Zwischen Märchen und modernen Welten - carsten- · PDF fileCarsten Gansel Sabine Keiner (Hrsg.) Zwischen Märchen und modernen Welten . Kinder- und lugendliteratur im Literaturunterricht

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  • Carsten Gansel Sabine Keiner (Hrsg.)

    Zwischen Mrchen und modernen Welten

    Kinder- und lugendliteratur im Literaturunterricht

    Sonderdruck 1998

    1Peter Lang

    Frankfurt am Main . Berlin . Bern . New York . Paris Wien

  • CARSTEN GANSEL

    "Neue Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel"

    Kinder- und Jugendliteratur als Gegenstand von Literaturwissenschaft und -didaktik

    "Die Klasse schraubt sich von den Sthlen hoch. Die Lehrerin wartet, bis alle stehen... 'Freundschaft'!

    'Freund Schaf!' Der gewohnte Leierchor. 'Wir haben heute viel vor', sagt sie. 'Daher keine Leistungskontrolle.' ... Frau Schulthei erffnet locker das Unterrichtsgesprch mit der Routinefrage, wer Friedrich Schiller war.

    'Mein Opa mtterlicherseits' antwortet Alfred. Die Klasse ist nicht zu ernsthafter Arbeit aufgelegt. 'Eine Art Nationalgoethe gegen Absolutismus und preuischen Militarismus' klappst Lffel ...Frau Schulthei lchelt nachsichtig, erklrt geduldig, ordnet zeitlich ein. Und dann beginnt sie, das Drama Wilhelm Tell zu behandeln" (Saalmann 1993,35).

    Der Ausschnitt aus Gnter Saalmanns Jugendroman "Zu keinem ein Wort" (1993) scheint unzweideutig zu signalisieren, wo man sich befindet: Literaturunterricht (in der DDR) - konfrontativ, lehrerzentriert, ideologisierend, sozialisierend, langweilend. Es verwundert nicht, wenn wenig spter dann auch jene Signalfragen fallen, die allgemein als Kennzeichen fr einen traditionellen - von der Lebenswelt der Schler um Lichtjahre entfernten - Umgang mit Literatur gelten: "Was wollte Schiller seinen Zeitgenossen mit diesen Versen sagen?" und "Und was kann der Dichter uns Heutige lehren?" (Saalmann 1993, 37; Hervorhebungen-c. G.)

    Saalmanns Darstellung von Literaturunterricht ist kein Einzelfall und keineswegs auf die DDR beschrnkt. Wer heute den Versuch macht, gestandene Autoren nach ihren Erfahrungen mit dem Literaturunterricht zu befragen, wird wenig Sympathisches hren, sondern statt dessen auf Abwehr stoen. Ja berhaupt scheint in der deutschen Literatur die Gestalt des Lehrers in besonderem Mae dazu geeignet, sich von ihr abzustoen: Jakob Michael Reinhold Lenz' "Hofmeister", Jean Pauls "Schulmeister Wutz", Karl Immermanns "Dorfschulmeister Agesel", Heinrich Manns "Professor Unrat", Thomas Manns Lehrergestalten wie der Kandidat Modersohn",

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  • Carsten Gansel

    Bertolt Brechts "Kriegerischer lehrer" gehren ebenso dazu, wie die Ado-leszenz- und Schulromane der Jahrhundertwende: Emil Strau' "Freund Hein" (1902), Hermann Hesses "Unterm Rad" (1905), Robert Musils "Die Verwirrungen des jungen Trle" (1906), Robert Walsers "Jakob von Gunten" (1909), nicht zu vergessen sind Wedekinds Gymnasialprofessoren Sonnenstich, Hungergurt, Knochenbruch, Affenschmalz, Knppeldick oder Wilhelm Buschs lehrer lmpel. Wenn wundert es, wenn sich Beispiele fr einen "gelungenen" (Literatur)Unterricht nur in Ausnahmen finden. Dazu gehrt Uwe Johnson mit seiner "Schach von Wuthenow"-Episode aus den "Jahrestagen". Johnson hatte eigene Erfahrungen wie seine Vision vom Literaturunterricht am Beispiel des Deutschlehrers Mathias Weserich vor-gefhrt. Der behandelte mit Gesine Cresspahls Abiturklasse ber ein hal-bes Jahr (I) - bei immerhin vier Wochenstunden Deutsch (I) - Theodor Fon-tanes Novelle "Schach von Wuthenow". Rckblickend bescheinigt Gesine ihrem Deutschlehrer: "Und wir hatten bei ihm das Deutsche lesen gelernt." UT 1694-1707).1 Solches lob bleibt selten. Es hngt dies wohl einfach da-mit zusammen, da die Anforderungen von Schule wie (Literatur)Unterricht auf der einen und die aktuellen Interessen von Schlern auf der anderen Seite - bei allen historischen Wandlungen der Rolle von Schule und Unterricht - zu sehr auseinandergehen. Schule als belehrende Instanz, als Erziehungs-oder Unterweisungsanstalt und sthetik, also mithin auch Spa am lesen, scheinen in einem unauflsbaren Gegensatz zu stehen. Ob Schler also bei einer vergleichbaren Vorgehensweise wie Johnsons "Person" Weserich ihren lehrern heute ein solches lob aussprechen wrden, bleibt fraglich. Fr Jugendliche - wenn sie denn von sich aus zu einem literarischen Text grei-fen und ihn "ganz" lesen - spielt das "Was" der literarischen Darstellung zunchst die entscheidende Rolle. Sogenannte "literarisch-sthetische" Ge-sichtspunkte haben fr Jugendliche - wie ja fr die meisten leser berhaupt - ebenso wenig Bedeutung, wie die Frage nach dem literarischem Rang der Autoren, nach literarischer Innovation, nach modernen Erzhlverfahren, nach Motiv- oder Gattungstraditionen. Mit dem Hinweis allein auf die literatur-geschichtliche Bedeutung von Autoren ist also kein Schler zu motivieren.

    Die Distanz gegenber dem Literaturunterricht ist nachvollziehbar, schwe-rer verstndlich indes sind die pauschal-effektvollen Klagen von Autoren ber "die lehrer" oder "den Deutschunterricht". Bei aller berechtigten Kritik sollte nicht unterschlagen werden, da Literaturunterricht , -wissenschaft oder -kritik letztlich als "Agenturen" funktionieren, die das )iterarische Gedchtnis unserer Gesellschaft beliefern und formen". Was diese Instan-zen vergessen oder woran sie nicht ausdauernd erinnern, "das geht" - so

    Kinder- und Jugendliteratur als Gegenstand von Literaturwissenschaft und -didaktik

    Klaus Weimar - "dem kollektiven Gedchtnis frher oder spter mit eini-ger Sicherheit verloren" (Weimar 1994, 5). Autoren wie Gnter Grass oder Hans Magnus Enzensberger, die wenig Sympathie fr die genannten "Agen-turen" haben, danken ihre gesamtgeseJlschaftliche Wertschtzung wie ihr Eingehen in den (Schul)Kanon nicht zuletzt auch dem Engagement gera-de von Deutschlehrern. Klaus Weimars Anmerkung ist aber noch in ande-rer Hinsicht von Bedeutung, sie zeigt, wie wichtig die Verstndigung ber Texte ist, die zum Gegenstand von Literaturunterricht geworden sind bzw. es werden (sollen). Und selbstverstndlich betrifft dies auch die Diskussi-on ber jene Instanzen, die sich mit Methoden der Analyse von Literatur ebenso beschftigen wie mit ihrer unterrichtlichen Vermittlung.

    Im vorliegenden Beitrag - wie in dem gesamten Band - soll lediglich ein Gegenstand literaturwissenschaftlicher wie -didaktischer Bemhungen ei-ner genaueren Betrachtung unterzogen werden, nmlich die Kinder- und Jugendliteratur (KJl). Es geht insbesondere um ihre Rolle im literatur-unterricht wie auch um die Mglichkeiten des Umgangs mit ihr.

    I. Literatur und Literaturunterricht Betrachtet man das Verhltnis von Literatur, Literaturwissenschaft, literatur-didaktik, Literaturunterricht, dann zeigen sich systemische Abstobewegun-gen. Literaturwissenschaft mu es verstndlicherweise problematisch er-scheinen, das "Symbol"- oder/und "Handlungssystem Literatur" mit sei-nen vielfltigen Beziehungen reduziert und in einen didaktischen Zusam-menhang eingepat zu sehen.2 Auch in Hinblick auf die KJl existieren immer wieder berlegungen, die vor einer didaktischen Ausbeutung war-nen. Literaturdidaktik wiederum - sofern es ihr um eine bertragung und Anwendung von Literatur wie Literaturwissenschaft auf schulische Gege-benheiten geht - kann gnzlich in Widerspruch zum realen Unterrichts-proze etwa an einer Haupt-, Real- oder Gesamtschule stehen. Die Unterrichtspraxis zeigt, da auerhalb der universitren Verstndigung im Seminar oder der gymnasialen Oberstufe interpretatorische Bemhungen, also die Diskussion ber die Textstruktur, den "Sinn" des Textes wie seine vermeintliche Bedeutung nur bedingt Chancen haben. Hier wird Literatur weitgehend "pragmatisch" eingesetzt und der jeweiligen Situation in Klas-se, Schulstufe, Schulart angepat. Das heit:

    1. Es geht darum, einige ausgewhlte Seiten insbesondere von Stoff und Thema zu betrachten, die zum Anla fr Problemgesprche werden (= stofflich-thematischer und problemorientierter Zugang).3

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    2. Es geht darum, den Text aufzubrechen, ihn zu verndern, umzuschreiben, weiterzuschreiben, er wird zum Ausgangc;punkt fr kreative Schreibanlsse (= produktions- und handlungsorientierter Zugang).4

    3. Es geht darum, die auf der Darstellungc;ebene (Handlungen, Figuren, Episoden) des Textes entworfene Konfliktlage, die Probleme, Widersprche auf die eigene Person, die subjektive Befindlichkeit, die aktuelle historische Situation zu bertragen (= aktualisierender Zugang).

    4. Es geht darum, durch eine entsprechende Textauswahl psychologische Reaktionen wie Spannun~ Unterhaltung, Lesespa zu erzeugen (= lesefrdernder Zugang).

    5. Es geht darum, einen literarischen Text zum Ausgangc;punkt fr einen fcherbergreifenden Diskurs zu einer Thematik wie "Jugendkultur" "Drogen", "Natur und Umwelt", "Gewalt" zu machen (= fcherbergreifender Zugang).

    6. Es geht darum, durch die Auseinandersetzung mit der "Machart", der Struktur des Textes literarisches Wissen und Kenntnisse ber Literatur zu vermitteln (= Zugang zu literarischer Bildung).

    Die hier vorgenommene Unterscheidung ist eine modellhafte, da es in der Praxis zu einer Verbindung der verschiedenen Prinzipien kommt und das "Mischungsverhltnis" nur in Abhngigkeit von der konkreten Situation in Klasse, Schulstufe, Schulart wie dem jeweiligen literarischen Text zu bestimmen ist. Klar drfte auch sein, da aus philologischer Sicht, die beschriebenen didaktischen Zugnge als eine "Beschdigung" bestimmter Texte allein deshalb angesehen werden mssen, weil die Behandlung im Literaturunterricht immer eine Simplifizierung bedeutet. Dabei ist Komplexes auf Anschauliches und damit fr Schler Fabares zu reduzieren. Gleichwohl sollten Radikalphilologen, die mit abwehrender Geste die didaktischen Bemhungen, - wenn berhaupt - zur Kenntnis nehmen, nicht unterschlagen, in welchem Mae das eigene Gewerbe hermeneutischer Interpretationskunst nolens volens eine Reduktion, eine Festschreibung, eine Verletzung der Aura des Textes darstellt und darum von Autoren skeptisch zur Kenntnis genommen wird.

    Nun kann