Fakultät für Wirtschaftswissenschaft
Univ.Prof. Dr. HansJörg Schmerer
Modul 31931Grundlagen der InternationalenWirtschaftsbeziehungen
Kurs 41910
Leseprobe
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Kapitel 4
Migration und Handel
Die Inhalte dieses Moduls beschränkten sich bislang ausschließlich auf die Analyse
des internationalen Güterthandels. Jedoch sind es nicht nur finale Ausbringungsgü-
ter, die die Grenzen in Form von Importen und Exporten überqueren, auch die Ein-
satzfaktoren selbst können migrieren. Arbeitskräfte, die mit dem Ziel der dauerhaften
Niederlassung ins Ausland wandern, erweitern die Arbeitsausstattung im Zielland. In
der Volkswirtschaftslehre wird häufig unterstellt, dass die Migrationsentscheidung in-
trinsisch motiviert ist. Vereinfachend wird in den Modellen davon ausgegangen, dass
höhere Löhne im Ausland Arbeitskräfte zur Wanderung bewegen. Tatsächlich migrie-
ren Menschen aus einer Vielzahl an Gründen, die nicht immer intrinsisch motiviert
sind. In den folgenden, sehr einfachen Modellen werden diese Faktoren allerdings
nicht weiter thematisiert.
Neben der Migration sind ausländische Direktinvestitionen, also internationale Ka-
pitalflüsse, eine weitere Form der Faktorbewegung. Der einem Land zur Verfügung
stehende Kapitalstock kann im Ausland investiert werden und somit in der auslän-
dischen Güterproduktion Verwendung finden. Als dritte Form des internationalen
Faktortransfers hat das Phänomen Outsourcing in den letzten Jahren stark an Be-
deutung gewonnen. Ganze Produktionsprozesse können heute in unterschiedliche
Länder verlagert werden, um dann am Ende der Produktionskette zu einem finalen
93
94 KAPITEL 4. MIGRATION UND HANDEL
Gut zusammengesetzt zu werden. Nicht immer sind es günstigere Produktionskosten
im Ausland, die ein Unternehmen dazu bewegen Teile der Produktion auszulagern.
Häufig gehen Unternehmen dazu über, Produkte vor Ort zu produzieren statt diese
kostenintensiv ins Ausland zu verschiffen. Fokus dieses Kapitels ist allerdings die in-
ternationale Migration. Outsourcing und ausländische Direktinvestitionen werden in
einem separaten Modul thematisiert.
Zu Beginn dieser Einheit werden wir einige Fakten zum Thema Migration durch-
leuchten. Wir werden die Zusammensetzung der US-Arbeiterschaft nach Qualifikati-
on und Migrationshintergrund untersuchen und feststellen, dass vor allem Arbeits-
kräfte mit besonders hoher oder besonders niedriger Qualifikation (gemessen durch
den Bildungsstand) migrieren. Anhand einiger empirischer Befunde werden wir dann
die beobachtbaren Auswirkungen der Migration auf Löhne und Beschäftigung an-
hand eines in der Vergangenheit beobachteten Migrationsschock analysieren, dem
sogenannten „Miami Boatlift". Langfristig scheint sich die Ökonomie durch Umstruk-
turierung an den Anstieg der verfügbaren Arbeitskräfte angepasst zu haben und dies
geschah ohne einen signifikanten Einfluss auf den Arbeitsmarkt. Negative Arbeits-
markteffekte traten nur kurzfristig auf und wurden langfristig durch Anpassungs-
prozesse in der Industriestruktur absorbiert.
Basierend auf diesen Befunden werden wir analysieren, wie sich Migration in den
bisher behandelten Modellen auswirkt. Im Einklang mit den empirischen Befunden
finden wir, dass Migration nicht zwangsläufig nur negative Effekte auf eine Ökono-
mie haben muss. Bei moderater Veränderung des Arbeitsangebotes können positive
Ausstattungschocks durch Reallokation der Faktoren und Umschichtung des Produk-
tionsprogramms langfristig aufgefangen werden, ohne dass die Entlohnung der ein-
heimischen Einsatzfaktoren von der Migration beeinträchtigt wird.
4.1. EMPIRISCHE EVIDENZ ZUR MIGRATION 95
4.1 Empirische Evidenz zur Migration
Abbildung 4.1 zeigt den Migrationsanteil der in 7 Bildungsgruppen unterteilten US
Bevölkerung. Wir sehen, dass die Gruppe der Arbeitskräfte mit Ausbildungsniveau
von 0 und 11 Jahren Schulzeit (repräsentiert durch die beiden linken Balken in der
Abbildung) gerade einmal 10 Prozent der in den USA geborenen Arbeitskräfte, aus-
macht. In den mittleren Bildungsgruppen (high school Abschluss, 13-15 Jahre Ausbil-
dung oder College Abschluss), in die 80 Prozent der in den USA geborenen Bevölke-
rung fallen, ist der Anteil der Migranten mit ca. 10 Prozent verhältnismäßig gering.
Interessant ist die dritte Gruppe der Arbeiterschaft mit besonders hochqualifizierten
Abschlüssen wie Master oder Ph.D. Tendenziell würde man erwarten, dass der Anteil
der Migranten in diesem Segment ebenfalls relativ gering ausfällt. Analog zur ersten
Gruppe der gering qualifizierten Arbeitnehmer findet man auch in dieser Gruppe
einen relativ hohen Anteil an Arbeitskräften mit Migrationshintergrund. Gerade ein-
mal 10 Prozent der in dieser Gruppe angesiedelten Arbeitskräfte wurden in den USA
geboren. Halten wir also fest, dass die Verteilung der Migranten nach Bildungsni-
veau U-förmig ist. Die aus dem Buch Feenstra und Taylor (2014) entnommene Grafik
basiert auf dem „2010 American Comunity Survey“ des U.S. Census Bureau.
4.1: Migrationsanteil der Bevölkerung nach Qualifikation
Quelle: Feenstra und Taylor (2014)
96 KAPITEL 4. MIGRATION UND HANDEL
Wie hat sich die Migration der letzten Jahrzehnte auf die Einkommen der Bevölke-
rung ausgewirkt? Tabelle 4.1 fasst eine prominente Studie von Ottaviano und Peri
(2005) „Rethinking the Gains from Immigration: Theory and Evidence from the U.S.“
zusammen.1 Die Autoren untersuchen mögliche Einkommenseffekte der Migration in
den USA über den Zeitraum 1990 bis 2004. Laut dieser Studie betrug der Anteil der
Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund im Jahre 1980 gerade einmal 6.2 Prozent.
Dieser Anteil stieg bis zum Jahr 2005 auf 12.9 Prozent an und hat sich damit mehr als
verdoppelt.2 Wie wirkte sich dieser massive Anstieg der Migration auf die Löhne der
Arbeitnehmer ohne Migrationshintergrund aus? Die Studie von Ottaviano und Peri
(2005) unterscheidet zwei unterschiedliche Modellvarianten und stellt die Ergebnisse
gegenüber.
Tabelle 4.1: Lohnänderung in den verschiedenen Bildungsgruppen
Quelle: Feenstra und Taylor (2014) basierend auf Ottaviano und Peri (2005, 2008)
In Anlehnung an das Ricardo Modell wird zunächst eine Variante des Modells mit
sektorspezifischem Kapital getestet (Variante „Capital and land fixed“). Zwar tauchte
Kapital in der zu Beginn dieses Kurses besprochenen Modellvariante überhaupt nicht
auf, das Modell lässt sich allerdings sehr leicht dahingehend anpassen. Eine häufige
Variante dieses Modells lässt Kapital im Produktionsprozess zu, nimmt aber an, dass
dieses Kapital sektorspezifisch ist. Diese Annahme ist keineswegs willkürlich gewählt,
sondern stammt aus einer kurzfristigen Variante des 2 × 2 × 2 Modells des letzten
1 Die Grafik wurde dem Textbuch Feenstra und Taylor (2014) entnommen.2 Vergleiche Feenstra und Taylor (2014), Seite 142.
4.1. EMPIRISCHE EVIDENZ ZUR MIGRATION 97
Kapitels. Für die kurze Frist wird angenommen, dass Kapital sektorspezifisch ist und
nicht zwischen den beiden Sektoren wandern kann. Die Kapitalrendite muss also
nicht zwangsläufig in beiden Sektoren identisch sein. Die Implikationen des Modells
ähneln den Implikationen des Ricardo Modells und wir werden diese Modellvariante
am Ende des Kapitels ausführlich besprechen.
Die zweite Spezifikation, die von den Autoren ebenfalls getestet wird, ähnelt der des
Heckscher Ohlin Modells. Es wird die Annahme getroffen, dass die Entlohnung des
Kapitals trotz Migration konstant bleibt. Statt einer Anpassung der Kapitalrendite,
wandern die Faktoren Arbeit und Kapital solange zwischen den Sektoren bis ein neu-
es Gleichgewicht bei gleicher Entlohnung aller Faktoren erreicht ist. Auch diese Spezi-
fikation der empirischen Analyse ist nicht willkürlich gewählt sondern entspricht den
Ergebnissen des 2× 2× 2 Modells mit Migration. Wir werden die erste Modellvariante
als kurzfristiges und die zweite Modellvariante als langfristiges Modell bezeichnen.
Kurzfristig ist der Faktor Kapital in einem Sektor fix und langfristig können beide
Faktoren zwischen den Sektoren wandern.
Beide Annahmen liefern polarisierende Schätzergebnisse. Besonders in den hohen
und in den niedrigen Qualifikationsgruppen hat die Migration einen stark negativen
Effekt. Unter der Annahme des sektor-spezifischen Kapitals führte der Anstieg der
Migration zwischen den Jahren 1990 - 2004 zu einer durchschnittlichen Reduktion
der Löhne von 9 Prozent (Gruppe der Arbeitnehmer mit weniger als 12 Jahren Schul-
bildung). In den mittleren Gruppen, also den Gruppen mit besonders hohem Anteil
an in den USA geborenen Arbeitnehmern, finden Ottaviano und Peri (2005) entweder
geringe oder teilweise sogar leicht positive Effekte durch den Migrationsschock. In
der Gruppe mit ≥ 16 Jahren Schulbildung wächst der negative Lohneffekt wieder auf
5 Prozent an. Schaut man sich die Effekte über alle Bildungsgruppen hinweg gemittelt
an, dann ist der durchschnittliche Effekt unter der Annahme des sektorspezifischen
Kapitals negativ.
Im zweiten Teil der Tabelle werden die Effekte unter der Annahme konstanter Ka-
98 KAPITEL 4. MIGRATION UND HANDEL
pitalrenditen geschätzt. Unter dieser Annahme ist der Effekt zwar durchschnittlich
positiv, die Stärke des Effekts fällt mit gerade einmal 0.3 Prozent allerdings eher ge-
ring aus. Wir werden sehen, dass dieses Ergebnis durch eine einfache Erweiterung
der bestehenden Modelle erklärt werden kann. Das sogenannte Rybczynski Theorem
besagt, dass ein Migrationsschock die Faktorpreise langfristig nicht beeinflusst. Statt
einer Anpassung der Faktorpreise kommt es zu einer strukturellen Anpassung der
sektoralen Produktionsstruktur. Dieses Theorem wird durch die Annahme konstan-
ter Kapitalrenditen in der Schätzung berücksichtigt.
4.2: Natürliches Experiment des „Miami Boat Lift“
Quelle: Lewis (2004), Grafik entnommen aus Feenstra und Taylor (2014)
Neben Ottaviano und Peri haben weitere Autoren versucht den Einfluss von Migra-
tion auf Löhne einer Ökonomie zu untersuchen. Ein prominentes Beispiel basiert auf
4.1. EMPIRISCHE EVIDENZ ZUR MIGRATION 99
einem natürlichen Experiment, dem „Miami Boat Lift“. Im Jahr 1980 erreichte eine
Vielzahl an Booten mit Flüchtlingen aus Kuba die Küste vor Miami. Dieser plötzli-
che Migrationsschock war unerwartet und ist daher ein ideales Experiment, um die
Auswirkungen von Migration auf den Arbeitsmarkt des Ziellandes zu untersuchen.
In Abbildung 4.2 wird der Output in zwei verschiedenen Industrien über die Zeit
hinweg verglichen. Gemäß einer einfachen Erweiterung des Heckscher Ohlin Modells
würden wir erwarten, dass sich statt den Löhnen die sektoralen Ausbringungsmen-
gen anpassen. Wir werden diese Erweiterung gleich im Anschluss an den empirischen
Ausblick diskutieren und sehen, dass sich die Ausbringungsmengen in den Sektoren
an das zusätzliche Angebot an Arbeitskräften anpassen.
In der empirischen Anwendung wird Miami als Treatmentruppe der Migration mit
der Kontrollgruppe „andere Staaten“ vergleichen. Als „Treatment“ sind die unmit-
telbar durch den Schock betroffenen Regionen bezeichnet, die mit nicht betroffenen
Städten in der Kontrollgruppe verglichen werden. Wir gehen davon aus, dass der
Schock unerwartet war und somit auch keinerlei Vorkehrungen in Miami oder den
Städten der Kontrollgruppe getroffen wurden. Eine unterschiedliche Entwicklung in
den beiden Gruppen wäre also mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Migrations-
schock zurückzuführen. In der arbeitsintensiven Kleidungsindustrie beobachtet man
eine rückgängige Wertschöpfung (in der Abbildung bezeichnet als „value-added")
pro Einwohner in allen Gruppen, wobei die Wertschöpfung ein Maß für die sekto-
rale Ausbringungsmenge ist. Bei der Berechnung wird der Einsatz an Vorprodukten
herausgerechnet, sodass also nur die im Sektor stattgefundene Wertschöpfung be-
rücksichtigt wird. Der Rückgang lässt sich zwar in allen Gruppen beobachten, der
Effekt ist in Miami allerdings weniger stark als in den Städten der Kontrollgrup-
pe. Noch interessanter sind die Effekte in den bildungsorientierten Industrien. Hier
finden wir kurz nach dem positiven Migrationsschock einen starken Rückgang der
Wertschöpfung pro Einwohner in Miami bei fast gleichbleibender Wertschöpfung pro
Einwohner in den Vergleichsgruppen. Wie können wir dieses Ergebnis interpretieren?
Zunächst gehen wir davon aus, dass die Flüchtlinge aus Kuba weniger qualifiziert wa-
100 KAPITEL 4. MIGRATION UND HANDEL
ren als die vorhandenen Arbeitskräfte mit denen sie nach ihrer Ankunft in den USA
konkurrierten. Vergleichen wir nun die Entwicklung in Miami (Treatmentgruppe) mit
der Entwicklung in den Kontrollgruppen fällt auf, dass die Kleidungsindustrie (Ap-
parel) in Miami weniger stark geschrumpft ist als der Output der selben Industrie in
den Kontrollgruppen. Die Steigung der Trendlinie in Miami ist kleiner als die Stei-
gung der Trendlinie in der Kontrollgruppe. Hat das zusätzliche Angebot an niedrig
qualifizierter Arbeit den rückläufigen Trend in dieser Industrie abgemildert? In den
empirischen Ergebnissen sieht es zumindest danach aus. Die Theorie wird zeigen,
dass dieses Ergebnis konform mit dem Heckscher Ohlin Modell ist.
In den Industrien, die intensiv mit hoch-qualifizierten Arbeitnehmern produzieren,
finden wir ein gegenteiliges Muster. Der Output pro Arbeitskraft, gemessen an der
Wertschöpfung, sinkt in Miami schneller als in den Industrien der Kontrollgruppe.
Regional betrachtet scheint es so zu sein als würde die Migration die Industrien be-
günstigen, die den migrierenden Faktor intensiv nutzt. Der Sektor, der die weniger
qualifizierten Arbeitskräfte intensiv nutzt, schrumpft weniger stark im Vergleich zu
den Sektoren der Kontrollgruppe.
Diese Ergebnisse können in unserer Heckscher Ohlin Welt sehr einfach erklärt wer-
den. Statt der Löhne, passen sich die Produktionsmuster über die verschiedenen Sek-
toren hinweg an. Der Sektor, der den migrierenden Faktor intensiv nutzt expandiert,
der andere Sektor schrumpft. Löhne bleiben auf Grund der sektoralen Anpassung des
Produktionsprogramms konstant.
Diese Anpassungsprozesse sind langfristiger Natur, sodass dieses Ergebnis eine mög-
liche Erklärung für die in Tabelle 4.1 dargestellten Ergebnisse liefert. Langfristig kön-
nen die Löhne durch die sektorale Anpassung des Produktionsprogramms konstant
bleiben. In der kurzen Frist gehen wir aber davon aus, dass einige Faktoren nicht
unmittelbar zwischen den Sektoren wandern können. In diesem Fall kann der Migra-
tionsschock sehr wohl einen Einfluss auf die Faktorpreise haben.
4.2. MIGRATION IM 2× 2× 2 MODELL: LANGFRISTIGE BETRACHTUNG 101
4.2 Migration im 2× 2× 2 Modell: Langfristige Betrach-
tung
Das Modell dieses Kapitels ist eine Erweiterung des Standard 2× 2× 2 Modells. Um
eine Aussage über Migration treffen zu können, müssen wir zunächst sogenannte
Ausstattungspunkte in das Lerner Diagramm des letzten Kapitels aufnehmen. Die
Faktorausstattung war bislang nur für die Bestimmung der Form der Produktions-
möglichkeitengrenzen und der damit einhergehenden Opportunitätskosten der Pro-
duktion unter Autarkie von Bedeutung. In diesem Kapitel wollen wir allerdings die
Auswirkungen der Migration auf den Arbeitsmarkt untersuchen und dazu ist die Be-
stimmung des exakten Produktionsprogramms in beiden Sektoren wichtig. Wir haben
gesagt, dass Migration die Faktorausstattung eines Landes beeinflusst. Im Zielland
wächst die Ausstattung an Arbeitskräften durch einen positiven Migrationsschock an.
Wie passen sich die beiden Sektoren im Modell an diesen Schock an? Führt ein Über-
angebot an Arbeitskräften plötzlich zu einem Lohnverlust aller Arbeitskräfte? Für die
Beantwortung dieser Frage müssen wir unser Modell - wie in Abbildung 4.3 gezeigt
- um Ausstattungspunkte erweitern. Gehen wir zunächst von der bekannten Freihan-
delssituation aus, in der Güter- und Faktorpreise im In- und Ausland ausgeglichen
sind. Die Tatsache, dass wir Freihandel annehmen, erkennt man an den identischen
Isokostenkurven in Abbildung 4.3. Die Steigungen der Isokostenkurven werden durch
die Faktorpreise bestimmt. Da die Steigung der in- und ausländischen Isokostenkur-
ven und ihre Schnittpunkte mit den Achsen identisch sind, müssen die Faktorpreise
über die Landesgrenzen hinweg ebenfalls identisch sein. Dieses Ergebnis bezeichnen
wir als Faktorpreisausgleich durch internationalen Handel. Die Gründe für diesen
Faktorpreisausgleich wurden bereits ausführlich im letzten Kapitel besprochen.
102 KAPITEL 4. MIGRATION UND HANDEL
Abb
ildun
g4.3:Prod
uktion
imHeckscher
Ohlin
Mod
ell
=1/
=1/
=1/
=1/
4.2. MIGRATION IM 2× 2× 2 MODELL: LANGFRISTIGE BETRACHTUNG 103
Die beiden Aussattungspunkte im In- und Ausland werden durch Kreuze im Dia-
gramm gekennzeichnet. Die Koordinaten der Kreuze im Inland und im Ausland be-
stimmen sich durch die respektive Ausstattung L̄, K̄ (Inland) und L̄∗, K̄∗ (Ausland).
Die Koordinaten können an den X- und Y-Achsen abgetragen werden, um so die
Lage der beiden Aussattungspunkte einzeichnen zu können.
In beiden Ökonomien wird so produziert, dass die Ausstattung gänzlich in der Pro-
duktion der Güter M und F aufgeht. Es werden also auch in dieser Modellvariante
keinerlei Ressourcen verschwendet. Außerdem muss die Faktorintensität der Produk-
tion in beiden Sektoren der optimalen Faktorintensität entsprechen. Diese optimale
Faktorintensität wurde ja schon zuvor in einem Optimierungsproblem gelöst und
kann nun über Faktorintensitätsstrahlen verallgemeinert werden. Da wir implizit auf
dem Modell des vorherigen Kapitels aufbauen, kann auch das zuvor gelöste Kosten-
minimierungsproblem verwendet werden. Gemäß der Lösung dieses Problems kön-
nen wir mit Sicherheit sagen, dass der Faktoreinsatz in beiden Sektoren auf einem
Punkt des Fahrstrahls zwischen Ursprung und den beiden Punkten liegt, in denen
die beiden Isoquanten tangential zur Isokostenkurve verlaufen. In der Abbildung sind
das die durchgängig gezeichneten Strahlen. In der digitalen Version der Abbildung,
die Sie in den Zusatzmaterialien finden, sind beiden Strahlen durchgängig, gelb ge-
zeichnet.
Gesucht wird eine Kombination von K und L , für die sowohl die optimale Fak-
torintensität als auch die Vollbeschäftigungsbedingungen entsprechend erfüllt sind.
Diese Lösung kann durch eine Verschiebung der (durchgängigen) Faktorintensitäts-
strahlen gefunden werden. Wie in Abbildung 4.3 gezeigt, werden die durchgängig
gezeichneten Strahlen (in der digitalen Version gelb gezeichnet) solange parallel nach
außen verschoben, bis die verschobenen Strahlen beider Sektoren die Ausstattungs-
punkte schneiden. Dies entspricht den gestrichelten Faktorintensitätsstrahlen, die ein
Parallelogramm zwischen dem Ursprung und dem Ausstattungspunkt aufspannen
(in der digitalen Version als gelb, gestrichelte Linien gezeichnet). Die Schnittpunk-
104 KAPITEL 4. MIGRATION UND HANDEL
te der ursprünglichen Faktorintensitätsstrahlen mit den verschobenen Faktorintensi-
tätsstrahlen (gelb, gestrichelt in der digitalen Version) bestimmen den tatsächlichen
Faktoreinsatz im jeweiligen Sektor. Spielen wir dies einmal für den Einsatz an Ar-
beit im Zielland durch. Die Hilfslinien, die parallel zu den Achsen verlaufen und
die Aussattungspunkte scheiden, tragen die Koordinaten der Ausstattungspunkte an
den Achsen ab. Die Strecke vom Ursprung bis zum Punkt L̄∗ entspricht der Strecke
der gesamten Ausstattung an Arbeit im Zielland. Diese Strecke kann als Vollbeschäfti-
gungsbedingung interpretiert werden. Die Schnittpunkte der durchgängigen Strahlen
mit den verschobenen Strahlen entsprechen den tatsächlichen Faktoreinsatzpunkten
in den beiden Sektoren. Wir verwenden erneut Hilfslinien, die parallel zu den Achsen
verlaufen und diese Punkte auf der jeweiligen Achse abtragen. Die Strecke zwischen
dem Ursprung und dem Punkt L∗m entspricht dem Einsatz an Arbeit in Sektor M. Die
Strecke zwischen Ursprung und dem Punkt L∗f entspricht dem Einsatz an Arbeit im
Sektor F. Ist die Vollbeschäftigungsbedingung in diesen Punkten erfüllt? Einfaches
aufaddieren der Strecke zwischen Ursprung und L∗m sowie der Strecke zwischen Ur-
sprung und L∗f sollte der Strecke zwischen Ursprung und L̄∗ entsprechen. Dies ist
auch tatsächlich der Fall. Entspricht die Kombination von K und L aber auch dem op-
timalen Faktoreinsatz in beiden Sektoren? Auch dies ist offensichtlich der Fall. Beide
Punkte liegen auf den durchgängig gezeichneten Faktorintensitätsstrahlen und ent-
sprechen somit den aus dem Minimierungsproblem bestimmten Faktorintensitäten.
Durch Abtragen der entsprechenden Punkte auf der Y-Achse können die zugehöri-
gen Kapitaleinsätze in den beiden Sektoren ausfindig gemacht werden. Sowohl die
Vollbeschäftigungsbedingung als auch die optimale Faktorintensität für die Kapital-
einsatzpunkte sind in beiden Sektoren erfüllt.
Migration. Nehmen Sie nun an, die Ausstattung im Ausland verändere sich durch
einen positiven Migrationsschock. Was passiert in unserem Modell? Wir schauen uns
nun das Zielland an und vernachlässigen das Ursprungsland.
4.2. MIGRATION IM 2× 2× 2 MODELL: LANGFRISTIGE BETRACHTUNG 105
Abbildung 4.4: Veränderung der Einsatzmengen von Kapital undArbeit im Heckscher Ohlin Modell unter Migration
𝐿𝑓∗′
𝐿∗̅
𝐿𝑓∗
𝐿𝑚∗
𝐾∗
�̅� = 1/𝑃𝑓𝑤
�̅� = 1/𝑃𝑚𝑤
Ausland
𝑆𝑤
L 𝐿∗ 𝐿∗′̅̅̅̅
𝐿𝑚∗′
𝐾∗̅̅̅̅
𝐾𝑚∗
𝐾𝑚∗′
𝐾𝑓∗
𝐾𝑓∗′
Der Ausstattungspunkt wandert vom Punkt L̄∗, K̄∗ nach rechts zum Punkt L̄∗′, K̄∗.
Abbildung 4.4 veranschaulicht dies, vernachlässigt aber das Ursprungsland. Durch
Migration hat sich nur die Arbeitsausstattung verändert, sodass die X-Achsen Koor-
dinate des Ausstattungspunkts unverändert bleibt. Die ursprünglichen Faktorinten-
sitätsstrahlen (gelbe Linien in der digitalen Version) schneiden sich nunmehr nicht
länger im neuen Ausstattungspunkt, da sich dieser nach rechts verschoben hat. Wir
müssen die Faktorintensitätsstrahlen also erneut parallel verschieben bis diese sich
wieder im verschobenen Ausstattungspunkt schneiden. Dies entspricht den rot, ge-
strichelten Geraden im Schaubild der digitalen Version dieser Abbildung. Wie man
erwarten würde, steigt der Einsatz des Faktors Arbeit im Sektor F. Der Punkt L∗f , der
den Einsatz an Arbeit im Sektor F bestimmt, wandert nach rechts auf die Position L∗′
f .
Dies entspricht einem erhöhten Einsatz an Arbeit im Sektor F. Da nun insgesamt mehr
106 KAPITEL 4. MIGRATION UND HANDEL
Arbeit für die Produktion zur Verfügung steht, würde man vielleicht auch erwarten,
dass beide Sektoren sich ausdehnen und mehr Arbeit in der Produktion beider Gü-
ter zum Einsatz kommt. Dies ist allerdings nicht der Fall. Der ohnehin schon recht
geringe Einsatz im Sektor M wird noch weiter verringert und schrumpft auf das Ni-
veau L∗′
m . Dies spricht dafür, dass der Sektor M kleiner wird und der Sektor F durch
die Migration expandiert. Um die sektoralen Anpassungsprozesse besser verstehen zu
können, muss zusätzlich die Kapitalbewegung zwischen den zwei Sektoren analysiert
werden. Tragen Sie dazu auf der Y-Achse die neuen Koordinaten der Faktoreinsatz-
punkte (Schnittpunkte der durchgängig-gelben und der rot-gestrichelten Strahlen in
der digitalen Version) ab, um zu sehen, dass auch dieser in Sektor M abnimmt. Der
Kapitaleinsatz sinkt von K∗m auf K∗′
m . Da von beiden Faktoren nun insgesamt mehr in
Sektor F, aber weniger in Sektor M eingesetzt wird, muss Sektor M bei unveränder-
ter Technologie kleiner werden, wohingegen sich der Sektor F ausdehnt. Alle durch
die Migration hinzugekommenen Arbeitskräfte wandern folglich in den Sektor F. Zu-
sätzlich muss Kapital und Arbeit aus Sektor M in den Sektor F übertragen werden.
Ändert sich die optimale Faktorentlohnung? Nein, da sich die optimale Faktorintensi-
tät in beiden Sektoren nicht ändert, bleiben die Faktorpreise ebenfalls konstant. Zwar
ändern sich die absoluten Einsatzmengen an Kapital und Arbeit, die Intensität darf
sich aber trotzdem nicht ändern. Diese wurden zuvor schon optimiert und weder die
Preise noch die Technologie hat sich durch die Migration verändert. Die Faktorpreise
bleiben also ebenfalls konstant.
Dieses bemerkenswerte Ergebnis wird in der Literatur als Rybzynski-Effekt bezeich-
net.
4.2. MIGRATION IM 2× 2× 2 MODELL: LANGFRISTIGE BETRACHTUNG 107
Rybzynski Theorem:
Ändert sich die Faktorausstattung beispielsweise durch Migration, dann passt sich die
Produktion in beiden Sektoren wie folgt an:
1. Der Sektor, der den durch Migration ansteigenden Faktor Arbeit intensiv
nutzt, wächst. Der andere Sektor schrumpft.
2. Die Faktorentlohnung ist durch die Veränderung der Ausstattung nicht be-
troffen.
In unserem Beispiel wächst die Ausstattung des Faktors Arbeit, welcher gemäß der
getroffenen Annahme intensiv im Sektor F genutzt wird. Aus unserer grafischen Ana-
lyse des Lerner Diagramms sehen wir, dass der Sektor F tatsächlich wächst und der
Sektor M schrumpft. Da die Steigung der Isokostenkurven trotz Migration unverän-
dert bleibt, kann sich die Faktorentlohnung nicht ändern. Dieses Ergebnis hält aller-
dings nur unter einer Voraussetzung: Sowohl der alte als auch der neue Ausstattungs-
punkt müssen innerhalb der Fläche, die durch die beiden Faktorintensitätsstrahlen
(durchgehend-gelb gezeichnete Strahlen) aufgespannt wird, liegen. Wir nennen diese
Fläche den Diversifizierungskegel. Solange der Ausstattungspunkt in diesem Kegel
liegt, sind beide Sektoren aktiv und eine Änderung der Ausstattung führt nur zu
einer Anpassung der Produktionsniveaus und nicht der optimalen Faktorintensität
oder der Faktorpreise.
Dieses letzte Ergebnis bedeutet, dass Migration keinen Einfluss auf die Löhne der
Arbeitskräfte oder die Kapitalrendite hat. Dies ist ein bemerkenswertes Ergebnis. Zu-
nehmende Migration führt zwar zu Veränderungen der Produktion, die Arbeitnehmer
und Kapitaleigner müssen jedoch keine Einbußen befürchten.