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Das Asperger-Syndrom im

Erwachsenenalter

Tebartz van Elst (Hrsg.)

Das AspergerSyndrom im

Erwachsenenalter

Ludger Tebartz van Elst (Hrsg.)

und andere hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen

2. Aufl age

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Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

Ludger Tebartz van Elst (Hrsg.)

Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter

2. Auflage

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Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

Ludger Tebartz van Elst (Hrsg.)

Das Asperger- Syndrom im

Erwachsenenalterund andere hochfunktionale

Autismus-Spektrum-Störungen

2. Auflage

mit Beiträgen von

M. Biscaldi | S. Dern | R. Döhle | D. Ebert | T. Fangmeier | C. Hanisch V. Haser | I. Hermann | A. Isaksson | L. Klom | A. Lichtblau | S. Nedjat

M. Paschke-Müller | J. Peters | A. Philipsen | M. Pick | M. Radtke R. Rauh | H. Richter † | A. Riedel | U.M. Schaller | M. Schlatterer

H. Seng | U. Sünkel | L. Tebartz van Elst | K. Winter

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Der Herausgeber

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Zimmerstr. 11 10969 Berlin www.mwv-berlin.de

ISBN 978-3-95466-251-7 (eBook: PDF)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2016

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Die Verfasser haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Daher kann der Verlag für Angaben zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen (zum Beispiel Dosierungsanweisungen oder Applikationsformen) keine Gewähr übernehmen. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website.

Produkt-/Projektmanagement: Susann Weber, Berlin Lektorat: Monika Laut-Zimmermann, Berlin Layout & Satz: eScriptum GmbH & Co KG – Digital Solutions, Berlin

Zuschriften und Kritik an: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Zimmerstr. 11, 10969 Berlin, [email protected]

Prof. Dr. med. Ludger Tebartz van ElstKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Klinik für Psychiatrie und PsychotherapieSektion Experimentelle NeuropsychiatrieHauptstr. 579104 Freiburg

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Dr. med. Monica BiscaldiKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und JugendalterHauptstr. 879104 Freiburg

Sebastian DernMaastricht, [email protected]

Rainer DöhleLoewenhardtdamm 512101 Berlin

Prof. Dr. Dieter EbertKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieSektion Experimentelle NeuropsychiatrieHauptstr. 579104 Freiburg

Dr. phil. Thomas FangmeierKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieSektion Experimentelle NeuropsychiatrieHauptstr. 579104 Freiburg

Dipl.-Chem. Carola HanischInnsbruck, Österreich

Dr. phil. Verena HaserAlbert-Ludwigs-Universität FreiburgEnglisches SeminarRempartstr. 1579085 Freiburg

Ismene HermannKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieHauptstr. 579104 Freiburg

Dr. med. Dipl.-Psych. Alexandra IsakssonKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieHauptstr. 579104 Freiburg

Leonie KlomMüllheim

Dipl.-Psych. Andrea LichtblauKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieHauptstr. 579104 Freiburg

Dr. med. Schide NedjatBogenstr. 1548143 Münster

Dipl.-Psych. Mirjam Paschke-MüllerKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und JugendalterHauptstr. 879104 Freiburg

Dr. med. Julia PetersFliedner Klinik BerlinMarkgrafenstr. 3410117 Berlin

Univ.-Prof. Dr. med. Alexandra PhilipsenMedizinischer Campus Universität OldenburgFakultät für Medizin und GesundheitswissenschaftenUniversitätsklinik für Psychiatrie und PsychotherapieKarl-Jaspers-KlinikHermann-Ehlers-Straße 726160 Bad Zwischenahn/Oldenburg

Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Marion PickKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieHauptstr. 579104 Freiburg

Dipl.-Psych. Martina RadtkeKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieHauptstr. 579104 Freiburg

Dr. phil. Dipl.-Psych. Reinhold RauhKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und JugendalterHauptstr. 879104 Freiburg

Die Autoren

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Die Autoren

Dr. Harald Richter †Klinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieSektion Experimentelle NeuropsychiatrieHauptstr. 579104 Freiburg

Dr. med. Dr. phil. Andreas RiedelKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieHauptstr. 579104 Freiburg

Dipl.-Psych. Ulrich Max SchallerKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und JugendalterHauptstr. 879104 Freiburg

Dr. Dipl.-Psych. Martina SchlattererKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieHauptstr. 579104 Freiburg

Hajo SengVirchowstr. 3320357 Hamburgwww.hajoseng.de

Ulrike SünkelTübingen

Prof. Dr. med. Ludger Tebartz van ElstKlinikum der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieSektion Experimentelle NeuropsychiatrieHauptstr. 579104 Freiburg

Dr. med. Klaas WinterHELIOS Kliniken SchwerinKlinik für Psychiatrie und PsychotherapieWismarsche Str. 393–39719055 Schwerin

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Vorwort zur 2. Auflage

Seit Erscheinen der Erstauflage dieses Buches ist das Autismus-Thema in den Medien fast noch populärer geworden. Kaum eine große Fernsehserie verzichtet auf den sym-pathischen Nerd, der sonderbar und anders ist und zur Unterhaltung in Form vieler kommunikativer Missverständnisse beiträgt. Und auch in den Printmedien erfreut sich das Thema einer ungebrochenen Popularität. In einem eigentümlichen Gegen-satz dazu spielt der Autismus im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie und –psycho-therapie nach wie vor nur eine randständige Rolle. An den meisten Uni- und Fach-kliniken gibt es immer noch kein spezifisches diagnostisches und therapeutisches Angebot. Und auch der Versuch, für autistische Patientinnen und Patienten kompe-tente ambulante psychotherapeutische Hilfe zu organisieren, ist vielerorts zum Scheitern verurteilt.

Dabei belegen die jüngsten Zahlen des Center for Disease Control, dass die Prävalenz von Autismus-Spektrum-Störungen in den USA aktuell mit etwa 1,5% angegeben wird. Damit liegt sie erkennbar oberhalb der Häufigkeit der schizophreniformen Stö-rungen. Aber nicht nur im klassisch psychiatrischen Setting, sondern auch in der ambulanten und stationären Psychotherapie werden Therapeuten ständig mit dem Thema konfrontiert – oft ohne es zu wissen. Denn das mit dem Autismus verbunde-ne Anders-Sein ist mit erheblichen negativen Konsequenzen in Hinblick auf die Ak-zeptanz der Betroffenen in ihrem gesellschaftlichen und privaten Umfeld und am Arbeitsplatz verbunden. Die klinische Erfahrung zeigt, dass insbesondere der hoch-funktionale Autismus oft als Basisstörung für sich sekundär daraus entwickelnde atypische oder komplexe psychische Störungen fungiert. Zunehmend wird auch klar, dass gerade im Bereich der psychotherapeutischen Medizin viele Menschen unter der Diagnose einer atypischen Depression, sozialen Phobie, Anpassungsstörung oder narzisstischen oder Borderline-Persönlichkeitsstörung gesehen werden, für die der bis dato nicht erkannte Autismus schließlich zum Schlüssel für das Verständnis der komplexen Symptome und Probleme wird.

Umso erfreulicher ist es, dass der Erfolg dieses Buches zeigt, dass das Interesse an der Thematik in Fachkreisen groß ist. Daher konnte bereits nach 3 Jahren eine aktuali-sierte und erweiterte Neuauflage herausgebracht werden. Unverändert wird der Weg zur sicheren Diagnose einer hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störung gewie-sen. Dabei wurden nun die Neuentwicklungen durch das DSM-5 berücksichtigt. Aus-führlich werden die klassischen und sehr häufigen psychischen Komorbiditäten the-matisiert, die das Erkennen eines Autismus erschweren können. Umfassend werden therapeutische Interventionsmöglichkeiten wie Einzel- über Gruppenpsychotherapie inklusive des FASTER-Konzepts sowie stationäre und medikamentöse Therapie vor-gestellt. In neuen Kapiteln wurden die Therapiemöglichkeiten und –wirklichkeiten in der ambulanten psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxis sowie die Be-deutung der Diagnose auch für Angehörige ergänzt.

Ich hoffe, dass das Buch dazu beitragen kann, Neugier an diesem spannenden und oft sehr faszinierenden Themenbereich zu erwecken und Ideen zu vermitteln, wie den betroffenen Menschen bei der Bewältigung ihres Lebens geholfen werden kann.

Freiburg, November 2015Ludger Tebartz van Elst

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Geleitwort zur 1. Auflage

Noch vor etwa 10 Jahren war die Diagnose eines Asperger-Syndroms oder anderer hochfunktionaler Autismus-Spektrum-Störungen an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg so gut wie inexistent. Das hat sich nach Einführung des Schwerpunkts Autismus-Spektrum-Störungen im Jahr 2004 entscheidend geändert. Nun werden im klinischen Alltag Autismus-Spektrum-Diag-nosen endlich adäquat erkannt, wo zuvor nur atypische Depressionen, Angsterkran-kungen, schizoide Persönlichkeitsstörungen oder Anpassungsstörungen im Zusam-menhang mit schwer zu verstehenden sozialen Konflikten gesehen wurden. Aber auch bei sich nicht klassisch präsentierenden Zwangsstörungen oder psychotischen Krankheitsbildern, etwa im Sinne einer Schizophrenia simplex, werden inzwischen immer wieder Patienten identifiziert, deren Symptome und Leidensgeschichten erst nach Diagnose der hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störung sowohl für die Patienten als auch für die Behandler adäquat verstehbar werden.

Der in den letzten Jahren an unserer Klinik gewachsene Eindruck, dass derartige hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen durchaus häufig sind und auch gegenwärtig schon im Kontext der Psychiatrie und Psychotherapie behandelt werden ohne unbedingt als solche erkannt zu werden, wird durch jüngste populations-basierte epidemiologische Studien, die eine entsprechende Prävalenzrate von über 1% nahelegen, unterstützt.

Dabei erscheint es wahrscheinlich, dass der Blick auf die Autismus-Spektrum-Stö-rungen aus der Perspektive der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie ein an-derer sein kann, als der aus der Perspektive der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Denn viele der im Erwachsenenalter diagnostizierten Patien-ten können auf gute individuelle Kompensationsmöglichkeiten bzw. eine sehr gute psychosoziale Unterstützungsstruktur zurückgreifen, die es ihnen ermöglicht hat, lange Zeit erfolgreich mit den primären Autismus-spezifischen Problemen und Schwächen umzugehen. Die genaue biografische Analyse zeigt aber auch in diesen Fällen, dass sich dennoch eine lebenslange, oft stille Leidensgeschichte hinter dem eigenen Anders-Sein verbirgt.

Gerade deshalb ist die Identifikation der Autismus-Spektrum-Störung in diesem Zu-sammenhang so wichtig. Denn sie bietet für Patienten wie auch für Behandler ein angemessenes und überzeugendes Verstehensmodell der klinischen Symptomatik und Problematik. Damit ist sie auch Voraussetzung für eine den Patienten angemes-sene Therapieplanung und -gestaltung.

Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass die Autoren dieses Buches ein Werk vorlegen, in dem die besondere Problematik der Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter ins Zentrum des Interesses gerückt wird. Besonders hervorzuhe-ben ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass ein erstes gruppenpsycho-therapeutisches Therapieprogramm entwickelt wurde – und aktuell evaluiert wird – welches auf die spezifischen Symptome und Probleme erwachsener Menschen mit hochfunktionalem Autismus zugeschnitten ist (FASTER-Konzept, s. Kap. IV.6).

Ich verbinde mit dieser Buchpublikation die Hoffnung, dass eine umfassende Auf-klärung und Weiterbildung im Hinblick auf dieses Störungsbild es zukünftig allen Ärztinnen und Ärzten sowie Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychothe-

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Geleitwort zur 1. Auflage

rapeuten erleichtern wird, die klinische Symptomatik nicht nur angemessen zu er-kennen, sondern auch spezifische und für die Patientengruppe zugeschnittene the-rapeutische und insbesondere psychotherapeutische Interventionen in die Wege zu leiten.

Freiburg, November 2012Mathias Berger

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Vorwort zur 1. Auflage

Das Asperger-Syndrom (AS) und die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) haben lange Zeit keine wesentliche Rolle in der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie ge-spielt. Dies hat sich in der letzten Dekade dramatisch geändert. Wurde die Prävalenz in den 80er- und frühen 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts in den gängigen Lehr-büchern noch im Promillebereich angegeben, so wird basierend auf neuesten epi-demiologischen Untersuchungen nun von Prävalenzraten von bis zu 2,6% für die All-gemeinbevölkerung ausgegangen. Ein wichtiger Grund für diese Entwicklung ist der, dass zunehmend auch leichter ausgeprägte Formen der ASS als solche erkannt und in den Zahlenwerken berücksichtigt werden.

Dies ist wiederum der Grund dafür, dass das Asperger-Syndrom und die Autismus-Spektrum-Störungen auch für die Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie enorm an Bedeutung gewonnen haben. Denn es sind vor allem die leichter betroffe-nen autistischen Menschen, die über Sprache, eine durchschnittliche bis hohe Intel-ligenz und vor allem gute Kompensationsstrategien verfügen und die im Hinblick auf ihre autistischen Eigenschaften lange unerkannt bleiben und ihre Schulzeit und ge-legentlich auch das Studium überstehen, ohne dass es zu schweren interpersonellen Konflikten oder psychosozialen Krisen kommt. Vor allem aber nach dem Ende der sehr geregelten Schulzeit steigen die Anforderungen an soziale Kommunikation in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit deutlich an. Damit verbunden kommt es bei diesen Menschen oft zu Überforderungssituationen, interpersonellen Konflikten und Erfah-rungen des Scheiterns, die in der Folge zu Depressionen, Angsterkrankungen, Soma-tisierungsstörungen, dissoziativen Anspannungszuständen, Selbstverletzungen, Ess-störungen etc. führen. Erst diese – aus dem autistischen Anders-Sein resultierende – Symptomatik führt diese Menschen dann zum Arzt oder Psychotherapeuten, wo sie wegen ihrer eigenartigen Kommunikation und Präsentation oft unter Diagnosen wie atypische Depression, atypische Angststörungen, atypische Psychosen, atypische Zwangsstörung, atypi-sche Borderline-Persönlichkeitsstörung etc. behandelt werden. Das Atypische kann in diesem Zusammenhang aus der Perspektive der Erwachsenenpsychiatrie und -psychothera-pie gerade als das Typische bis dato nicht diagnostizierter Menschen mit ASS begrif-fen werden. In dieser Konstellation muss die ASS als Basisstörung für die sekundär sich daraus entwickelnden atypischen psychischen Störungen begriffen werden. Für die Betroffenen als auch für die Behandler erweist sich dann aber die korrekte Diagnose-stellung meist als der Schlüssel zu einem adäquaten Verständnis der Genese der Sym-ptome und damit auch als der Schlüssel zu einer angemessenen Therapie.

Für viele Betroffene ist darüber hinaus die Diagnosestellung für ihr Selbstbild und ihre Selbstakzeptanz von zentraler Bedeutung. Denn sie liefert eine überzeugende Erklärung für das eigene Anders-Sein und die Kette von schwer zu verstehenden Kon-flikten und Missverständnissen, die sich oft wie ein roter Faden durch das Leben au-tistischer Menschen ziehen.

Die Erkenntnis, dass das autistische Eigenschaftscluster in der Bevölkerung nicht nur kategorial (vorhanden oder nicht) sondern auch dimensional (mehr oder weni-ger stark ausgeprägt) verteilt ist, findet unter anderem ihren Niederschlag darin, dass neuerdings von Begriffen wie Autismus-Spektrum-Störung oder „broader autism phenotype“ die Rede ist. Die dimensionale Betrachtungsweise autistischer Syndrome als Eigenschaftscluster mit mehr oder weniger starkem Ausprägungsgrad beinhaltet

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Vorwort zur 1. Auflage

dabei die Gefahr, dass der Autismus-Begriff zunehmend aufgeweicht wird. Dement-sprechend kann aktuell sowohl in Fachkreisen als auch in Internetforen betroffener Menschen eine heftige Diskussion darüber beobachtet werden, wie diagnostisch mit den leichter betroffenen Varianten des autistischen Phänotyps umgegangen werden soll. Dabei werden von Experten wie von Betroffenen zum einen integrative Stand-punkte vertreten und zum anderen auch solche Positionen, die den Autismus-Begriff nur schwereren Formen vorbehalten wollen.

Diese Diskussion ist vor allem für die Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie von Bedeutung, weil vorrangig hier die Menschen vorstellig werden, die qualitativ zwar die Kriterien für die Diagnose einer ASS seit frühester Kindheit erfüllen (Beson-derheiten der perzeptiven Wahrnehmung, Besonderheiten der sozialen Wahrneh-mung und Kompetenz, Besonderheiten der sprachlichen Wahrnehmung und Kom-munikation, Probleme bei der verbalen und nonverbalen Kommunikation, Beson-derheiten der Aufmerksamkeits- und Interessensteuerung, Bedürftigkeit nach Rou-tinen und geregelten Abläufen, Rigidität, Besonderheiten der Affektregulation), bei denen dies quantitativ aber abhängig davon, wie die Definitionskriterien für die Au-tismus-Diagnose gewählt werden, auch nicht der Fall sein kann. Zu dieser Thematik ist etwa in den USA jüngst auch in der Öffentlichkeit und den Printmedien eine sehr heftige Debatte entbrannt, nachdem klar wurde, dass im Rahmen der Neufassung der Diagnosekriterien im DSM-5 verbunden mit der neuen Begrifflichkeit der ASS die entsprechenden Definitionskriterien verschärft wurden.

Eben diesem Themenbereich – d.h. dem Asperger-Syndrom und den hochfunktiona-len Autismus-Spektrum-Störungen – widmet sich das vorliegende Multiautorenbuch. Das heißt, dass gerade der sehr hochfunktionale Ausschnitt aus dem Spektrum der autistischen Krankheiten und Eigenschaften im Zentrum der Thematik dieses Bu-ches steht. Denn gerade diese Menschen werden vorrangig in der Erwachsenenpsy-chiatrie und -psychotherapie vorstellig. Dabei hat das Buch den Anspruch, die The-matik umfassend aus verschiedensten Perspektiven zu beleuchten.

In einer einleitenden Sektion werden zunächst grundsätzliche Aspekte zu Historie, Klinik, Neurobiologie, Psychometrie und Verlauf des Autismus vorgestellt. In einem zweiten Schwerpunktbereich geht es um die diagnostischen Verfahren und die dies-bezüglichen Besonderheiten im Hinblick auf hochfunktionale, erwachsene, autisti-sche Menschen. Die klinische Präsentation aus der Perspektive der Erwachsenenpsy-chiatrie und -psychotherapie wird in der dritten Sektion abgehandelt. Dabei wird ein Fokus auf die Beschreibung der typischen psychiatrischen Komorbiditäten gelegt, da es häufig diese sind, wegen derer sich Menschen mit ASS zunächst beim Arzt oder Psychotherapeuten vorstellen. Darauf aufbauend werden in der vierten Sektion the-rapeutische Optionen thematisiert. Sowohl einzeltherapeutische als auch gruppen-therapeutische, stationäre und ambulante sowie psychotherapeutische, pharmako-therapeutische und sozialpsychiatrische Interventionen werden dabei vorgestellt. Schließlich werden in einer abschließenden Sektion sozialmedizinische, rechtsme-dizinische, versorgungspolitische sowie persönliche Aspekte zu den ASS behandelt.

Bei den Autoren dieses Buches handelt es sich vorrangig um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 1 des Universitären Zentrums Autismus Spektrum (UZAS) Freiburg. Dabei

1 Im weiteren Text soll aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die parallele Verwendung von weiblichen und männlichen Formen verzichtet werden. Natürlich sind dabei aber immer Frauen und Männer in gleicher Form gemeint.

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Vorwort zur 1. Auflage

handelt es sich um eine Gruppe von wissenschaftlich tätigen Ärzten, Psychologen, Therapeuten sowie Neurobiologen aus den Bereichen der Kinder- und Jugend- sowie der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie, die seit etwa 2004 gemeinsam zu dieser Thematik arbeiten und forschen und sich seit 2011 zu einer gemeinsamen For-schergruppe zusammengefunden haben. Darüber hinaus wurden einige Kapitel von wissenschaftlich aktiven autistischen Menschen erstellt, die neben ihrer inhaltlichen Kompetenz auch ihre eigenen Erfahrungen mit dem Autistisch-Sein aus unmittelba-rer Perspektive einbringen konnten, worüber ich mich besonders gefreut habe.

Das Buch richtet sich in erster Linie an Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten, Heil-pädagogen und alle diagnostisch und therapeutisch tätigen Menschen, die sich mit hochfunktional autistischen Betroffenen beschäftigen, und versuchen, diesen bei der Bewältigung ihrer spezifischen Probleme zu helfen. Die Autoren wollen mit die-sem Buch nicht nur Informationen und Anregungen für eine bessere Diagnose und Therapie der hochfunktionalen ASS zur Verfügung stellen, sondern auch einen Ein-druck von der Faszination und der Bereicherung vermitteln, die von diesen Menschen mit ihren oft sehr eigenen und originellen Umgangsweisen mit den Herausforderun-gen des Lebens ausgehen.

Freiburg, November 2012 Ludger Tebartz van Elst

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Inhalt

I Grundlagenwissen ______________________________________________ 1

1 Asperger-Syndrom und Autismusbegriff: historische Entwicklung und moderne Nosologie _________________________ 3Ludger Tebartz van Elst, Monica Biscaldi und Andreas Riedel

2 Symptomatik und Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie __________________________________ 16Monica Biscaldi

3 Die hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter – Symptomatik und Klassifikation _______________________________________ 27Ludger Tebartz van Elst

4 Spezifische mit Autismus-Spektrum-Störungen vergesellschaftete Syndrome __ 36Andreas Riedel

5 Pathogenetische Modelle ____________________________________________ 46Thomas Fangmeier

6 Ätiologie der Autismus-Spektrum-Störungen ____________________________ 69Ulrich Max Schaller

7 Verlauf und Prognose _______________________________________________ 86Monica Biscaldi und Andreas Riedel

8 Ist das Asperger-Syndrom eine Krankheit? ______________________________ 93Hajo Seng

9 Die Bedeutung der Autismus-Spektrum-Störungen für die Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie ______________________ 98Ludger Tebartz van Elst

II Diagnostik _____________________________________________________ 107

1 Klinische Diagnostik und Erfahrungen aus der Sprechstunde für Autismus-Spektrum-Störungen _____________________________________ 109Andreas Riedel

2 Neuropsychologische Untersuchungen _________________________________ 132Thomas Fangmeier und Reinhold Rauh

3 Psychometrische Untersuchungen _____________________________________ 151Reinhold Rauh und Thomas Fangmeier

4 Zusatzuntersuchungen ______________________________________________ 174Ludger Tebartz van Elst

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Inhalt

III Komorbiditäten und atypische Präsentationen _______________________ 183

1 Autismus-Spektrum-Störungen und die Schizotype Störung ________________ 185Klaas Winter

2 Autismus-Spektrum-Störungen und Depressionen ________________________ 193Martina Radtke

3 Autismus-Spektrum-Störungen und Angsterkrankungen ___________________ 200Martina Radtke

4 Autismus-Spektrum-Störungen und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung __________________________ 207Alexandra Philipsen

5 Autismus-Spektrum-Störungen und Ticstörungen _________________________ 213Ludger Tebartz van Elst

6 Autismus-Spektrum-Störungen und schizophreniforme Störungen ___________ 218Ludger Tebartz van Elst und Klaas Winter

7 Autismus-Spektrum-Störungen und Borderline-Persönlichkeitsstörung _______ 228Ludger Tebartz van Elst, Harald Richter † und Alexandra Philipsen

8 Autismus-Spektrum-Störungen und abnormes Essverhalten bzw. Essstörungen ______________________________ 233Alexandra Isaksson

9 Autismus-Spektrum-Störungen und Zwangssyndrome _____________________ 238Alexandra Isaksson

10 Autismus-Spektrum-Störungen und somatoforme Störungen _______________ 245Marion Pick, Andrea Lichtblau und Martina Radtke

IV Therapie ______________________________________________________ 253

1 Die Organisation der Nische __________________________________________ 255Ludger Tebartz van Elst

2 Medikamentöse Therapie im Erwachsenenalter __________________________ 264Ludger Tebartz van Elst

3 Psychotherapie der Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter _____ 278Julia Peters, Dieter Ebert, Thomas Fangmeier, Andrea Lichtblau, Monica Biscaldi und Ludger Tebartz van Elst

4 Einzelpsychotherapie ________________________________________________ 286Andreas Riedel

5 Gruppenpsychotherapie: KJPP-Konzepte ________________________________ 294Monica Biscaldi und Mirjam Paschke-Müller

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Inhalt

6 Das Freiburger AspergerSpezifische Therapiekonzept für ERwachsene (FASTER-Konzept) ___________________________________________________ 304Julia Peters, Dieter Ebert, Thomas Fangmeier, Andrea Lichtblau, Monica Biscaldi und Ludger Tebartz van Elst

7 Stationäre Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen ___________________ 312Marion Pick, Martina Schlatterer, Klaas Winter, Martina Radtke und Ludger Tebartz van Elst

8 Ambulante Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis ________________________ 324Schide Nedjat

9 Selbsthilfekonzepte _________________________________________________ 331Rainer Döhle

V Autismus-Spektrum-Störungen im sozialen Umfeld ____________________ 339

1 Autismus-Spektrum-Störungen und die Arbeitswelt _______________________ 341Ulrike Sünkel

2 Zwischenmenschliche Beziehungen bei Autismus-Spektrum-Störungen _______ 357Leonie Klom und Andrea Lichtblau

3 Autismus und Kreativität _____________________________________________ 363Hajo Seng

4 Autismus-Spektrum-Störungen und Sprache _____________________________ 369Verena Haser, Ismene Hermann und Andreas Riedel

5 Forensische Aspekte ________________________________________________ 377Dieter Ebert und Andreas Riedel

6 Gesundheitsversorgung und Versorgungsforschung für Menschen im Autismus-Spektrum ______________________________________________ 385Sebastian Dern

7 Die Diagnose Asperger-Autismus bei einer 17-jährigen Frau – aus Sicht der Mutter ________________________________________________ 413Carola Hanisch

Sachwortverzeichnis _______________________________________________________ 421

Die Autoren ______________________________________________________________ 429

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1 Asperger-Syndrom und Autismusbegriff: historische Entwicklung und moderne Nosologie _________________________________ 3Ludger Tebartz van Elst, Monica Biscaldi und Andreas Riedel

2 Symptomatik und Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie __________________________________________ 16Monica Biscaldi

3 Die hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter – Symptomatik und Klassifikation _______________________________________________ 27Ludger Tebartz van Elst

4 Spezifische mit Autismus-Spektrum-Störungen vergesellschaftete Syndrome __________ 36Andreas Riedel

5 Pathogenetische Modelle ____________________________________________________ 46Thomas Fangmeier

6 Ätiologie der Autismus-Spektrum-Störungen ____________________________________ 69Ulrich Max Schaller

7 Verlauf und Prognose _______________________________________________________ 86Monica Biscaldi und Andreas Riedel

8 Ist das Asperger-Syndrom eine Krankheit? ______________________________________ 93Hajo Seng

9 Die Bedeutung der Autismus-Spektrum-Störungen für die Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie ______________________________ 98Ludger Tebartz van Elst

II Grundlagenwissen

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1 Asperger-Syndrom und Autismusbegriff: historische Entwicklung und moderne NosologieLudger Tebartz van Elst, Monica Biscaldi und Andreas Riedel

Nach ICD-10 ist das Asperger-Syndrom charakterisiert durch qualitative Einschränkungen der sozialen Interaktion, Problemen in der zwischenmenschlichen Kommunikation bei gleichzeitig eingeschränktem Verhaltensrepertoire, dem Hang zu repetitiven stereotypen Verhaltensmustern und eingeschränkten stark fokussierten Interessensgebieten. Die Tatsache, dass diese stabilen Persönlichkeitseigenschaften bei gleichzeitig fehlender Sprachentwicklungsverzögerung „Asperger-Syndrom“ genannt werden, hebt die Beschreibung dieses klinischen Bildes durch Hans Asperger (1906–1980) hervor. Dieser benutzte al-lerdings den Begriff der „autistischen Psychopathie“. In früheren weitgehend ähnlichen Beschreibungen der russischen Ärztin Grunja E. Ssucharewa (1891–1981) wird der Name „schizoide Psychopathie“ gewählt, wodurch bei hoher Ähnlichkeit des inhaltlich Gemeinten wiederum ein neuer begrifflicher Schwerpunkt gesetzt wird. Im heutigen Sprachgebrauch hat der Psychopathiebegriff einen Bedeutungswandel er-fahren und Asperger-Syndrom und Autismus werden in ICD-10 und DSM-IV als tief greifende Entwicklungs-störung verstanden. Ferner wird noch der Begriff des atypischen Autismus eingeführt. Diese Vielfalt an unterschiedlichen Begriffen für inhaltlich sehr ähnliche gemeinte Sachverhalte zeigt an, wie sehr das Denken über psychische Besonderheiten immer auch in die Konzepte, Theorien und Grundannahmen der Zeitgeschichte eingebunden sind. Sie machen aber auch klar, dass die Annahmen der Gegenwart auf einer Ideengeschichte und Theoriebildung der Vergangenheit aufbauen. Diese Geschichte der Ideen- und Begriffsbildung zum Asperger-Syndrom und Autismus soll Gegenstand dieses einleitenden Kapitels sein.

1.1 Historie der Begrifflichkeiten und Konzeptentwicklung

Als Hans Asperger 1944 in seiner Habilitationsschrift das später nach ihm benannte Asperger-Syndrom ausführlich beschrieb, benutzte er dafür den Begriff der „autisti­schen Psychopathie“. Grunja E. Ssucharewa beschrieb bereits 1926 ein recht ähnli-ches klinisches Bild und nannte es „schizoide Psychopathie“.

Hier klingen die zentralen Begriffe der Psychopathie, des Schizoiden und des Autismus an, die zunächst in ihrer Bedeutung und Geschichte begriffen werden müssen, um die Begriffswahl Ssuchorewas und Aspergers richtig verstehen und einordnen zu können.

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I Grundlagenwissen

Der Begriff Autismus (aus dem Griechischen von αὐτός „selbst“) wurde von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939) geprägt und beschreibt den sozialen Rückzug und ein Zurückweichen in die eigene Gedankenwelt bei immer spärlicherer Kommunikation bei Menschen mit schizophreniformen Störungen.

Der Begriff der Schizoidie geht auf Ernst Kretschmer (1888–1964) zurück, der für sei-ne Typenlehre und Konstitutionspsychologie 1921 für den Nobelpreis der Physiologie und Medizin vorgeschlagen wurde. Im Rahmen seiner Theorie führte er den Begriff des schizoiden Temperamentes ein, wobei er eine nosologische Nähe zur Schizophre-nie postulierte (Kretschmer 1921).

Der dritte kritische Begriff der Psychopathie hat in den letzten Dekaden einen gewis-sen Bedeutungswandel im Sinne einer Bedeutungseinengung und -verschiebung erlebt.

Ursprünglich und in der von Asperger gebrauchten Bedeutung ist der Begriff im heu-tigen Sprachgebrauch am ehesten als Persönlichkeitsstörung zu übersetzen. Gemeint sind damit zeit- und situationsstabile Eigenschaften einer Person wie etwa Extrover-tiertheit oder Introvertiertheit, emotionale Stabilität, Impulsivität, Ängstlichkeit, Fähigkeit zur sozialen Wahrnehmung und Anteilnahme etc. (vgl. Tebartz van Elst 2008). Im Konzept der Persönlichkeitsstörungen wird davon ausgegangen, dass sich solche Eigenschaften als stabile Cluster in der Kindheit oder Jugend herausbilden, im weiteren stabil sind und aufgrund charakteristischer und immer wiederkehren-der Verhaltens- und Erlebensmuster zu relevanten Beeinträchtigungen und zu Leiden bei den Betroffenen und Dritten führen.

Zu Zeiten Aspergers war der Begriff der Persönlichkeitsstörungen in dieser Form noch nicht bekannt und wurde konzeptuell am ehesten durch den Psychopathiebegriff re-präsentiert. Unter Psychopathie wurden also, ebenso wie heute unter dem Begriff der Persönlichkeitsstörung, zeit- und situationsstabile Muster im Wahrnehmen, Erleben und Handeln von Menschen verstanden (Aschoff 1968).

Ähnlich wie heute im Kontext der Diskussion zu den Persönlichkeitsstörungen die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von Normalität oder nicht, reaktiver Psychoge-nese oder schicksalhafter organischer Verursachung intensiv diskutiert werden (Te-bartz van Elst 2008), so war dies in völliger Analogie auch beim Psychopathiebegriff in der Vergangenheit der Fall (Remschmidt u. Kamp-Becker 2006).

Der heutige alltagssprachliche Psychopathiebegriff hat dagegen insofern einen Be-deutungswandel erfahren, als dass nun darunter besonders schwere Formen der dis-sozialen und antisozialen Persönlichkeitsstörung verstanden werden, die meist im Verlauf mit kriminellen Verhaltensweisen in einen Zusammenhang gebracht wer-den. Im fachsprachlichen Kontext wird in erster Linie auf die fehlende emotionale Empathie fokussiert.

Werden die Texte Aspergers oder anderer Autoren wie etwa Ssucharewa mit diesem modernen Psychopathiebegriff im Kopf gelesen, so kann es durchaus zu Missver-ständnissen im Hinblick auf die Denkweise etwa von Hans Asperger kommen.

Übersetzt in die moderne Sprache kann man also pointiert festhalten, dass Hans As-perger mit seiner Begriffswahl eine Art autistische Persönlichkeitsstörung mit Be­ginn im frühen Kindesalter beschrieb.

Diese Formulierung wird vor allem dann von Interesse, wenn man mit der klinischen Realität konfrontiert wird, dass angesichts der wachsenden Popularität der Autis-

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1 Asperger-Syndrom und Autismusbegriff: historische Entwicklung und moderne Nosologie Imus-Spektrum-Störungen zunehmend leichter Betroffene mit teilweise exzellenter psychosozialer Adaptation vorstellig werden.

1.2 Asperger-Syndrom und Kanner-Syndrom

Entscheidend für die Entwicklung des weiteren Autismusbegriffs und -konzepts wa-ren die Fallbeschreibungen von Hans Asperger und Leo Kanner (1894–1981).

Asperger beschrieb 1944 in seiner richtungweisenden Habilitation 4 Jungen im Alter von 6–8 Jahren, die deutliche Kontaktschwierigkeiten hatten, sich sozial in die Be-zugsgruppen nicht einordnen konnten, Kommunikationsprobleme aufwiesen und im emotionalen Erleben und Ausdrucksverhalten auffielen. Ebenso fielen eine mo-torische Ungeschicklichkeit und ein seltsames Sprachverhalten sowie ein eigenarti-ger Umweltbezug auf. Die Gemeinsamkeiten dieser 4 Kinder fasste Asperger unter 6 Kategorien zusammen, die die wesentlichen Kriterien des heute nach ihm benann-ten Syndroms beinhalteten.

An dieser Stelle sei aber noch einmal darauf hingewiesen, dass schon 1926 von Grunja E. Ssucharewa ein weitgehend ähnliches klinisches Bild bei 6 Kindern im Al-ter von 10–12 Jahren beschrieben wurde (Ssucharewa 1926). Ihrer in deutscher Sprache veröffentlichten Schrift erging es ähnlich wie der von Hans Asperger: sie wurde eben-so wie Aspergers Arbeit zunächst über Jahrzehnte ignoriert. Während Aspergers Arbeit erst nach einer Referenz in einer Fallserie von Lorna Wing (1981) international beachtet wurde, geschah dies im Falle von Ssucharewas Beschreibung erst durch eine späte Übersetzung ins Englische von Susan Wolff (1996).

Leo Kanner beschrieb 1943 in seiner Publikation 8 Jungen und 3 Mädchen, bei denen ihm schon sehr früh in der Entwicklung die fehlende Fähigkeit, emotionale Bezie-hungen aufzunehmen, aufgefallen war (Kanner 1943). Drei der Kinder sprachen gar nicht und die meisten der anderen wiesen Auffälligkeiten der Sprache auf. Beziehun-gen wurden insbesondere zu Objekten, aber weniger zu anderen Menschen aufge-nommen. Die meisten Kinder waren geräuschempfindlich, konzentrierten ihre Auf-merksamkeit auf kleine Teile oder Teilaspekte von komplexeren Dingen. Ihre Verhal-tensweisen waren rigide und stereotyp und sie erwiesen sich als extrem empfindlich im Hinblick auf Veränderungen der Umwelt und Tagesabläufe. Schon Kanner be-merkte, dass auch einige der Eltern teilweise verwandte Eigenschaften aufwiesen insofern, als dass sie hochintelligent waren, aber emotional distanziert auftraten und eine Tendenz aufwiesen, sich in Kunst und Wissenschaft zu vertiefen.

Damit war in Form dreier vergleichsweise kleiner Fallserien im Wesentlichen der Rahmen gesteckt für die konzeptuelle Entwicklung der autistischen Krankheiten oder Autismus-Spektrum-Störungen der heutigen großen Klassifikationssysteme DSM und ICD.

1.3 Moderne Klassifikation und Nosologie in DMS-IV und ICD-10

Das Asperger-Syndrom wurde 1992 in die Klassifikation psychischer Störungen der World Health Organisation (ICD-10) und 1994 in das DSM-IV der American Psychiatric Association aufgenommen. Beide fassen das Asperger-Syndrom gemeinsam mit an-deren tief greifenden Entwicklungsstörungen zusammen (WHO 1991).

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I Grundlagenwissen

Der Begriff Entwicklungsstörung ist dabei über folgende 3 Kriterien definiert:1. Der Beginn der Symptomatik liegt ausnahmslos im Kleinkindalter oder der Kindheit.2. Es ist eine Einschränkung oder Verzögerung in der Entwicklung von Funktionen zu beob-

achten, die eng mit der biologischen Reifung des Zentralnervensystems verbunden sind.3. Man beobachtet einen stetigen Verlauf, d.h. die für viele andere psychische Störungen

typischen Remissionen, Fluktuationen oder Rezidive sind nicht zu beobachten.

Neben den umschriebenen (z.B. Artikulationsstörung, expressive Sprachstörung, er-worbene Aphasie, Lese- Rechtschreibstörung etc.) und den kombinierten Entwick-lungsstörungen sind im Kapitel F8 des ICD-10 die verschiedenen autistischen Syndro-me als tief greifende Entwicklungsstörungen aufgelistet.

Dabei werden tief greifende Entwicklungsstörungen durch folgende spezifische Sym-ptomatik von den anderen Entwicklungsstörungen abgegrenzt (WHO 1991; S. 264):

Bei tief greifenden Entwicklungsstörungen, handelt es sich um eine „[...] Gruppe von Stö-rungen, die durch qualitative Beeinträchtigungen in gegenseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern sowie durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wieder-holendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten charakterisiert [...] (ist). Diese quali-tativen Abweichungen sind in allen Situationen ein grundlegendes Funktionsmerkmal der betroffenen Personen, variieren jedoch im Ausprägungsgrad. In den meisten Fällen besteht von frühester Kindheit an eine auffällige Entwicklung. Mit nur wenigen Ausnahmen sind die Störungen seit den ersten 5 Lebensjahren manifest. Meist besteht eine gewisse allgemeine kognitive Beeinträchtigung, die Störungen sind jedoch durch das Verhalten definiert, das nicht dem Intelligenzalter des Individuums entspricht (sei dieses nun altersentsprechend oder nicht). Er herrscht eine gewisse Uneinigkeit über die Unterteilung der Gesamtgruppe ‚Tiefgreifende Entwicklungsstörung‘ [...]“.

Es erscheint wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Zusammenfassung der klinischen Bilder in einem Kapitel auch nach Auffassung der Autoren des ICD-10 nicht bedeutet, dass diese eine einheitliche Ursächlichkeit der entsprechenden Symptome und Syn-drome beinhaltet. Ganz im Gegenteil weisen sie ganz explizit darauf hin, dass dies nicht der Fall ist. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen und zum Teil erkannten Ursachen für umschriebene und tief greifende Entwicklungsstörungen.

Im Kapitel 84 des ICD-10 werden dann 6 Formen der tief greifenden Entwicklungs-störungen aufgelistet und beschrieben, von denen 3 (frühkindlicher Autismus F84.0, atypischer Autismus F84.1, Asperger­Syndrom F84.5) bei der Differenzialdiagnose hochfunktional-autistischer Syndrome von besonderer Bedeutung sind. Entsprechen-de Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

Bei den übrigen 3 Formen tief greifender Entwicklungsstörungen handelt es sich um das Rett-Syndrom, die desintegrative Störung des Kindesalters und die hyperkineti-sche Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien. Letztere spielt insbesondere im Kontext hochfunktional-autistischer Syndrome keine wesentliche Rolle. Dennoch sind der Vollständigkeit halber die klinischen Charakteristika dieser 3 klinischen Bilder in Tabelle 2 kurz zusammengefasst.

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1 Asperger-Syndrom und Autismusbegriff: historische Entwicklung und moderne Nosologie ITab. 1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede von frühkindlichem Autismus, atypischem Autismus und

Asperger-Syndrom

frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom)

atypischer Autismus Asperger-Syndrom

Erstmanifestationsalter < 3 Jahre > 3 Jahre > 3 Jahre

Geschlechts verhältnis (m:w)

3:1 3:1 8:1

Kernsymptome qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion

qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation

repetitive, stereotype und zwangsartige Verhaltensweisen

Sprachentwicklungs-verzögerung

kein symbolisches Spiel

häufig beeinträchtigte aber stabile kognitive Funktionen

unvollständige Symptomatik

häufig geistige Behinderung

qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion

qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation

repetitive, stereotype und zwangsartige Verhaltensweisen und Interessen

Tab. 2 Kurzcharakterisierung anderer tief greifender Entwicklungsstörungen, die mit autistischen Syndromen einhergehen

ICD-10 Name Kurzbeschreibung Anmerkung

Rett-Syndrom F84.2 auf wahrscheinlich weitgehend unauffällige frühe Entwicklung folgt meist zwischen 7 und 24 Monaten eine autistische Entwicklung (autistische Regression) und ein Verlust erworbener Fähigkeiten im Gebrauch von Händen und Sprache, Handstereotypien, häufig Rumpfataxie, Apraxie, epileptische Anfälle; gelegentlich gewisse Erholung neurokognitiver Funktionen im Verlauf

X-chromosomal-dominante Erkrankung,

Mutation des MECP2-Gens auf dem X-Chromosom, tritt nur bei Mädchen auf

Andere desintegrative Störung des Kindesalters F84.3

(synonym: Heller Syndrom, kindliche Demenz)

gesicherte normale Entwicklung bis ins 3. Lebensjahr, dann Verlust erworbener neurokognitiver und motorischer Fähigkeit, Entwicklung affektiver Symptome (Angst, Agitiertheit) und eines autistischen Syndroms im Sinne einer autistischen Regression

gelegentlich klare neurologische Ursachen wie Enzephalitis, Enzephalopathie erkennbar, meist bleibt die konkrete Ursache unklar

Hyperkinetische Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungs-stereotypien F84.4

Kombination aus mittelgradiger bis schwerer Intelligenzminderung, entwicklungsbezogen unangemessen schwere Hyperaktivität und motorische Stereotypien

schlecht definierte Störung, unklarer nosologischer Status

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1.4 Asperger-Syndrom, hochfunktionaler Autismus und Autismus-Spektrum-Störungen

Autistische Syndrome finden zunehmend Beachtung und Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und den Medien. Dies ist vor allem sogenannten hochfunktionalen Autisten zu verdanken, d.h. Menschen, die trotz ihrer Behinderung durch die Sym-ptomatik aufgrund ihrer Talente und besonderen Begabungen im Leben oft außer-gewöhnliche Leistungen vollbringen. In diesem Zusammenhang hat sich im Alltag ein Sprachgebrauch verbreitet, nach dem der Begriff Asperger-Syndrom gleichbedeu-tend benutzt wird mit hochfunktionalem Autismus. Gleichzeitig werden die Begrif-fe frühkindlicher Autismus oder Kanner-Autismus gelegentlich gleichbedeutend mit „Autismus verbunden mit geistiger Behinderung“ benutzt.

Dies trifft aber nach den aktuellen Klassifikationsregeln weder nach ICD-10 noch nach DSM-IV zu. Denn wie aus Tabelle 1 hervorgeht, ist das differenzierende Kriterium der Spracherwerb bis zum 3. Lebensjahr. So können frühkindlich autistische Menschen durchaus hochfunktional und überdurchschnittlich intelligent sein und umgekehrt Menschen mit Asperger-Syndrom auch an einer geistigen Behinderung leiden.

Gerade wenn die Diagnose nicht in der Kindheit sondern erst retrospektiv im Erwach-senenalter gestellt werden soll, ist es zudem oft sehr schwer, sicher festzustellen, ob bis zum 3. Lebensjahr ein Spracherwerb tatsächlich stattgefunden hat oder nicht. Auf die Besonderheiten und besonderen Schwierigkeiten bei der Diagnose hochfunk-tional-autistischer Syndrome wird im Kapitel I.3 detailliert eingegangen.

1.4.1 Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) nach DSM-5

In der seit Mai 2013 gültigen fünften Version des DSM (DSM-5) ergeben sich – teilwei-se in Weiterentwicklung und teilweise in Abkehr vom bisherigen Autismus Verständ-nis – folgende Entwicklungen:

1. Das Konzept der neuronalen Entwicklungsstörungen wird konsequent weiterentwickelt und neu geordnet

Im DSM-5 werden folgende Störungsbilder unter der Kategorie „neuronale Entwick-lungsstörungen“ zusammengefasst: i. Intelligenzminderung, ii. Kommunikations-störungen inklusive Sprachstörungen und Störung der sozialen (pragmatischen) Kommunikation, iii. Autismus-Spektrum-Störung, iv. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, v. spezifische Lernstörungen, vi. Störungen der Motorik in-klusive Tic-Störungen und Tourette-Syndrom. Hier wird also der frühe Beginn eines klar identifizierbaren symptomatischen Musters in der ersten Dekade als gemeinsa-mes Merkmal der genannten Störungsbilder konsequent zur Definition der Störungs-gruppe herangezogen.

2. Das Konzept kategorialer autistischer Subtypen wird zugunsten eines Spektrums-Konzepts aufgegeben

Da sich die beiden autistischen Hauptkategorien „Frühkindlicher Autismus“ und „Asperger-Syndrom“ aufgrund von wissenschaftlichen Untersuchungen nicht valide

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voneinander trennen ließen (Lord et al. 2012), wurde im DSM-5 der seit Langem er-kennbare Trend aufgegriffen, diese kategoriale Unterscheidung zugunsten eines di-mensionalen Ansatzes fallen zu lassen (http://www.dsm5.org). Dieses Vorgehen wur-de unterstützt durch die klinische Beobachtung fließender Übergänge zwischen den bisherigen Unterkategorien des Autismus, zwischen den verschiedenen neuronalen Entwicklungsstörungen, zwischen typischer und atypischer Entwicklung und schlussendlich auch zwischen (sogenannter) psychischer Gesundheit und psychiat-rischer Erkrankung (Rutter 2011). So konnte, was Kanner schon in den 1940er-Jahren beobachtet hatte, empirisch nachgewiesen werden, dass nicht erkrankte Verwandte autistischer Patienten ähnliche aber weniger stark ausgeprägte autistische Persön-lichkeitsmerkmale aufwiesen (Constantino 2011). Dies ist wahrscheinlich einer ge-meinsamen, komplexen genetischen Prägung für „autistische Persönlichkeitsmerk-male“ von Gesunden ebenso wie von Erkrankten geschuldet (Robinson et al. 2011). Zur Abgrenzung von nicht krankheitswertigen Zuständen dienen im DSM-5 die Kri-terien C (Symptome müssen seit früher Kindheit vorhanden sein – aber können erst dann offensichtlich werden, wenn soziale Anforderungen die Kompensationsmög-lichkeiten überschreiten) – und D (Symptome begrenzen und beeinträchtigen insge-samt das alltägliche Funktionieren) (s. Tab. 3).

Tab. 3 Kriterien der Autismus-Spektrum-Störung nach DSM-5 (APA 2013)

A. Andauernde Defizite der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion in allen Kontexten, die nicht durch generelle Entwicklungsverzögerungen erklärt werden und sich in allen folgenden Bereichen manifestieren:

1. Defizite der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit

2.  Defizite im nonverbalen kommunikativen Verhalten in der sozialen Interaktion

3.  Defizite beim Eingehen und Aufrechterhalten von Beziehungen, entsprechend dem Entwicklungsstand (ausgenommen solcher zu Bezugspersonen)

B. Restriktive, repetitive Verhaltensmuster, Interessenmuster, oder Aktivitätsmuster, die sich in wenigstens 2 der folgenden Bereiche manifestieren:

1.  Stereotype/s/r oder repetitive/s/r Sprechen, Bewegungen, oder Gebrauch von Objekten; (wie z.B. einfache motorische Stereotypien, Echolalie, repetitiver Gebrauch von Objekten, oder idiosynkratische Phrasen).

2.  Exzessives Festhalten an Routinen, ritualisierte Muster verbalen oder nonverbalen Verhaltens, oder exzessiver Widerstand gegen Veränderung; (wie z.B. behaviorale Rituale, Bestehen auf gleicher Wegstrecke, gleiches Essen, repetitive Fragen oder extremer Stress durch kleine Änderungen).

3.  Hochgradig eingegrenzte, fixierte Interessen, die unnormal im Hinblick auf Intensität oder Thema sind; (wie z.B. starke Bindung an oder Beschäftigung mit ungewöhnlichen Objekten, exzessive eingeengte oder perseverierende Interessen).

4.  Hyper- oder hypo-Reaktivität auf sensorischen Input oder ungewöhnliches Interesse an sensorischen Aspekten der Umgebung; (wie z.B. offensichtliche Unempfindlichkeit gegenüber Schmerz/Hitze/Kälte, starke überempfindliche Reaktion auf spezifische Geräusche oder Texturen, exzessives Riechen oder Berühren von Objekten, Faszination von Lichtern oder sich bewegenden Objekten).

C. Symptome müssen seit früher Kindheit vorhanden sein (aber können erst dann offensichtlich werden, wenn soziale Anforderungen die Kompensationsmöglichkeiten überschreiten)

D. Symptome begrenzen und beeinträchtigen insgesamt das alltägliche Funktionieren

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3. Die autistische Kernsymptomatik der sozialen Interaktions- und Kommunikationsstörungen wird in einem Kriterium („A-Kriterium“) zusammengefasst

Da sich die beiden Hauptkriterien der ICD-10, soziale Interaktion und Kommunika-tion, nicht valide voneinander trennen ließen, wurden die beiden zu einem Krite-rium „fusioniert“. Dieses wird wie folgt definiert: „Andauernde Defizite der Kom-munikation und sozialen Interaktion in mehreren Kontexten, die aktuell oder ana-mnestisch vorhanden sind und nicht durch eine generelle Entwicklungsverzögerung besser erklärt werden können.“

4. Das Kriterium der begrenzten, repetitiven und stereotypen Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten wird als „B-Kriterium“ aufgewertet und ausgeweitet

Unter dem neuen B-Kriterium werden nicht nur die klassischen repetitiven und ste-reotypen Verhaltensweisen und Interessenmuster geführt, sondern auch sensorische Besonderheiten wie etwa eine Empfindlichkeit gegenüber Reizüberflutung, welche im alten Autismus-Konzept gemäß DSM-IV noch unberücksichtigt blieben (s. Tab. 3). Im Sinne einer Verschärfung der Diagnosekriterien werden nun allerdings mindes-tens zwei Symptome (und nicht nur ein einziges Symptom) aus diesem Bereich ge-fordert, um die Diagnose stellen zu können.

Tab. 4 Schweregrad der ASS

Schweregrad Soziale Kommunikation Restriktive, repetitive Verhaltensweisen

Stufe 3

„Sehr Umfangreiche Unterstützung Erforderlich“

Starke Einschränkungen der verbalen und nonverbalen sozialen Kommunikationsfä-higkeit verursachen beträchtliche Beein-trächtigungen im Funktionsniveau; mini-male Fähigkeit zur Initiierung sozialer Interaktionen und minimale Reaktion auf soziale Angebote im Umfeld.

Unflexibilität des Verhaltens. Extreme Schwierigkeiten im Umgang mit Verände-rungen oder andere repetitive, restriktive Verhaltensweisen mit ausgeprägter Funk-tionsbeeinträchtigung in allen Bereichen. Großes Unbehagen bzw. große Schwierig-keiten, den Fokus oder die Handlung zu verändern.

Stufe 2

„Umfangreiche Unterstützung Erforderlich“

Ausgeprägte Einschränkungen in der ver-balen und nonverbalen sozialen Kommuni-kationsfähigkeit. Soziale Beeinträchtigun-gen auch mit Unterstützung deutlich er-kennbar; reduzierte Initiierung sozialer Interaktionen oder abnormale Reaktionen auf soziale Angebote von anderen.

Unflexibilität des Verhaltens. Schwierigkei-ten im Umgang mit Veränderungen oder andere repetitive, restriktive Verhaltens-weisen treten häufig genug auf, um auch für den ungeschulten Beobachter offen-sichtlich zu sein. Funktionsbeeinträchti-gung in einer Vielzahl von Kontexten. Unbehagen bzw. Schwierigkeiten, den Fokus oder die Handlung zu verändern.

Stufe 1

„Unterstützung Erforderlich“

Die Einschränkungen in der sozialen Kom-munikation verursachen ohne Unterstüt-zung bemerkbare Beeinträchtigungen. Schwierigkeiten bei der Initiierung sozialer Interaktionen sowie einzelne deutliche Beispiele für unübliche oder erfolglose Reaktionen auf soziale Kontaktangebote anderer. Scheinbar vermindertes Interesse an sozialen Interaktionen.

Unflexibilität des Verhaltens führt zu Funk-tionsbeeinträchtigungen in einem oder mehreren Bereichen. Schwierigkeiten, zwischen Aktivitäten zu wechseln. Proble-me in der Organisation und Planung be-einträchtigen die Selbständigkeit.

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5. Eine Diversifizierung der Diagnose wird über Komorbiditäten möglich

Der Unterschiedlichkeit der individuellen Fälle im klinischen Alltag kann nach DSM-5 dadurch besser Rechnung getragen werden, dass eine größere Breite von Zusatz-diagnosen zugelassen wird. Dies trifft insbesondere für eine ADHS-Diagnose zu, die nach DSM-IV und ICD-10 bei Autismus bislang ausgeschlossen war (Rommelse et al. 2011). Insbesondere für den kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich ist dies sehr zu begrüßen, da der wechselseitige Ausschluss beider Diagnosen in der Vergangen-heit bei Kindern mit Autismus und ADHD häufig zu Problemen führte.

6. Der Schweregrad wird operationalisiert

Dem Konzept eines dimensionalen Krankheitsmodells folgend wurde die diagnosti-sche Einordnung um eine Einteilung in Schweregrade erweitert (s. Tab. 4), was in den kategorialen Konzepten weitgehend fehlte.

7. Das Konzept einer von den ASS separierten sozialen Kommunikationsstörung (social communication disorder) wird eingeführt

Die Diagnose einer sozialen Kommunikationsstörung (social communication disor-der) wurde als neue Kategorie eingeführt (s. Tab. 5). Sie ist weitgehend in Analogie zum A-, C- und D-Kriterium der ASS konzipiert, wobei Symptome im Sinne des B-Kri-teriums nicht gefordert werden und eine ASS ausgeschlossen sein soll. Diese Kate-

Tab. 5 Kriterien der „social communication disorder“ vom Autor ins Deutsche übersetzt nach DSM-5 (APA 2013)

A.  Andauernde Schwierigkeiten im pragmatischen oder sozialen Gebrauch verbaler und nonverbaler Kommunikation in naturalistischen Kontexten, welche die Entwicklung sozialer Gegenseitigkeit und sozialer Beziehungen beeinträchtigen und welche nicht erklärt werden können durch beeinträchtigte Fähigkeiten in den Domänen der Wortstruktur und Grammatik oder allgemeinen beeinträchtigten kognitiven Fähigkeiten.

B.  Persistierende Schwierigkeiten bei der Akquisition und beim Gebrauch gesprochener Sprache, schriftlicher Sprache und anderer Modalitäten von Sprache (z.B. Zeichensprache) im Hinblick auf erzählerische, darlegende und dialogorientierte Diskurse. Die Symptome können das Verständnis, die Produktion und die Bewusstheit [von Sprache] auf diskursiver Ebene einzeln oder in beliebiger Kombination betreffen und bestehen mit Wahrscheinlichkeit bis in die Adoleszenz oder das Erwachsenenalter fort, wenngleich sich die Symptome, Domänen und Modalitäten mit dem Alter verschieben können.

C.  Ausschluss von Autismus-Spektrum-Störungen. Autismus-Spektrum-Störungen beinhalten definitions-gemäß pragmatische Kommunikationsprobleme, beinhalten aber auch eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten als Teil des autistischen Spektrums. Daher muss eine Autismus-Spektrum-Störung ausgeschlossen werden, um eine soziale Kommunikationsstörung zu diagnostizieren. Eine soziale Kommunikationsstörung kann als primäre Beeinträchtigung auftreten oder koexistierend mit anderen Störungen außer einer Autismus-Spektrum-Störung (z.B. Sprachstörung, Lernbehinderung, Intelligenzminderung).

D.  Die Symptome müssen seit früher Kindheit vorhanden sein (aber können sich erst klar manifestieren nachdem Sprech-, Sprach- oder Kommunikationsanforderungen die beeinträchtigte Kapazität überschreiten).

E.  Die niedrige soziale Kommunikationsfähigkeit führt zu funktionellen Beeinträchtigungen der effektiven Kommunikation, sozialen Partizipation, akademischer Leistungen oder des beruflichen Erfolgs separat oder in beliebiger Kombination.

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gorie soll möglicherweise die Option eröffnen, auch Menschen mit sub-syndromalen autistischen Zügen eine Diagnose zu eröffnen, sofern diese zu psychosozialen Beein-trächtigungen führen.

1.4.2 Bewertung der Entwicklungen im DSM-5

Aus Sicht der Autoren dieses Beitrags ist die Weiterentwicklung des Begriffs der neuronalen Entwicklungsstörungen auf den Bereich von ADHS, Lernstörungen und motorischen Störungen sinnvoll und plausibel, nicht zuletzt deswegen, weil diese Störungen das Charakteristikum des frühen Beginns einer qualitativ auffälligen Ent-wicklung gemeinsam haben und es individuell zahlreiche Überlappungen und Grenz-fälle gibt, die das Zusammenfassen dieser verschiedenen Störungen unter einer über-geordneten Kategorie nahelegen. Ferner ist zu begrüßen, dass auch Doppeldiagnosen von ASS und ADHS möglich geworden sind, da dies der klinischen Erfahrung ent-spricht und konsekutive Behandlungsversuche erleichtert. Auch die Vereinheitli-chung der bislang kategorial gefassten autistischen Störungen zum dimensional ge-fassten Konzept eines „Autismus-Spektrums“ ist durchaus nachvollziehbar und sinn-voll, da aus klinischer Perspektive die bisherigen Subkategorien in der Tat absolut fließend ineinander übergehen, prognostisch weitgehend bedeutungslos sind und auch therapeutisch deutlich weniger Implikationen haben als z.B. – die intellektuel-le Leistungsfähigkeit der Betroffenen (Cederlund et al. 2008; Howlin et al. 2004). Die von vielen Autoren für relevant erachtete Unterscheidung von (meist monogeneti-schen) sekundären Varianten von ASS, die z.B. im Rahmen von Syndromen wie dem fragilen-X-Syndrom auftreten können, von (wahrscheinlich komplex-polygenetisch vererbten) „primären“ ASS-Varianten (Aitken 2010; Tebartz van Elst et al. 2016) fand dagegen noch keinen Eingang in das DSM-5. Auch die in der Literatur verbreitete (di-mensionale) Unterscheidung von niederfunktionalen (ohne differenzierte Sprache und mit beeinträchtigter Intelligenz) und hochfunktionalen Formen wurde nicht aufgegriffen. Allerdings kann mithilfe der neu eingeführten Einteilung des Schwe-regrads das Funktionsniveau im oben gemeinten Sinne bedingt abgebildet werden.

Vor allem dann, wenn die soziale Kommunikationsstörung als Option zur Kodierung leichterer autistischer Varianten gedacht worden sein sollte, bleibt weitgehend un-klar, warum gerade diese Spielart autistischer Auffälligkeiten aus dem „Spektrum“ als separate Kategorie ausgegliedert wurde. Denn es gibt klinisch keine erkennbare Evidenz dafür, dass der Übergang von den schwereren, dann syndromalen ASS zur leichteren sozialen Kommunikationsstörung kategorial, also nicht-fließend sein sollte. Vielmehr zeigen auch die subsyndromalen, leichteren Varianten des Autismus klas-sische Symptome im Sinne des B-Kriteriums mit Rigidität, Bedürftigkeit nach er-wartungsgemäßen Tagesabläufen, einer Empfindlichkeit gegenüber Reizüberflutung und typischen autistischen Stressreaktionsweisen, nur eben in weniger starker Aus-prägung. Die psychosoziale Beeinträchtigung und sekundäre psychiatrische Symp-tome und Probleme haben auch dann oft in diesem Bereich ihre Wurzeln, wenn sie nicht ausgeprägt genug ist, um das B-Kriterium nach DSM-5 zu erfüllen. Somit ist es aus Sicht der Autoren wenig überzeugend, leichtere Varianten einer ASS unter Aus-schluss der Symptome im Sinne des B-Kriteriums definieren zu wollen.

Unabhängig von diesen Überlegungen bleibt abschließend darauf hinzuweisen, dass momentan in Deutschland vor allem daran gearbeitet werden muss, dass gerade auch

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1 Asperger-Syndrom und Autismusbegriff: historische Entwicklung und moderne Nosologie Ileichtere Varianten des Autismus überhaupt erkannt und in ihrer Bedeutung für sich daraus entwickelnde sekundäre psychiatrische Störungsbilder richtig eingeordnet werden (Tebartz van Elst et al. 2013; Riedel et al. 2015). Denn dies ist Voraussetzung für ein adäquates, Akzeptanz-förderndes Krankheitsverständnis durch die Patienten und ihre Angehörigen und für eine angemessene Therapieplanung.

Aspies, Autisten, hochfunktionale Autisten, Menschen mit Autismus, Betroffene ...

Wie benennen wir was wir meinen?

Noch vor wenigen Jahren war die Diagnose eines Autismus in der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie eine ausgesprochene Seltenheit. Denn der Begriff war konzeptuell re-serviert für sehr schwere Formen des frühkindlichen Autismus, bei dem Betroffene meist nicht über eine entwickelte Sprache verfügten. Durch die Entdeckung der Bedeutung des hochfunktionalen Autismus als Basisstörung für viele sekundäre psychische Erkrankungen (vgl. Sektion III) hat sich diese Situation grundlegend geändert. Die autistischen Eigenschaf-ten werden als zeit- und situationsstabile Persönlichkeitseigenschaften an sich und in ihrer ursächlichen Bedeutung für daraus resultierende sekundäre Probleme und Symptome mehr und mehr erkannt. Dies führt aber auch dazu, dass immer häufiger Menschen autistische Eigenschaften an sich selber erkennen, die zwar überzeugend vorhanden sind, aber deutlich weniger schwer ausgeprägt sind als etwa bei klassischen frühkindlich manifest werdenden Formen des Autismus. Wenn Betroffene zwar Eigenschaften aus allen Bereichen des Autis-mus im Sinne etwa der DSM-5 Definition aufweisen, aber ihr Leben erfolgreich leben, einen Beruf und Familie haben und in ihrer Lebensnische zufrieden sind, so kann eine Störungs-diagnose nicht gestellt werden, weil z.B. das D-Kriterium nach DSM-5 nicht erfüllt ist. Auch sollte nach Überzeugung des Autors die Symptomatik in solchen Konstellationen eher als Eigenschaftscluster ganz im Sinne einer Persönlichkeitsstruktur mit Stärken und Schwächen aufgefasst werden.

Die Frage, die sich für diese Konstellation auch für dieses Buch stellt, ist die, wie man das Gemeinte dann benennen sollte. Manche Betroffene nennen sich „Aspies“, andere nennen sich „Autisten“ oder „hochfunktionale Autisten“, weil sie sich nicht von den schwerer betrof-fenen Menschen abgrenzen wollen. Andere Formulierungen sind „Menschen mit Asperger-Syndrom“, „Asperger-Autisten“, „Betroffene“ oder „Menschen mit hochfunktionalem Autis-mus“. Wie oben im Text beschrieben, wird der Begriff „Asperger-Syndrom“ alltagssprachig in den Medien oft synonym für diese gemeinte Gruppe von Menschen verwendet, obwohl dies aus wissenschaftlicher Perspektive nicht ganz korrekt ist.

Für dieses Buch wurde überlegt, ob die Terminologie vereinheitlicht werden sollte, aber für jede Formulierung gab es ein Für und Wider und gänzlich unterschiedliche Sprachgefühle der unterschiedlichen Autoren.

Schließlich wurde vereinbart, die Terminologie in diesem Punkt offen zu lassen, was dazu führt, dass in den unterschiedlichen Buchbeiträgen alle der genannten Formulierungen für die gemeinte Gruppe – nämlich Menschen mit hochfunktionalem Autismus und einem variab-len Grad an erfolgreicher psychosozialer Anpassung – teils sogar nebeneinander zur Anwen-dung kommen. Dies spiegelt in den Augen der Autoren die gelebte Sprachwirklichkeit am bes-ten wider. Wichtig ist dabei, zu betonen, dass keine der gewählten Formulierungen in einem diskriminierenden, abwertenden oder einengend kategorialisierenden Sinne gemeint ist.

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I Grundlagenwissen

Zusammenfassung

Das klinische Bild des Asperger-Syndroms wurde erstmalig 1926 von der russischen Ärztin Ssucharewa in einer Fallserie beschrieben. Der Namensgeber Hans Asperger beschrieb 1943 in seiner Habilitation anhand einer Fallserie von 4 Jungen die klassische Symptomatik und konzeptualisierte sie als autistische Persönlichkeitsstörung. Leo Kanner veröffentlichte 1943 eine Fallserie von 8 Jungen und 3 Mädchen, von denen viele nicht oder nur eingeschränkt sprachen und damit zum Leitbild für den frühkindlichen Autis-mus wurden. Nach ICD-10 und DSM-IV werden die autistischen Syndrome als Entwicklungsstörungen zusammengefasst, womit der Beginn der Symptomatik in der frühen Kindheit, der stetige, nicht-fluktu-ierende Verlauf und die enge Bindung der Symptomatik an die Reifung des sich entwickelnden Gehirns betont werden. Die ursprüngliche klassifikatorische Trennung in einen frühkindlichen Autismus, einen atypischen Autismus und ein Asperger-Syndrom wird nach neuesten Entwicklungen im DSM-5 zugunsten des Konzepts einer Autismus-Spektrum-Störung aufgegeben, weil eine valide und reliable Trennung der drei Unterformen nicht belegt werden konnte.

Dieser Text gibt in Teilen diesen Beitrag wieder: Tebartz van Elst L, Biscaldi M, Riedel A (2014) Autismus als neuropsychiatrische Entwicklungsstörung und Basisstörung in Psychiatrie und Psychotherapie. InFo Neurologie & Psychiatrie 2014(4), 50–59. Mit freundlicher Genehmi-gung der Springer Medizin GmbH.

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1 Asperger-Syndrom und Autismusbegriff: historische Entwicklung und moderne Nosologie ITebartz van Elst L, Biscaldi M, Riedel A (2014) Autismus als neuropsychiatrische Entwicklungsstörung und Basis-

störung in Psychiatrie und Psychotherapie. InFo Neurologie & Psychiatrie 2014(4), 50–59

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2 Symptomatik und Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Monica Biscaldi

Autistische Störungen werden in der Regel im Kindes- und Jugendalter diagnostiziert. Für diese Alters-spanne gibt es eine gut etablierte, international anerkannte und zuverlässige Standarddiagnostik. Al-lerdings variiert das Alter des ersten Autismus-Verdachts je nach Ausprägung der Symptomatik, vor allem bei Individuen mit guten intellektuellen Fähigkeiten. Hier ist eine Zunahme der diagnostischen Unsicher-heit zu vermerken, die auch aufgrund der häufigen komorbiden Störungen, vor allem der Aufmerksam-keitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), entstehen kann. Anderseits hat sehr wahrscheinlich gerade der verstärkte Blick auf die hochfunktionalen Formen von Autismus, auch von professioneller Seite, derzeit zu höheren Diagnoseraten geführt.

Die Klassifikation der autistischen Störungen befindet sich zurzeit im Wandel. Neue klassifikatorische Vorschläge sollen autistische Störungen in die Gruppe der neuropsychiatrischen Entwicklungsstörungen integrieren und somit der Bedeutung der Komorbiditäten sowie der Betrachtung als Kontinuum zwischen typischer und atypischer Entwicklung besser Rechnung tragen. Es gibt Vorschläge für eine Verbesserung der Erkennungsrate bei Kleinkindern mit Risiko für Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und/oder Ent-wicklungsverzögerung, damit spezifische Fördermaßnahmen (v.a. Aufklärung und Training der Eltern) rechtzeitig eingeleitet werden können.

2.1 Einleitung

Die ICD-10 (WHO 1992) beschreibt Autistische Störungen innerhalb des Komplexes der tief greifenden Entwicklungsstörungen (ICD-10: F84.x). Darunter werden For-men von abweichender und nicht nur verzögerter Entwicklung verstanden. Alle tief greifenden Entwicklungsstörungen werden durch den Beginn in der frühen Kind-heit charakterisiert. Ein kompletter Überblick der tief greifenden Entwicklungsstö-rungen wurde bereits in Kapitel I.1 gegeben. Frühkindlicher Autismus (F84.0), As-perger-Syndrom (F84.5) und atypischer Autismus (F84.1) bilden die drei Kategorien, die aktuell von der ICD-10 als Formen der autistischen Störungen definiert werden.

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2 Symptomatik und Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie I

Die Symptomatik wird in drei Hauptsymptomkomplexe zusammengefasst, die im Folgenden, entsprechend ihrem Erscheinungsbild in der Kindheit, ausführlich be-schrieben werden:

1. Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion: Darunter werden zusam-mengefasst: (a) Beeinträchtigungen der Fähigkeit, soziale Interaktionen durch nichtverbales Verhalten (z.B. Blickkontakt oder soziales Lächeln) zu regulieren, (b) Schwierigkeiten, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen und auf-rechtzuerhalten, (c) Mangel an geteilter Aufmerksamkeit und/oder Freude mit anderen zu teilen, (d) Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit. Kinder mit Autismus sind meistens unzureichend dem Gegenüber zugewandt und richten häufiger ihre Aufmerksamkeit auf Objekte und Gegenstände. Kinder und Jugendliche mit hochfunktionalen Autismusformen konzentrieren sich oft auf Sachverhalte und weniger auf emotionale Aspekte von Situationen. Eine unzureichende Modulation der sozialen Interaktion durch nonverbale Signale (mimischer Ausdruck, beschreibende und emotionale Gestik) ist charakteris-tisch, allerdings ist die Ausprägung dieser Beeinträchtigungen sehr unter-schiedlich und sie kann im Laufe der Zeit, vor allem bei hochfunktionalen Individuen, teilweise kompensiert werden. Die fehlende Integration bei Gleich-altrigen, vor allem in der Sozialisierung innerhalb der Peer-Group, ist möglicher-weise eine Konsequenz der Schwierigkeiten im sozialen Bereich und nicht un-bedingt Ausdruck mangelnder sozialer Motivation. Auch die unzureichende sozio-emotionale Gegenseitigkeit resultiert aus den Schwierigkeiten, soziale und emotionale Signale bei anderen korrekt und rechtzeitig wahrzunehmen. Es kommt daher bei betroffenen Kindern zu unpassendem Verhalten in kriti-schen Situationen oder zu inadäquaten verbalen Ausdrücken und Bemerkun-gen. Beispielweise sind autistische Kinder nicht dazu in der Lage, zu merken, wann ein Scherz oder ein scherzhaft oder spielerisch gemeinter Streich zu Ende ist und verärgern durch unangepasste Reaktionen die Gruppe.

2. Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation und der Sprache: Bei der Hälfte der Kinder mit frühkindlichem Autismus liegt entweder keine oder eine nur unverständ-liche Sprache vor. Auch kompensieren sie diese mangelnden Sprachfähigkei-ten nicht mit Mimik, Gestik oder spontanem Imitieren von Handlungen. In diesen Fällen hat die Sprache – wenn überhaupt vorhanden – eher einen stereo-typen, repetitiven oder idiosynkratischen Charakter. So vertauschen Kinder mit frühkindlichem Autismus beispielsweise die Personalpronomina, neigen zu Echolalie und Wortneubildungen, und nur selten findet ein sprachlicher Austausch im Sinne einer informellen Konversation statt (z.B. fehlende Fähig-keit zum „Small Talk“). Im Bereich des hochfunktionalen Autismus und des Asperger-Syndroms sind v.a. qualitative Auffälligkeiten der Sprache zu ver-merken, wie auffällige Prosodie, Stimmhöhe oder Betonung und situations-inadäquate Lautstärke. Hans Asperger (1944) bemerkte treffend, dass die von ihm beschriebenen Patienten „wie kleine Professoren“ sprechen; also einen übergenauen, erwachsen anmutenden Duktus aufweisen. Darüber hinaus wei-sen die meisten Kinder mit Autismus eine deutliche Verzögerung der Imita-tionsfähigkeit sowie des „So tun als ob“- und Fantasie-Spieles auf. Wenn diese Kinder andere imitieren, wirken sie dabei oft steif, unnatürlich oder übertrie-ben. Kreativität und Variationen fehlen bei diesen Imitationsversuchen. Man-che Kinder mit Asperger-Syndrom und sehr guten formal sprachlichen Fähig-

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I Grundlagenwissen

keiten entwickeln beim Spielen ein ausgeprägt dominantes Verhalten: Sie ver-suchen, ihre Defizite in der gegenseitigen sozialen Interaktion dadurch zu kompensieren, dass sie Art, Ablauf und Ausgang des Spieles bestimmen. Manchmal entwickeln diese Kinder eigene Spielregeln und versuchen die Mit-spieler dazu zu zwingen, diese zu befolgen.

3. Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten: Die Betrof-fenen beschäftigen sich mit stereotypen, ungewöhnlichen Handlungen und eng begrenzten Spezialinteressen (z.B. Straßenfahrzeuge, Fahrpläne, elektri-sche Geräte, Sammeln ungewöhnlicher Gegenstände, intensives und über das normale Maß hinausgehendes Interesse an naturwissenschaftlichem, mathe-matischem oder lexikalischem Wissen), wobei Letzteres vor allem beim Asper-ger-Syndrom anzutreffen ist. Auch motorische Manierismen, wie zum Beispiel das Flattern mit den Händen bei Freude oder rhythmische Schaukelbewegun-gen, sowie die Beschäftigung mit Teilobjekten und ihren sensorischen Quali-täten (zum Beispiel wie sie riechen oder sich anfühlen) zählen hierzu. Diese treten allerdings meistens dann auf, wenn ein intellektuelles Niveau im Be-reich der Intelligenzminderung vorliegt. Ein weiteres Symptom besteht darin, dass viele Menschen mit autistischen Störungen bemüht sind, eine strikte Ordnung in Form von Gleichförmigkeit der Umwelt und festen Tagesabläufen in ihrem Leben zu etablieren. Kleinste Abweichungen können als bedrohlich erlebt werden und zu Anspannungszuständen und Wut führen.

Um die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ stellen zu können, sollte zusätzlich zu diesen Kriterien eine deutlich auffällige Entwicklung (v.a. im sprachlichen Bereich) vor dem 3. Lebensjahr vorhanden sein, wobei in drei Viertel der Fälle eine komorbide Intelligenzminderung besteht. Menschen mit Asperger-Syndrom (AS) haben per De-finition keine allgemeine kognitive Entwicklungsverzögerung (IQ ≥ 70, also keine Intelligenzminderung) und keine abnorme Sprachentwicklung, weshalb die Diag-nose später als beim frühkindlichen Autismus, oft im Altersbereich zwischen sechs und zwölf Jahren, gestellt wird. Ansonsten entsprechen die diagnostischen Kriterien im Grunde denjenigen des frühkindlichen hochfunktionalen (high-functioning) Au-tismus (HFA, d.h. ebenfalls mit IQ > 70 und einem guten Funktionsniveau beim Ver-richten alltagspraktischer Tätigkeiten). Der atypische Autismus (AA) wird nach ICD- 10 dadurch unterschieden, dass die diagnostischen Kriterien nicht in allen drei Bereichen erfüllt sind. AA wird daher hauptsächlich durch Ausschluss von frühkind-lichem Autismus und AS bei bestehenden autismustypischen Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion definiert. In der Praxis wird diese Kategorie oft benutzt, wenn die Abgrenzung zu anderen Entwicklungsstörungen (z.B. Intelligenzminderung, Sprachentwicklungsstörungen) sowie zu der häufig komorbid auftretenden Aufmerk-samkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) schwierig ist.

2.2 Definitorische Probleme in den aktuellen Klassifikationssystemen

Die vorgestellte diagnostische Einteilung in verschiedene Formen von Autismus be-findet sich derzeit aus mehreren Gründen im Umbruch (für einen Überblick über die aktuelle Diskussion siehe Volkmar et al. 2009). Kritikpunkte der aktuellen Klassifi-kationen sind beispielsweise, dass eine eigene diagnostische Kategorie für das AS im

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2 Symptomatik und Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie I

DSM-IV (APA 2000) fehlt und die Frage der Differenzierung zwischen HFA und AS da-mit im DSM-IV offen bleibt. Außerdem sind diverse wissenschaftliche Studien beim Versuch gescheitert, die verschiedenen Autismus-Diagnosen nach validen und kon-sistenten Kriterien zu differenzieren. Daher wird in der gegenwärtigen klinischen Praxis hauptsächlich von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) gesprochen. Es wird damit ein umfassenderer Begriff gewählt, der die bislang kategorial unterschiede-nen Autismusformen als ineinander übergehende Ausformungen eines Spektrums auffasst. Das DSM-5 (APA, Deutsche Ausgabe 2015) trägt dieser Entwicklung Rech-nung, indem auf die Unterscheidung verschiedener Autismuskategorien verzichtet wird und die Bezeichnung ASS für alle Formen verwendet wird. ASS werden nun ge-meinsam mit den intellektuellen Beeinträchtigungen, den Kommunikationsstörun-gen, der ADHS, den motorischen Entwicklungsstörungen und den spezifischen Lern-störungen in der Gruppe der „Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung“ zusammengefasst. Die individuellen Variationen der ASS werden über Zusatzkodie-rung (z.B. mit/ohne intellektuelle Behinderung und mit/ohne Sprachstörung) ange-geben (APA, DSM-5). Folgende Eigenschaften haben alle diese Störungen gemeinsam:

�� die Evidenz eines starken und teilweise gemeinsamen „genetischen Hinter-grunds“ (z.B. nur etwa 10% der phänotypischen Varianz des Autismus können durch Umweltfaktoren erklärt werden)�� Überwiegen des männlichen Geschlechts�� häufige Komorbiditäten wie externalisierende (z.B. Störungen des Sozialver-

haltens) und/oder emotionale Störungen (z.B. Angststörungen, Depression, spezifische Phobien, Zwänge)�� eine gewisse Kontinuität und/oder Überlappung zwischen den verschiedenen

neuronalen Entwicklungsstörungen (z.B. ASS mit Sprachentwicklungsstörun-gen, teilweise mit Intelligenzminderung, mit motorischen Störungen oder auch mit ADHS)�� Kontinuität zwischen typischer und atypischer Entwicklung�� Tendenz zu Kompensation mit Verbesserung der Symptomatik, jedoch einem

gewissen Grad an Funktionsbeeinträchtigung bis ins Erwachsenenalter

Die Hypothese einer Spektrumsstörung deckt sich auch mit eigenen Studienergeb-nissen: In katamnestischen Untersuchungen, die sich auf zwischen 2000 und 2005 diagnostizierte Fälle der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter des Freiburger Universitätsklinikums bezogen (Heß 2007; Reusch 2008; Steinmetz 2012), konnten keine reliablen und eindeutigen Unterschiede im Symptomprofil und -verlauf zwischen den vermeintlich unterschiedlichen Diagno-segruppen AS, HFA und AA gefunden werden. Weder bei den Autismus-spezifischen frühen Auffälligkeiten noch bei der aktuellen Symptomatik ließen sich die Gruppen zuverlässig voneinander abgrenzen. Gerade in der Kategorie atypischer Autismus konnte die ehemalige Diagnose in vielen Fällen nicht bestätigt werden, da die Kin-der im Alter von vier bis fünf Jahren die Kriterien für einen frühkindlichen Autismus oder ein Asperger-Syndrom anhand des diagnostischen Gold-Standard (s. Kap. I.2.4) durchaus erfüllt hatten. Darüber hinaus wiesen unsere Patienten mit atypischem Autismus nur in wenigen Fällen eine Intelligenzminderung auf, wie sie im ICD-10 als typischer Fall beschrieben wird. Letztendlich waren die Faktoren, die zur Hetero-genität in den Stichproben beitrugen, in den intellektuellen Fähigkeiten, sprachli-chen Fertigkeiten und in der Symptomausprägung zu erkennen.

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I Grundlagenwissen

Die im DSM-5 angegebenen diagnostischen Kriterien wurde bereits im einleitenden Kapitel I.1 vorgestellt. In Tabelle 1 werden die Kriterien für die Einteilung des Schwe-regrads der Symptomatik der ASS aufgelistet (APA, DSM-5 Deutsche Ausgabe 2015). Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion und der Kommunikation werden dort nun in einem einzigen Symptomkomplex zusammengefasst. Würde sich eine ähn-liche Klassifikation bei der ICD-11 zukünftig durchsetzen, könnten diese Stufen des Schweregrads auch als Grundlage für die Einleitung von unterstützenden und För-dermaßnahmen in Betracht gezogen werden.

Es besteht außerdem eine deutliche Evidenz dafür, dass der Übergang von hochfunk-tionalen Formen des Autismus zu „autistischen Zügen ohne Krankheitswert“ flie-ßend ist. ASS können bei manchen Individuen lange Zeit (auch bis zum Erwachse-nenalter) unbemerkt oder undiagnostiziert bleiben, weil sie unterschwellig sind (bei Anwendung von diagnostischen Verfahren gibt es nur unzureichende Hinweise für das Vorliegen einer Störung), können jedoch irgendwann zu Leidensdruck oder Ein-schränkungen bei der Bewältigung von entwicklungstypischen Lebensaufgaben füh-ren. Diese subliminalen Störungen („subtreshold disorders“) werden als „broader autism phenotype“ definiert. Das Kriterium für die Vergabe einer Diagnose ist in der neuen Klassifikation an die Feststellung von „in klinisch bedeutsamer Weise Leiden

Tab. 1 Schweregrad der ASS

Schweregrad Soziale Kommunikation Restriktive, repetitive Verhaltensweisen

Stufe 3

„Sehr Umfangreiche Unterstützung Erforderlich“

Starke Einschränkungen der verbalen und nonverbalen sozialen Kommunikationsfä-higkeit verursachen beträchtliche Beein-trächtigungen im Funktionsniveau; mini-male Fähigkeit zur Initiierung sozialer Interaktionen und minimale Reaktion auf soziale Angebote im Umfeld.

Unflexibilität des Verhaltens. Extreme Schwierigkeiten im Umgang mit Verände-rungen oder andere repetitive, restriktive Verhaltensweisen mit ausgeprägter Funk-tionsbeeinträchtigung in allen Bereichen. Großes Unbehagen bzw. große Schwierig-keiten, den Fokus oder die Handlung zu verändern.

Stufe 2

„Umfangreiche Unterstützung Erforderlich“

Ausgeprägte Einschränkungen in der ver-balen und nonverbalen sozialen Kommuni-kationsfähigkeit. Soziale Beeinträchtigun-gen auch mit Unterstützung deutlich er-kennbar; reduzierte Initiierung sozialer Interaktionen oder abnormale Reaktionen auf soziale Angebote von anderen.

Unflexibilität des Verhaltens. Schwierigkei-ten im Umgang mit Veränderungen oder andere repetitive, restriktive Verhaltens-weisen treten häufig genug auf, um auch für den ungeschulten Beobachter offen-sichtlich zu sein. Funktionsbeeinträchti-gung in einer Vielzahl von Kontexten. Unbehagen bzw. Schwierigkeiten, den Fokus oder die Handlung zu verändern.

Stufe 1

„Unterstützung Erforderlich“

Die Einschränkungen in der sozialen Kom-munikation verursachen ohne Unterstüt-zung bemerkbare Beeinträchtigungen. Schwierigkeiten bei der Initiierung sozialer Interaktionen sowie einzelne deutliche Beispiele für unübliche oder erfolglose Reaktionen auf soziale Kontaktangebote anderer. Scheinbar vermindertes Interesse an sozialen Interaktionen.

Unflexibilität des Verhaltens führt zu Funk-tionsbeeinträchtigungen in einem oder mehreren Bereichen. Schwierigkeiten, zwischen Aktivitäten zu wechseln. Proble-me in der Organisation und Planung be-einträchtigen die Selbständigkeit.

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2 Symptomatik und Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie I

oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktions-bereichen“ gebunden (APA, DSM-5, Deutsche Ausgabe 2015).

2.3 Epidemiologie

Die Prävalenz der tief greifenden Entwicklungsstörungen wird in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nach aktuellen epidemiologischen Untersuchungen, unter Ein-bezug von strengen diagnostischen Kriterien, auf 62,6/10.000 (ca. 1 von 150 Kindern) geschätzt, wobei Jungen weitaus häufiger betroffen sind als Mädchen (3,5:1) ( Fombonne et al. 2009). Eine Studie aus Großbritannien fand eine höhere Prävalenz von ca. 1% (Baird et al. 2006). Die Prävalenz des AS und AA ist wahrscheinlich höher (ca. 4–7 Fälle pro 1.000 für AS; 3 Fälle pro 1.000 für AA) als die des frühkindlichen Au-tismus (mit und ohne Intelligenzminderung; 2 Fälle pro 1.000) (Remschmidt u. Mar-tin 2002). Allerdings variieren die Zahlen bei AS in den verschiedenen Studien zwi-schen 1,5 und 40 pro 1.000 je nach Population und diagnostischen Kriterien. Eine aktuelle Studie aus England, in der 7.500 zufällig ausgewählte Erwachsene eine Au-tismusdiagnostik durchliefen, erbrachte eine Prävalenz autistischer Störungen von 9,8 pro 1.000 bei einem 95%-Konfidenzintervall von 3,0 bis 16,5 (Brugha et al. 2011). Diese hohe Spannbreite macht deutlich, dass genauere Aussagen über die Prävalenz derzeit noch nicht möglich sind. Die genannte Studie bestätigte, dass es keine Al-tersabhängigkeit der Prävalenz gibt und lieferte deutliche Hinweise darauf, dass die Zunahme der Diagnoserate wahrscheinlich nicht auf einer tatsächlichen Zunahme der Erkrankungsrate basiert, sondern mit der erhöhten Erkennungsrate zu erklären ist.

Besonders spannend ist eine aktuelle Feldstudie in Südkorea, bei der die Prävalenz von ASS in einer gesamten Population von Schulkindern (7 bis 12 Jahre alt) nach diagnosti-schen Standards untersucht wurde (Kim et al. 2011). Die Prävalenz für ASS wurde auf 2,64% geschätzt, wobei sich die Zahlen zwischen 1,89% für die generelle Population und 0,75% für die Risiko-Kinder aufteilten. Die erstaunlich hohe Prävalenz entsteht durch nicht erkannte Fälle, die sehr wahrscheinlich eher in der weiblichen Population und unter den Kindern mit höheren intellektuellen Fähigkeiten zu finden sind.

2.4 Diagnostik im Kindes- und Jugendalter

Im Kindes- und Jugendalter gibt es einen aktuellen einheitlichen, standardisierten und international anerkannten „Gold-Standard“ der Autismus-Diagnostik, der Scree-ningverfahren, das Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R) und die Autism Diagnostic Observation Scale (ADOS) umfasst. In Kombination liefern diese Instrumente eine aus-führliche und sehr zuverlässige Diagnose. Die Befragung von Bezugspersonen ist bei der Diagnostik autistischer Störungen sehr wichtig, da unter anderem viele relevan-te Entwicklungsdaten nur auf dem Weg der Fremdanamnese zugänglich sind. Zu den am häufigsten verwendeten und am besten abgesicherten Screeningverfahren zählt der Fragebogen zur Sozialen Kommunikation (FSK; in der deutschen Übersetzung von Bölte u. Poustka 2005). Als weiterer Fragebogen in deutscher Sprache ist die Marburger Be-urteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS) (Kamp-Becker et al. 2005) zu nennen. Die Skala zur Erfassung sozialer Reaktivität (SRS; in der deutschen Übersetzung von Bölte u.

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I Grundlagenwissen

Poustka 2008) bietet als einziger Fragebogen eine dimensionale Diagnostik der Sym-ptomatik in allen drei Symptomkomplexen und eignet sich daher vor allem für die Evaluation von Therapien, zur Verlaufskontrolle und zum Einsatz in der Forschung. Sie bietet eine klinische Status- und Prozessdiagnostik sowie allgemeine Persönlich-keitsdiagnostik und eignet sich für Kinder und Jugendliche zwischen 4 und 18 Jah-ren. Das ADI-R (Diagnostisches Interview für Autismus-Revidiert; in der deutschen Übersetzung von Bölte et al. 2006) wird als Interview mit der/den Bezugsperson/en durchgeführt. Der Auswertungsalgorithmus berücksichtigt Items, die auf ICD-10- und DSM-IV-Kriterien basieren und hauptsächlich auf das Alter zwischen vier und fünf Jahren Bezug nehmen. Die ADOS (Diagnostische Beobachtungsskala für autis-tische Störungen; in der deutschen Übersetzung von Rühl et al. 2004) ist eine stan-dardisierte Verhaltensbeobachtung, die aus vier verschiedenen Modulen (angepasst an Alter und Sprachentwicklung) und aus verschiedenen Aufgaben, Aktivitäten, Kon-versations- und Befragungselementen besteht. Die Bewertung erfolgt anhand der ICD-10- und DSM-IV-Kriterien. Der diagnostische „Gold-Standard“ für AS und AA ent-spricht im Allgemeinen dem für den frühkindlichen Autismus. Allerdings stellt man im klinischen Alltag oft fest, dass ältere Jugendliche – und insbesondere Erwachsene (s. Kap. I.3) – mit AS und guten kognitiven Fähigkeiten ihre Probleme in der sozialen Interaktion und Kommunikation so weit kompensieren, dass die ADOS-Diagnostik nur grenzwertig positiv wird oder gar negativ bleibt. Ein weiteres Problem stellt die Einschätzung der Autismus-spezifischen Symptomatik bei Kindern mit niedrigem Funktionsniveau dar. Um die ADOS-Bewertung besser an das kognitive und sprach-liche Niveau der Kinder anzupassen und dadurch die spezifischen Defizite zuverläs-siger zu erfassen, wurden in der letzten Zeit Vorschläge zur Verbesserung des Algo-rithmus für die Kodierung gemacht (Gotham et al. 2007; Kamp-Becker et al. 2011).

Bei der klinischen Beobachtung von Kindern mit Verdacht auf Autismus und allge-meiner Entwicklungsverzögerung sollte der diagnostische Blick insbesondere auf die qualitativen (und nicht nur quantitativen) Auffälligkeiten der sozial-emotionalen Entwicklung gerichtet werden. Beispiele dafür sind:

�� Orientierung an Objekten und deutlich weniger an Personen �� Personen werden quasi als Werkzeuge „benutzt“ �� vorhandene sprachliche Fertigkeiten werden kaum kommunikativ eingesetzt�� es fehlt eine Kompensierung durch nonverbale Kommunikationsmittel wie

Mimik und Gestik�� es fehlt ein Verständnis für „So-tun-als-ob“-Spiele

Besonders hochfunktionale Formen des Autismus sind als diagnostische Herausfor-derung oftmals bereits ab dem Kindesalter vor allem aber ab dem Jugendalter zu be-greifen. Die Autismus-spezifische Symptomatik ist hier in der Regel milder, da die sozial-emotionale und kognitive Entwicklung durchaus abhängig voneinander sind. Diese Menschen verfügen über eine deutlich besser ausgeprägte soziale Kommuni-kationsfähigkeit und soziale Motivation als es bei Kindern mit frühkindlichem Au-tismus mit Defiziten im kognitiven Bereich der Fall ist. Das Verständnis für die so-ziale Bedeutung von sprachlichem Austausch und Interaktion ist meistens vorhan-den. Für die klinische diagnostische Einschätzung von Kindern mit normaler intel-lektueller Leistungsfähigkeit ist es daher sehr wichtig, Verhaltensweisen in der sozialen Interaktion und emotionale Reaktionen speziell zu beachten, die qualitativ

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2 Symptomatik und Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie I

von denen Gleichaltriger abweichen und in deutlicher Diskrepanz zu ihrer sonstigen kognitiven Entwicklung stehen.

Psychiatrische Komorbiditäten treten häufig bei ASS auch im Kindes- und Jugend-alter auf und sind stark bestimmend für Verlauf und Prognose. Deswegen ist es sehr wichtig, sie im diagnostischen Prozess zu erkennen. In den letzten Jahren wurde die Frage intensiv diskutiert, wann und in welchem Umfang psychopathologische Merk-male, die eine ASS oft begleiten, als eigenständige komorbide Störungen diagnosti-ziert werden sollen (Sinzig u. Lehmkuhl 2011). Eine besondere Problematik stellt die ADHS dar, weil diese laut ICD-10 und DSM-IV noch als Ausschluss-Diagnose gilt; d.h. im Falle von deutlichen autistischen und ADHS-Zügen sollen erstere als führende Symptomatik betrachtet werden. Diese Konstellation schließt damit eine eigenstän-dige Diagnose der ADHS nach ICD-10 und DSM-IV aus, aber nicht mehr in DSM-5. Die klinische Beobachtung liefert in der Tat eindeutige Hinweise dafür, dass bei einigen Kindern und Jugendlichen die diagnostische Einschätzung zwischen ASS und ADHS unsicher bleibt, da sie sowohl ADHS- als auch ASS-Symptome aufweisen, die je nach Situation, Entwicklungsphase und auch therapeutischem Kontext mehr oder weni-ger in den Vordergrund treten können (Grzadzinski et al. 2011). Leyfer et al. (2006) haben die Frage der Komorbidität in einer klinischen Stichprobe von 109 Kindern und Jugendlichen mit ASS untersucht und festgestellt, dass sehr häufig die Kriterien für eine ADHS, für Angst- und Zwangsstörungen, für depressive Erkrankungen und für oppositionelle Störungen des Sozialverhaltens erfüllt sind. In einer populationsba-sierten Studie von Simonoff et al. wurden 112 Kinder mit ASS im Alter zwischen 10 und 14 Jahren hinsichtlich komorbider Störungen untersucht (Simonoff et al. 2008). 70% der Kinder zeigten mindestens eine komorbide Störung, wobei ADHS und oppo-sitionelle Störungen des Sozialverhaltens am häufigsten vorkamen.

2.5 Frühdiagnostik

Generell werden ASS als meistens persistierend und nicht „heilbar“ betrachtet. In Kapitel I.7 werden allerdings einige Aspekte in Betracht gezogen, die mit einem güns-tigeren Verlauf und einer besseren Prognose verbunden sind. Es wird aber auch klar werden, dass viele relevante Faktoren noch unbekannt sind und longitudinale Stu-dien dringend notwendig sind, um diese zu erkennen und zu berücksichtigen. Die Früherkennung und eine entsprechend spezifische Frühintervention sind auf jeden Fall unabdingbar für Kinder mit einer stark ausgeprägten Symptomatik und einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung. Allerdings wird die Diagnose gerade bei den unterschwelligen Störungen mit milder Ausprägung der Symptomatik nie oder sehr spät gestellt, wenn die Betroffenen schon erheblich viele Missverständnisse und Miss-erfolge erlebt haben (s. Kap. I.3 und I.7).

Wie früh kann man Anzeichen einer ASS erkennen, mit welcher Sicherheit und wel-chen Konsequenzen für die Entwicklung des Kindes? Ist es ratsam Eltern sehr früh zu alarmieren auf die Gefahr hin, dass die Diagnose dann nicht bestätigt wird? Wer-den Kinder mit hochfunktionalen ASS unnötig abgestempelt, obwohl sie vielleicht auch ohne Diagnose eine befriedigende Entwicklung durchlaufen könnten? Das sind Fragen, die allgemein für die Kinder- und Jugendpsychiatrie von großer Bedeutung sind und hier nicht ausführlich beantworten werden können (für eine Diskussion über die Thematik siehe Rutter 2011).

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I Grundlagenwissen

Regeln für die Frühdiagnostik�� Eltern sind die besten Beobachter der Entwicklung von Säuglingen und Klein-

kindern und nehmen Signale früh wahr, wie z.B. auffälligen Blickkontakt, Mangel an geteilter Aufmerksamkeit, auffälliges Spielverhalten und auffäl-lige oder keine Kontaktaufnahme zu anderen Kindern (Heß 2007; Reusch 2008). In diesen Fällen ist ein Screening für ASS immer zu empfehlen.�� Eltern sollten in Bezug auf Entwicklungsstörungen ausführlich aufgeklärt

werden und auf die Bedeutung und eventuell auch Grenzen einer spezifischen Diagnose hingewiesen werden.�� Frühfördermaßnahmen sollten so schnell wie möglich eingeleitet werden.

Eine regelmäßige Kontrolle der Entwicklung und ein Monitoring der Fort-schritte in der Therapie sollten durch einen Neuropädiater und Kinder- und Jugendpsychiater unbedingt erfolgen.�� Es ist ratsam, spezifische Maßnahmen einzuleiten, die auf die spezifische

Symptomatik und ihre Ausprägung ausgerichtet werden und klare Ziele für die weiteren Entwicklungsschritte zu definieren.�� Eltern sind wichtige Co-Therapeuten und sollten durch spezifische Psycho-

edukation und Elterntraining angeleitet werden.�� Früh gestellte Diagnosen sollten regelmäßig kontrolliert werden, auf jeden

Fall bis zum Eintritt in die Schule.

Abgesehen von diesen allgemeinen Faustregeln gibt es aktuelle Studien, die bei Ri-siko-Populationen bestimmte Frühanzeichen feststellen (Pierce et al. 2009; Pierce et al. 2011b). Diese beinhalten sowohl Screeninginstrumente (Wetherby et al. 2004; Dereu et al. 2012) als auch die Suche nach spezifischen biologischen Markern (Pierce et al. 2009). Inwieweit solche Tests als Screening-Verfahren für Säuglinge und Klein-kinder in der Zukunft etabliert werden können, wird gerade untersucht (Pierce et al. 2011a). Für die diagnostische Einschätzung von Kleinkindern im Alter zwischen 12 und 30 Monaten wurde aktuell (momentan nur in englischer Sprache erhältlich) das ADOS-toddler Modul entwickelt (Luyster et al. 2009).

Dieser Beitrag basiert auf einem Zeitschriftenbeitrag der Autorin (Biscaldi et al. 2012). Mit freundlicher Genehmigung der Schattauer GmbH.

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3 Die hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter – Symptomatik und KlassifikationLudger Tebartz van Elst

Das Asperger-Syndrom findet bedingt durch viele Beiträge in den TV- und Printmedien ein zunehmendes öffentliches Interesse. Dachten Laien und Ärzte noch vor wenigen Jahren an klinische Bilder, wie sie in dem Film Rain Man mit Dustin Hoffman ihren Ausdruck fanden, wenn sie den Begriff Autismus hörten, so ist heute auch breiten Teilen der Gesellschaft zunehmend bewusst, dass Menschen mit hochfunktionalem Autismus oft nicht auf den ersten Blick als solche erkannt werden. Diesem Umstand ist auch ein in Fach-kreisen vermehrtes Interesse an Weiterbildungsangeboten im Hinblick auf die typische klinische Präsen-tation, die Differenzialdiagnose und die Differenzialtherapie des Asperger-Syndroms im Erwachsenenalter geschuldet. In diesem Beitrag wird vor allem die typisch untypische klinische Präsentation von Menschen mit Asperger-Syndrom und hochfunktionalem Autismus im Erwachsenenalter vorgestellt. Es sollte immer dann differenzialdiagnostisch an ein Asperger-Syndrom gedacht werden, wenn Patienten mit atypischen Präsentationen von affektiven Störungen, psychosenahen Phänomenen, Zwangssyndromen, Essstörungen oder Anpassungsstörungen vorstellig werden. Auch eine relevante Untergruppe von Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung. Hinter dem unklaren und seltsamen Fall verbirgt sich nicht selten als entscheidende Erklärung für seltsame Interaktionsmuster und schwer zu verstehende Verhaltensweisen ein bis dahin undiagnostiziertes Asperger-Syndrom. Das Er-kennen der richtigen Diagnose in solchen Konstellationen ist deshalb wichtig, weil schon diese Erkenntnis an sich für Patienten wie für Bezugspersonen oft eine wichtige psychotherapeutische Intervention dar-stellt. Denn indem sie das von den Patienten selbst und ihren Angehörigen schon immer erlebte Anders-Sein schlüssig erklären kann, nimmt sie oft für alle Beteiligten einen großen Anteil des interpersonellen Drucks und kann so eine Entlastung herbeiführen, die Raum für neue Problemlösungsansätze schafft.

3.1 Einleitung

Die Symptomatik und Klassifikation der verschiedenen autistischen Syndrome im Kindes- und Jugendalter wurde bereits im vorherigen Kapitel thematisiert. In den internationalen anerkannten Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV bzw. DSM-5 finden sich keine Differenzierungen der Diagnosestellung je nach Altersgruppe.


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