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Übungen im Öffentlichen Recht I
Fall 7Bachelorstudium Rechtswissenschaft, FS 2016
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I. Problemstellungen und Sachverhalt
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Problemstellungen
� Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen� Unterschied zwischen konkreter und abstrakter Normkontrolle� Bedeutung von Art. 190 BV bei der Überprüfung von
Verordnungen des Bundes
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Sachverhalt (I)
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Sachverhalt (II)
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Sachverhalt (III)
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Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die IV vom 29. November 1971 (HVI), Anhang (Auszug)
Neu: Invaliditätsbedingte Abänderung von Motorfahrzeugen, sofern die versicherte Person volljährig ist.
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Sachverhalt (IV)
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BGE 126 V 70
«Die Beschränkung des Anspruchs auf invaliditätsbedingte Abänderungen an Motorfahrzeugen auf volljährige Versicherte widerspricht Gesetz und Verfassung.»
Der Ausschluss der Minderjährigen vom Hilfsmittelanspruch gemäss Ziff. 10.05 HVI Anhang einzig auf Grund des Alters fällt in den Schutzbereich sowohl des Rechtsgleichheitsgebotes als auch des Verbotes altersbedingter Diskriminierungen Behinderter ….
… Diese qualifizierte Ungleichbehandlung lässt sich im Lichte von Art. 8 Abs. 1 und 2 BV weder durch die für die invalidenversicherungs-rechtliche Hilfsmittelversorgung im Allgemeinen (Gesundheitsschaden, invaliditätsbedingte Notwendigkeit, Eingliederungsziel) noch durch die auf Grund von Art. 21 Abs. 2 IVG und Art. 2 Abs. 1 HVI im Rahmen von Ziff. 10.05 HVI Anhang im Besonderen (Gehunfähigkeit, Transportbedürftigkeit) massgebenden Wertungsgesichtspunkte rechtfertigen.
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II. Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen
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Art. 21 Abs. 1 IVG
Art. 21 Abs. 2 IVG
Art. 14 IVV Ziff. 10.05 Anhang zur HVI
Art. 112 BV und Art. 112b BV
Gesetzesdelegation
Subdelegation
Gesetzesvertretende Verordnungsbestimmungen
Art. 8 Abs. 2 BV (und Art. 11 BV)
«…sofern die Person volljährig ist.»
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Zulässigkeit von Subdelegationen?
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Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997 (RVOG, SR 172.010)
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III. Frage 1: Anfechtung der HVI-Änderung durch Behindertenorganisation B
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Spielarten der Verfassungsgerichtsbarkeit
• Einzelaktkontrolle: Überprüfung eines Einzelaktes auf Verfassungskonformität.
• Normenkontrolle
• Abstrakte Normenkontrolle: Abstrakte Überprüfung einer Norm auf ihre Verfassungsmässigkeit
• Konkrete Normenkontrolle: Anfechtung eines Einzelaktes und vorfrageweise («inzidente», «akzessorische») Überprüfung des zugrunde liegenden Erlasses auf seine Verfassungsmässigkeit
• Konzentrierte und diffuse Verfassungsgerichtsbarkeit
• Nachträgliche oder präventive Verfassungsgerichtsbarkeit
(Biaggini/Gächter/Kiener, § 27 Rz 23 ff)
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Abstrakte Normenkontrolle
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Tieferrangige Norm
Höherrangige Norm
Anfechtungsobjekt
CH: Nur im Verhältnis zwischen Bundesrecht und kantonalem Recht. Auf der Ebene des Bundesrechts gibt es grundsätzlich keine abstrakte Normenkontrolle. (Ausnahme: Klage nach Art. 120 BGG).
Vereinbarkeit
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Überprüfung der Änderung durch eine abstrakte Normenkontrolle
Kein zulässiges Anfechtungsobjekt der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten.
Keine abstrakte Überprüfung von Bundesverordnungen im Rahmen des Individualrechtsschutzes.
Art. 82 BGGDas Bundesgericht beurteilt Beschwerden:
a. gegen Entscheide in Angelegenheiten des öffentlichen Rechts;b. gegen kantonale Erlasse;c. betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und Bürgerinnen sowie betreffend Volkswahlen und -abstimmungen.
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Exkurs: Beschwerdelegitimation des Behindertenverbandes B
� Abgrenzung
� ideelle Verbandsbeschwerde
� egoistische Verbandsbeschwerde
� Beschwerdeführung juristischer Personen zur Wahrung eigener Interessen
� Hier: Egoistisches Verbandsbeschwerderecht (i.c. nicht weiter zu prüfen)
(vgl. Biaggini/Gächter/Kiener, § 27 Rz. 73 ff.)
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IV. Frage 2: Vorgehen durch V und seine Familie
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Möglichkeiten von V und seiner Familie (I)
• Abstrakte Normenkontrolle auch hier nicht möglich, weil kein zulässiges Anfechtungsobjekt vorliegt.
• Einzelaktkontrolle (Anfechtung der Verweigerung der Vergütung) ist möglich, falls die Voraussetzungen von Art. 82 ff. BGG erfüllt sind.
� Anfechtungsobjekt: Art. 82 lit. a BGG
� Keine Ausnahme: Art 83 BGG
� Entscheid einer Vorinstanz: Art. 86 ff. BGG
� Beschwerderecht: Art. 89 BGG
� Anfechtbarer Entscheid: Art. 90 ff. BGG
� Beschwerdegründe?
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Konkrete Normenkontrolle
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Tieferrangige Norm
Höherrangige Norm
Vereinbarkeit
Anfechtungsobjekt
CH: Auch im Bund möglich, unter Vorbehalt von Art. 190 BV.
Anwendungsakt/Verfügung
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Möglichkeiten von V und seiner Familie (II)
«Bei der konkreten Normenkontrolle […] wird ein konkreter Rechtsanwendungsakt […] angefochten. Ist dabei zweifelhaft, ob die Rechtsnorm, auf die er sich stützt, ihrerseits dem höherrangigem Recht entspricht, wird dies vorfrageweise geprüft.» (Biaggini/Gächter/Kiener, § 27 Rz. 38)
«[Es] stellen sich somit zwei Fragen, eine Hauptfrage und eine Vorfrage. Die Hauptfrage lautet: Ist die angefochtene Verfügung rechtmässig? Um dies zu beantworten muss zunächst folgende Vorfrage beantwortet werden: Entspricht die Norm […], auf die sich die Verfügung stützt, ihrerseits dem höherrangigem Recht?» (Biaggini/Gächter/Kiener, § 27 Rz. 40)
� Widerspricht Ziff. 10.05 des Anhangs zur HVI Art. 8 Abs. 2 BV und/oder Art. 11 BV?
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Einschränkung der «Verfassungsgerichtsbarkeit»
Art. 190 BV Massgebendes RechtBundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.
• Bundesgesetze werden auch bei Widerspruch zu Bestimmungen der BV angewendet.
• (Bei Völkerrecht keine eindeutige Rechtslage, wurde im Grundsatz in Übung 4 besprochen.)
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«Fernwirkung» von Art. 190 BV
«[Vorgaben eines Bundesgesetzes sind] für das Bundesgericht verbindlich, selbst wenn sie verfassungswidrig sein sollten. Dies wirkt sich auch auf die Überprüfungsbefugnis in Bezug auf die nachgelagerten Verordnungen insofern aus, als auch sie als massgeblich zu gelten haben, soweit darin lediglich eine Verfassungsverletzung übernommen wird, die sich bereits aus dem Bundesgesetz selber ergibt.» (BGE 130 I 26 E. 2.2 S. 32)
� Gesetzesvertretende Verordnung müssen angewendet werden,
� wenn die Delegation den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt,
� wenn die Verfassungswidrigkeit im Gesetz selbst angelegt ist.
(Biaggini/Gächter/Kiener, § 27, Rz. 98 f.)
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Fazit
� Das Bundesgericht hat bereits festgestellt, dass Beschränkung auf Volljährige verfassungswidrig wäre.
� Die Verfassungswidrigkeit der geplanten Revision (Ziff. 10.5 Anhang HVI) ist nicht im Bundesgesetz vorgegeben.
� Die Gerichte (und letztlich das Bundesgericht) können die Verfassungsmässigkeit der Revision vorfrageweise überprüfen.
� V und seine Familie wären mit der Anfechtung einer Leistungsverweigerung, die sich auf die revidierte Bestimmung stützt, voraussichtlich erfolgreich.
� Als Folge würde Ziff. 10.5 in der revidierten Fassung (im konkreten Fall) die Anwendung versagt.
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