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Zur Krik der ›Festung Europa‹. Die Konflikte und Strukturen hinter Europas tödlichen Grenzen Fabian Georgi | Philipps-Universität Marburg | 30. November 2015 Vom Sommer der Migraon zum Herbst der Festung Europa Warum löst die ›Festung Europa‹ derarge Irritaonen und Krik aus? Welche Konflikte und strukturellen Widersprüche stehen hinter der restrikven europäischen Migraonspolik?

Zur Krik der ›Festung Europa‹. Die Konflikte und Strukturen ... · 1.6 Krik als radikale Analyse • Hiearchisierungen sind Ausdruck von Herrscha%sverhältnissen • Sie sind

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Zur Kri�k der ›Festung Europa‹. Die Konflikte und Strukturen hinter Europas tödlichen GrenzenFabian Georgi | Philipps-Universität Marburg | 30. November 2015

Vom Sommer der Migra on zum Herbst der Festung Europa

• Warum löst die ›Festung Europa‹ derar�ge Irrita�onen und

Kri�k aus?

• Welche Konflikte und strukturellen Widersprüche stehen hinter

der restrik�ven europäischen Migra�onspoli�k?

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Überblick

1. ›Immanente Kri�k‹ der Festung Europa

2. ›Schöpferische Zerstörung‹ und die Autonomie der Migra�on

3. Migra�onspoli�k als Arbeitskra%poli�k

4. Migra�on und na�onale Wohlfahrtsstaaten

5. Prak�sche Kri�k

1.1. Was ist immanente Kri�k?

Johannes Agnoli (1987): »Die kri�sche Politologie entlarvte (in theore�scher For4ührung der Frankfurter Schule)

- die Trennung vom Schein der Werte und dem Sein der Macht,

- vom Ideal und Leben in dem parlamentarischen Verfassungsstaat:

- das Auseinanderklaffen von Verfassungsnorm und Verfassungs-

wirklichkeit, von Proklama�on und Exeku�on.«

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»Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.«

Ar�kel 1, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948

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1.2 »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und

Rechten geboren.«

• Radikal egalitäre Posi�on. Ungleichheit muss sich legi�mieren

• Wenn alle Menschen frei und gleich geboren sind, dann müssen alle Privilegien, die auf zufälligen oder ethisch irrelevanten Eigenscha%en basieren, abgeschaC werden.

• Grundlage für Emanzipa�onskämpfe gegen Feudalismus, Kastensysteme, Patriarchat, Rassismus, Sklaverei, Klassenherrscha%, Heteronorma�vität …

1.3 Joseph Carens: Staatsbürgerscha? als feudales Privileg

»Staatsbürgerscha% in westlichen liberalen Demokra�en ist das moderne Äquivalent zu feudalen Privilegien

– ein ererbter Status, der die eigenen Lebenschancen massiv verbessert.

Wie ein angeborenes Adelsprivileg, ist restrik�ve Staatsbürgerscha% kaum zu rech4er�gen, wenn man genau darüber nachdenkt.«

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1.4 Hannah Arendt: Aporien der Menschenrechte

»Die Menschenrechte haben immer das Unglück gehabt, von poli�sch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen repräsen�ert zu werden,

deren sen�mental humanitäre Sprache,

sich o% nur um ein geringes von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschied.«

1.5 Immanente Kri�k der ›Festung Europa‹ reicht nicht aus

• Sie verkennt die »Verlötung von Norm und Wirklichkeit«. (Agnoli)

• Es bedarf des »Übergang von der Kri�k am Vorgefundenen (zwecks Besserung) und vom Vergleich zwischen Ideal und Leben zur Kri�k der Poli�k ... zur nega�ven wissenscha%lichen Aufgabe.« (Agnoli)

• »Der Kri�k geht es also nicht allein um Beanstandung, um Einklagen, darum, daß das, was ist, besser funk�oniert, sondern darum zu begreifen, warum es dazu kommt und welche sozialen Krä%e dahin wirken« (Alex Demirović).

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1.6 Kri�k als radikale Analyse

• Hiearchisierungen sind Ausdruck von Herrscha%sverhältnissen

• Sie sind Basis und Folge der Art und Weise, wie Gesellscha%en sich materiell reproduzieren und Ressourcen verteilen

• Beispiele: Feudalsysteme, Patriarchat, kolonialer Rassismus - Wer macht welche Arbeit? Wer bes�mmt? Wer profi�ert?

• Frage: Welche gesellscha%lichen Verhältnisse führen zur Hierarchisierung auf Basis von Staatsbürgerscha%?

• Was hat ›Festung Europa‹ mit der Art und Weise zu tun, wie sich EU-Staaten materiell reproduzieren und Ressourcen verteilen?

2.1 Was sind Fluchtursachen oder ›Root Causes‹?

• Flucht und Migra�on sind ohne theore�sche und historische Analyse kapitalis�scher Dynamiken nicht verstehbar

• Ansatzpunkt: Konkurrenzprinzip resul�ert in Wachstumszwang, Kapital sucht ständig Möglichkeiten der Verwertung

• Heu�ge Akkumula�onsstrategien u.a. Land Grabbing, Bauprojekte, Überfischung, Freihandel, Waffenexporte

• Folgen: Armut, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung→ Landflucht, Vertreibung, ständige Umwälzung

• ›Schöpferische Zerstörung‹ kapitalis�scher Expansion + Krisen

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2.2 Poli�sche Reak�onen auf schöpferische Zerstörung

• Menschen wehren sich gegen Zerstörung ihrer Lebensweisen

• Kri�k, Proteste, Streiks, Wahlen, Aufstände als VOICE-Op�on

• Gewaltsame Eskala�on sozialer Konflikte, o% ethnisiert oder religiös aufgeladen

• Beispiel Arabischer Frühling: Bürgerkriege, losgelöst von sozialen Ursachen → Fluchtbewegungen

2.3 Poli�sche Reak�onen auf schöpferische Zerstörung: EXIT

• Exit-Strategien als anthropologische Konstante: Nicht nur Flucht und Emigra�on. Auch sich scheiden lassen, kündigen, deser�eren

• »Nun sind aber Menschen wie ein Sack Flöhe.« (Christoph Spehr)

• Rela�ve Autonomie im Kon�nuum von Zwang und Eigensinnigkeit

• Aus Herrscha%sperspek�ve sind Exit-Strategien o% ein Problem

• Exit-Strategien sind poli�sche Reak�onen, soziale Bewegungen mit historischer Kra%, die Herrscha% vor sich her treiben

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2.4 Wachstumsstrategien als Fluchtursachen

• Flucht und Migra�on als eigensinnige, miXelbare Reak�onen auf Folgen des kapitalis�schen Wachstumszwangs

• Akkumula�onsstrategien u.a. Land Grabbing, Bauprojekte, Überfischung, Freihandel, Waffenexporte

• Was würde passieren, wenn dem Kapital solche Strategien, die zu Flucht und Migra�on beitragen, verwehrt würden?

• Kann der ohnehin krisenha%e Kapitalismus darauf verzichten?

• Historische Analyse zeigt viele Sequenzen von Akkumula�on → soziale Konflikte → Flucht & Migra�on

2.5 Akkumula�on und eigensinnige Migra�on

• 18. Jh.: ›Enclosures‹ in SchoXland → Landflucht nach Nordengland

• 19. Jh.: Industrialisierung Europas → Auswanderung in die USA

• 1930er: Krise in ›Dust Bowl-USA‹ → Binnenmigra�on Kalifornien

• 1980er: ›Entwicklung‹ scheitert + SAP → ›New Refugees‹

• 2015: Migra�on als Reak�on auf globale Struktur- & Vielfachkrise

➔ Unfähigkeit und Unwilligkeit führender Klassenfrak�onen, Erwartungen an menschenwürdiges Leben für alle zu erfüllen

➔ Unfähigkeit, eigene Widersprüche zu lösen: Arbeit, Care, Ernährung, Klima & Umwelt, Kriege & Terror, Wachstum

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3.1 Migra�onspoli�k als Arbeitskra?poli�k

• Flucht und Migra�on getrieben von ›schöpferischer Zerstörung‹ und der Autonomie von Exit-Strategien

• Welche Widersprüche treiben Poli�k der Festung Europa?

• These: Einerseit ist Migra�onspoli�k Arbeitskra%poli�k. Mobile Arbeitskrä%e sind o% funk�onal für kapitalis�sches Wachstum

• Zentrales Arbeitskra%problem heute: MINT-Fachkrä%emangel

3.2 Beispiele: Arbeitskra?probleme und Migra�on

Think Tank-Bericht 2008: »[M]ost na�onal educa�onal and training systems ... favor such established ... study subjects as philosophy, poli�cal science, history, etc. As a result, these systems produce workers with creden�als and skills that although crucial to building though4ul and vibrant socie�es are deeply misaligned with some of the most cri�cal needs of compe��ve global firms.« (Papademetriou et al. 2008: 2)

Süddeutsche Zeitung 2015: »[D]ie Zuwanderer sind auch eine Chance für Deutschland. Es … wird sich lohnen. … Die Deutschen … fürchten, die Zuwanderer könnten die sozialen Netze zerstören und sich auf Kosten der Einheimischen ein schönes Leben machen. Wer so denkt, kann nicht rechnen.« (SZ, 7.9.2015)

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3.3 »The labour problem never goes away.« (David Harvey)

• Arbeitkrä%e für (Re-)Produk�on passend nach Ort, Zahl, Qualifizierung, Preis, Disziplin, Gesundheit usw.

• Arbeitskra%strategien: - Produk�on verlagern- lokale Arbeitskrä%e mobilisieren- Maschinen einsetzen- Arbeitskrä%e zum Produk�onsort bringen

• ›Migra�onsregime‹ als Arbeitskra%regime: Sklaverei, ›Kuli-System‹, Bracero, Gastarbeiter, ›Migra�onsmanagement‹

• Marx' ›doppelt freier Lohnarbeiter‹ ist Wanderarbeiter: Kein Vebot mobil zu sein. Keine Alterna�ve als mobil zu sein

4.1 Migra�on und der na�onale ›Gesellscha?svertrag‹

• Wenn Migra�on o% funk�onal ist für Arbeitskra%probleme – warum dann Aufwand und Brutalität der Festung Europa?

• These: Es exis�ert ein struktureller Chauvinismus, der Vielen AbschoXung als naheliegend und ra�onal erscheinen lässt

• Rassismus notwendige, aber nicht hinreichende Erklärung

• Hinweis in der FAZ, 14.11.2015: »So gut wie alle ..., die das

große Auffanglager Deutschland erreichen, werden hier

bleiben. … Die … Kanzlerin sollte ihren Regierungsau7rag nicht

dazu nutzen, den Gesellscha%svertrag aufzukündigen.«

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4.2 Regula�on und ›na�onal-sozialer Staat‹ - É�enne Balibar

• Krisenha%igkeit des Kapitalismus

• Konflikte werden reguliert durch Kompro-misse in »na�onal-sozialen Staaten«

• Befriedung durch symbolische + materielle Zugeständnisse: Na�onalismus + Sozialpoli�k

• Effekt: Na�onalisierung der Arbeiterklasse, na�onale Formbes�mmung des Poli�schen

• Einzelne fühlen sich abhängig vom Erfolg des eigenen Staates in der Weltmarktkonkurrenz,Staat als Bedingung eigener Existenz

4.3 Na�onalstaat und struktureller Chauvinismus

• Na�onale Klassenbündnisse beruhen notwendig auf Ausgrenzung von Nicht-StaatsbürgerInnen

• Na�onaler ›Gesellscha%vertrag‹ sonst letztlich zu teuer + instabil

• AbschoXung soll eigene ›na�onal-soziale‹ Privilegien verteidigen

• Angesichts von Sozialabbau, Krise, Prekarisierungsangst erscheinen Chauvinismus und Festung Europa ra�onal

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4.4 Ausgrenzung und imperiale Lebensweise

• Problem: Privilegien der ›imperialen Lebensweise‹ beruhen tatsächlich auf Ausgrenzung

• Ungleiche Lebensweisen im Globalen Norden & Süden können nur parallel exis�eren, weil sie durch Grenzen getrennt sind

• Festung Europa ermöglicht erst Ignoranz gegenüber Lebensbedingungen des Südens

• Deshalb unterliegen Grenzen einer ›�efen Hegemonie‹. Sie sind eine egois�sch-unmoralische Reak�on mit ra�onalem Kern

• ›Festung Europa‹ ist deshalb nicht nur im engeren Sinne rassis�sch mo�viert, sondern na�onal-chauvinis�sch

5.1 Rekapitula�on

• Warum löst die europäische Migra�onspoli�k derar�ge Irrita�onen und Empörung aus?

– Immannte Kri�k als Abgleich von Norm und Wirklichkeit

– ›Festung‹ widerspricht radikaler Egalität der Menchenrechte

• Welche Konflikte und strukturellen Widersprüche stehen hinter den Poli�ken der ›Festung Europa‹?

– ›Schöpferische Zerstörung‹ + Eigensinnigkeit treiben Migra�on

– Migra�onspoli�ken als Arbeitskra%strategien

– Struktureller Chauvinismus verteidigt eigene Privilegien

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5.2 Prak�sche Kri�k

• „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpre�ert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ (Karl Marx)

• „Es genügt nicht, angesichts der Mißstände, die Zustände verantwortlich zu machen.“ (Johannes Agnoli)

• Prak�sche Kri�k, eine Überwindung der Festung Europa, ist ein langfris�ges, historisches Projekt

• Analogie: Aboli�onismus gegen Sklaverei

• Analogie: Ökologische Transforma�on gegen Klimawandel