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Helden
GUY NOËL STEHT AM HAFEN von Nyon, schaut auf die glitzernde Wasseroberfläche hinaus und weiter zum rund vier Kilometer entfernten französischen Ufer auf der gegenüberliegen-den Seeseite. Ein Fischerboot legt an. Noël grüsst den Fischer und wechselt ein paar Worte mit ihm. Nyons Hafen ist wie ein kleines Dorf, jeder kennt hier jeden.
„Ich kam zufällig zu den Wasserrettern“, gesteht der Präsident der Sektion Nyon der Société Internationale de Sauvetage du Lac Léman (SISL). Der freiwillige Wasserrettungsdienst ist seit 130 Jahren auf dem gesamten Genfersee im Einsatz. Die Sektion Nyon ist eine der 34 Rettungsgruppen, die entlang des 200 Kilo-meter langen Ufers auf schweizerischer und französischer See-seite im Einsatz sind. „Ich kannte ein paar Leute, die bei der Ret-tung mitmachten, und schaute einmal vorbei. Da hat es mir sofort den Ärmel reingenommen.“ Das war 1974. Damals musste man noch von zwei Mitgliedern empfohlen werden und sich ein Jahr lang bewähren, bevor man offiziell in den Verein aufgenommen wurde. Heute sind keine Empfehlungen mehr nötig, eine Probe-zeit gibt es aber nach wie vor. Denn die ehrenamtlichen Rettungs-einsätze sind sehr anspruchsvoll.
Die Hafenmauer bildet die Grenze zwischen zwei Welten. Jenseits dieser Grenze, auf dem See, regiert die Bise. Bläst sie ➸
Guy Noël und sein Team sind zur Stelle, wenn
jemand auf dem Genfersee in Not gerät
Die Schutzengel vom Lac Léman
VON SYLVIE CASTAGNÉ
| 12•201514
R E A D E R ’ S D I G E S T
„Wenn jemand ins Wasser fällt,
zieht ihn das Gewicht der
durchnässten Kleider schnell nach unten.“
stärker, treibt sie meterhohe Wellen
vor sich her. Unter solchen Bedin
gungen erfordern die Rettungsein
sätze viel Kraft und Konzentration.
Bereits 49mal waren die Wasser
retter der Sektion Nyon bis zum Ende
der Sommersaison 2015 im Einsatz.
Meistens war es nichts Schlimmes.
Manchmal sind es nur
ein paar Hobbysegler,
die nachts auf dem
Rückweg vom Ausgang
in Frankreich mitten
im dunklen See nicht
mehr weiterkommen.
Einen einzigen tragi
schen Fall gab es dieses
Jahr zu beklagen. Ein
68jähriger Mann fuhr
mit seinem kleinen
Motorboot von Pran
gins aus auf den See
hinaus, um zu fischen. Etwa hundert
Meter vom Hafen entfernt fiel er ins
Wasser. Ein Passant, der den Unfall
vom Ufer aus beobachtet hatte, rief
den Hafenmeister. Dieser alarmierte
die Polizei und eilte dem Verunfall
ten zur Hilfe. Die Polizei bot inzwi
schen die Wasserretter auf.
Der Verunglückte war innerhalb
weniger Minuten vier Meter tief ab
gesunken. Der Hafenmeister holte
ihn herauf, zog ihn aus dem Wasser
und begann mit der Herzdruckmas
sage. „In weniger als einer Viertel
stunde war der erste Wasserretter zur
Stelle und löste den Hafenmeister
bei den Wiederbelebungsversuchen
ab“, erinnert sich Noël sichtlich be
wegt. Sie mussten aber feststellen,
dass die Lungen des Mannes mit
Wasser gefüllt waren. Die Chancen,
ihn zu retten, waren gering und er
verstarb wenig später im Spital.
Die Wasserrettungssektion Nyon
hat 224 Mitglieder, davon 72 Aktiv
mitglieder und 20 junge
Anwärterinnen und An
wärter in der Probezeit.
Die Sektion organisiert
regelmässig Kurse für
ihre Mitglieder: Leinen
und Knotenkunde, Tau
chen, Rettungsschwim
men, Erste Hilfe. Der
Teamgeist werde zu
dem in wöchentlichen
Ruder trainings gepflegt,
so Noël. Gerade für die
Anwärter seien die
Kurse wichtig. Sie müssten aber auch
bei den Sammelaktionen wie dem
Vereinslotto oder dem Glühwein
verkauf mitwirken.
Den grössten Aufwand betreiben
die Wasserretter für den Rettungs
posten. Da fast zwei Drittel der
Einsätze auf die Sommersaison ent
fallen, ist der Posten an den Wochen
enden von Mai bis September durch
gehend besetzt. In der übrigen Zeit
werden Wassernotrufe über die
Nummer 117 an die Retter weiter
geleitet. 18 Wasserretter erhalten
dann gleichzeitig einen Alarm übers
Handy oder über einen Pager. Sie
machen sich so schnell wie möglich
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Die Seeretter halten sich fit: Guy Noël
mit einem der gewonnenen Pokale des
hauseigenen Ruderclubs
auf zum Hafen. Die drei Ersten, die
dort ankommen, springen in ein
Einsatzboot, der Vierte bleibt im
Hafen am Funkgerät. Der Ablauf ist
genau festgelegt, denn im Notfall
zählt jede Minute. „Wenn jemand
ins Wasser fällt, zieht ihn das Ge
wicht der durchnässten Kleider
nach unten“, erklärt Guy Noël.
Bereits 1885 begannen sich die
Wasserretter zu organisieren. Da
mals waren sie noch mit Ruder
booten im Einsatz. Die dunkelsten
Kapitel aus der traditionsreichen
und manchmal dramatischen
Geschichte des Wasserrettungs
dienstes präsentiert das Musée
du Léman in Nyon in einer Multi
mediaAusstellung.
Ein Unglück, das vielen Einhei
mischen noch präsent ist, ist der
Untergang des Passagierschiffs
Fraidieu im August 1969, bei dem
24 Menschen ums Leben kamen,
darunter 14 Waisenkinder, die am
Genfersee in einem Ferienlager
waren. Schon im Jahr darauf erlitt
mit der Sainte-Odile ein weiteres
Passagierboot Schiffbruch. Nach die
sen tragischen Unfällen wurde die
Schifffahrt auf dem Genfersee stärker
reglementiert und es wurden Sturm
warnleuchten installiert.
In Nyon bringt man den Wasser
ret tern grossen Respekt entgegen.
Man weiss, dass der ehrenamtliche
Rettungsdienst von unschätzbarem
Wert ist. Schliesslich kann jede und
jeder irgendwann auf sie angewiesen
sein. Denn wenn der Sturm das
Wasser aufwühlt, wird es auf dem
See gefährlich. Trügerische Wellen
und heftige Windstösse können
Boote zum Kentern bringen. Mal
muss ein übermüdeter Kitesurfer
an Land gebracht werden, mal eine
Familie mit leerer Bootsbatterie.
Doch die Arbeit von Guy Noël
kennt auch heitere Seiten: zum Bei
spiel wenn der Ruderclub der Ret
tungs gesellschaft an Regatten teil
nimmt oder Schwimm sportveran
stal tungen begleitet.