Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)
Menschen – keine ZahlenEinblicke in das Leben von Geflüchteten nach ihrer Ankunft in Deutschland
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Inhalt
4 Vorwort · Rita Süssmuth
8 Einleitung · Claudia Walther
10 Der Wert des eigenen Herds · Shno
22 Zwischenwelten · Wohnen
26 Abgekapselt im Szeneviertel · Soze
34 Mußestunden · Freizeit
38 Traum oder Trauma · Masoud
46 Zukunftspläne · Arbeitfinden
50 Das lange Warten · M.
60 Nachwort · Thomas Byczkowski
65 Dank
Vorwort Prof. Dr. Rita Süssmuth
Seit drei Jahren beschäftigt das Thema Fluchtmigration die deutsche Öffentlichkeit.DochimöffentlichenDiskursgehtesmeistensumÄngsteundSorgenderdeutschenGesellschaft,umrechtspopulistischeundras-sistischeAusschreitungenundumdieZahlenderGeflüchteten,dienachDeutschlandgekommensind.SoantwortetdieBevölkerunggespaltenaufdieFrage,ob»dieBundesregierungSorgenbeimThemaZuwande-rungernstnimmt«.DiesePerspektivegibteinenverengtenBlickaufdasMigrationsgeschehenwieder.
Ichfindeeswichtig,sieumfolgendePerspektivenzuerweitern:
ÄngsteundSorgenhabenvieleGeflüchtetedurchgestanden,diesichaufdenWeggemachthaben–übergefährlicheRoutennachEuropaundschließlich nach Deutschland. Hier sind sie erst mal in Sicherheit. Doch dieSorgenumFamilienangehörigeinKriegs-oderKonfliktgebieten,obinSyrienoderAfghanistan,lassenvieleGeflüchtetenichtinRuh.Auchwissensiehäufignicht,obsieinDeutschlandbleibenkönnen,undwarten monatelang – manche sogar ein bis zwei Jahre lang – auf ihren Asylbescheid. Die Integration inBildung,Arbeit,Nachbarschaften isteinweiterWegmitvielenStolpersteinen.OhnedievielenaktivenEhrenamtlichen,diehiernochimmerpersönlicheUnterstützungleisten,ohnedieengagier- tenHauptamtlichen inKommunalverwaltungen,Wohlfahrtsverbänden,Institutionen und Migrantenorganisationen würden viele auf diesem holprigen und mühsamen Weg nicht weiterkommen. Umsowichtiger istes,dassdieMenschenund ihreGeschichten in
diesem Fotoband im Vordergrund stehen. Denn die Geschichten sind so unterschiedlichwiedieGeflüchtetenselbst.»DenFlüchtling«gibtesnicht.DieMenschen,undnichtnurdieZahlen,umsiegehteshier.UndgenauihreLebenswegeverdienenes,weitererzähltzuwerden.Entgegen allen Negativschlagzeilen und der darauf aufbauenden
rechtspopulistischenundrassistischenPolemikistfestzuhalten:Deutsch-landistimFeldderMigrationaufgutemWeg.Wirallehabenvielgelernt.Auchwennnochnichtallesgelungenist,sosinddochErfolgesichtbar.Beispielsweise konnte inzwischen knapp einDrittel derGeflüchteten,die inden letztendreiJahrennachDeutschlandkamen, inArbeitund
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Ausbildung gebracht werden.1DasübertrifftdieanfänglichenErwartun-gen.VorallemdiemeistengeflüchtetenKinderundJugendlichenspre-chenbereitsnachzweiJahrenfließendDeutsch.Undauchrechtlichhatsichvielesgetan,beispielsweisegilt indenmeistenBundesländerndie Regelung,dassAuszubildendewährendderZeitihrerAusbildungundzweianschließenden Jahren nicht abgeschoben werden dürfen. Dies gibt nicht nurdengeflüchtetenJugendlichen,sondernauchdenArbeitgeberndienötigePlanungssicherheit.DochdieGeschichtenindiesemFotobuchzeigenauch,woesnoch
immerHindernissegibt.WenneinFamilienvaterimUngewissenist,obseineFamilienachkommt.WenneinzehnjährigerJungeÜbersetzungenundBehördengängefürseineElternübernehmenmussundhierbeianseineGrenzenkommt.WenndieUnterbringunginderErstaufnahmeundhäufigMassenunterkunftdasEinleben,dasLernenfürdieSchuleunddasKnüpfenvonKontakteninderneuenStadtfastunmöglichmacht.Esmussalsoauchnochvielverbessertwerden.DazugehörtauchdieFrage,wieGeflüchtetenausLändernohneguteBleibeperspektivedasErlernenderdeutschenSpracheermöglichtwerdenkann,auchwennihrVerbleibinDeutschland alles andere als sicher ist. DeutschlandhatnichtnurdreiJahreErfahrungmitMigration.Eshat
mehralsdreihundertJahreErfahrungmitEinwanderung,auchwennesbisEndeder90erJahredieIllusiongab,dassDeutschlandkeinEinwan-derungslandsei.AusdieserlangjährigenErfahrunggilteszulernen:SeiesausderErfolgsgeschichtederHugenotteneinwanderunginBerlinundBrandenburgum1700,seiesausvielenFehlernderZeitdersogenann-tenGastarbeitervorüber50Jahren.DamalshattemandieIllusion,dassesalleinumArbeitsplätzegeheundesnichtnötigsei,SprachkurseundKitaplätzeanzubieten.AusdieserErfahrungstammtdervielzitierteSpruchvonMaxFrisch:
»WirriefenArbeitskräfte,undeskamenMenschen.«Esistgut,dassdiesesFotobuchgenaudarananknüpftundzeigt,dassesumMenschengeht,nichtnurumArbeitskräfteoderZahlen.
1 BundesagenturfürArbeit.Berichte:Arbeitsmarktkompakt.September2018:12.
Einleitung Claudia Walther, Bertelsmann Stiftung
WiekanndieIntegrationvonFlüchtlingenindenStädten,KreisenundGemeinden verbessert werden? SolautetedieAusgangsfragefürdasProjekt»AnkommeninDeutsch-
land«derBertelsmannStiftung.In23KommunenhatdieStiftungmitdiesemProjektdieFlüchtlingsintegrationdurcheineProzessbegleitungunterstützt.Grundideewar,dassdievielenverschiedenenInstitutionenundBehörden,die Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen sehr eng zusammenarbeiten soll-ten,damitdieIntegrationderFlüchtlingeauseinemGussgelingt.Sehrschnellwurdedabeideutlich,dassalleAkteureüberihrenTeller-
randschauenmüssen.DennschließlichsollnichteineInstitutionimMit-telpunktstehen,sondernderMensch.UnddieserhatganzheitlicheBedürf-nisseundBedarfe:DazugehörenEssenundTrinken,einDachüberdemKopf,aberauchSprache,Bildung,Arbeit,GesundheitundnatürlichFami-lie,Freundschaften,KontakteundKultur.Nichtseltendurchkreuzendie AlbträumevonKriegserlebnissendenWeg,imneuenLandFußzufassen.DochinallunserenPilotkommunenwarenundsinddieMotivation
unddieBereitschaftgroß,sichfürdieGeflüchteteneinzusetzenundsichaufNeueseinzulassen.DasgiltnichtnurfürdieKommunalverwaltung,sondernauchfürEhrenamtliche,fürUnternehmenundfürvieleandereAkteure.EswurdeninnovativeProjekteentwickelt,dieKommunikationuntereinanderverbessert,esgabErfolgserlebnisseundnatürlichEnttäu-schungen,LernerfahrungenundneueVorschläge.AufjedenFallhabendiemeistenAkteurevorOrtdenEindruck:UnserEinsatzlohntsich.ImöffentlichenDiskurshingegendominierteineandereWahrneh-
mung,dievonNegativschlagzeilengeprägtistundzueinerpolarisiertenDiskussionführt.Umsowichtigeristes,dassGeschichtenderGeflüchtetenselbsterzähltwerden.GeschichtenmitihrenSchatten-undSonnenseiten,mitRückschlägen,HoffnungenundauchLichtblicken.
Genau das ist der Anspruch dieses Fotobuches. Menschen – keine ZahlenbestätigtdieRedewendung»EinBildsagtmehrals1.000Worte«.DieausdrucksvollenPorträtsundBildervonGeflüchtetenerzählendieseGeschichtenundwerdenabgerundetdurchkurzeTexte.DasBuchergänztsomitwunderbarunsereAbschlusspublikationdes
Projekts»AnkommeninDeutschland«.WashilftdeneinzelnenGeflüch-teten wirklich? Welche Barrieren stehen einem Erfolg manchmal im Weg?
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Weroderwashilftdabeiweiterzukommen?ZudiesenFragenbietetesEinsichtenundEinblickeindieLebensweltderGeflüchteten.
Wir bedanken uns sehr bei dem Autor und Fotografen Thomas Byczkowski.ZweiJahrelanghaterGeflüchtetebegleitet,hatsieporträ-tiert,ihreGeschichtenangehörtundaufgeschrieben.Hatihnenneben-beiTippsgegebenundKontaktevermittelt.DaraussindGeschichtenund Fotosentstanden,dievonErfolgenundMisserfolgenerzählen:Geschich-ten,diedasLebengeschriebenhat.WirwünschenIhneneineguteLektüreundmöchtenSiehiermiter-
mutigen, sich Geschichten von Geflüchteten in Ihrer Nachbarschaft undUmgebunganzuhörenunddieseweiterzuerzählen–undletztend-lichmitzugestalten.DennKommunikationundDialogsinddas,wasdieGeflüchtetenbrauchen,waswirallebrauchen–undwasletztlichauchzueinemrealistischerenöffentlichenDiskursundeinembesserenZusam-menleben in Vielfalt beitragen kann.
Der Wert des eigenen HerdsShno
Alter: Shno (35), Kosalan (38), Mohammad (11) und Danyal (7)Herkunft: Sulaimaniyya im kurdischen IrakBeruf: Hausfrau (ihr Mann war Angestellter einer Sicherheitsfirma)Status: Aufenthaltserlaubnis nicht erteiltFlucht: Bruchstückhafte AngabenTraum: Die Familie in der Heimat wiedersehen
S. 10 · 11MonatelangesWartenunddieungewisseZukunftbedrückenShno(hiermitihremSohnMohammad),alssieaneinemWochenendeinihrerErstaufnahmeeinrichtungerfährt,dassdasHausamnächstenMontaggeschlossenwerdensoll.DieFamilieistverstört:Niemandweiß,wohinesgehensoll.WerdensieabgeschobenoderineineandereEinrichtungverlegt?ZudieserUnsicherheitkomme,dassdieFamilietraumatisiertsei,sagteineSozialarbeiterin.AmschlimmstensteheesumShnosEhemannKosalan.
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SelbstinderErstaufnahmebestehtSchulpflichtfürKinder.ShnosSöhne(hierdersiebenjährigeDanyal)lernenbeifürsorglichenLehrkräftenundBetreuernschnell,Deutschzusprechen. DieElterndagegenbleibenzurück:FürsiegibtesSprachunterrichtnurvonFreiwilligenundEhrenamtlichen.SowerdendieKinderzureinzigenVerbindungzwischendenGeflüchteten und ihrer neuen Heimat.
DassdieFamilieinderErstaufnahmenichtselbstkochendurfte,verstärktedasGefühlderVerlorenheit.DabeiwürdenGerichteausderHeimatihrHeimwehaugenblicklichlindern.IhrenächsteUnterkunftisteinContainerdorfamStadtrandmitnurgelegentlicherBusverbindunginsZentrum.Weilsieauchhiernichtkochendürfen,greiftdieFamiliezurSelbst-hilfe:»Wolltihressen«,fragtShno,»kurdischesEssen?«Sieschaut,obOrdnungskräfteinderNähesind,löstihrKopftuchundziehtGaskocher,TöpfeundVorräteausdenStahlschränken.SchnellfüllenEssensduftundLachendenRaum.
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VaterKosalanzeigtBildervonihrerFluchtaufdemHandy.AufeinemposierenrundzwanzigMenschenmitRettungswesten.VerwandteundBekannteausderHeimatseiendas,erklärtShno – und ihr Sohn Mohammad übersetzt. Die sind direkt nach ihnen von der Türkei aus in Seegestochen.»Alleertrunken«,sagtShno.IhrMannscrolltweiterundzeigtFotosvonihremaltenLebeninKurdistan.
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AusheiteremHimmelfängtMohammadbitterlichanzuweinen.ErkommtnichtmitimUnterrichtundhatPrüfungsangst.SchuldseidieBelastung,dauerndfürdieFamiliedolmetschenzumüssen,vermutetdieSozialarbeiterin,alssiedieFamiliebesucht.Sieverspricht,seineLehrerzuinformieren,underzählt,dassShnoindererstenUnterkunfteineFehlgeburthatte.Dasiesichnichtverständigenkonnte,musstederJungeimKrankenhausfürsieübersetzen.
In der Schule wird jetzt besonders auf Mohammad achtgegeben. Ein Arzt ordnet die Verlegung der Familiean:EndlichrausausdemContainerineineeigeneWohnung–obwohlihnendasbeiihremStatuseigentlichnichtzustehe,wieMohammadsagt.SielebennunineinemehemaligenBürohausineinerWohnungmitzweiZimmernundvorallemmiteigenerKüche,BadundToilette.
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DieStimmunginderFamiliehatsichvölligverändert.Jetztwirdvielgelachtundgetobt. AuchVaterKosalanbleibtnuntagsüberzuHauseundspieltmitdenKindern.Früher verschwandermorgensindieStadtundkamerstabendszurück–rechtzeitig,umdie ganze Nacht über den Schlaf der Familie zu wachen.
SeitihrerFluchtfürchtetShnosichvorWasser.AberbeimAusflugandenStrandtrautsiesichdochbiszudenKnöchelnindenFluss,währendihreKinderplanschen,buddelnundlachen.
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Bei der Geburtstagsfeier für Danyal und Mohammad spielt der Vater ausgelassen mit seinen Kindern.AufdenTaggenauzweieinhalbJahreistesher,seitsieinDeutschlandangekommen sind.EinenAufenthaltstitelaberhabensieimmernochnichterhalten.
ZwischenweltenWohnen
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Der Erzengel Gabriel wachtüberdemBetteines Eritreers in einer sogenannten Folge- unterbringung.Seite 22
28QuadratmeterRuhe:FamilienhabenGlück,wenn sie in Flüchtlings-unterkünftensolcheMassivholzhäuser bewohnenkönnen. Küchen,WaschräumeundToilettenhabendieseHäuserabernicht– dafür muss man bei jedemWetterzuzentra-len Containern laufen.Seite 23 oben
Eine ehemalige Grund-schule wurde 2015 zur Erstaufnahme umge -baut. Auch wenn diese Kinderglücklichspielen:Für viele ist der Stress groß,weileinanderFremdeindenKlassen-räumendichtneben- einander leben müssen – abgeschirmt nur durch Stoffbahnen. Seite 23 unten
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In dem früheren Schul-gebäudeerhaltendieGeflüchteteninderEingangshalle Essen aus einer Zentralküche. KochenaufdenZimmernist verboten. Angeblich schleichen manche nachts indieKücheundbereiteneigene Gerichte zu.Seite 24 oben
Unterbringungimstan-dardisierten13-qm- Zimmer einer Folgeunter-kunft:Diemeistenver-suchen,sichdieZimmernach ihrem Geschmack einzurichten,wiehieretwa nach arabischer TraditionmitSitzkissenauf dem Boden.Seite 24 unten
Erstaufnahme für mehr als tausend Menschen. Bei Schnee oder Regen verschlammen die kaum befestigtenWege.Straf-tatenundmassivesexu-elleÜbergriffewerdenindiesen unübersichtlichen Behelfsdörfernnichtselten übersehen.Seite 25 oben
Binnen weniger Wochen abgebaut,erinnernnurnoch Reifenspuren an die Schicksale Tausender Menschen,dieinsolchenLagern ihre erste Zeit in Deutschland verbracht haben.Container,Mate-rialundGerätschaftenwerdenverkauft,dieHolzhäuserauchim Internet versteigert.Seite 25 unten
Alter: 31 JahreHerkunft: Ahria bei Idlib, SyrienBeruf: JurastudentinStatus: Aufenthaltserlaubnis erteiltFlucht: Über die Türkei, von wo sie auf Betreiben der Eltern weiterreiste – über Griechenland nach Deutschland. Die Umstände bleiben unklar.Traum: Den Führerschein machen und endlich richtig Deutsch sprechen
Abgekapselt im SzeneviertelSoze
S. 26 · 27DiesyrischeKurdinSozehatteGlück:NachdemsieeineAufenthaltsbewilligungerhaltenhatte, kam sie mit ihrer Schwester und ihrem Bruder in einer kleinen Wohnung in einem beliebten Szeneviertel unter. Ihre vier anderen Geschwister leben in ganz Deutschland verstreut. Vom Viertel hat Soze keine Ahnung. SiekenntnurdenWegzumSupermarktundzurU-Bahn-Station.DieUmgebungzuerkunden,trautsiesich nichtzu.IhrDeutschseinichtgutgenug,findetsie.
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ZusammenmitihrenGeschwisternfeiertSozeoftzuHause.Miteinander fühlensiesichwohl.Dochsiebleibenlieberalleine,alsinKneipen,Discos oderRestaurantsinderUmgebungzugehen.NurzusyrischenHochzeiten lassen sie sich gerne einladen.
AufeinemAusflugdurchihrViertelbegeistertsichSozefürdasungezwungeneFlairihresStadtteils.SieprobiertKleideranineinerBoutiqueinderNachbarschaft.WennihreVerwandtenzuBesuchsind,machensiesichschickundschießenFotosmitihrenHandys,umsieindensozialenMedienzuposten.SozehatjetztzwareinenJobineinemkleinenCafé,aberinihrerFreizeitbleibtsiemeistzuHauseundschminktsich,umdanachSelfieszumachen.DieUmgebungalleine zuerkunden,trautsiesichnichtzu.
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SolockerwieindiesemViertelseiesauchbeiihremStudiuminAleppogewesen,erzähltSoze(hiermiteinerFreundin).Abersiemusstefliehen,bevorsieihrJurastudiumbeendenkonnte.IhreZeugnisseseienvermutlichverbrannt–imBombenhagelaufdasUniviertel.Dochdamithatsieabgeschlossen.SiemöchteGeldverdienen.AmliebstenwürdesieeineAusbildungzurKosmetikerinmachen.DafürmüsstesieallerdingsbesserDeutschsprechen.JetztwillsiesicheinenMotorrollerkaufen.DenFührerscheinmachtsieschon–ineinerFahrschule,inderArabischgesprochenwird.
IneinerShisha-BarerzähltSozevondemDruck,demsiesichausgesetztfühlt:IhrVatervermitteltihrimmerwiederHeiratskandidaten.Davonaberwillsienichtswissen.DieElternsindmittlerweilezueinerSchwesterineinanderesBundeslandgezogen,dochSozehältDistanz:SiewillnichtnurShisharauchen,wannesihrgefällt,sondernauchimLebenihreneigenenWegfinden.
SiekönneschonganzgutDeutsch,sagtNachbarHelmut(72),ihrfehlenurÜbung.»Diedreisindfürmich wiemeineKinder«,sagtderrüstigeEx-Seemann.SeinnächstesVorhaben:ErwillBruderMohammedeine eigeneWohnungbesorgenundSozedasAutofahrenbeibringen,denn»beimFahrlehreristsievielzunervös«.Sozeselbstsagt,dasssieimAutovorStressschongeweinthätte.
ZuHausefühltSozesichwohl(hierhatsieBesuchvonihrerjüngstenSchwesterHaifa).DieGeschwisterhabensichnachihremGeschmackeingerichtet:mitVorhängen,EckcouchundgroßemFernseher.ZumEinrichtungs-geldvondenBehördenhatihnenNachbarHelmutverholfen.
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Mußestunden Freizeit
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GeflüchteteeinerErstaufnahme besuchen einenZoo.DerEintrittwurde durch eine private Spendeermöglicht.Seite 34
Grelle Lichter und viel Lärm:DieKirmesisteinegern erlebte Ablenkung. Seite 35 oben
Letzte Vorbereitung zum Fastenbrechen in einem syrischen Haushalt währenddesRamadan.Seite 35 unten
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WährendeinerVorfüh-rung eines syrischen Filmclubsgreiftdietürki-sche Armee die syrische Stadt Afrin an. Dieser junge Mann zeigt die ers - tenBildervonOpfern,dieseinBruder,einChirurg,inseinemKrankenhausfotografierthat.Seite 36 oben
SpielenachmittagfürafghanischeKinderin einem Gemeinde- zentrum.Seite 36 unten
Diese Afghanen haben in einem Verein für Flüchtlinge eine Band gegründet. Sie sind schon mehrmals auf- getretenundkönnen ihre Songs dank einer Spende in einem Ton- studio aufnehmen.Seite 37 oben
Bei Mokka und Safrankeksenerzählen diese Syrer von ihrer Flucht,währendsieInternetvideos von Flüchtlingenzeigen,diein Schlauchbooten nach Griechenland wollen. DerEhemannhatteGlück und konnte sich ein Schnellboot über dieÄgäisleisten.SeineFamiliekamspäterimRahmen des Familien-nachzugs mit dem Flug-zeug nach Deutschland.Seite 37 unten
Alter: 27 JahreHerkunft: Geboren in Saveh, Iran; die Familie stammt aus Herat, AfghanistanBeruf: Orangenverkäufer, BauarbeiterStatus: Asylantrag abgelehnt, Berufungsverfahren läuftFlucht: Zwei Jahre lang, 18 Monate davon in griechischen GefängnissenTraum: Endlich die Aufenthaltserlaubnis erhalten und eine Arbeit finden
Traum oder Trauma Masoud
S. 38 · 39TagundNachthatMasoudDeutschgelernt.EigentlichwollteerhierzurSchulegehen,aberweilerschonüber18Jahrealtist,wurdedasverweigert.Manrietihm,sichinderAbendschuleanzumelden.»Daskannichjedemempfehlen.UndwennesnurzumDeutschlernenist«,sagtMasoud.ErhatdortsogardenHauptschulabschlussgeschafft.
»Ichbinwirklichvölligfertig«,sagtMasoudbeimTeetrinken.»Ichlachezwar,aberichdenkeimmernurandieAbschie-bung.«KurzvorherhatihmeinBeamterdesBundesamtesfürMigrationundFlüchtlinge(BAMF)erklärt,dassseinAsylan-tragabgelehntwordensei.ErhatWidersprucheingelegt,aber»wasfüreinSchock.Dabeiwillichmichdochintegrieren.«
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EinArbeitsvertragkönnteseineRettungsein,erklärteihmeineBetreuerinundhalfihmmitderBewerbungfürein PraktikumineinemnoblenSterne-Restaurant.Erwurdesofortangenommen.DieArbeitistanstrengend,aber»ichwill jaetwaslernen.«DieKöchesindbegeistertvonseinemFleiß.Undeszahltsichaus,dassergutDeutschgelernthat.
S.40unten:AusAngstvorderAbschiebungistMasoudzueinemFreundgezogen.TäglichfährtermehralseineStundezurArbeit.Währendersichanzieht,träumtervoneinemeigenenRestaurant,einemAudi–odervielleichtdocheinemBMW–undeinerFrau,dieihnunterstützt.
NachdemPraktikumbietetihmderKüchenchefeinenAusbildungsplatzan–unddamiteineChance,inDeutschlandzubleiben.ErwillihmsogareinZimmerinderNähedesRestaurantsbesorgen.TrotzdergutenAussichtendenktMasoudoftdaran,dasserabgeschobenwerdenkönnte.»NurbeimSportkannichfüreineWeileabschalten«,sagter.Dochseiterarbeitet, hat er kaum noch Zeit für Fitnesstraining oder Freunde.
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VoreinpaarTagenmussteerwiederzurBehörde.»Kaumwarichda,nahmenmichzweiWachleuteindieMitte«,sagter.»Ichhab’wirklichgedacht,jetztistesvorbei.Ichhaberichtiggezittert.Wenndiegesagthätten,dassichzurückmuss,hätteichmichumgebracht.«
S. 44 · 45NacheinpaarMonatenimRestaurantkündigtMasoudseineStelle.»Ichkanneinfachnichtmehr«, sagter.InderWeihnachtszeitistermanchmalerstmitdemletztenZugnachHausegekommen.»Wennich solangearbeite,kommendieGedankenanmeineFluchtwiederhoch.«AchtzehnMonatehabeerinGriechenlandimGefängnisgesessen,zehndavonzusammenmitsiebzigMännernineinemRaum.EineÄrztinhatihmeine Depressionbescheinigt.»Wasistdasdenn?«,sagter.»IchbindocheinMann.«NunsuchtereineAusbildungsstellezum Friseur – und bangt weiter um seinen Aufenthaltsstatus.
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ZukunftspläneArbeit finden
Ein Verein hat eine Werkstattaufgebaut,in der Flüchtlinge unter Anleitung ausprobieren können,obsieein HändchenzumSchlosseroder Tischler haben. Seite 46
BeieinerJobbörsekönnensichGeflüchteteorientieren:EinCom-puterfachmannerklärthier,wiedasInnenlebeneines Rechners aussieht.Seite 47 oben
Ein freiwilliger Helfer unterstützt einen Geflüchtetenbeim Verfassen einer Bewer-bungwährendeinerBildungsveranstaltung.Seite 47 unten
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Bei einer Infover-anstaltung will eine Berufsberaterin mit Geschicklichkeitsspielen herausfinden,welche FähigkeitendieGe-flüchtetenmitgebrachthaben. Seite 48 oben
Ein syrisches Ehepaar verkauftwährendeinerGemeindefeier in einer evangelischenKircheSpezialitätenausseinemHeimatland. Die beiden bieten auch ein Catering für Veranstaltungen an.Seite 48 unten
Girls’DaynennteinFlüchtlingsverein seinenAktionstag,beidemMädchenausgeflüchtetenFamiliensich an Werkzeugen und Maschinen in ihrer Werkstattausprobierenkönnen.Seite 49 oben
SpeziellfürGeflüchtetewurden manche Weiter-bildungsorganisationenins Leben gerufen – hier eine Fortbildung zum Kaffeespezialistenfürdie Gastronomie.Seite 49 unten
Offizier
Das lange WartenM.*
*Name,RangundHerkunftsindgeändert,umM.undseineFamilievorNachstellungenzuschützen.
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Alter: 49 JahreHerkunft: SyrienBeruf: Ranghoher Offizier in der syrischen ArmeeStatus: Aufenthaltserlaubnis erteiltFlucht: Drei Jahre – unter Beschuss über die Grenze zur Türkei nach Griechenland, mehrere Wochen Gefängnis in Ungarn, schließlich nach DeutschlandTraum: Seine Familie nach Deutschland holen
S. 50 · 51M.wareinranghoherOffizierindersyrischenArmee.AberderGeheimdienstüberwachteihn,weilernichtzuralawitischenFührungskastegehörte,sagtM.AlseinKollegeverschwand,wussteer,dassersofortfliehenmusste.SeineFamiliehaterzurückgelassen.Jetztdenkterimmerfortansie.DeshalblernterDeutschnurlangsam:FrüherseierimmerKlassenbestergewesen,aberheutekannersichnichtmehrkonzentrieren.SeitfasteinemJahrwarteteraufVisafürdieFamilie.
M.kochtgern.SozaubertersichdenGeschmackderHeimatindenMundundversucht,HeimwehundSehnsuchtimZaumzuhalten.ZumGrillenmitFreundenhatteeralteGrillgeräteundÄstegesammelt,umdanndasHolzbiszurGlut zuverbrennenundsodenGrillzubefeuern.HättemannichtHolzkohlekaufenkönnen?M.zucktmitdenSchultern: »DasmachenwirinSyrienimmerso.«
FastfünfJahrelebtervonseinerFamiliegetrennt.M.hatAngst:Manchmalhörtertagelangnichtsvonihnen.BeimletztenAnrufhättenseineKindervonBombeneinschlägenimNebenhauserzählt,vonLebensmittelblockadenundWassermangel.AnihremLebenteilnehmenkannM.nurüberdasSmartphone–»abergeradejetztbrauchensiemich.«
WasM.vonseinenSorgenablenkt,istseinJobalsBundesfreiwilligerineinerKirchengemeinde.ErhilftbeiderLebens-mittelausgabefürBedürftigegenausowiebeiderGartenpflegeundbeimPlätzchenbackenfürdieMutter-Kind-Gruppe.
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Zum Beweis seines Ranges in der Armee haben Freunde seine Ernennungsurkunde hinter ein altes Familienfoto geklebtundnachDeutschlandgeschmuggelt–fürM.nichtnurseineLegitimation,sondernauchdauerndeErinne-rungandieGefahr,inderdieFamilieschwebt.ErseiaufseinerFluchtvonKampfhubschraubernbeschossenundeingesperrtworden.DashätteseineFamilienichtüberstanden.M.istsicher,dasseralsDeserteurinSyriengetötetwürde.»WennderGeheimdienstherausbekommt,womeineFamiliesteckt,wirdsiefürmichbüßenmüssen.«
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SeinedeutschenFreundehabenM.überredet,zurpsychologischenFlüchtlingsberatungSEGEMI zu gehen. Erkämpftdamit,dasserseineFamilieimStichlassenmusste.»IchbinnichtwiedieanderenFlüchtlinge«,sagtM. »IchwillnurSicherheitfürmichundmeineFamilie.«Erwundertsichaber,dassdiedeutscheRegierungsichnicht für sein Wissen über die syrische Armee interessiert.
DiePsychologinrätihm,sichAuszeitenzunehmen,etwaszuversuchen,dasdenTeufelskreiszwischenSorge, Hoffnung,AngstundVerzweiflungunterbrechenkönnte.M.hatalsoaufdemFlohmarktKerzenständergekauft undversucht,abendsbeiKerzenlichtzurRuhezukommen.
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InderWohnungeinesFreundeskannM.sichentspannen.KurzvorMitternachtanRamadanklapptdortdieVerbindungnachSyrien.DerBruderruftan,sietauschenNeuigkeitenaus:ErhateineTochterbekommen– M.istOnkelgeworden.DerBruderzeigtdasBabyimLivestream:neuesLeben,mittenimKrieg.
S. 58 · 59UndM.?WartetimmernochaufseineFamilie.AlleStellen,diehelfenkönnten,habeerkontaktiert: dasDeutscheRoteKreuz,dieInternationaleOrganisationfürMigration.UndaucheinenAnwalthabeereinge-schaltet.M.istverzweifelt:»AmbestengeheichzurücknachSyrienundsage:HalloAssad,hierbinich,mach mitmir,wasduwillst.«
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Nachwort Thomas Byczkowski
Wervonunskannsichwirklichvorstellen,wasesbedeutet,HausundHeimataufgebenzumüssen,FamilieundFreundezuverlassen,teilsun-terLebensgefahraufzubrechen,umineinemanderenTeilderWelteinneuesLebenanzufangen?HeutehörenundlesenwirindenSchlagzeilenüberdieBetroffenenvonFluchtundVertreibungmeistnurZahlenundStatistiken.MeineGroßelternundElternhabendasnochselbsterfahrenmüssen.DaherhatmichdieFlüchtlingsmigrationdervergangenenJahresehrbewegt.Unddaherbinichseit2017mitGeflüchtetenunterwegs,umherauszufinden,werdieseNeuankömmlingesindundwiesiehierle-ben–oftsindsieandiesemPunktbereitsausdenSchlagzeilengerutscht.WeilichaberfestandieWürdejedeseinzelnenMenschenglaube,willichmitdenGeschichtenindiesemBuchalldeneneineStimmegeben,derenSchicksalesonstinStatistikenverschwinden.DassdieGeflüchteteninihrerneuenUmgebungaufHilfeangewiesen
sind,istoffensichtlich.MeinereinjournalistischePerspektivehatsichda-herschnellverändert:IchwurdeDolmetscherundSprachlehrer,BeraterundBegleiterdurchdenBehördendschungel.AufgrundmeinerArbeitmitihnenschenktenmirdieFlüchtlinge ihrVertrauen,öffneten ihreTürenunderlaubtenmir,sieauchinprivatenMomentenzubegleitenundzufotografieren.Sokonnte ichganzpersönlicheGeschichtenmiterleben.UnddiedarfmannichthinterZahlenverstecken.DennesgehtumdasSchicksal von Menschen. ÜberalleSprachgrenzenundkulturellenUnterschiedehinwegmerkte
ichbald,wievielwirimGrundegemeinhaben:Hoffnungen,Nöte,TräumeundÄngste.SchonimmerwarendieAnderenderSpiegel,derunszeigt,werwirselbstsind.MitmeinenFotosverknüpftsichdeshalbeinAufruf:Esistanunszuentscheiden,obwirdieBegegnungenmitunserenneuenNachbarnalsBereicherungansehen,siealsMit-MenschenbegreifenundmitihnenzusammenunsereZukunftgestaltenoderobwirsieandenRanddrängenundzubloßenZahlendegradieren.
Danke ... an all die Geflüchteten, die mir ihre Türen geöffnet haben. Außerdem danke ich Stella Negraes und Wolfgang Behnken für Rat und Hilfe sowie den Betreuern und Ehrenamtlichen, die mir Zugang verschafft haben. Mein besonderer Dank gilt Claudia Walther und Bettina Hatecke von der Bertelsmann Stiftung, die meinem Projekt »Menschen – keine Zahlen« diesen fantastischen Rahmen gegeben haben.
Thomas Byczkowski ist freiberuflicher Journalist, Autor und Fotograf. Nach dem Studium von Chemie und Philosophie war er neun Jahre lang Redakteur und Managing Editor, bis er sich 2004 selbstständig machte. Seine Schwerpunkte sind Porträts und Langzeitreportagen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
Verantwortlich: Claudia Walther
Mitarbeit: Bettina Hatecke
Lektorat: Heike Herrberg, Bielefeld
Herstellung: Christiane Raffel
Gestaltungskonzept und Layout: Büro für Grafische Gestaltung –
Kerstin Schröder/Frank Rothe, Bielefeld/Berlin
Text und Fotos: Thomas Byczkowski, Hamburg
Foto Rita Süssmuth: Jan Voth, Bad Salzuflen
Druck: Hans Gieselmann Druck und Medienhaus GmbH & Co. KG, Bielefeld
www.bertelsmann-stiftung.de/verlag
»Die Geschichten sind so unterschiedlich wie die Geflüchteten selbst. ›Den Flüchtling‹ gibt es nicht. Die Menschen, und nicht nur die Zahlen – um sie geht es hier. Und genau ihre Lebenswege verdienen es, weitererzählt zu werden«, schreibt Prof. Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a. D., in ihrem Vorwort zu diesem Fotobuch. Im öffentlichen Diskurs prägen Negativschlagzeilen eine inzwischen polarisierte Diskussion über das Thema Flucht. Umso wichtiger ist es, die Geschichten der Geflüchteten zu erzählen: Geschichten mit ihren Schatten- und Sonnenseiten, mit Rückschlägen, Hoffnungen und auch Lichtblicken. Genau das ist der Anspruch dieses Buches. »Menschen – keine Zahlen« bestätigt die Redewendung »Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte«. Ausdrucksvolle Porträts und Fotos von Geflüchteten erzählen die Geschichten und werden abgerundet durch kurze Texte. Über zwei Jahre hat der Autor und Fotograf Thomas Byczkowski Geflüchtete begleitet, sie porträtiert, ihre Geschichten angehört und aufgeschrieben. Daraus sind Texte und Fotos entstanden, die von Erfolgen und Misserfolgen erzählen: Geschichten, die das Leben geschrieben hat.