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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2012 Zur Einführung: Der Grundsatz der Chancengleichheit in der UN-Behindertenrechtskonvention Wallimann-Helmer, Ivo Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-53683 Book Section Originally published at: Wallimann-Helmer, Ivo (2012). Zur Einführung: Der Grundsatz der Chancengleichheit in der UN- Behindertenrechtskonvention. In: Wallimann-Helmer, Ivo. Chancengleicheit und ”Behinderung” im Bildungswesen. Freiburg / München: Verlag Karl Alber, 7-23.

ZurEinführung: DerGrundsatzderChancengleichheitinder UN … · 2020. 8. 1. · der normativen Theorie. Der Herausgeber: Dr. Ivo Wallimann-Helmer studierte Philosophie und Germanistik

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  • Zurich Open Repository andArchiveUniversity of ZurichMain LibraryStrickhofstrasse 39CH-8057 Zurichwww.zora.uzh.ch

    Year: 2012

    Zur Einführung: Der Grundsatz der Chancengleichheit in derUN-Behindertenrechtskonvention

    Wallimann-Helmer, Ivo

    Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of ZurichZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-53683Book Section

    Originally published at:Wallimann-Helmer, Ivo (2012). Zur Einführung: Der Grundsatz der Chancengleichheit in der UN-Behindertenrechtskonvention. In: Wallimann-Helmer, Ivo. Chancengleicheit und ”Behinderung” imBildungswesen. Freiburg / München: Verlag Karl Alber, 7-23.

  • Ivo Wallimann-Helmer (Hg.)

    Chancengleichheit und »Behinderung«im Bildungswesen

    P�DAGOGIK UND PHILOSOPHIE A

  • Damit behinderten Menschen die gleichen sozialen Möglichkeiten of-fen stehen, müssen für sie angemessene Bildungschancen sichergestelltwerden. Dies bedeutet in der politischen Rhetorik meist, Chancen-gleichheit für Behinderte zu fordern. Dabei bleibt allerdings häufigoffen, wie sich Bildungsansprüche für behinderte Menschen rechtfer-tigen lassen, die über ein Nicht-Diskriminierungsgebot hinausgehen.Die Rechtfertigung solcher Bildungsansprüche wirft normative Fragender Verteilungsgerechtigkeit auf. Gleichzeitig verlangen sie in der pä-dagogischen Umsetzung nach Kriterien zur Bemessung entsprechen-der Leistungsansprüche.

    Hierzu müssen sowohl aus normativer als auch aus pädagogischerPerspektive folgende drei Fragen beantwortet werden: a) Was ist imKontext der Rede von Chancengleichheit im Bildungswesen überhauptunter »Behinderung« zu verstehen? b) Wie sind die knappen Ressour-cen zur Sicherstellung von Chancengleichheit zwischen »Behinderten«und Nicht-»Behinderten« zu verteilen? c) Welche pädagogischen Maß-nahmen lassen sich zur Sicherstellung von Chancengleichheit für»Behinderte« rechtfertigen? Die in diesem Band vereinten Beiträge er-läutern diese drei Fragen aus gerechtigkeitstheoretischer und sonder-pädagogischer Sicht.

    Die gerechtigkeitstheoretischen Beiträge in diesem Band bildendie egalitaristische und non-egalitaristische Rechtfertigungsperspekti-ve ab und diskutieren die Forderung nach Chancengleichheit im Lichteder Bildungsansprüche behinderter Menschen. Im Gegensatz zur phi-losophischen Debatte ist die Diskussion über Bildungsansprüche be-hinderter Menschen aus der Perspektive der Sonderpädagogik nicht inerster Linie mit deren normativen Rechtfertigung befasst. Die sonder-pädagogischen Beiträge in diesem Band behandeln Fragen der Umset-zung von Chancengleichheit für »Behinderte« vor dem Hintergrundder normativen Theorie.

    Der Herausgeber:

    Dr. Ivo Wallimann-Helmer studierte Philosophie und Germanistik inZürich und Berlin. Seit 2010 ist er wissenschaftlicher Assistent undGeschäftsleiter des Studiengangs Advanced Studies in Applied Ethicsam Ethik-Zentrum der Universität Zürich.

  • Ivo Wallimann-Helmer (Hg.)

    Chancengleichheitund »Behinderung«im BildungswesenGerechtigkeitstheoretische undsonderpädagogische Perspektiven

    Verlag Karl Alber Freiburg/München

  • Pädagogik undPhilosophie 5

    Wissenschaftlicher Beirat:Daniela G. Camhy, Ursula Frost, Ekkehard Martens,Käte Meyer-Drawe, Hans-Bernhard Petermann, Matthias Rath,Volker Steenblock, Barbara Weber und Franz Josef Wetz

    Der Druck dieses Sammelbandes wurde durch den UniversitärenForschungsschwerpunkt Ethik der Universität Zürich finanziellermöglicht.

    Originalausgabe

    © VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

    Satz: SatzWeise, FöhrenHerstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

    Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)Printed on acid-free paperPrinted in Germany

    ISBN 978-3-495-48495-1

  • Inhalt

    Ivo Wallimann-HelmerZur Einführung: Der Grundsatz der Chancengleichheit in

    der UN-Behindertenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . 7

    Markus DederichInklusion als Menschenrecht und Bedingung der Möglichkeit

    für Chancengleichheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

    Sabine JentschDer »Mehrwert« der Inklusion. Philosophische Grundlagen

    einer bildungspolitischen Forderung . . . . . . . . . . . . . 53

    Sigrid GraumannFreiheit als Entwicklungskonzept und das Menschenrecht auf

    inklusive Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

    Sabine AndresenWas Kindheit prekär macht und Kinder verletzlich.

    Theoretische Ansätze und ausgewählte empirische Befunde . 107

    Thomas SchrammeWarum die Idee von Chancengleichheit im Bildungswesen

    sowie die Konzeption von Behinderung als Nachteil

    fehlgeleitet sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

    Franziska FelderChancen worauf? Bildung als Befähigung und die

    Herausforderung von Behinderung . . . . . . . . . . . . . . 139

    5

  • Kirsten MeyerBildung, Chancengleichheit und Gutes Leben . . . . . . . . . 165

    Ivo Wallimann-HelmerChancengleichheit in der Bildung – auch für Menschen

    mit Behinderung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

    Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . 215

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    Inhalt

  • Ivo Wallimann-Helmer

    Zur Einf�hrung: Der Grundsatz derChancengleichheit in der UN-Behinderten-rechtskonvention

    Damit behinderten Menschen die gleichen sozialen Möglichkeiten wieallen anderen offen stehen, muss für sie angemessene Bildung sicher-gestellt werden. Dies bedeutet in der politischen Rhetorik meist,»Chancengleichheit für Behinderte im Bildungswesen« zu fordern. Esbleibt allerdings häufig offen, was »Chancengleichheit für Behinderteim Bildungswesen« eigentlich meint. Dabei betrifft eine erste unddringliche Frage, welche besonderen Ansprüche behinderten Schüle-rinnen und Schülern aus dieser Forderung erwachsen sollen. Um dieseFrage klären zu können, müssen die folgenden Problemfelder dis-kutiert werden: 1. Worin bestehen die speziellen Bildungsansprüchebehinderter Schülerinnen und Schüler? Die Beantwortung dieser Fragesetzt voraus, dass geklärt ist, unter welchen Umständen Schülerinnenund Schüler legitimerweise als »Behinderte« gelten können und des-halb besondere Bildungsansprüche haben. 2. Damit ist allerdings nochnicht geklärt, welche pädagogischen und institutionellen Maßnahmenzur Sicherstellung von Chancengleichheit für behinderte Schülerinnenund Schüler notwendig sind. 3. Mit Blick auf Chancengleichheit mussdeshalb geklärt werden, inwiefern damit Forderungen verbunden sind,die über die Sicherstellung eines gleichberechtigten oder fairen Zu-gangs zur Bildung hinausgehen. Denn um adäquate Bildung für behin-derte Schülerinnen und Schüler sicherzustellen, müssen nicht nur for-mal gleiche Zugangsbedingungen zur Bildung ermöglicht werden,sondern auch substantielle Unterstützungsmaßnahmen bereitstehen.Die Beiträge in diesem Sammelband setzen sich mit diesen drei Pro-blemfeldern auseinander.

    Die Brisanz dieser drei Problemfelder zeigt ein Blick auf die offi-zielle Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ins Deut-sche und die durch die sogenannte Schattenübersetzung entstandeneDebatte über die korrekte Übersetzung. Beide Übersetzungen verste-hen »Behinderung« als langfristige körperliche, seelische, geistige oder

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  • Sinnesbeeinträchtigung, die in Wechselwirkung mit institutionellenRahmenbedingungen die volle und gleichberechtigte Teilhabe an derGesellschaft behindern können.1 Führt die Umsetzung von Chancen-gleichheit zu institutionellen Strukturen, dann wird damit je nach Ver-ständnis des Ideals demzufolge auch eine bestimmte Auffassung von»Behinderung« institutionalisiert. Mit der Schattenübersetzung wirdmoniert, dass statt wie in der englischen Fassung der Konvention keinBildungssystem der »inclusive education«2 sondern ein integrativesBildungssystem gefordert wird.3 Ein integratives Bildungsverständnismit seiner Schaffung von Sonder- und Förderschulen beinhaltet eingrundsätzlich anderes Verständnis angemessener Bildung für behin-derte Schülerinnen und Schüler als ein inklusives Bildungsverständ-nis. Chancengleichheit begünstigt je nach Auffassung das eine oderdas andere Verständnis von Bildung. Im Weiteren postuliert die UN-Behindertenrechtskonvention »Chancengleichheit« als einen Grund-satz neben denjenigen der »Nichtdiskriminierung« und der »Barriere-freiheit«. Ein zentrales Versäumnis der Konvention ist, das Verhältniszwischen den letzteren beiden Grundsätzen und demjenigen derChancengleichheit offen zu lassen. Dies ist problematisch, weil Chan-cengleichheit je nach Verständnis nichts anderes bedeutet, als Nicht-diskriminierung oder Barrierefreiheit sicherzustellen.

    Diese Einführung versteht sich als Kommentar zur UN-Behinder-tenrechtskonvention und zur Debatte über die korrekte Übersetzungins Deutsche. Sie zeigt dabei, welche Antworten die Beiträge in diesemBand zu dieser Debatte aber v. a. zur Frage erwarten lassen, was »Chan-cengleichheit für Behinderte im Bildungswesen« eigentlich bedeutet.Die Beiträge in diesem Sammelband befassen sich allerdings nicht inerster Linie mit der UN-Behindertenrechtskonvention und ihrer Über-setzung ins Deutsche. Die im Zuge der Ratifizierung der Konvention inDeutschland im Jahr 2009 entstandene Debatte über die korrekte Über-setzung widerspiegelt sich aber in den Beiträgen zu diesem Band. Dabeisteht zum einen im Fokus, dass die gängige Praxis eines integrativen

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    Ivo Wallimann-Helmer

    1 UN-Behindertenrechtskonvention, offizielle und Schattenübersetzung ins Deutsche,Art. 12 UN Convention on The Rights of Persons with Disabilities, Art. 24(1)3 UN-Behindertenrechtskonvention, Schattenübersetzung ins Deutsche, Art. 24(1)

  • Bildungssystems mit Sonder- und Förderschulen den Bildungsbedürf-nissen und -ansprüchen »behinderter« Schülerinnen und Schüler we-niger gut gerecht werden kann als ein inklusives Bildungssystem. Zumanderen spielt im Zuge dieser Auseinandersetzung die Frage nach demangemessenen Verständnis von »Behinderung« eine zentrale Rolle.Der Hauptfokus der Beiträge in diesem Band ist die Frage danach, wasunter »Chancengleichheit für Behinderte im Bildungswesen« zu ver-stehen ist und welche Herausforderungen mit dieser Forderung einher-gehen.

    Im Folgenden soll nach einem kurzen Überblick über die Beiträgein diesem Sammelband gezeigt werden, welche Antworten auf die fol-genden drei Fragen in den Beiträgen erwartet werden kann: 1. Was istim Bildungswesen unter »Behinderung« zu verstehen? 2. Welche Pä-dagogik ist für »Behinderte« im Bildungswesen gefordert? Die Bear-beitung dieser beiden Fragen stellt eine zentrale Voraussetzung dafürdar, den Grundsatz der Chancengleichheit zu klären und die zentraleFrage zu beantworten, der sich die Beiträge in diesem Sammelbandstellen: 3. Was meint »Chancengleichheit für Behinderte im Bildungs-wesen«?

    1. Die Beitr�ge im �berblick oderdie Unterbestimmtheit von Chancengleichheit

    Der folgende Überblick über die Beiträge in diesem Sammelband zeigtin erster Linie eines: Chancengleichheit als Ideal ist äußerst unterbe-stimmt. Deshalb bleiben auch die damit verbundenen Forderungen un-klarer, als dies die politische Rhetorik meist glauben macht. Der Bandwird eröffnet durch einen Beitrag der die angesprochenen drei Pro-blemfelder in einem Überblick darstellt. Markus Dederich zeigt auf,dass inklusive Pädagogik besonders günstig für die Herstellung vonChancengleichheit ist. Er weist aber darauf hin, dass gerade die Ver-wirklichung dieses Grundsatzes im Rahmen eines inklusiven Bildungs-systems zu folgendem Dilemma führt: Zum einen begünstigt Chan-cengleichheit Selektion und Wettbewerb, zum anderen will inklusivePädagogik im Gegensatz dazu nicht ausschließend sein. Dieses Dilem-ma zu lösen ist deshalb seiner Meinung nach eine drängende Heraus-forderung für die Sonderpädagogik und – wie aus der Perspektive derPhilosophie zu ergänzen wäre – der Gerechtigkeitstheorie.

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    Zur Einf�hrung

  • Gegen die in der philosophischen Debatte gängigen Auffassungenvon Gerechtigkeit (und Chancengleichheit) wenden sich die beiden da-rauf folgenden Beiträge: Sabine Jentsch zeigt vor dem Hintergrund desmethodischen Rahmens einer nicht machttheoretisch und -politischblinden politischen Philosophie, weshalb ein inklusives einem integra-tiven Bildungssystem vorzuziehen ist. Nur ersteres kann den An-spruch Behinderter ernst nehmen, als gleichberechtigte Gesellschafts-mitglieder über die Verwendung von Gemeingütern mitzubestimmen.Ähnlich kritisch argumentiert Sabine Graumann in ihrem Beitrag.Ihrer Meinung nach werden im Rahmen des gängigen Verständnissesvon Gerechtigkeit behinderte Menschen entweder nicht berücksichtigtoder sie werden als minderwertig stigmatisiert. Aus diesem Grund ent-wickelt sie aus ihrem kantianischen Konzept »assistierter Freiheit« eineVerteidigung inklusiver Pädagogik. Nur eine inklusive Pädagogik kannsicherstellen, dass behinderte Schülerinnen und Schüler in ihrem Po-tential zur Entwicklung der Befähigung zu Freiheit und Autonomieangemessen gefördert werden.

    Weniger kritisch sehen die folgenden drei Beiträge die gängigenGerechtigkeitsauffassungen, sofern sie nicht egalitaristischer – d. h. aufeiner starken Gleichheitsforderung beruhend – Natur sind. SabineAndresen betont in ihrem Beitrag die zentrale Bedeutung, die der Vul-nerabilität von Kindern für ihre Entwicklung zukommt. Kinder sind –und wie zu ergänzen wäre – genauso wie behinderte Menschen in derWahl und Ausgestaltung ihres Umfeldes stark von ihren leiblichen undprofessionellen Bezugspersonen abhängig. Deshalb ist es von zentralerBedeutung, dass Kriterien entwickelt werden, die die Bemessung undUmsetzung der Bedingungen für ein gutes menschliches Leben fürdieserart abhängige Menschen zu bestimmen erlauben. Dem würdeThomas Schramme zustimmen. In seinem kritischen Beitrag vertritter die Meinung, mit Blick auf behinderte Schülerinnen und Schülersei es nicht in erster Linie von Bedeutung, wie gut bzw. schlecht sie imVergleich zu anderen dastehen, sondern dass ihnen das Erreichen einesangemessenen Bildungsniveaus durch die Schaffung entsprechenderinstitutioneller Rahmenbedingungen ermöglicht wird. Auch FranziskaFelder wendet sich gegen ein Bildungsverständnis, das Bildung und dasBildungssystem als Wettbewerb konstruiert. Ihrer Meinung nach liegtder zentrale Wert von Bildung in der Ermöglichung eines gutenmenschlichen Lebens. Deshalb ist eine zentrale Aufgabe von Bildungs-institutionen, für Schülerinnen und Schüler angemessene Rahmenbe-

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    Ivo Wallimann-Helmer

  • dingungen zu schaffen, um die dafür notwendigen Kompetenzen er-werben zu können.

    Gegen eine solche Auffassung angemessener Bildungsbedingun-gen wirft Kirsten Meyer kritisch ein, dass damit der Blick verengt wür-de auf diejenigen Bedingungen, die zu unterschreiten kein gutesmenschliches Leben mehr ermöglichten. Es kommt nach ihr vielmehrdarauf an, die verschiedenen Lebensbereiche zu berücksichtigen, die alsFaktoren das gute menschliche Leben beeinflussen. Ihrer Meinungnach kann dies im Rahmen eines egalitären Verständnisses von Chan-cengleichheit besser geleistet werden. Chancengleichheit so verstandenbedeutet demzufolge, allen Schülerinnen und Schülern die gleichenAussichten auf ein gutes menschliches Leben zu ermöglichen, indemihre je spezifischen Bildungsbedürfnisse berücksichtigt werden. IvoWallimann-Helmer hält einem solchen Verständnis von Chancen-gleichheit entgegen, dass es Gefahr laufe, die legitimen Bildungs-ansprüche sozial und ökonomisch benachteiligter, aber nicht behinder-ter Schülerinnen und Schülern nicht angemessen zu berücksichtigen.Deshalb verteidigt er die These, dass im Bildungswesen weder nur einegalitäres Verständnis von Chancengleichheit noch nur die Bedingun-gen für ein gutes menschliches Leben von normativer Relevanz seinsollten.

    Dieser kurze Durchgang durch die Beiträge dieses Bandes zeigt,dass das Ideal der Chancengleichheit stark unterbestimmt ist. Ein Ver-ständnis von Chancengleichheit, das Selektion und Wettbewerb be-günstigt sowie egalitär ausgelegt ist, legt Bildungsansprüche im Rah-men eines vergleichenden Prozedere fest: Wer im Rahmen von Testsgleichgut abschneidet, hat Anspruch auf gleichen Bildungserfolg. SollChancengleichheit demgegenüber für alle Schülerinnen und Schülergleiche Aussichten auf ein gutes Leben ermöglichen, dann sind Bil-dungsinstitutionen nicht so sehr als Mechanismen der Selektion zuverstehen, sondern als Institutionen der Ermöglichung. Sie stellen füralle Schülerinnen und Schüler die notwendigen, individuell ausgestal-teten Rahmenbedingungen sicher, um die entsprechenden Kompeten-zen erwerben zu können. Dabei ist allerdings Vorsicht geboten, weilChancengleichheit sowohl als selektiver wie auch als ermöglichenderMaßstab Gefahr zu laufen scheint, die Bildungsansprüche Behinderternicht angemessen zu berücksichtigen. Dies zum einen, weil Chancen-gleichheit keine adäquate Festlegung der speziellen Bildungsansprüchebehinderter Schülerinnen und Schüler erlaubt, und zum anderen, weil

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    Zur Einf�hrung

  • das Ideal »Behinderung« einseitig als dem Individuum anhaftendesProblem konstruiert.

    2. Was ist im Bildungswesen unter»Behinderung« zu verstehen?

    Gemäß der Schattenübersetzung der UN-Behindertenrechtskonventi-on stellt der Grundsatz der »Barrierefreiheit« sicher, dass behindertenMenschen »ein selbstbestimmtes Leben und die volle Teilhabe in allenLebensbereichen« möglich ist. Dies bedingt gemäß der Konvention dieErmöglichung des Zugangs zu Gebäuden, zu Transport- sowie Kom-munikationsmitteln.4 Für das Bildungswesen bedeutet dies in ersterLinie, dass auf keiner Stufe des Bildungssystems Schülerinnen undSchüler aufgrund ihrer Behinderung von der unentgeltlichen öffent-lichen Bildung ausgeschlossen sein sollten. Behinderten Schülerinnenund Schülern sollte deshalb der barrierefreie Zugang zu Schulgebäu-den ermöglicht werden, ihnen sollten für den Weg dahin angemesseneTransportmittel zur Verfügung stehen und die Lerninhalte sollten sovermittelt sein, dass es ihnen möglich ist, sie zu erlernen.

    Einem weitverbreiteten Verständnis von Chancengleichheit fol-gend wird damit allerdings genau dies sichergestellt. Chancengleich-heit steht gemäß diesem Verständnis für die Forderung, allen die glei-chen Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen und sicherzustellen, dasskeine Schülerin, kein Schüler aufgrund irrelevanter Nachteile der Zu-gang zur Bildung verwehrt bleibt. Dies schließt den Zugang zu Gebäu-den, angemessene Transportmittel und Vermittlung von Lerninhaltenmit ein. Deshalb kann man die Meinung vertreten, Chancengleichheitumfasse auch die Sicherstellung von Barrierefreiheit. Meist wird aller-dings die Ansicht vertreten, Chancengleichheit stelle ein umfassende-res normatives Ideal als die Forderung nach Barrierefreiheit dar, weildamit weiterreichende normative Forderungen verbunden seien.

    In seiner gängigen Auslegung macht das Ideal der Chancengleich-heit dabei zumindest auf zwei wesentliche Punkte aufmerksam, die derGrundsatz der »Barrierefreiheit« aufgrund seiner Rede von »Freiheit«nicht abbildet: 1. Die Abschaffung von Barrieren im Bildungswesenbedeutet keineswegs, dass keine Barrieren mehr existieren. Vielmehr

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    Ivo Wallimann-Helmer

    4 UN-Behindertenrechtskonvention, Schattenübersetzung ins Deutsche, Art. 8(1)

  • wird mit Chancengleichheit sichergestellt, dass niemandem aufgrundirrelevanter Umstände und Eigenschaften Bildung verwehrt bleibt.Diejenigen Barrieren, die danach immer noch bestehen bleiben, bildendie legitimierbaren Hürden im Bildungswesen, die Bildungsinstitutio-nen Abschlüsse zu vergeben und den Zugang zu weiterführender Bil-dung zu regeln erlauben. 2. Dies führt direkt zum zweiten Aspekt, aufden das Ideal der Chancengleichheit aufmerksam macht: Mit Chancen-gleichheit wird kein bestimmter Bildungserfolg garantiert, sondern eswerden Rahmenbedingungen hergestellt, die allen Schülerinnen undSchülern unter fairen Bedingungen ermöglichen, ihr Bildungspotentialbestmöglich zu entwickeln.

    Damit stellt Chancengleichheit keine Forderung dar, die nur aufbehinderte Schülerinnen und Schüler Anwendung findet. Vielmehrwird damit die Ermöglichung gleicher Rahmenbedingungen für alleAuszubildenden gefordert. Dabei steht das Individuum mit seinem Bil-dungspotential im Zentrum. Es sind die individuellen Möglichkeitenund die individuelle Bildungsmotivation, die bestimmen, auf welchenBildungserfolg Schülerinnen und Schüler einen legitimen Ansprucherheben können. Für behinderte Schülerinnen und Schüler bedeutetdies demzufolge, dass sich ihr geringerer Bildungserfolg aufgrundeiner Beeinträchtigung in ihrem Bildungspotential rechtfertigen lässt.Aus der Perspektive der Disability Studies ist eine solche Sichtweiseallerdings fehlgeleitet, weil »Behinderung« nicht nur durch individuel-le Voraussetzungen gegeben ist, sondern gerade durch die institutio-nellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erst geschaffenwird. Wie Dederich erläutert, stellt deshalb die Definition von »Behin-derung« in der UN-Behindertenrechtskonvention einen markantenFortschritt dar, weil sie »Behinderung« dynamisch bestimmt. In derSchattenübersetzung heißt es:

    »Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige kör-perliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die in Wech-selwirkung mit verschiedenen Barrieren ihre volle und wirksame Teilhabegleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft behindern können.«5

    Gemäß dieser Definition von Behinderung besteht Behinderung des-halb nicht in einer individuellen, nachteiligen Ausstattung. Sie ent-steht vielmehr in der Wechselwirkung mit sozialen, strukturellen und

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    Zur Einf�hrung

    5 UN-Behindertenrechtskonvention, Schattenübersetzung, Art. 1

  • institutionellen Umständen. Geht man davon aus, dass mit der Ver-wirklichung von Chancengleichheit die Schaffung einer institutionel-len Struktur des Bildungswesens einhergeht, dann führt die Verwirk-lichung des Ideals auch zu einer Festlegung von Behinderung. SollChancengleichheit Bildungserfolg unter fairen Bedingungen für alleermöglichen, dann gelten Schülerinnen und Schüler nur aufgrundihrer individuellen Voraussetzungen als behindert. Ein dem verbreite-ten Verständnis von Chancengleichheit folgendes Bildungssystemmuss deshalb zum einen erlauben, zwischen behinderten und nicht-be-hinderten Schülerinnen und Schülern zu unterscheiden, und bestimmtzum anderen die Unterstützungsansprüche Behinderter aufgrund ihrerindividuellen Voraussetzungen. Dabei müsste allerdings angegebenwerden können, welches Potential zum Erreichen welchen Bildungs-niveaus die Klassifizierung als »behindert« verbietet. Denn sonstmüssten aufgrund des Selektionscharakters von Chancengleichheit diemeisten Schülerinnen und Schüler als behindert gelten. All diejenigenwären »Behinderte«, die aufgrund ihrer individuellen Ausstattungnicht das höchstmögliche Bildungsniveau erreichen können.

    Mit ausschließlichem Rückgriff auf das Ideal der Chancengleich-heit lassen sich die spezifischen Bildungsansprüche behinderter Schü-lerinnen und Schüler deshalb nur schwer festlegen. Aus diesem Grundargumentieren Andresen und Felder, dass die Ansprüche von Kindernund Behinderten im Rückgriff auf einen Standard des guten mensch-lichen Lebens gerechtfertigt werden sollten. Ein solcher Standard legtim Bildungswesen fest, welches Bildungsniveau zu erreichen allenSchülerinnen und Schülern unabhängig von ihren individuellen Vo-raussetzungen möglich sein sollte. So vertritt Felder die Meinung, dassdie Ausrichtung von Bildungsinstitutionen an den notwendigen Bedin-gungen zur Befähigung zu einem guten menschlichen Leben der Le-bensproblematik behinderter Menschen besser gerecht würde. And-resen betont darüber hinaus, dass eine solche Ausrichtung erlaubt,angemessene Standards für von ihrem sozialen Umfeld stark Abhängi-ge festzulegen. Dabei kann gemäß Meyer Chancengleichheit als einIdeal verstanden werden, das für alle Auszubildenden die Sicher-stellung gleicher Aussichten fordert, diese Bildungsziele erreichen zukönnen.

    Die Schwierigkeit einer solchen Sichtweise ist gemäß Jentsch al-lerdings, dass die Festlegung solcher Standards des guten menschlichenLebens machtpolitische Deutungshoheit eher zementiert denn sinnvoll

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    Ivo Wallimann-Helmer

  • umzudeuten erlaubt. Es ist deshalb ihrer Meinung nach von wesent-licher Bedeutung, dass bei der Ausgestaltung sozialer Institutionen,insbesondere von Bildungsinstitutionen, das Mitspracherecht Behin-derter gewährleistet ist. Der Einbezug behinderter Menschen bei derAusgestaltung von Bildungsinstitutionen würde die Festlegung vonBildungsansprüchen entschieden verändern. Dies führte bei der Aus-gestaltung von Bildungsinstitutionen sicherlich dazu, dass »Behin-derung« nicht einfach als Nachteil im Vergleich zu nicht behindertenSchülerinnen und Schüler aufgefasst wird. Denn wie Schramme argu-mentiert, ist ein solch komparatives Verständnis von Behinderungfehlgeleitet. Verknüpft mit der Forderung nach Chancengleichheitlenkt es davon ab, dass das zentrale Ziel von Bildung ein für alle ange-messenes Bildungsniveau ist und keine Klassifizierung im Sinne vonBesser und Schlechter.

    Vor diesem Hintergrund stellt sich deshalb die dringende Frage,ob Chancengleichheit im weitverbreiteten Verständnis einen Behinder-tenbegriff transportiert, der den Lebensumständen behinderter Men-schen nicht gerecht wird. Daraus folgt die weiterführende Frage, obChancengleichheit ein sinnvoller normativer Standard zur Festlegunglegitimer Bildungsansprüche behinderter Schülerinnen und Schülerdarstellt oder nicht. Zudem ist zu fragen, ob das weitverbreitete Ver-ständnis des Ideals mit seinem Selektions- und Wettbewerbscharakterumgedeutet werden muss und kann. Zur letzten dieser drei Fragenliefert das Folgende eine Antwort. Die Debatte um die ersten beidenFragen widerspiegeln die Beiträge in diesem Sammelband.

    3. Welche P�dagogik ist f�r »Behinderte«im Bildungswesen gefordert?

    Eine erste Annäherung zur Beantwortung der letzten der obigen dreiFragen ergibt sich aus dem Verständnis von »Behinderung« als wech-selseitig bedingt durch individuelle Beeinträchtigungen und sozial-strukturelle Umstände. Eine solche Perspektive führt zu einer anderenSichtweise auf Bildungsansprüche behinderter Schülerinnen undSchüler, die gemäß der Schattenübersetzung der UN-Behinderten-rechtskonvention in der offiziellen deutschen Übersetzung nicht be-rücksichtigt worden ist. Gemäß der Schattenübersetzung besteht dasAnrecht Behinderter auf Bildung nicht darin, dass ihnen Bildungs-

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    Zur Einf�hrung

  • erfolg aufgrund ihrer Behinderung erleichtert wird, sondern ihnen sollBildung durch entsprechende Maßnahmen ermöglicht werden.6 Esgeht in diesem Sinne nicht darum, Auszubildende mit Beeinträchti-gungen wohlwollend zu unterstützen, sondern die schulischen Rah-menbedingungen so zu gestalten, dass Bildung für alle Heranwachsen-den gemeinsam möglich ist.7 Eine Forderung nach Chancengleichheit,die dem gerecht wird, sollte deshalb weniger als selektiver Standard,sondern vielmehr als ein Grundsatz der Ermöglichung von Bildunginterpretiert werden.

    Gemäß einem solchen Verständnis des Anspruchs auf Bildungsteht deshalb nicht Bildungserfolg im Rahmen von selektiven und amWettbewerb ausgerichteten Bildungsinstitutionen im Vordergrund. Esgeht vielmehr darum, den Erwerb von Kompetenzen und Qualifikatio-nen zu fördern, die für sich genommen wertvoll sind. In ihrem Beitragstellt Felder heraus, weshalb mit dem gängigen Verständnis von Chan-cengleichheit ein verkürztes Bildungsverständnis einhergeht, das Bil-dung einseitig auf den Erfolg im Arbeitsmarkt ausrichtet. Dies stellteine Engführung des Werts von Bildung dar. Bildung wird auf ihreinstrumentelle Bedeutung reduziert, Heranwachsende zu Mitprodu-zenten des Bruttosozialprodukts zu befähigen. Ein solch verengtes Ver-ständnis von Bildung ist dabei insbesondere durch vertragstheoretischeKonzeptionen der Gerechtigkeit geprägt, die Gesellschaften als Ko-operationen zur Hervorbringung eines allseitigen Vorteils auffassen.Diese Konzeptionen kritisiert Graumann deshalb dafür, dass sie denzu berücksichtigenden Personenkreis auf diejenigen einschränken, diebereits als eigenständige, selbstverantwortliche und voll produktions-fähige Individuen an der Gesellschaft teilhaben können. Dies führt da-zu, das Bildungswesen einzig als einen Mechanismus der Selektion zusehen, um Heranwachsende für ihre Position in der Hervorbringungdes allseitigen Vorteils zuzuweisen.

    Deshalb muss gemäß Schramme bezüglich Bildung eine gewich-tige Unterscheidung getroffen werden: Bildung hat sicherlich auf dereinen Seite ausbildenden, d. h. für den Arbeitsmarkt befähigendenCharakter, ist aber auf der anderen Seite auch für das Führen eines

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    Ivo Wallimann-Helmer

    6 Vgl. UN-Behindertenrechtskonvention, offizielle und Schattenübersetzung ins Deut-sche, Art. 24(2d)7 Vgl. UN-Behindertenrechtskonvention, offizielle und Schattenübersetzung ins Deut-sche, Art. 24(3)

  • guten menschlichen Lebens von Bedeutung. Das Bildungswesen sollteaus diesem Grund nicht nur als Ausbildungsanstalt verstanden werden,sondern gemäß Graumann als institutioneller Rahmen zur Ermög-lichung der Entwicklung derjenigen Bildungspotentiale, die bei Men-schen aufgrund ihres Menschseins vorauszusetzen sind. Geht man voneinem solch erweiterten Verständnis des Werts von Bildung aus, dannrückt zwangsläufig die Bedeutung der Befähigung von Schülerinnenund Schülern zum Führen eines guten menschlichen Lebens oder –wie es Wallimann-Helmer ausdrückt – zur Teilhabe als volles undgleichberechtigtes Mitglied einer Gesellschaft in den Fokus, was auchdie UN-Behindertenrechtskonvention als Recht Behinderter auf wirk-same Teilhabe an einer freien Gesellschaft postuliert.8 Hieraus folgen-de pädagogische Maßnahmen sollten dann weniger auf die Selektionzwischen besseren und schlechteren Schülerinnen und Schülern aus-gerichtet sein, sondern sich um Rahmenbedingungen bemühen, dieallen aufgrund ihrer individuellen Bildungsbedürfnissen diejenigenMöglichkeiten zur Verfügung stellen, die sie zum Erreichen eines ent-sprechenden Bildungsniveaus bedürfen.

    Mit der Schattenübersetzung wird aus diesem Grund auch mo-niert, dass die offizielle deutsche Übersetzung der UN-Behinderten-rechtskonvention als oberstes Ziel die vollständige Integration, abernicht die vollständige Inklusion festschreibt.9 Wie Jentsch ausführt,auferlegt Integration als Bildungsziel behinderten Schülerinnen undSchülern den Nachweis der »Integrationsfähigkeit«. Behinderte Schü-lerinnen und Schüler müssen im Rahmen eines selektiven und amWettbewerb orientierten Bildungssystems erst beweisen, dass sie indie Regelschule integriert und damit auch befähigt werden können,als volle Gesellschaftsmitglieder zum allseitigen Vorteil beizutragen.Demgegenüber steht mit dem Bildungsziel der Inklusion weniger dieBefähigung zum produktiven Beitrag an die gesamtgesellschaftlichenVorteile im Zentrum, sondern das je individuelle Bildungsbedürfnis.

    Vor dem Hintergrund eines solchen umfassenderen Verständnis-ses von Bildung muss auch die Forderung nach Chancengleichheit an-gepasst werden. Während mit der Forderung nach integrativer Bildungeher der Selektionscharakter des Ideals betont wird, kann inklusive

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    Zur Einf�hrung

    8 UN-Behindertenrechtskonvention, Schattenübersetzung ins Deutsche, Art. 24(1c)9 UN-Behindertenrechtskonvention, offizielle und Schattenübersetzung ins Deutsche,Art. 24(2b-e)

  • Bildung nur dann als Forderung nach Chancengleichheit aufgefasstwerden, wenn der Grundsatz als normativer Standard der Ermög-lichung interpretiert wird. Die Ermöglichung von Bildung den je in-dividuellen Bedürfnissen des Einzelnen folgend lässt sich dabei, wieDederich betont, nicht mithilfe rein formaler Kriterien des Zugangs,des Wettbewerbs oder der Selektion sicherstellen. Vielmehr muss ge-mäß einer Reihe der Autorinnen und Autoren in diesem Band Chan-cengleichheit mit substantielleren Forderungen verbunden sein. Inklu-sive Pädagogik kann dabei gemäß Dederich ein fruchtbarer Nährbodenfür Chancengleichheit sein, weil sie erlaubt, Schülerinnen und Schülerin ihren je individuellen Bildungsbedürfnissen anzuerkennen. DieSchwierigkeit hierbei ist aber aus empirischer Sicht, dass nicht als ge-sichert gelten kann, ob inklusive Bildungssysteme zu mehr Chancen-gleichheit für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung führen.

    Entgegen dieser Zweifel verteidigt Meyer aus normativer SichtChancengleichheit als egalitäres Ideal, da dieses für alle Heranwach-senden gleiche Aussichten auf ein gutes menschliches Leben sicher-zustellen erlaubt. Dabei ist es ihrer Meinung nach nicht problematisch,dass diese Forderung nach einer Gleichverteilung von Aussichten einenBezug zum guten menschlichen Leben enthält. Vielmehr lassen sichihrer Meinung nach mit einem solchen Ansatz die verschiedenenAspekte sinnvoll integrieren, die die legitimen Bildungsbedürfnissevon Schülerinnen und Schülern festzulegen erlauben. Dem würde al-lerdings Schramme entgegenhalten, dass eine Bestimmung dessen,was ein gutes menschliches Leben ausmacht, keine Forderung nacheiner Gleichverteilung mehr darstellt, weil eine solche einen Vergleichzwischen einzelnen Schülerinnen und Schülern und deren Bildungs-bedürfnissen voraussetzt. Demgegenüber steht ein Standard des gutenmenschlichen Lebens für einen von interpersonellen Vergleichen un-abhängigen Maßstab zur Beurteilung der Legitimität von Bildungs-bedürfnissen.

    Folgt man deshalb Schramme, dann ist die Forderung nach Chan-cengleichheit im Sinne einer Forderung nach der Gleichverteilung vonChancen nur schon aus konzeptioneller Sicht verfehlt. Ergänzend kannman hier anfügen, dass ein solches Verständnis von ChancengleichheitGefahr läuft, keine Kriterien zur Bemessung legitimer Bildungs-ansprüche von Schülerinnen und Schülern ohne Behinderung an dieHand zu geben. Wie Wallimann-Helmer ausführt, werden mit einemsolchen Verständnis von Chancengleichheit nur Forderungen formu-

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    Ivo Wallimann-Helmer

  • liert, die Schülerinnen und Schülern das Erreichen von Bildungszielenermöglichen, die als Grundlage für die volle und gleichberechtigteTeilhabe in einer Gesellschaft notwendig sind. Darüber hinausgehendeBildungsansprüche finden bei einem solchen Verständnis von Chan-cengleichheit aber keine angemessene Berücksichtigung. Die Schwie-rigkeit, die zudem mit einer solchen Formulierung eines Standards vonBildungszielen einhergeht, liegt genauso wie die Orientierung aneinem Standard des guten menschlichen Lebens darin, dass damit Kri-terien formuliert werden, die festlegen, wann ein menschliches Lebennicht mehr als »gut« bezeichnet werden kann. Dies impliziert deshalbGraumann folgend die Gefahr einer Stigmatisierung behinderterMenschen.

    Diese Überlegungen zeigen, dass es alles andere als klar ist, obChancengleichheit ein angemessenes normatives Ideal darstellt, umden legitimen Bildungsansprüchen behinderter Schülerinnen undSchülern gerecht zu werden. Dabei sind aber zumindest Dederich undMeyer sowie allenfalls Graumann und Jentsch der Meinung, das Idealließe sich so umdeuten, dass es einem Behindertenbegriff gerecht wird,der Behinderung als durch die Wechselwirkung zwischen individuellerAusstattung und sozialen Umständen entstehend auffasst. Im Gegen-satz dazu sind die restlichen Autorinnen und Autoren dieses Sammel-bandes dem Grundsatz der Chancengleichheit im Kontext der Bildungs-gerechtigkeit für behinderte Schülerinnen und Schüler gegenüberkritisch eingestellt.

    4. Was meint »Chancengleichheit f�r Behinderte imBildungswesen«?

    Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass der Grundsatz derChancengleichheit, den die UN-Behindertenrechtskonvention ohneweitere Erläuterung postuliert, stark unterbestimmt ist. Dabei wurdeaufgezeigt, dass dieser Grundsatz denjenigen der »Barrierefreiheit«einschließt, aber darüber hinausweist. Mit dem klassischen Verständ-nis von Chancengleichheit gehen im Gegensatz zur Barrierefreiheitkeine Garantien einher und gleichzeitig wird ein Selektionsmechanis-mus installiert, der erlaubt Bildungszertifikate zu vergeben und denZugang zu weiterführender Bildung zu regeln. Nimmt man die Um-deutung des Ideals hinzu, die sich aufgrund des inklusiven Bildungs-

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  • verständnisses ergeben kann, dann werden mit der Durchsetzung vonChancengleichheit noch weiterreichende Maßnahmen erforderlich:Bildungsinstitutionen sollten nicht nur sicherstellen, dass alle Schüle-rinnen und Schüler unter fairen Rahmenbedingungen Bildung erlan-gen können, sie sollten darüber hinaus auch substantielle Maßnahmentreffen, damit die individuellen Bildungsbedürfnisse von Schülerinnenund Schülern, insbesondere von denjenigen mit Behinderung, ange-messen berücksichtigt werden können.

    Stützen lässt sich eine solche Umdeutung von Chancengleichheitdurch den dritten eingangs erwähnten Grundsatz der »Nichtdiskrimi-nierung«, wie er in der UN-Behindertenrechtskonvention erläutertwird, wenn man eine konzeptionelle Eigenheit von Chancengleichheithinzu nimmt, die auch bei einer Umdeutung des Ideals zutrifft: Mit derForderung nach Chancengleichheit geht immer auch die Forderungeinher, ungerechtfertigte Diskriminierung zu vermeiden. Der Grund-satz der Chancengleichheit impliziert deshalb immer auch ein Nicht-Diskriminierungsgebot. Im Rahmen des weitverbreiteten selektivenVerständnisses von Chancengleichheit bedeutet dieses Gebot im Bil-dungswesen, für alle Schülerinnen und Schüler faire Rahmenbedin-gungen beim Erwerb von Bildung sicherzustellen. Bei einer Umdeu-tung des Grundsatzes in Richtung eines Standards der Ermöglichungsollte die Anwendung irrelevanter Kriterien bei der Bemessung legiti-mer Bildungsansprüche sowie darüber hinaus bei der Festlegung desAnspruchs auf substantielle Unterstützungsmaßnahmen vermiedenwerden.

    Mit Blick auf diese konzeptionelle Eigenschaft von Chancen-gleichheit lässt sich nur eine Umdeutung des Grundsatzes als Standardder Ermöglichung mit der UN-Behindertenrechtskonvention verein-baren, weil darin »Diskriminierung aufgrund von Behinderung« fol-gendermaßen erläutert wird. Diskriminierung aufgrund von Behin-derung bedeutet

    »(…) jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund vonBehinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechti-gung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Men-schenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen,kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder ver-eitelt wird.«10

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    10 UN-Behindertenrechtskonvention, offizielle Übersetzung ins Deutsche, Art. 2

  • Folgt man der Schattenübersetzung der UN-Behindertenrechtskon-vention, dann wird darin ein Menschenrecht Behinderter auf inklusiveBildung festgeschrieben. Impliziert Chancengleichheit ein Nicht-Dis-kriminierungsgebot und will das Ideal menschenrechtskonform sein,dann muss es im Sinne eines Ermöglichungsstandards umgedeutetwerden. Denn nur eine solche Umdeutung des Ideals kann gleichzeitigder Forderung nach inklusiver Bildung und dem Nicht-Diskriminie-rungsgebot gerecht werden. Deshalb steht die gängige, einzig auf Se-lektion und Wettbewerb fokussierende Auslegung des Ideals in Wider-spruch zur UN-Behindertenrechtskonvention. Ein solches Verständnisvon Chancengleichheit kann inklusive Bildung nicht begünstigen, da esbehinderten Schülerinnen und Schülern den Nachweis auferlegt, »in-tegrationsfähig« sein zu können, was eine ungerechtfertigte Diskrimi-nierung im Anspruch auf eine gleichberechtigte Bildung mit allen an-deren gemeinsam bedeutet.

    In diesem Sinne ist Jentsch zuzustimmen, die zeigt, dass nur eineBetonung der Ermöglichungsaspekte von Chancengleichheit zusam-men mit der Forderung nach inklusiver Bildung verteidigt werdenkann. Aus diesem Grund muss ein solches Verständnis von Chancen-gleichheit auch das einem jeden Menschen zukommende Bildungs-potential ernst nehmen und den Erwerb der Befähigung zu Autonomieund Freiheit fördern, wie es Graumann ausdrücken würde. Eine solcheAuffassung ließe sich auch mit den umfassenderen Ansätzen von An-dresen und Felder verbinden, die den Fähigkeiten-Ansatz (Capability-Approach) von Sen und Nussbaum als angemessenen Standard einesguten menschlichen Lebens etablieren wollen. Dabei ist – wie aus-geführt – allerdings zu bedenken, dass Chancengleichheit damit keinenGrundsatz formuliert, der einzig für behinderte Schülerinnen undSchüler bestimmt, welche ihrer Bildungsansprüche als legitim gelten.Dies macht allerdings gemäß Meyer gerade die Stärke eines solchenAnsatzes aus, weil er Kriterien an die Hand liefert, um die legitimenBildungsansprüche aller Auszubildenden festzulegen.

    Freilich ist mit einer solchen Umdeutung des Ideals der Chancen-gleichheit aber das von Dederich festgestellte Dilemma nicht aufgelöst:Auch wenn Chancengleichheit als ein Standard der Ermöglichung um-gedeutet wird, hat das Ideal dennoch selektiven Charakter, was der In-tention inklusiver Bildung widerspricht, da sie nicht ausschließend seinwill. Denn Chancengleichheit als Standard der Ermöglichung erlaubtzwar die individuellen Bildungsbedürfnisse Heranwachsender in den

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  • Blick zu nehmen. Dies führt aber dazu, dass Talentiertere in ihremdurch diesen Grundsatz legitimierten Anspruch auf bestmögliche Aus-nutzung des Bildungssystems genauso wie behinderte Schülerinnenund Schüler unterstützt werden müssen. Dabei bleibt unklar, inwieferndie Anwendung derselben Kriterien auf Talentierte und Behinderte er-laubt, den speziellen Bildungsbedürfnissen von Schülerinnen undSchülern mit Behinderung gerecht zu werden. Aus diesem Grund ar-gumentiert Wallimann-Helmer für eine Aufgabenteilung zwischenChancengleichheit und einem absoluten Standard an Bildungsansprü-chen. Während der erste Grundsatz Selektion und Wettbewerb unterfairen Bedingungen in der Bildung sicherstellen soll, ist letzterer dafürreserviert, Behinderten diejenige Unterstützung zukommen zu lassen,die sie aufgrund ihrer speziellen Bildungsbedürfnisse haben.

    Ein absoluter Standard an Bildungszielen macht allerdings gemäßSchramme die Rede von einer Gleichheit der Chancen obsolet. Dabeiverneint er die Möglichkeit einer Aufgabenverteilung zwischen Chan-cengleichheit als egalitärem Standard und einem absoluten Standard,weil seiner Meinung nach die Rede von Gleichheit als Kriterium zurBestimmung legitimer Bildungsansprüche das Verständnis von Bil-dung verkürzt. Ähnlich würde Felder argumentieren, die sich dezidiertgegen ein Bildungsverständnis ausspricht, das Bildungsinstitutionenzu Institutionen der Selektion für den Arbeitsmarkt macht. Ihrer Mei-nung nach sollten Bildungsinstitutionen vielmehr daran ausgerichtetsein, zu einem guten menschlichen Leben zu befähigen. Sie lässt aller-dings offen, ob die Rede von Gleichheit als Kriterium zur Bemessunglegitimer Bildungsansprüche gerechtfertigt werden kann oder nicht.Vielmehr betont sie die zentrale Bedeutung, die der wechselseitigenBedingtheit zwischen individueller Beeinträchtigung und sozial-struk-turellem Umfeld für die Lebensumstände Behinderter zukommt. WieAndresen zeigt, ist es demzufolge die Verletzlichkeit von Kindern, aberauch von Behinderten, die im Fokus stehen sollte, um ihre legitimenUnterstützungsansprüche festzulegen. Dabei scheint die Frage nach»Gleichheit« als Verteilungskriterium in den Hintergrund zu rücken.

    Dies zeigt wiederum die Frage an, ob Chancengleichheit im Sinneeiner Forderung nach der Gleichverteilung von Chancen tatsächlich einadäquater normativer Standard im Kontext von Behinderung im Bil-dungswesen darstellt oder nicht. Die Frage danach, was »Chancen-gleichheit für Behinderte im Bildungswesen« heißt, muss deshalb amEnde dieser Einführung offen bleiben. Es ließ sich aber hoffentlich auf-

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  • zeigen, welche Schwierigkeit und Unklarheiten mit der Forderung nach»Chancengleichheit für Behinderte im Bildungswesen« verbundensind. Genau dies leistet auch dieser Sammelband. Indem die verschie-denen Beiträge das Augenmerk auf unterschiedliche Aspekte der For-derung nach »Chancengleichheit für Behinderte im Bildungswesen«richten, zeigen sie das Spektrum der mit dieser Forderung verbunde-nen Unklarheiten und Schwierigkeiten in seiner ganzen Breite auf. Eswäre deshalb zu hoffen, dass dieser Band, genauso wie die Herausgeberder Schattenübersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention es be-absichtigten11 , zur Bewusstseinsbildung in der Auseinandersetzungum Chancengleichheit und Behinderung im Bildungswesen beiträgt.

    Dieses Publikationsprojekt wurde durch den Universitären For-schungsschwerpunkt Ethik der Universität Zürich und den Lehrstuhlfür Allgemeine Ethik ebenfalls an der Universität Zürich großzügigunterstützt. Den beiden Verantwortlichen, Markus Huppenbauer undAnton Leist, möchte ich hiermit herzlich danken. Ebenso möchte ichmich an dieser Stelle bei den Autorinnen und Autoren bedanken, dennohne sie wäre dieses Publikationsprojekt gar nicht erst möglich ge-wesen.

    Ivo Wallimann-Helmer, Zürich im August 2011

    Literatur

    Arnade, Sigrid (2010): UN-Behindertenrechtskonvention – Schattenübersetzung.http://www.netzwerk-artikel-3.de/info-material, letzter Zugriff: August 2011.

    Netzwerk Artikel 3 e. V. (2010): Schattenübersetzung des Übereinkommens überdie Rechte von Menschen mit Behinderungen. Korrigierte Fassung der zwischenDeutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmten Überset-zung. http://www.un.org/disabilities/documents/convention/convoptprot-e.pdf,letzter Zugriff: August 2011.

    United Nations (2007): Convention on the Rights of Persons with Disabilities andOptional Protocol. http://www.un.org/disabilities/documents/convention/convoptprot-e.pdf, letzter Zugriff: August 2011.

    Vereinte Nationen (2010): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mitBehinderungen. http://www.admin.ch/ch/d/gg/pc/documents/1897/d_Vorlage_k.pdf, letzter Zugriff: August 2011.

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    11 Arnade, 2010