandergesetzt,
116 mit den URsachen,
117 also hat dich das mal INteressiert?
118 E2: na (.) i hob mi eigentlich NID usanandagsetzt,
119 weil i ma DENKT hob,
120 des SCHAFfama scho-
121 des wird scho IRgendwie go hob i ma denkt,
122 des werrama irgendwie UMmebringa-
123 und deutsch isch jo nid s_WICHtigste fach gsi-
124 er WAR jo an guata schüaler eigentlich,
125 und er hot des o eigentlich GUAT- (.)
126 so USbalanciera könna,
[…]
141 I: jo und ER,
142 hat er einmal nach den URsachen gfrogt?
143 oder WIEso er des hat- (.)
144 E2: na: hot er eigentlich NIE gfrogt, (--)
88 I: mhm und hast DU dich schon einmal-
89 näher mit den URsachen auseinandergesetzt? (---)
[…]
101 a:ber (-) Irgendwie nein-
102 bis JETZT noch nicht,
103 durch DAS dass mir-
104 die LITeratur und so-
105 geFEHLT hat,
106 NICHT; (-)
107 I: mhm (.) und hat sich dein KIND,
108 für die URsachen interessiert? (---)
109 E4: ähm NEIN-
110 eigentlich überHAUPT nicht; (.)
111 äh do war die FRUSTration einfach-
112 also do hatten wir SO viel arbeit-
113 mit ÜBEN und,
114 mit ALlem bis wir-
115 rundUM kommen mit der schule,
116 dass wir do äh für DIEse sachen-
117 GAR keine zeit hatten; (.)
118 also das waren NEbensachen-
119 WIEso ist das,=
120 =es war WICHtiger-
121 äh WIE üben wir und,
122 WIE kommen wir einen-
123 schritt WEIter,
124 wie erREICHen wir-
125 unsere ZIEle, (.)
126 das HAT uns so-
127 viel KRAFT äh gekostet,
128 in der VOLKSschule und auch-
129 SPÄter vor allem,
130 in der MITtelschule- (-)
131 dass das GEnug arbeit war; (.)
Seite 82
In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Kulbe (20092: 41-42) schreibt, dass das Coping
einer Person von gewissen Faktoren beeinflusst werden kann. Dazu gehört unter anderem die
soziale Unterstützung, die ein/-e Betroffene/-r innerhalb seiner/ihrer Familie oder seines/ihres
Freundeskreises erhält bzw. nicht erhält. Wenn Betroffene aus ihrem Umfeld positive
Reaktionen und eine optimistische Grundhaltung mitbekommen, kann sich dies günstig auf ihr
Coping mit der Belastungssituation auswirken. Werden die zuvor angeführten
Interviewausschnitte unter diesem Gesichtspunkt analysiert, könnte herausgelesen werden, dass
die Eltern das Interesse ihrer Kinder bezüglich der Ursachen für die LRS beeinflussen. Wenn
Kinder die positive Grundhaltung ihrer Eltern bzw. deren Fokussierung auf die Behandlung und
Besserung mitbekommen, übernehmen sie möglicherweise diese Einstellung und blicken
ebenfalls nach vorne. Das Interesse an den Ursachen für die LRS könnte deshalb gering sein.
Zu erwähnen ist noch, dass es aber auch vorkommt, dass betroffene Kinder sich durchaus für
die Ursachen ihrer LRS interessieren. Darauf lassen Antworten von Trainern/-innen schließen.
Inwiefern die Eltern von diesen Kindern sich für die Ursachen einer LRS interessieren, ist hier
nicht bekannt.
266 T1: also JETZT hab i grad-
267 an BUAB im training- (--)
268 DER wollt-
269 vo mir ALles wissen; (.)
270 jo also DER hat mi der hat mi a-
271 der isch ACHT jetzt,
272 der hat mi WIRKlich-
273 wie er des erste mol DO war-
274 über ALles ausgfragt, (.)
275 und des war GANZ interessant- (.)
185 T2: ich GLAUbe es hat-
186 es hat zwei drei (.) KINder gegeben-
187 die da wirklich NACHgefragt haben; (-)
[…]
202 T2: u:nd äh MANCHmal muss ich es ihnen-
203 erKLÄRen wenn sie fragen,
204 WArum muss ich das üben,
205 warum muss ich das SO machen,
206 also es sind nid DIrekt- (.)
207 oder DOCH,
208 eigentlich SIND es fragen nach der ursache, (--)
209 I: mhm-
210 T2: könnte man SCHON so so sehen, (.)
Dies entspricht den Ausführungen von Hill (2009: 939), der schreibt, dass es für Betroffene
wichtig ist, umfassend über ihr Leiden Bescheid zu wissen. Das Wissen über die Ursachen etc.
Seite 83
kann bei Betroffenen ein „subjektives Gefühl der Kontrolle“ erzeugen. Dies wiederum
unterstützt sie dabei, ihre Krankheit zu akzeptieren.
Seite 84
4.2.10. Ursachen: Interesse der Eltern
Insgesamt interessieren sich die Eltern kaum bis gar nicht dafür, warum ihre Kinder eine LRS
haben. Dies wird unter anderem in Aussagen von Trainer/-innen deutlich:
216 I: mhm (.) und ähm hond die ELTra,
217 auch mol noch da URsachen gfrogt? (.)
[…]
231 T3: d_eltra HOND, (2.0)
232 na (--) eigentlich nid oft NOCHgfrogt-
Hier ist aber zu bedenken, dass die Eltern möglicherweise deshalb nicht nachfragen, weil sie
schon wissen, was für Ursachen es für eine LRS gibt bzw. eigene Theorien dazu haben. Darauf
macht auch T1 aufmerksam, indem er/sie sagt:
290 T1: na (.) eher WEniger- (.)
291 also es fragen mi SEHR wenig-
292 WAS die ursache isch;
293 weil viele WISsens, (-)
294 die haben_s scho NACH[glesn]
295 I: [mhm- ]
Im Interview mit T2 wird deutlich, dass er/sie glaubt, dass die Eltern sich durchaus auch für die
Ursache der LRS ihres Kindes interessieren.
215 I: und die ELtern,
216 haben DIE ein interesse daran,
217 hast du DAS einmal mitbekommen? (--)
218 T2: ja ich glaube SCHON,
219 vor ALlem wei:l-
220 äh eltern mit legasthenen kindern IMmer,
221 in einer AUSnahmesituation sind-
222 ich GLAUbe (.) ähm,
223 es hat sich in den letzten jahrZEHNten äh- (2.0)
224 die ERkennungen sag ich jetzt einfach einmal,
225 sehr sehr also oder die ZAHL der erkannten-
226 fälle sehr erHÖHT, (.)
227 und und äh auch DEShalb-
228 weil GErade die eltern,
229 vor dreißig JAHRen-
230 viel mehr AUFklärungsarbeit äh-
231 in in die SAche gesteckt haben;
232 I: mhm-
233 T2: ich weiß NICHT,
234 du kennst sicher den verein LEga-
235 bei uns in vorARL[berg,]
236 I: [ja, ]
237 T2: eben der isch entstanden WEIL eltern-
238 und manchmal auch weil LEHRende eltern,
239 äh ihre kinder für IHRE kinder-
240 irgendeine FORM der- (.)
241 der HIlfe gesucht haben,
242 und auch bei MEInen eltern isch es so-
243 dass die sich SCHON interessieren dafür-
244 was da eigentlich LOS ist, (.)
245 I: mhm-
Seite 85
246 T2: noch mehr aber was kann man dagegen TUN,
Interessanter als das Wissen über die Ursachen scheint für die Eltern jedoch das Wissen
darüber, was man zur Förderung der LRS unternehmen kann, zu sein. Dies wird auch in den
Interviews mit den Eltern selbst deutlich, weshalb im Folgenden Ausschnitte aus den Interviews
mit Elternteilen angeführt werden.
126 I: mhm (-) wie SEHR glaubst du-
127 dass des WISsen über die legasthenie,
128 also was für URsachen es gibt und so- (.)
129 HILFT dir des irgendwie?
130 oder hat es DAmals geholfen, (4.0)
131 E3: jo also für MI-
132 hot DES denn greicht,
133 wo es GHOaßa hot-
134 do FUNKtioniert einfach der-
135 zuSAMmenhang nid, (---)
136 i moan es GIBT immer wieder-
137 irgendWO irgendwelche störunga,
138 oder DEfizite-
139 oder wie ma des denn (.) beZEICHnet wörra soll- (.)
140 und jo (-) manchmol KUMMSCH nid dagegs a,
141 und denn kannsch einfach nur s_BESCHte drus macha, (-)
88 I: mhm und hast DU dich schon einmal-
89 näher mit den URsachen auseinandergesetzt? (---)
90 E4: man FRAGT sich natürlich immer-
91 WIEso: äh isch es genau äh-
92 MEIN kind,
93 des jetzt do beTROFfen ist, (.)
94 MIR isch aber bis jetzt-
95 äh NICHTS untergekommen-
96 also wo ich mich jetzt näher,
97 damit beFASsen hätte können,
98 äh WENN ich jetzt auf etwas-
99 gestoßen WÄre-
100 wär_s sicher INteressant gewesen,
101 a:ber (-) Irgendwie nein-
102 bis JETZT noch nicht,
103 durch DAS dass mir-
104 die LITeratur und so-
105 geFEHLT hat,
106 NICHT; (-)
[…]
112 also do hatten wir SO viel arbeit-
113 mit ÜBEN und,
114 mit ALlem bis wir-
115 rundUM kommen mit der schule,
116 dass wir do äh für DIEse sachen-
117 GAR keine zeit hatten; (.)
118 also das waren NEbensachen-
119 WIEso ist das,=
120 =es war WICHtiger-
121 äh WIE üben wir und,
122 WIE kommen wir einen-
123 schritt WEIter,
124 wie erREICHen wir-
125 unsere ZIEle, (.)
126 das HAT uns so-
Seite 86
127 viel KRAFT äh gekostet,
Hier ist erwähnenswert, dass laut Schulte-Körne (20092: 163) die Eltern eine sehr wichtige
Rolle bei der Förderung von Kindern mit LRS spielen. Im familiären Kontext gibt es nämlich
eine Reihe von Möglichkeiten, die zur Förderung des Kindes beitragen können. Dazu gehört
u.a. die sozio-emotionale Unterstützung, die es innerhalb der Familie erfährt und ihm helfen
kann, mit seiner LRS besser umzugehen (vgl. Schulte-Körne 20092: 167). Eine positive
Einstellung der Eltern, die man beispielsweise konkret aus dem folgenden Interviewausschnitt
herauslesen kann, kann sich demnach positiv auf das Kind auswirken.
114 I: mhm (.) äh hast DU dich einmal-
115 NÄher auseinandergesetzt,
116 mit den URsachen,
117 also hat dich das mal INteressiert?
118 E2: na (.) i hob mi eigentlich NID usanandagsetzt,
119 weil i ma DENKT hob,
120 des SCHAFfama scho-
121 des wird scho IRgendwie go hob i ma denkt,
122 des werrama irgendwie UMmebringa-
123 und deutsch isch jo nid s_WICHtigste fach gsi-
124 er WAR jo an guata schüaler eigentlich,
Damit entspricht die Handlungsweise der Eltern, die den Ursachen gegenüber desinteressiert
und optimistisch bezüglich Therapieerfolgs der LRS sind, dem Verhalten, das Palme (2011: 31)
als besonders günstig für ein Kind mit LRS hervorhebt. Wenn Eltern ihren von LRS betroffenen
Kindern hilfreich zur Seite stehen und ihnen „Geduld, Hartnäckigkeit, Kampfgeist,
Wertschätzung, Vertrauen, warme Empathie“ entgegenbringen, können Kinder ein Vertrauen
in ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln und somit eher ihre Lese-Rechtschreibleistungen
verbessern.
Seite 87
4.2.11. Ursachen: Interesse der Außenstehenden bzw. Fragen danach als
Tabu
Zwei Außenstehende erwähnten im Rahmen des Interviews, dass sie sich zwar dafür
interessieren, wieso jemand eine LRS hat, sich aber in Gesprächen mit LRS-Betroffenen nicht
getraut haben, nach den Ursachen zu fragen. A1 sagt dazu:
71 I: ok also du hast auch nicht geFRAGT-
72 WIEso ähm er das hat,
73 A1: nein-
74 I: und ähm INteressiert dich das-
75 auch nicht WIRKlich?
76 A1 ja DOCH-
77 ich finde es schon INteressant,
78 aber WENN man halt irgendwie-
79 MERKT,
80 dass die ANdere person-
81 nicht so viel AUSgibt,
82 dann MÖCHte ich auch-
83 irgendwie nicht so viel NACHfragen-
84 weil es DOCH eine-
85 relativ perSÖNliche sache ist,
86 finde ICH;
87 I: [mhm-]
88 A1: [und] das habe ich dann halt eben ge[MERKT-]
89 I: [mhm, ]
Auch A2 hat sich in Gesprächen mit LRS-Betroffenen nicht getraut, die Ursachen für die
Probleme beim Lesen und Schreiben anzusprechen.
60 I: ok (2.0) also auch NIE gefragt-
61 WIEso sie diese-
62 LEgasthenie haben, (--)
63 A2: na des (.) HOB i mi-
64 irgendwie o nid TRAUT,
65 halt des isch (.) WOASS nid-
66 vermutlich PEINlich,
67 bin ma nid o nid SICHer ob-=
68 =jo wahrscheinlich WISsen sie-
69 des scho SELber; (.)
70 a:ber i hob mi-
71 eigentlich NIA traut-
72 des zum ANspreacha, (--)
Betroffene nach den Ursachen für eine LRS zu fragen, scheint für Außenstehende offenbar eine
Art Tabu zu sein. Wilckens (2018: 444) schreibt in diesem Zusammenhang, dass Leute bei
Interesse eher nachfragen, wenn es sich um eine somatische Krankheit bzw. ein äußerlich
feststellbares Defizit handelt, während psychische Störungen o. Ä. in der Gesellschaft bis heute
oft tabuisiert werden. Da es sich bei der LRS nicht um eine körperliche Einschränkung handelt,
sondern um ein Defizit, das wie eine psychische Störung äußerlich nicht erkennbar ist, könnte
Seite 88
das Fragen nach den Ursachen dafür für viele Leute unangenehm bzw. ein Tabu sein (vgl.
Wilckens 2018: 370, 444).
Seite 89
4.2.12. Ursachen: Wissen darüber als Entlastung
Besonders in Ausschnitten aus den Interviews mit den Trainer/-innen wird deutlich, dass das
Wissen über die Ursachen einer LRS durchaus entlastend sein kann.
226 T4: also WICHtig isch immer-
227 dass es NICHT an da-
228 INtelligenz liegt oder, (3.0)
[…]
233 VIEle eltern möchten immer,=
234 =SOLLama eam des säga,
235 denn säg i-
236 jo warum NID,
237 des isch jo WICHtig;
238 weil es ISCH einfach-
239 o scho a ENTlastung oder,
240 wenn i WOASS-
241 HE-
242 i HOB des,
243 und DRUM isch des,
244 des isch NOcha natürlich-
245 viel WEniger stress;
246 als WIE wenn i immer-
247 MUTmaßungen astella muass,
248 DRUM sind einfach o-
249 solche GUTachten wichtig,
250 oder do siaht ma-
251 he du bisch GUAT,
252 in DIEsen-
253 und diesen BEreichen; (.)
254 nur in DEM bereich-
255 do fehlt DIES-
256 oder JEnes, (--)
257 I: mhm-
258 T4: und wenn ma DÖT-
259 RICHtig trainiert,
260 oder RICHtig üabt-
261 denn KANN des o-
262 BESser werra;
263 aber DO isch-
264 eaba WICHtig,
265 WO isch des-
266 wo GUT funktioniert,
267 UM des-
268 zum KOMpensiera wieder; (3.0)
T4 zufolge müssen vor allem betroffene Kinder entlastet werden, indem ihnen vermittelt wird,
dass ihre LRS nicht aus einem mangelnden IQ resultiert. Wie bereits in dem Kapitel über die
Annahme einer mangelnden Intelligenz als Ursache für die LRS ausgeführt, glauben Kinder
mit LRS nämlich oft, dass sie nicht intelligent genug sind, um das Lesen und Schreiben zu
erlernen (vgl. Wilckens 2018: 220). In einer Antwort von T2 auf die Frage nach dem Interesse
der Kinder nach den Ursachen sagt er/sie:
162 T2: also ich glaube NICHT,
Seite 90
163 dass die kinder sich daFÜR interessieren-
164 dass sie (.) oder so wie die WISsenschaftliche bezeichnung-
165 oder welche URsachen es gibt; (-)
166 aber ich GLAUbe es-
167 es ist EXtrem wichtig,
168 für ein kind zu WISsen- (.)
169 da:ss (--) es etwas GIBT,
170 ähm (.) an das an dem man FESTmachen kann;
171 DASS es das lesen und schreiben-
172 nicht so schnell erLERNT-
173 wie ANdere,
174 das NICHT gleichzeitig bedeutet-
175 dass es DUMM isch; (-)
176 weil das GLAUben sie oft- (--)
177 oder dass es das geFÜHL hat,
178 nicht INtelligent genug zu sein und so weiter-
179 ähm ich GLAUbe das ist,
180 ist DEShalb wichtig weil_s-
181 eine gewisse erLEICHterung schafft;
182 wenn man WEISS-
183 DASS man eine legasthenie hat;
In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen Rothärmels/Dippolds et al. (2006: 91)
interessant, die nicht nur die Bedeutung der Aufklärung über die Behandlungsmethoden,
sondern auch die Information über die Ursachen einer Krankheit den Betroffenen gegenüber
hervorheben. Diese bewirken nämlich einen Stressabbau und entlasten. Auch aus der Antwort
eines Elternteils kann man herauslesen, dass er/sei der Meinung ist, das Wissen über die
Ursachen für die LRS seines/ihres Kindes hätte beim Umgang mit dieser geholfen.
211 E4: es isch jo des WArum,
212 kommt oft vor,
213 WArum bin ich jetzt gerade-
214 beTROFfen,
215 warum ICH,
216 und WENN es do-
217 eine erklärung GÄbe,
218 zum sagen HALlo,
219 DU kannsch-
220 NICHTS dafür,
221 des ISCH jetzt einfach-
222 aus DIEsem und diesem grund;
223 äh wär des SICHer,
224 äh sehr HILFreich gewesen, (.)
225 I: mhm-
[…]
232 aber WENN man_s jetzt gerade-
233 von TRAINern und so-
234 wirklich erKLÄRT bekommen würde,
235 wär das SICHER-
236 also für MEIne tochter-
237 damals eine HILfe gewesen,
238 äh dass sie WEISS-
239 aha jo DEShalb isch des so; (---)
Seite 91
In diesem Zusammenhang interessant sind Ausführungen Fallers (20195: 254). Ihm zufolge ist
es bei einer Erkrankung ein vorrangiges Ziel des Patienten, entlastet zu werden und Wissen
über die Ursachen, Therapie etc. zu erhalten. Auch laut Kesser (20153: 224) ist es wichtig, dass
den Patienten/-innen ein „differenziertes Wissen über ihre Krankheit vermittelt wird“. Dazu
gehört unter anderem die Information über die Ursachen. Hier ist anzumerken, dass sich die
Ausführungen Fallers und Kesslers auf körperliche und psychische Krankheiten beziehen und
deshalb möglicherweise nur bedingt auf die LRS übertragbar sind. Allerdings könnte in diesem
Zusammenhang argumentiert werden, dass die LRS neben allen körperlichen und psychischen
Störungen auch in der ICD-10 (10. revidierte Fassung der ‚International Classification of
Diseases‘, 2013) der Weltgesundheitsorganisation aufgelistet ist. Diese ist international gültig
und führt die LRS unter den ‚umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten‘
an (vgl. OQ1).
Laut Matthes (2006: 17) löst das Versagen beim Erlernen des Lesens und Schreibens beim Kind
Angst aus, „solange es keine Erklärung dafür hat“. Als Reaktion darauf legt das Kind sich selbst
Erklärungen zurecht, die „sozial möglichst wenig diskreditierend sind“. Das Kind entlastet sich
selbst, indem es beispielsweise sagt, dass es ohnehin nicht lesen mag. Manchmal gehen die
Kinder aber auch davon aus, dass sie zu dumm sind. Diese von ihnen selbst zurechtgelegte
Erklärung ist besonders belastend. Um solche Erklärungsmuster zu vermeiden, ist die
Aufklärung über die Ursachen zentral (vgl. Matthes 2006: 17).
Interessant ist, dass das Wissen über die Ursachen einer LRS T3 zufolge nicht nur für die
betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen entlastend ist, sondern auch für deren Eltern.
463 T3: du MUASCH d_lüt- (--)
464 äh also entLASta find i, (-)
465 die so a SCHWÄche hond;
466 und säga EAba,
467 do tuama jetzt des BESte-
468 und es isch NID ihre schuld, (3.0)
469 die PSYchische entlasung-
470 isch EXtrem wichtig,
471 einfach SÄga-
472 i woaß dass da du MÜhe gibsch,
473 und mir TRAInieren des jetzt- (.)
474 die entlastung isch so WICHtig, (-)
475 ah i bin NID dumm,
476 weil des MOAnen sie oft;
477 und nid nur für d_KINder-
478 isch des a ENTlasung,
479 sondern ou für d_ELtra; (3.0)
480 des HOASST ma muass dra schaffa-
481 aber es isch NID die eigene SCHULD; (.)
482 es isch nid a fehlendes BILdungsangebot, (.)
Seite 92
Laut Matthes (2006:17) sind Eltern mit Kindern, die eine Lernstörung haben, oft wegen den
Leistungen des Kindes „enttäuscht und verunsichert“. Viele Eltern machen sich in der Folge
selbst Vorwürfe, weil sie ihrem Kind mit dem gemeinsamen Lernen etc. nicht genug helfen
können. Eine Entlastung könnte dann in Form einer Aufklärung über die Ursachen erfolgen
(vgl. Jansen/Streit 20062: 53).
Seite 93
5. Pädagogischer Teil: Der Umgang mit der LRS im Unterricht
5.1. Gesetzliche Regelung
Wie bereits im Kapitel über die Förderung der LRS angeführt, gibt es in Österreich bis heute
kein Gesetz, dass den Umgang mit der LRS in der Schule gesetzlich festlegt. Die bisher
erschienenen Erlässe, Handreichungen etc. des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft
und Forschung und der einzelnen Bundesländer enthalten lediglich Vorgaben bzw.
Empfehlungen bezüglich des Umgangs mit der LRS im Unterricht.
Der erste bundesweite ‚Legasthenie-Erlass‘ wurde 2001 veröffentlicht (Rundschreiben 32/2001
vom 28. Mai 2001). In diesem wird darauf hingewiesen, dass im §16 der Verordnung über die
Leistungsbeurteilung (erstmals am 24. Juni 1974 veröffentlicht) gesetzlich festgelegt ist,
welche fachlichen Aspekte für die Beurteilung von Schularbeiten in der Unterrichtssprache
herangezogen werden sollen. Zu diesen gehören der Inhalt, der Ausdruck, die Sprachrichtigkeit
und die Schreibrichtigkeit. Wenn man dies und auch die Vorgaben der Lehrpläne
berücksichtigt, ergibt sich, dass die Schreibrichtigkeit keinesfalls die einzige Grundlage für die
Leistungsbeurteilung sein kann und darf (vgl. OQ2 und Mayer 2016: 199).
In der vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung veröffentlichten
Handreichung ‚Der schulische Umgang mit der Lese-Rechtschreibschwäche‘ (aktualisierte
Ausgabe, Juni 2018) werden unter anderem die Prinzipien der Leistungsfeststellung und
Leistungsbeurteilung bei Kindern mit LRS behandelt. Eine Berücksichtigung der LRS bei der
Beurteilung sollte insofern geschehen, als dass die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten der
Leistungsbeurteilung ausgeschöpft werden. Das bedeutet unter anderem, dass besonders die
Möglichkeiten der Leistungsfeststellung und -beurteilung herangezogen werden sollten, die
nicht von der LRS betroffen sind (z.B. mündliche Mitarbeit). Wenn schriftliche Leistungen
herangezogen werden, dann müssen alle Kriterien der Beurteilung berücksichtigt werden.
Neben der Schreibrichtigkeit sind also auch der Inhalt, der Ausdruck und die Sprachrichtigkeit
entscheidend. Bezüglich der Schreibrichtigkeit ist bei Schüler/-innen mit LRS wichtig, dass
zwischen „zusammenhängende[n] Fehler[n] (akustische Verwechslungen, optische
Verwechslungen etc.)“ und „nicht zusammenhängende[n] Fehler[n]“ (OQ3) unterschieden
wird. Dabei sollten zusammenhängende Fehler, die man als ein Fehlertyp auffassen kann,
jeweils als nur ein Fehler gewertet werden (vgl. OQ3). In der Handreichung wird generell
betont, dass auf individuelle Bedürfnisse von Schüler/-innen Rücksicht genommen werden
Seite 94
muss. Deshalb ist es auch die Aufgabe von Lehrer/-innen, auf die speziellen Bedürfnisse von
Schüler/-innen mit LRS einzugehen.
Auch bezüglich der Zentralmatura wurden Vorgaben veröffentlicht. 2015 wurde vom
damaligen Bundesministerium für Frauen und Bildung die Dienstanweisung „Legasthenie,
spezielle Bedürfnisse und neue Reifeprüfung“ herausgegeben. Um die Kandidatinnen mit LRS
nicht zu diskriminieren, wird im Reifeprüfungszeugnis nicht vermerkt, dass eine LRS vorliegt.
Außerdem gibt es für sie keine veränderten Rahmenbedingen in Form von anderen
Aufgabenstellungen etc. Bezüglich der Beurteilung wird auf die Vorgaben im ‚Legasthenie-
Erlass‘ (2001) hingewiesen, in dem betont wird, dass neben der Schreibrichtigkeit auch die
Aspekte Inhalt, Ausdruck und Sprachrichtigkeit entscheidend sind. Bei der Zentralmatura
werden Beurteilungsraster verwendet, die sicherstellen, dass schlechte Leistungen im Bereich
der formalen Schreibrichtigkeit allein nicht zu einer negativen Beurteilung führen können,
wenn andere Bereiche positiv herausstechen (vgl. OQ4).
In diesem Zusammenhang ist eine Betrachtung des Kompetenzmodells für das Unterrichtsfach
Deutsch (Bildungsstandards der Sekundarstufe 1) interessant, weil auch hier deutlich wird, dass
die Schreibrichtigkeit lediglich ein Kompetenzbereich von vielen darstellt (vgl. Wilckens 2018:
189). Die Bildungsstandards orientieren sich an den Lehrplänen und bilden „grundlegende
Kompetenzen“ (OQ6) ab, die die Schüler/-innen bis zum Ende der 8. Schulstufe erreicht haben
sollten. Laut dem Kompetenzmodell für Deutsch kann das Fach in folgende einzelne Teil- bzw.
Kompetenzbereiche gegliedert werden: Zuhören und Sprechen, Lesen, Schreiben und
Sprachbewusstsein (vgl. OQ6).
Seite 95
Die dynamischen Fertigkeiten werden „zur Bewältigung sozialer Anforderungen benötigt“,
wobei sie sich in der „Kommunikations- und Teamfähigkeit widerspiegeln“ (OQ6). Es ist
ersichtlich, dass die einzelnen Bereiche eng miteinander zusammenhängen und dass das
Sprachbewusstsein die anderen Fertigkeiten beeinflusst und von diesen beeinflusst wird. Dies
ist der Fall, weil die „Kenntnis von Struktur, Normen und Funktion der Sprache“ die
„notwendige Bedingung für Textverstehen, wirkungsvollen Sprachgebrauch und gelungene
mündliche und schriftliche Kommunikation“ ist (OQ6).
Interessant ist nun die Einordnung der Rechtschreibung in das Kompetenzmodell. Das
Kompetenzfeld Rechtschreiben stellt einerseits neben beispielsweise den Fähigkeiten, Text-
und Satzstrukturen zu erkennen, die grundlegenden Regeln der Verwendung von Zeitformen
zu beherrschen und Wortstrukturen zu erkennen, einen Teilbereich des Bereichs
Sprachbewusstsein dar (vgl. OQ6). Andererseits ist es ein Teilbereich des Kompetenzbereichs
Schreiben. Der Bereich Schreiben lässt sich nämlich in die Dimensionen Inhalt, Gliederung,
Ausdruck und Sprachnormen unterteilen. Zum Bereich Inhalt gehört beispielsweise, „dem
Zweck, den Adressatinnen und Adressaten und den spezifischen Anforderungen, die die
jeweilige Textsorte mit sich bringt“ (OQ6) entsprechend schreiben zu können. Der Bereich
Gliederung umfasst die Fähigkeit, „Texte dem geforderten Textmuster entsprechend
Abb. 3: Kompetenzmodell Deutsch
(8. Schulstufe)
Seite 96
aufzubauen und mit logisch gestützten Absätzen zu gliedern“ (OQ6). Beim Bereich Ausdruck
spielen unter anderem der Wortschatz, die Satzgestaltung und die verwendeten sprachlichen
Mittel eine Rolle. Bei der Dimension Sprachnormen sind die Einhaltung der normgerechten
Wort-, Satz- und Textgrammatik und der Rechtschreibregeln entscheidend (vgl. OQ6). Es wird
also deutlich, dass die Rechtschreibung allein im Rahmen der Textkorrektur nicht allzu
bedeutend sein kann.
Insgesamt muss der rechtliche Rahmen bezüglich des Umgangs mit der LRS in der Schule laut
Liebscher (2018: 3) verbessert werden. Alle bisher veröffentlichten Erlässe, Mitteilungen und
Handreichungen sind ihm zufolge zwar ein wichtiger Anfang, „bieten allerdings keine […]
eindeutige Rechtssicherheit, die menschenrechtlichen Standards entspricht und den Betroffenen
die nötige konkrete Orientierung bietet“ (Liebscher 2018: 3). Sie sind „wichtige Dokumente,
rechtlich aber reine Meinungsäußerungen von Behörden und keine Rechtsakte“ (Liebscher
2018: 6). Er fordert einen „Katalog anerkannter Diagnoseverfahren“ (Liebscher 2018: 3) und
einen darauf gestützten Nachteilsausgleich für Schüler/-innen mit LRS. Wichtig wäre ihm
zufolge eine „Leistungsfeststellung und -beurteilung in rechtlich verbindlicher Form
einschließlich eines entsprechenden Rechtsschutzes“ (Liebscher 2018: 3). Außerdem ist laut
ihm eine österreichweite einheitliche Regelung bezüglich des Umgangs mit der LRS in der
Schule zu fordern. Momentan gibt es nämlich verschiedene Regelungen in Form von Erlässen,
Mitteilungen etc. der Landesschulräte innerhalb der einzelnen Bundesländer. Liebscher (2018:
4) meint in diesem Zusammenhang, dass eine „solche geographische Unterscheidung nicht
sinnvoll“ ist, weil sich die LRS nicht von Bundesland zu Bundesland unterscheidet. Vielfach
wird in der Schule der Rechtschreibung eine zu große Bedeutung beigemessen, weshalb
Schüler/-innen mit schlechten Leistungen in diesem Bereich oft indirekt daran gehindert
werden, weiterführende Schulen zu besuchen. Dieser Umgang mit der LRS in der Schule
resultiert Liebscher (2018: 3) zufolge aus einer mangelnden „Fokussierung auf Stärken“ im
österreichischen Schulsystem. Tatsächlich ergaben Untersuchungen beispielsweise, dass
lediglich ca. ein Drittel der Personen mit LRS weiterführende Schulen besuchen.15 Allgemein
kann zusammengefasst werden, dass Personen mit LRS generell einen schlechteren
15 Vgl. z.B. Haffner, Johann/Zehran-Hartung, Claudia et al. (1998): Auswirkungen und Bedeutung spezifischer
Rechtschreibprobleme bei jungen Erwachsenen. Empirische Befunde in einer epidemiologischen Stichprobe.
In: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 26, 124-135; zit. n. Häfele/Häfele (2009):
29.
Seite 97
Schulabschluss erzielen als Personen ohne LRS. Folglich erlangen LRS-Betroffene meist auch
unterdurchschnittliche Berufsabschlüsse (vgl. Häfele/Häfele 2009: 29).
Bezüglich der Forderung nach einem konkreten rechtlichen Rahmen, der den schulischen
Umgang mit der LRS regelt, gibt es aber auch gegenteilige Meinungen. Im Zusammenhang mit
der Frage nach einem Gesetz, das die Berücksichtigung von LRS beim Benoten festlegt, sagte
beispielsweise die damalige Präsidentin des ‚Ersten Österreichischen Dachverbands
Legasthenie‘ Astrid Kopp-Duller im Rahmen eines Gesprächs mit der „Presse“: „[Es] wird […]
problematisch, wenn manche Eltern und auch Kinder glauben, eine Legasthenie […] wäre der
Grund dafür, sich beim Schreiben, Lesen […] nicht mehr bemühen zu müssen. Viele bauen auf
die Mitleidsschiene, was aber schließlich irgendwann zum Problem wird, denn jeder Mensch
sollte doch in irgendeiner Form lesen, schreiben […] können“ (vgl. OQ5).
Seite 98
5.2. Die Rolle der Lehrpersonen
Generell kommt der Schule im Zusammenhang mit der Erkennung und Förderung der LRS
eines Kindes eine bedeutende Rolle zu, wobei vor allem das Verhalten der Lehrpersonen
entscheidend ist. Laut Portmann (2003: 69) ist vorrangig zentral, dass Lehrer/-innen den
Lernstand und die Lernentwicklung eines Kindes unter Kontrolle haben und gegebenenfalls bei
Auffälligkeiten schnell reagieren. Wilckens (2018: 145) führt in diesem Zusammenhang aus,
dass es oft vorkommt, dass „Kinder mit außerschulischem Förderbedarf im Lesen und/oder
Schreiben nicht rechtzeitig erkannt, so dass passende außerschulische Interventionen ebenfalls
nicht eingeleitet werden“. Hier schreibt sie den Lehrpersonen, die die Schwierigkeiten erkennen
sollten, eine wichtige Rolle zu (vgl. Wilckens 2018: 145). Wurde bei einem Kind bereits eine
LRS festgestellt, können Lehrpersonen einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung dieser
haben. Besonders wichtig dabei ist der Umgang der Lehrer/-innen mit der LRS eines/-r
Schüler/-in. Positiv wirken sich beispielsweise ein Verständnis für die LRS des Kindes und ein
aufmunterndes bzw. motivierendes Verhalten aus (vgl. Schleider 2009: 32). Negativ wirken
sich beispielsweise Vorwürfe durch Lehrerpersonen gegen das Kind aus, in denen deutlich
wird, dass von einer mangelnden Anstrengungsbereitschaft des Kindes ausgegangen wird.
Manche Lehrer/-innen wollen das Kind dann anspornen, indem sie es beispielsweise vor der
ganzen Klasse zur Schau stellen, tadeln oder bestrafen. Dies wiederum löst beim Kind ein
Schamgefühl aus und kann zu einem negativen Selbstkonzept führen. Zudem können auch die
Mitschüler/-innen das Verhalten der Lehrperson übernehmen und das betroffene Kind
möglicherweise auslachen. Das Selbstwertgefühl des Kindes nimmt ab und dessen Motivation,
sich anzustrengen nimmt ebenfalls stetig ab, weil Anstrengungsversuche nicht erkannt und
geschätzt werden. Da das Kind keine Erklärung für seine schlechten Leistungen hat, versucht
es, diesen aus dem Weg zu gehen bzw. eine Ablehnung gegen das Lesen und Schreiben zu
entwickeln. Vor der Lehrperson und den Mitschüler/-innen macht es beispielsweise lautstark
auf seine Abneigung gegen das Lesen und Schreiben aufmerksam (z.B. ‚Lesen interessiert mich
nicht‘, ‚Ich mag Schreiben nicht‘). Der/die betroffene Schüler/-in muss sich nun „entsprechend
den zurechtgelegten Erklärungsmustern verhalten“ und es ergibt sich eine „sich selbst
erfüllende Prophezeiung“ (Riegel 2014 : 21). Diese zurechtgelegten Erklärungsmuster führen
aber meist ebenfalls nicht zu der gewünschten Anerkennung aus dem Umfeld, weshalb das
betroffene Kind auf „Ersatzhandlungen (Kompensationsverhalten)“ (Riegel 2014: 21)
zurückgreift, die oft darin bestehen, den Unterricht zu stören. Parallel kommt es zu keiner
Verbesserung der Leistungen des Kindes im Bereich des Lesens und Schreibens, weil es
Seite 99
jegliche Motivation verloren hat (vgl. Riegel 2014: 21-22). Hier wird also deutlich, wie sehr
Lehrpersonen durch ihr Verhalten beeinflussen können, wie sich einerseits die LRS eines
Kindes entwickelt und andererseits ob sich die LRS eines Kindes auch auf den gesamten
Unterricht auswirkt.
Bezüglich des Umgangs mit der LRS in der Schule ist aber nicht nur die Rechtschreibung zu
betrachten, sondern auch das Lesen, mit dem Schüler/-innen, die von LRS betroffen sind,
teilweise ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten haben. Im Kompetenzmodell macht das Lesen
einen eigenen Kompetenzbereich aus. Die Schüler/-innen sollten in der Lage sein, Texte
unterschiedlicher Komplexität zu verstehen und deren Gliederung, Thema, Funktion,
Aussageabsicht und Wirkung zu erfassen. Außerdem sollten sie auf Textsortenwissen
zurückgreifen, Textsignale (z.B. Überschriften, Fettdruck, Absätze) erkennen und unbekannte
Wörter aus dem Kontext herleiten können. Auf der Basis, Textaussagen zu verknüpfen und in
literarischen Texten Motive zu erkennen, sollten sie zudem in der Lage sein, Texte zu
interpretieren (vgl. OQ6). Insgesamt wird das Lesen in den bisher veröffentlichen
Handreichungen, Erlässen etc. bezüglich des Umgangs mit der LRS in der Schule kaum bis gar
nicht erwähnt. In diesen geht es nämlich vorrangig um die Handhabung der Beurteilung von
geschriebenen Aufsätzen, wobei die Rechtschreibung in diesem Zusammenhang im
Vordergrund steht. Dennoch wird beispielsweise in der Handreichung ‚Der schulische Umgang
mit der Lese-Rechtschreibschwäche‘ (aktualisierte Ausgabe, Juni 2018) auch auf das Lesen von
Kindern mit LRS eingegangen. Hier wird besonders betont, dass es wichtig ist, Kinder mit LRS
zum Lesen zu motivieren, da sie aufgrund ihrer Schwierigkeiten oft ein geringes Interesse daran
haben. Ohne Übung kann das Lesen aber nicht automatisiert werden, was wiederum dazu führt,
dass das Desinteresse am Lesen steigt, weil es als zu anstrengend empfunden wird. Die
Leseerfahrung wäre aber zur Verbesserung der Lese-Rechtschreibleistungen sehr wichtig, weil
es u.a. das generelle Textverständnis fördert und gewisse Wörter mitunter schneller gespeichert
werden (vgl. OQ3). Aus diesem Grund ist es zentral, dass Lehrpersonen Schüler/-innen mit
LRS zum Lesen motivieren. Mit ihrem Verhalten können sie wesentlich dazu beitragen, dass
sich die Leistungen eines/-r Schülers/-in in den Bereich Lesen und Schreiben verbessert.
Seite 100
6. Schluss
Es wurde deutlich, dass in vielen Bereichen, die die LRS betreffen, noch Ungewissheit und
Uneinigkeit vorherrscht. Nicht nur bezüglich der Ursachen, die für die Entstehung der LRS
verantwortlich sind, ist man sich uneinig, auch der Umgang mit der LRS in der Schule ist bis
heute nicht einheitlich und klar geregelt.
Im Analyseteil dieser Arbeit wurde versucht, verschiedene Einstellungen und Meinungen zu
den Ursachen der LRS zu sammeln. Insgesamt kann zusammengefasst werden, dass sich die
Perspektiven der befragten Betroffenen, Eltern von Betroffenen, Trainer/-innen und
Außenstehenden auf die Ursachen weitgehend mit den Erkenntnissen aus der aktuell relevanten
Forschungsliteratur decken. Besonders bezüglich der Theorien für die Ursachen einer LRS
konnte festgestellt werden, dass die Befragten sich offensichtlich an den aktuell in der
Forschung relevanten Annahmen orientieren. Die Meinung, dass die LRS genetisch bedingt ist,
wird von allen Theorien am öftesten erwähnt, wobei wie in der Forschung meist mit einem
gehäuften Vorkommen der LRS innerhalb von Familien argumentiert wird. Ebenfalls häufig
wird die Annahme vertreten, dass Faktoren aus der Umwelt einen Einfluss auf die Entstehung
der LRS bzw. deren Schweregrad haben. Auch diesbezüglich gibt es Belege aus der Forschung,
wie unter anderem im theoretischen Teil dieser Arbeit angeführt wurde. Die Annahmen, die mit
kognitiven Defiziten in einem Zusammenhang stehen, spielten bei den Befragten eine geringere
Rolle als sie momentan in der Forschung spielen. Interessant ist es, festzustellen, dass auch die
Theorie der mangelnden Intelligenz, die in der Forschung aktuell keine Rolle mehr spielt,
durchaus vorkommt. Auch hier können Parallelen zu den Erkenntnissen aus der Forschung
gezogen werden, indem herausgefunden wurde, dass betroffene Kinder sich teilweise
Erklärungsmuster zurechtlegen, die mit einem geringen IQ in Verbindung stehen. In diesem
Zusammenhang ist interessant, dass die Trainer/-innen teilweise betonen, dass Kinder
diesbezüglich entlastet werden müssen, was auch in der Forschung vertreten wird.
Generell spannend und überraschend ist das unter den Befragten weit verbreitete Desinteresse
an den Ursachen. Einzelne Antworten sind in diesem Zusammenhang zwar herausstechend und
lassen ein Interesse herauslesen, aber im Großen und Ganzen lässt sich zusammenfassen, dass
sich weder die Trainer/-innen, die Eltern oder Außenstehenden noch die Betroffenen selbst sehr
für die Ursachen der LRS interessieren. Hier argumentieren vor allem die Trainer/-innen, Eltern
und Betroffenen damit, dass die Verbesserung und Förderung der Lese-Rechtschreibleistungen
im Fokus des Interesses stehen, wobei die Ursachen für die Entstehung der LRS nebensächlich
Seite 101
sind. Diese Einstellung ist Erkenntnissen aus der Forschung zufolge günstig, weil der
Optimismus dabei hilft, die Leistungen tatsächlich zu verbessern, wie im Analyseteil ausgeführt
wurde. Das vorherrschende Desinteresse den Ursachen gegenüber passt aber teilweise nicht zu
den Erkenntnissen aus der Forschung, indem oft argumentiert wird, dass Betroffene ein
Interesse an den Ursachen für ihr Defizit haben und das Wissen über die Ursachen dabei hilft,
die Störung zu akzeptieren und besser mit dieser umzugehen. Bei den Außenstehenden lässt
sich manchmal ein Interesse an den Ursachen feststellen, wobei interessant ist, dass diese es
mitunter als Tabu empfinden, Betroffene nach den Ursachen für deren LRS zu fragen.
Bezüglich der am Beginn dieser Arbeit aufgestellten Fragestellung lässt sich zusammenfassen,
dass die Befragten die gleichen Theorien für die Ursachen vertreten, die aktuell auch in der
Forschung etabliert sind. Auch spezifische Einstellungen zu den Ursachen wie beispielsweise,
dass das Wissen über diese entlastend sein kann, decken sich mit Erkenntnissen aus der
Forschung. Die Perspektiven der einzelnen Personengruppen unterscheiden sich kaum, wobei
sich vor allem die Einstellungen der Trainer/-innen und Eltern ähnlich sind. Betroffene und
Außenstehende sind bezüglich der Ursachen für die LRS oft ratlos, was bei Außenstehenden
mit einem mangelnden Bezug zur LRS und bei Betroffenen mit einer Fokussierung auf die
Förderung, die auch von den Trainer/-innen und Eltern feststellbar ist, zu tun hat. Als besonders
herausragend kann das allgemeine Desinteresse an den Ursachen bezeichnet werden, das bei
den Betroffenen, Eltern und Trainer/-innen ebenfalls mit einem Fokus auf die Förderung der
Lese-Rechtschreibleistungen zu tun hat.
In dieser Arbeit standen die Perspektiven auf die Ursachen für eine LRS im Mittelpunkt. Im
Laufe der Erstellung dieser Arbeit wurde deutlich, dass auch die Erforschung der Einstellungen
bezüglich anderer Aspekte der LRS interessant wäre. Beispielsweise wurde festgestellt, dass
Betroffene im Rahmen der Interviews teilweise ein Bedürfnis hatten, über ihren eigenen
Umgang mit ihrer LRS zu reden. Bei der Frage nach eventuellen Ergänzungen oder
abschließenden Bemerkungen, die jeweils als letzte gestellt wurde, wurde klar, dass Betroffene
manchmal gerne über ihren persönlichen Umgang mit der LRS reden. Hier wurden
beispielsweise belastende Situationen oder aber auch optimistische Sichtweisen erwähnt. In
diese Richtung zu forschen und Interviews mit Betroffenen über deren Umgang mit der LRS
zu führen, wäre sicherlich interessant.
Seite 102
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[12.01.2019]
Eidesstattliche Erklärung
Ich erkläre hiermit an Eides statt durch meine eigenhändige Unterschrift, dass ich die
vorliegende Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und
Hilfsmittel verwendet habe. Alle Stellen, die wörtlich oder inhaltlich den angegebenen Quellen
entnommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht.
Die vorliegende Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form noch nicht als Magister-
/Master-/Diplomarbeit/Dissertation eingereicht.
Datum Unterschrift