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F. Ascher, Zur Frage Fu~fl~tionund GewShmmg 27 Aus der Abteilung fiir Kieferorthop~die der Klinik fiir Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten der Universit~t Miinchen Zur Frage Funktion und Gew6hnung Yon F. Asche5Mfinehen Mit 2 Abbildungen Herrn Pro/essor Dr. Dr. Dr. h. c. mult. Erwin Reichenbach zum 75. Geburtstag In einer Monographie iiber den,,totalen Zahnersatz unter den Bedingungen des Gesiehtsschs ersehienen im Verlag Urban & Schwarzenberg, Mfinchen, wurde naehzuweisen versucht, daG der }Viederaufbau sick nach Verlust des natfir- lichen Zahnbestandes nach der Bigart richten mug. Die kfinstliehe Frontzahn- stellung ist darfiber hinaus aueh weitgekend vonl Verlauf der Oberkiefer-Grund- ebene abhs Keine ,,prothetisehe Erfatn'ung" kann grog genug sein, nm ohne FernrSntgen-Seitenbild fiber beide ]?akten eine zuverl/~ssige Aussage maehen zu k6nnen. Die Gewigheit fiber solehe Zusammenhgnge hat das Studinm der Kieferortho- p/~die erbraeht. Wir wissen heute, dag die Funktion die alles beherrsehende Macht im Mundh6hlenbereick ist und es keine Zahnstellung geben kann, die sick nieht im Einklang mit der Funktion befindet. Es trifft ffir die natiirliche wie kiinstliche Zahnreihe zu. Die Art und Weise der Funktionsabl/~nfe, also das Funktionsmuster -- ver- schieden nach der Bigart -- ist angeboren oder durck Umwelteinfltisse erworben. Die genetisehen Analysen der Gebi Ganomalien auf der einen und die erfolgreieh durchgefithrten kieferorthop/~diseken ]~ehandlungen auf der anderen Seite haben in nnzghligen Fgllen gezeigt, dag die BiBart nnd mit ihr das Fumktionsmuster gegndert werden kaml 8) im pathologisehen Sinne z. ]3. dureh Parafunktionen (Drnmm) bzw. Dys- kinesien (L a n g e), b) als tteilmagnahme dutch fmxktionskieferorthopgdisehe Gergte. Immer ist ein verhgltnismgGig langer UmerziehnngsprozeG notwendig. Daneben erscheint es durehaus denkbar, dab eine dutch biomeekanische Apparaturen erzwungene Stellung einer Zahngruppe und gesamten Zahnreihe im Lsufe der Zeit aneh zu einer Anpassung der Funktion ffihrt. Wfirde es nieht gesehehen, mfigte unausbleiblieh das Rezidiv folgen. Positive wie negative ]3eweise liegen in zahllosen B eispielen vor. Unter ,,Anpassung der Fnnktion" hgtte man die definitive bMbende Xnderung des Fmxktionsmnsters ohne Rfickfallneigung zu verstehen, Der Vorgang tl4tg ohne Unterstii~zung dutch eine funk~ionskiefer- orthopadisehe Vorriektung ein.

Zur Frage Funktion und Gewöhnung

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Page 1: Zur Frage Funktion und Gewöhnung

F. Ascher, Zur Frage Fu~fl~tion und GewShmmg 27

Aus der Abteilung fiir Kieferorthop~die der Klinik fiir Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten der Universit~t Miinchen

Zur Frage Funktion und Gew6hnung

Yon F. Asche5Mfinehen

Mit 2 Abbildungen

Herrn Pro/essor Dr. Dr. Dr. h. c. mult. Erwin Reichenbach zum 75. Geburtstag

In einer Monographie iiber den, , totalen Zahnersatz unter den Bedingungen des Gesiehtsschs ersehienen im Verlag Urban & Schwarzenberg, Mfinchen, wurde naehzuweisen versucht, daG der }Viederaufbau sick nach Verlust des natfir- lichen Zahnbestandes nach der Bigart richten mug. Die kfinstliehe Frontzahn- stellung ist darfiber hinaus aueh weitgekend vonl Verlauf der Oberkiefer-Grund- ebene abhs Keine ,,prothetisehe Erfatn'ung" kann grog genug sein, nm ohne FernrSntgen-Seitenbild fiber beide ]?akten eine zuverl/~ssige Aussage maehen zu k6nnen.

Die Gewigheit fiber solehe Zusammenhgnge hat das Studinm der Kieferortho- p/~die erbraeht. Wir wissen heute, dag die Funktion die alles beherrsehende Macht im Mundh6hlenbereick ist und es keine Zahnstellung geben kann, die sick nieht im Einklang mit der Funktion befindet. Es trifft ffir die natiirliche wie kiinstliche Zahnreihe zu.

Die Art und Weise der Funktionsabl/~nfe, also das Funktionsmuster - - ver- schieden nach der Bigart - - ist angeboren oder durck Umwelteinfltisse erworben. Die genetisehen Analysen der Gebi Ganomalien auf der einen und die erfolgreieh durchgefithrten kieferorthop/~diseken ]~ehandlungen auf der anderen Seite haben in nnzghligen Fgllen gezeigt, dag die BiBart nnd mit ihr das Fumktionsmuster gegndert werden kaml

8) im pathologisehen Sinne z. ]3. dureh Parafunktionen (Drnmm) bzw. Dys- kinesien (L a n g e),

b) als t teilmagnahme dutch fmxktionskieferorthopgdisehe Gergte. Immer ist ein verhgltnismgGig langer UmerziehnngsprozeG notwendig.

Daneben erscheint es durehaus denkbar, dab eine dutch biomeekanische Apparaturen erzwungene Stellung einer Zahngruppe und gesamten Zahnreihe im Lsufe der Zeit aneh zu einer Anpassung der Funktion ffihrt. Wfirde es nieht gesehehen, mfigte unausbleiblieh das Rezidiv folgen. Positive wie negative ]3eweise liegen in zahllosen B eispielen vor. Unter ,,Anpassung der Fnnkt ion" hgtte man die definitive bMbende Xnderung des Fmxktionsmnsters ohne Rfickfallneigung zu verstehen, Der Vorgang tl4tg ohne Unterstii~zung dutch eine funk~ionskiefer- orthopadisehe Vorriektung ein.

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28 Fortsehritte der Kieferorthopgdie Bd. 33 (1972) Heft 1

Der Begriff der ,,GewShnung" wird vidfach einer ,,Anpassung der Funktion" gleiehgesetzt. Auf ihr ruht die kioffnung, wmm sieh z. g. Inkoqoorationssehwierig- kei~en naeh Eingliedeialng eines ZMmersa~zes belnerkbar maehen. Gleieh den Erfahrungen bei festsitzender und abnehmbarer Meferort, hopgdiseher Behand- lmlgsweise wgre wohl aueh beim

a) festsitzenden Briiekenersatz, der kein Ausweiehen gestattet,

b) abnehmbaren Plattenersatz, selbst wenn Eitelkeit und groge Mrillenski.M% unterstiitzend ein~'eifen, eine untersehiedliehe lZeaktion nieh~ auszusehlieGen. Man wfirde geneigt sein, die ,,Anpassung der ~'unktion" im Sinne einer definitiven Umstellung des Funktions- musters beim

~) fest.sitzenden ]3riiekenersatz fast Ms unausbleiblieh,

b) abnehmbaren Zahnersatz mit zweifelnder Vorsieht •nzunehmen.

Eine Beobaehtung aus der Praxis k~nn in diesem Zusammenh~ng aufschluB- reich sein. Sie zeigt, wie ,Gew6hnung" fiber vide J~hre hinaus ~uch dann nicht zu einer endgfiltigen ]~nderung des angeborenen Funktionsmusters zu f~hren br~ucht, wenn eine festsitzende Alopar~tur ~ wie sie eln }~rfiekeners~tz darste]It, eingef~gt war.

Abb. 1. 13gliedriger festsitzender ]3riik- kenersatz im Oberkiefer naeh 20jghriger funkt.ioneller tteanspruehung. Im Unter- kiefer trggt die 72jghi'ige Pagientin eine

totale abnehmbare Prothese

Die 13gliedrige Br~cke im Oberkiefer der Abb. 1 wurde nahezu 20 Jahre ge- tragen. Die Patientin is~ jetzt 72 Jahre al~. Man hatte die k~nstliehen Zghne sorg- fgltig anf den Alveolarkamm gestell~. Die Front zeigte die geringe Sehrggstelhmg naeh augen, welche zum Bild einer wohlgeformten Zahm'eihe gehSrt. Aueh die sagittale Schneidezahns{ufe hielt sieh durchaus in Grenzen. Zahna.rzt und Labora- torium waren davon iiberzeugt, ihre Aufgabe im Geftihl der Verantwortung riehtig gel6st zu haben.

Und demloeh wurden vet allem in der Anfangszeit,, abet aueh noeh lange sparer Klagen dartiber geguGert, dab das Aussehen vergndert ersehein~, das Sprechen

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Schwierigkeiten bereitet und selbsg das Kauen ungewohnt und miihsam ist. Der ttinweis auf die, ,Gew6hnung" wurde oft wiederholt. In der Tat sind dieUnannehm- liehkeiten im Laufe der Jahre immer weniger deugieh empfunden worden; sie gerieten sehlieBlieh g/s in Vergessenheit. Man hat zum mindesten nieh~ metn- darfib6r gesproehen.

Bis dann der Zeitptmkt gekommen war, dab die Pfeilerzahne den Blqieken- k6rper nieh~ mehr trugen. I m totalen Plattenersatz wurden die kiinstliehen oberen Schneidezahne entgegen ihrer Ausriehtung im Briiekenersatz in ,,Steilstellung" gebraeht. Die Analyse des Fernr6n~gen-Seite1~bildes mit eingesetz~er ,,Wachs-

bl 68,5 Se

8 7 ~

K

Spp

B @ 23~

126 ~

Abb. 2. Durehzeiehnung des Ferm'6n~gen-Seitenbildes der Pa~ientin zu Abb. 1 mi~ Angabe der wesentlidlen Winkel, Linien und Bezugspunkte, welehe fiber den individuellen Gesiehts- seh~delaufbau Auskunft geben und BiGart, BiBh6he sowie Stellung der kiinstliehen Sehneide- z~hne in s~gittaler und vertikaler t~iehtung bestimmen. Mit K ist das I(ondylenzen~rum ge-

meint

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30 Fortschritte der Kieferorthop~die ]3d. 33 (1972) Heft 1

Einprobe" erg~b im SchluGbiS den Beflmd in Abb.2. Die Aufnahme diente der Kontrolle yon Frontzahnstellung und BiShShe. Der obere und untere mit t lere Sehneidezahn ist mi t einem sehmalen, rSntgenpositiven Zinnfolienstreifen um- kleidet worden. Man h/itte auch yon der ,,Ruhesehwebe" oder yon der BiSnahme mit einem eingeffigten Drahtsti ick als Riehtungsweiser und Anhal tspunkt fiir den mitt leren Inzisivus ausgehen kSnnen.

Die MeBwerte gaben zu erkennen, dab 1. der Oberkiefer seine volle L~nge besitzt, 2. der Unterkiefer wahrscheinlich sogar eine geringe Uberentwieklung auf-

weist und hiermit beziiglich der pgo-Bosition den unbedeutend vergrSBerten Kieferwinkel in etwa ausgleicht,

3. die S t e i n e r s e h e Grenzlinie S in 4 m m Abstand yon A senlcreeht zur Ober- klefer-Grundebene die Steilstellung yon 1 ~ls annahernd richtig angibt und damit die Art der Schneidezahnausriehtung im frfiheren Briiekenersatz als fehlerhaft erklart,

4. die ]3iBlage als , ,neutral", dem l~egelbJl3 entsloreehend, aufzufassen ist, well das Lot yon pgo auf die S10P als ~M-Senkreehte nahe an A vorbeifiihrt,

5. der BiB um e t w a 3 m m zu hoeh angesehen werden muG, da einerseits der ]3 <~ 23 ~ und nieht 20 ~ betrs und andererseits sieh ein geringer Abstand der MM- Senkrechten yon A gezeigt hat ; die Linie sollte dutch A verlaui'en,

6. die oberen Sehneidez~hne im Vergleich zur Oberlilope um I bis 2 m m ,,ver- kfirzt" werden mfissen, well sie wahrscheinlich zu stark siehtbar sind.

Die l%aktion der Pat ient in auf die geanderte Frontzahnstellung war sloontane Zustimmung. Jetzt , so bemerkte sie, ist die Zahm'eihe wiederhergestellt, wie sie frfiher war. In dem allgemeinea ~Vohlgeffihl wurde aueh die Plat te kaum als stSrend emlofunden. Aussehen und Spraehe befriedigten wie bei einer Immediat - lorothese. Alle Funktionsabl~ufe hat ten zu ihrem angeborenen Funktionsmuster sehlagartig znriiekgefunden.

Ein solcher Befund mug auch die Kieferortholoadie interessieren. Er erklart gewiB munches Rezidiv. 20 Jahre festsitzender Brfiekenersatz,/~hnlieh einer fest- sitzenden biomeehanisehenAloloaratur, haben nieht ausgereieht, a m die Bewegamgs- bahnen yon Zunge, Lippen und Wangen, des Sehluckaktes, des gesamtenHaltungs- modus, der Okklusions- und Artikulationsart definitiv - - ohne RfiekiMlneigung --- zu verandern. Die Maeht der Gewohnheit hat ihre Grenzen.

Zusammenhssung

Es wird ein FM1 vorgestellt, bei dem es selbst naeh etwa 20j~hriger Eingliederung eines festsitzenden Briiekenersatzes nicht zu einer bleibendenAndernng des angeborenen Funktions- musters gekommen wur. Der Befund beanslorucht prothetisches und kieferorthoFidisehes Interesse.

Summary

A case is demonstrated, where no constant change of the original functional pattern was achieved, even after a twenty years long incorporation of a stationary bridge. This case may be of interest for the orthodontic and prosthetic dentistry.

Anschr. d. Verf.: Prof. Dr. Felix Aseher, BRD-8 Miinehen 15, GoethestraBe 70