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5/12/2018 Zupancic-Das Reale Einer Illusion - slidepdf.com
http://slidepdf.com/reader/full/zupancic-das-reale-einer-illusion 1/69
Alenka Zupancic arbeitet zur Zeit am Kultwnoissenschaftlicben In-
stitut in Essen, sowie am PbilosopbischenInstitut im unssenschajt-
lichen Forscbungszentrum der sloiuenischen Akademiefu r Wissen-schaJt und Kunst in Ljubljana. Sie ist Herausgeberin der Reihe
Analeeta. Suhrkamp
Alenka Zupancic
Das Reale einer Illusion
Kant und Lacan
Aus dem Franzosischen
von Reiner Ansen
Mit einern Vorwort
von Slavoj Zizek
Die Idee der kancischen Ethikist einfacb und revolutionar zugleich:
Sie schlagt ein moralisches Gesetz vor, das frei von jedern vorge-
fafhen Wert und frei von jeder menschlichen Neigung wie Liebe,
Syrnpathie oder Angst isr, Viele Kant-Interpreten sind bei ihrern
Versuch, seine Texte auf heutige Probleme zu beziehen, uber die
Paradoxien und unerfiillbaren Anspruche seiner Moralphilosophie
hinweggegangen. Alenka ZupanCic versucht genau das Gegenteil:Sie geht davon aus, daB das philosophische und zugleich subversi ve
Potential VOnKants Philosophic auch f u r g e ge nwar ti ge Fragen ge-
rade darin liegt, daE sie keiner »Aktualitar« entsprechen. In der
Perspektive von Jacques Lacans Konzept des Realen wird Kanrs
Moralphilosophie einer spannenclen und innovativen Relekture
unterzogen.
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Inhalt
Nicht »Die Illusion des Realen«, sondern ...
Vorwort von Slavoj :Zizek 7
Die Deutsche Bibliothek - CIP·Einheirsaufnahme
Ein Titeldatensatz fii r diese Publikation
is! bei Der Deurschen Bibliothek erhalrlich
Das Reale einer Illusion
Kant und Lacan
Einfuhrung I)
1.Die »Mehr-Porm« 20
2. Die Konstruktion der Freiheit 3 I
3. Die Frage der Pflicht 47
a) Die Luge 47
b) Das Subjekt im Allgemeinen 5 5
4. Buchstabe und Geist 59a) Der »Typus« 60
b) Der Affekt 66
c) Das Ding 76
5.Das vollendete Gute 80
6. Zweierlei Ethik 101
7. Einige unzeitgernalie Betrachtungen 121
8. Was tun? I) 1suhrkamp taschenbuch wissen chaft 1546
Ersre Auflage 1001
© Alenka Zupanc ic
AUc Rechte vorbehalten, insbesondere das der Ubersetzung,des offendichen Vortrags sowie der Dbcrtragung
durch Rundfunk und Femsehen, auch einzelner Teile.
Kein Ieil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schrift liche Genehmigung des Veri ages reproduzier r
oder unter Verwendung elekrronischer Systeme
verarbeirer, vervielfaltigt oder verbreiter werden.
Druck: Nomos Verlagsgesell chaft, Baden-Baden
Printed in Germany
Urnschlag nach Entwurfen von
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
I 1 J 4 5 6 - 06 05 04 03 04 Ol
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Nicht "Die Illusion des Realen-, sondern ...
Vorwort von Slavoj Zizek
Fallt heute in ethisch-politischen Debatten der Name
»Immanuel Kant«, denkt man natiirlich zuallererst an diepost-kornmunistische, liberale »Riickkehr zu Kant« in all
ihren unterschiedlichen Spielarten - von Hannah Arendt bis
Jiirgen Habermas, von Neoliberalen wie Luc Ferry und
John Rawls bis zu Theoretikern der »zweiten Moderne« wie
Ulrich Beck. In Jacques Lacans Motto »Kant mit Sade« da-
gegen geht es noch urn einen ganz anderen, viel unheirnli-
cheren Kant, den Kant, von dem Lacan sagt, seine ethische
Revolution markiere in der Geistesgeschichte den Beginn
des Weges, der zur Freudschen Entdeckung des UnbewuB-ten fiihrte: Kant war der erste, der ein -[enseits des Lust- ..);;£
prinzips- absteckte. Denken wir an die beruchtigte Defini-
tion der Ehe in Kants Metaphysischen Anfangsgrunden der
Recbtslebre, die Hegel so emporte (sdie Verbindung zweier
Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen
wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften«,'
d. h. die Legitimierung des »wechselseitigefn) Gebrauch(s),
den ein Mensch von eines anderen Geschlechcsorganen und
Verm6gen macht«), Sparer im selben Werk erwagt Kant so-gar die Legitimierung der Toning unehelicher Kinder:
»Das uneheliche auf die Welt gekommene Kind isc aufier dem
Gesetz (dean das heiBt Ehe), mithin auch auBer dem Schurz des-
selben, geboren. Es ist in das gerneine Wesen gleichsam einge-
schlichen (wie verbotene Ware), so daB dieses seine Existenz
(weil es bill ig auf diese Art nicht hatte existieren sollen), rnithin
auch seine Vernichrung ignorieren kann ... , ,'
(Wenn Kant diese radikale Position kurz darauf zuruck-
nimmt und eine Kornpromililosung vorschlagt, haben wir es
1D ie MeLapb ys ik d e r S it te n, Frankfurt am Main, Bd. VIII, ABloS.
~ A.a.O., A204, B234.
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Nicht "Die Illusion des Realen-, sondern ...
Vorwort von Slavoj Zizek
Fallt heute in ethisch-politischen Debatten der Name
»Immanuel Kant«, denkt man natiirlich zuallererst an diepost-kornmunistische, liberale »Riickkehr zu Kant« in all
ihren unterschiedlichen Spielarten - von Hannah Arendt bis
Jiirgen Habermas, von Neoliberalen wie Luc Ferry und
John Rawls bis zu Theoretikern der »zweiten Moderne« wie
Ulrich Beck. In Jacques Lacans Motto »Kant mit Sade« da-
gegen geht es noch urn einen ganz anderen, viel unheirnli-
cheren Kant, den Kant, von dem Lacan sagt, seine ethische
Revolution markiere in der Geistesgeschichte den Beginn
des Weges, der zur Freudschen Entdeckung des UnbewuB-ten fiihrte: Kant war der erste, der ein -[enseits des Lust- ..);;£
prinzips- absteckte. Denken wir an die beruchtigte Defini-
tion der Ehe in Kants Metaphysischen Anfangsgrunden der
Recbtslebre, die Hegel so emporte (sdie Verbindung zweier
Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen
wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften«,'
d. h. die Legitimierung des »wechselseitigefn) Gebrauch(s),
den ein Mensch von eines anderen Geschlechcsorganen und
Verm6gen macht«), Sparer im selben Werk erwagt Kant so-
gar die Legitimierung der Toning unehelicher Kinder:
»Das uneheliche auf die Welt gekommene Kind isc aufier dem
Gesetz (dean das heiBt Ehe), mithin auch auBer dem Schurz des-
selben, geboren. Es ist in das gerneine Wesen gleichsam einge-
schlichen (wie verbotene Ware), so daB dieses seine Existenz
(weil es bill ig auf diese Art nicht hatte existieren sollen), rnithin
auch seine Vernichrung ignorieren kann ... , ,'
(Wenn Kant diese radikale Position kurz darauf zuruck-
nimmt und eine Kornpromililosung vorschlagt, haben wir es
1D ie MeLapb ys ik d e r S it te n, Frankfurt am Main, Bd. VIII, ABloS.
~ A.a.O., A204, B234.
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der Veneidigung gegen die exzessive [ouissance auf dersel-
ben Seite - oder doch nicht? Stehen sich nicht ebenso diese
exzessive jouissance und die moralische Pflicht so nahe, daB
sie sich irgendwann gar nicht mehr klar auseinanderhalten
lassen? Beide setzen die Herrschaft der utilitaristisch-egoi-
stischen Selbsterhaltung auBer Kraft. Wenn ich alles, auch
mein Leben, zur Erlangung einer jouissance aufs Spiel setze,dann wird aus dieser jouissance selber eine Art »Pflicht«, Das
paradoxeErgebnis lautet sornit, daB die einzige Moglichkeit
zur Aufrechterhaltung der Herrschaft des Lustprinzips
manchmal die Opferung von (exzessiver) Lust sein kann,
und umgekehrt kann die einzige Moglichkeit, die Herrschaft
des Lustprinzips zu unterlaufen, darin bestehen, an der Lust
bis in wen schreck lichen, unerrraglichen Exzef festzuhal-
ten.
Aus diesem Grund is t die Rede von der »St imme des Ge-
wissens« vieldeutiger, als es zunachst scheinen mag: Weshalb
richter sich die Moral mit einer Stimme an uris? Ist das bloB
eine Metapher? Man sollte hier Lacans Begriff der Stimrne
als objet petit a aufnehmen: wenn wir »wirksam« sprechen,
sind unsere Worte am Ende immer bloB Geplapper; wann
immer wir reden, »reden wir zuviel«, reden, urn der uner-
traglichen Stille zu entgehen, und diese Stille ist die Stimme
als Objekt. Daher sehen wir uns nicht nur, wo unserc Wone
versagen, jener Stimmc gegenuber, die uns an unsere grund-
legende Verantwortlichkeit gemahnt. Die »Stimme des Ge-
wissens« ist der Druck, den die Stille selbsr auf uns ausiibt,
ihr Widerhall. Stellen wir uns eine Situation vor, in der wir
verschiedene Argumente anfiihren, urn uns von der Verant-
wortung fur eine verwerfliche Tat freizumachen: man redet
und redet, und wenn einem schlieBlich die Worte ausgehen,
ist die Stille, die dann einsetzt, »die Stimme des Gewissens«.
Eine solche Situation ist ganz und gar nichts Ungewohnli-
ches, sie ist vielmehr die Grundsituation des menschlichen
Sprechens. Natiirlich ist Munchs Gemalde Der Schrei das
Urbild dieser schweigenden Stimme: es zeigt uns die unaus-
10
sprechliche Angst der Stimme en puissance, die in der Kehle
steckenbleibt und sich nicht veraufierliehen kann.
Mit diesem Punkt traurnatisierter Stille mochte ich
schl iefien und betonen, daB Alenka Zupancic' Bueh nicht
nur ein authentisches philosophisches Ereignis darstellt,
sondern auch eine entscheidende Intervention in unsere der-
zeitigen ethisch-politischen Debatten. Schonsein Titel- DasReale einer Illusion - richter sich gegen das postrnoderne
Mantra, dem zufolge jeder Begriff des Realen (irn Gegensatz
zum mutmaBlich Scheinbaren) eine Illusion ist; aber nein:
Lacan i st n ic h e einfach ein Postrnodemer mehr, der behaup-
tet, alle Realitat sei bloB eine kontingente diskursive Forma-
tion ... Nun, is t daraus zu schl iefsen, daB ieh eine immense
Achtung und Bewunderung fur Alenkas Buch hege? Uber-
haupt nicht: eine solche Haltung der Bewunderung setzt im-
mer eine beque me Position der Uberlegenheit gegenuberdem jeweiligen Autor voraus; ich wiirde mir dabei zutrauen,
auf die Autorin herabzublicken und gutigerweise ein vor-
teilhaftes Urteil uber die Qualitat ihrer Arbeit verlauten zu
lassen. Ein Philosoph kann seine Achtung fur einen anderen
Philosophen oder eine andere Philosophin nur durch blan-
ken Neid ausdrucken: Wieso bin ich nicht selber auf das ge-
kommen, was sie sagt? Ware es nicht schon gewesen, wenn
die Autorin tot umgefallen ware, bevor sie dieses Buch ge-
schrieben hat, so daB ihre Ergebnisse meine selbstzufriedeneRuhe nieht gestort hatten? Die groBte Anerkennung, die ich
Alenkas Bueh zollen kann, is! das Eingestandnis, wie oft ich
rnich beirn Lesen ihres Manuskripts dabei ertappt habe, nei-
disch und wiitend zu sein, mich im Herzen meiner philoso-
phischen Existenz bedroht zu fiihlen und sprachlos zu sein
angesichts der Schonheit und Strenge des Gelesenen, und
wie oft ich mich bei der Frage uberrascht babe, wie ein soleh
authentisches Denken heute uberhaupt noch moglich ist,
Ich will mil bei weitem nicht die Rolle von Alenkas »Men-
tor« vorhehalten, aber ieh will doch sagen, daB ich mich
demiitig geehn fuhle, in einer Reihe von gemeinsamen Pro-
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jekten mit ihr zusamrnenarbeiten zu konnen, Wenn Alenkas
Buch kein Werk von klassischern Rang wird, dann wird man
daraus einzig schlieBen konnen, daB un sere Universitaten
auf dunkle Weise ihre eigene elbstzerst6rung betreiben,
12
Das Reale einer Illusion
Kant unci Lacan
Einfiihrung
Nach Nietzsches beriihmter Formulierung will die Mensch-heit eher das Nichts, als nichts zu wollen. Nun ist es viel-
leicht an der Zeit, der »Genealogic der Moral« ein neues
Kapitel hinzuzufiigen, das Kapitel, in dem der aktive Nihi-
lismus entscharft wird und seine Unbandigkeit verliert: Die
Menschheit will eher nichts als das Nichts. Was heute unter
den Begriff der Ethik fallt, is r in den meisten Fallen eine
Ethik de Nicht-Wollens. Diese Ethik legt uns nahe, etwas
»anzunehmen«, zu »tolerieren«, »einzugestehen« (diese
oder jene Notwendigkeit, diese oder jene Differenz) oderdoch einem gewissen Wollen Grenzen zu ziehen, das uns als
»blind- dargestellt wird (zurn Beispiel dem Wollen der Wis-
scnschaft), Diese Ethik des Nicht-:Wolk_ns beruht auf zwei ~OperaLionen~ie erste besteht in deT Identifizien!!!K.,iies
Willens mit dem---rod. d. h. ausdrucklich zu setzen, dag -das
Nichts Wollen« (die »Zerstorung«, wie iibersetzt wird) die
letzte Wahrheit jeden Wollens sci, und die zwei besteht
darin, aus dem Tod (folglich auch aus dem il l en) die Gren-
ze jeder Ethik z~machen. Auf die Ethik beruft man sich also
in erster Linie im Namen der Verhiitung des Todes oder, all-
gemeiner gesagt, im Namen der Erhaltung der Gattung (an-
gesichrs gewisser Erfahrungen mit der Genetik, zu okologi-
schen Zwecken ... ). Da ohne weiteres vorausgesetzt wird,
daB die Bewahrung des Lebens als solche loblich sei, ist
schwer einzusehen, in welchem Sinn diese Bewahrung in
sich bereits »ethisch« sein soli.
Man konnte also sagen, daB die Ethik des Nicht- Wollens
den Ausschluf des Todestriebes voraussetzt, denn dieser irn-
pliziert eben, daB der Tod nicht die Grenze ist. IrnGegensatz
zu einer weitverbreiteten Auffassung bedeutet der To-
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destrieb aber nicht »den Tad wollen« sondern vielmehr »et-
was wollen, selbst wenn der Preis dafur der Tod ist«, DerTo-
destrieb ist kein Trieb, der den Tad anstrebt. Er strebt weder
das Leben noch den Tad an. »Todlich« kann er gerade sein,
weil er dem Tad gegenuber indifferent isr, weil er sich gar
nicht mit dem Tod befalst , weil der Tod ihn iiberhaupt nicht
interessiert. »Lieber das Nichts wollen als ... a : kann eindunkles Begehren der Katastrophe sein, aber ebenso die
Grundlage jeder Ethik des Begehrens, soweit dieser Wille a ls
Motor der Verwandlung des Unrnogl ichen ins Mogl iche
dient. In diesem Falle strebt das Begehren nicht das Nichts
an, sondern das Nichts ist vielmehr seine innere Bedingung
- das Begehren impliziert, daB es ein »Nichts« gibt, urn des-
sentwillen man bereit ist, alles in Frage zu stellen -, eine Be-
dingung, die allererst den Spielraum fur die klassische Ethik
eroffnet, d. h. den Spielraum, der die Maxime ermoglicht:»Lieber den Tad als ... (den Verrat an dieser oder jener Sa-
che)«, Heute konnen wir genau dies beobachten: wie sich
dieser Spielraurn schlieBt, ein AbschluB mit dern Ergcbnis
eines quasi universe lien »es lohnt die Miihe nicht«, Zwei ver-
schiedene Arten dieses »es lohnt sich nicht- lassen sich un-
terscheiden: die erste geht einher mit dem, was Jacques La-
can als »Ablassen von seinem Begehren« bezeichnet, und
eine zweite, noch beunruhigendere Art geht einher mit der
schieren Unmoglichkeit, uberhaupt im eigentlichen Sinne zu
begehren, eine Unrnoglichkeit, die direkt mit dem Ver-
schwind en des genannten Spielraums zusarnrnenhangt.
Was ist nun dieser Spielraum? Er ist etwas, das in jeder Si-
tuation einen leeren Platz freihalr, von dem her diese Situati-
on uberhaupt erst angegangen werden kann, von dem her
man in sie eingreifen, sie unterlaufen, sie verandern kann.
Anders gesagt handelt es sich urn einen Ort oder vielmehr ei-
nen Nicht-Ort, dessen wichtigstes Merkmal folgendes ist:
eine von diesem Ort her ausgesprochene Aussage ist niemals
nur eine Aussage unter anderen. Es ist der Ort, an dem die
Dinge sich ereignen. Es ist der Ort, der ermoglichr, daB die
Dinge »statt haben«. Geht man davon aus, daB dieser Ort
kein anderes "Wesen« als das hat, Spielraum, d. h. Zwi-
schenraum zwischen diesem und jenem, ein »Zwischen-
zwei« zu sein, dann muB es diese »zwei« geben, damit tiber-
haupt erwas stattfinden kann. 1m AbschluB, von dem wir
sprachen, geht es darum, diesen Spielraum auszuschalten
und die Zwei durch das vervielfaltigte Eine zu ersetzen. Esist keine Neuigkeit, daB sich diese Vereinheitlichung des ge-
sellschaftlichen Raurnes unter dem Deckmantel der Diffe-
renzen vollzieht. Diese Vielzahl von Differenzen sorgt
dafur, daB das Zwischen-zwei sich in ein »Zwischen-zwei-
einen« verwandelt, Daraus folgt dann, daB der Raum, in dem
die Dinge stattfinden konnen, seinerseits unendlich verviel-
facht wird, was eine Zeidang die Hoffnung auf und die Be-
geisterung fur »Mikropolitiken« genahrt hat. Das Problem
besteht nun nicht nur darin, daB die Zersplitterung dieser»Spielraume« jede »Makropolitik«, die tiber die bloBe Ver-
waltung hinausgeht, auBerordendich erschwert; uberdies
storen die Mikropoliriken keineswegs das groBe Ganze (des
Kapitals), sondern tragen sagar allzuoft noch zu dessen
Gleichgewicht bei, d.h. sie sorgen dahir, daB keines der »Ei-
nen«, aus denen das Mannigfaltige Eine besteht, die Dirnen-
sioncn des Anderen annimmt,
Das gcgenwartige Schicksal der Ethik ist fiir diese Veran-
derung symptomatisch. Stand »Ethik« lange Zeit fur dieses
Zwischen-zwei, in dessen Namen man sich gegen die Macht
wandte oder positives Recht (oft verkorpert irn Staat) »iiber-
schritt«, so werden heute zunehmend in ihrern Namen Ge-
setze erlassen, d. h. sie wird zunehmend in den Dienst der
Rcchtssphare, der Legalitat gestellt. Die Ethik karin nicht
(oder kaum) mehr dieses oder jenes Rechtsgebaude »durch-
lochern«, sondern fullt vielmehr deren Lucken auf oder
dient Ihnen gar als regulative Idee. Hier und da tun sich Ris-
se auf, und dann werden Ethik-Ausschusse mit dem Auftrag
eingesetzt, diese Risse genau irn Auge zu behalten und dafur
zu sorgen, daB es hier »keine Degenerationen gibt«. Das
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heilh, die Ethik wird etwas im Kern Restriktives, das jeder
schopferischen Kraft beraubt ist. Die Ethik wird eine Funk-
tion: Funktion des Seins, Funktion dessen, was ist.
Moglich ist das nur unter einer Bedingung: da£ man jeder
Erfindung oder Schopfung des Guten entsagt und ganz im
Gegenteil als hochstes Gut ein bereits fest Etabliertes oder
Gegebenes annimmt (das Leben etwa) und Erhik als Erhal-tung dieses Gutes definiert. Das Leben mag die Vorausset-
zung jeder Ausiibung von Ethik sein, aber wenn man aus
dieser Voraussetzung das letzte ZieJ der Ethik rnacht, heiBt
das im Grunde nichts anderes, als iiberhaupt Schluf mit der
Ethik zu machen,
Diese »Ethik- beruht auf einer regelrechten Ideologie des
Lebens. Das Leben, sagt man uns, ist zu kurz und zu »kost-
bar«, urn sich in die Verfolgung dieser oder jener »illusori-
schen« Projekte verstricken zu lassen, die so oder so immereine schlechte Wendung nehmen. Seid umsichtig und
»nutzt« das Leben, dieses Wunder aller Wunder! Man mufl
sich klarmachen, daB man es hier in Wlfklichkeit mit der Er-
zeugung »vitalistischer Schuldgefuhle« zu tun hat, die die
allgegenwsrtige Pcrspektive eines letzten Gerichrs irnplizie-
ren, das angeblich in unserem eigenen Interesse sein soIl.
»Was hast du aus deinem Leben gemacht? Du hast zehn Jah-
re mit einer Sache verIoren, die zu keinem greifbaren Ergeb-
nis gefuhrt hat? Du rauchst? Du hast keine Nachkommen?
Du bist nicht einmal beriihmt? Wo sind denn die Ergebnisse
deines Lebens? Bist du wenigstens ghicklich? Nicht einmal
das! Siehst du, man hatte dein Leben besser e.inem anderen
gegeben. Deine Existenz ist ein Verbrechcn, ein Verbrechen
gegen das Leben.« Welche Maxime liegt diesem Diskurs zu-
grunde? DaB der schrecklichste Fehler, das unentschuldbar-
ste Verbrechen un seres Daseins darin liegt, uns schlecht zu
fiihlen, Das ist die vollkommene Schmach, das Zeicben par
excellence der Niedrigkeit und des Scheiterns desjenigen,
der seine Karten nicht auszuspielen vermocht hat. Man wird
nicht nur fur sein Ungliick veranrwortlich gemacht, die Lage
16
ist noch viel perverser: das Ungh.ick wird zur HauptqueUe
der Schuldigkeit, zum Zeichen dafur, daB wir nicht auf der
Hohe dieses so wunderbaren Lebens waren, das uns »ge-
schenkt- worden ist. Man ist nicht etwa elend, weil man sich
schuldig fiihl t , man ist schuldig, weil man sich elend fuhlr.
Das U ng lu ck is t Folge eines moralischen Fehlers. Wenn du
also moralisch sein willst, dann sei glucklichlIst es zu einer Zeit, da man den Moralismus auf einem
Hohcpunkt sieht, noch »opportun«, von Ethik zu sprechen?
Diese Frage ist nicht neu. Als Lacan 19~9sein Seminar uber
Die Ethik der Psychoanalyse beginnt, geht es durchaus urn
das »unzeitgernalie« Beharren auf der Ethik in einern Mo-
ment, da diese Ethik als ideologische Waffe jedcr Art von
Repression galt. Man konnte sagen, Lacan legt Rechenschaft
dariiber ab, daB der Kampf fur ein Reales der Ethik zu wich-
rig ist, urn sich davon zu »distanzieren« und ihn den Morali-sten zu iiberlassen, In dieser Hinsicht ist -unsere Zeit« viel-
leicht gar nicht so verschieden von der damaligen: wenn
»Ethik« einer der Ordnungsbegriffe fiir die »neue Weltord-
nung« ist, dann hei1h das nicht, daB man dieses Gehiet den
zeitgenossischen Moralisten iiberlassen darf (oder gar soll).
Die heute vorherrschende Ethikkonzeption, die von ei-
nem bereits fesrgelegten Begriff des Guten ausgeht, ist vor-
modern. Gewill kann sich der -Inhalc« der Vorstellung vom
Guten wandeln, und er hat sich auch gewandelt, und das glei-che gilt auch fiir den Gedanken, wonach das Gute in einem
hochsren Sein griindet und durch ein solches gewahrleistet
wird. Daraus ist jedoch keineswegs zu schlieBen, die aner-
kannte Abwesenheit einer gottlichen Quelle des Guten rna-
che »unsere Ethik« bereits zu einer modernen Ethik. Denn
die entscheidcnde Frage ist am Ende gar nicht, ob Gott, die
Natur oder unser »Konsens- tiber die Vorstellung vorn Gu-
ten bestirnrnt, der wir uns zu beugen haben. In allen drei Fal-
len bleibt das daraus hergeleitete Dispositiv des Universellen
oder Allgemeinen das gleiche. Wir haben eine Vorstellung
vom Guten, die auf aIle Bereiche der menschlichen Praxis
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iibergreift, und das Allgemeine daran ist eben dieses »Uber-
greifen« oder diese »Rahrnung«. Anders gesagt ist der in
diesem Dispositiv implizierte Begriff des Allgemeinen der
Begriff der Legalitat, was deutlich genug durch die Tatsache
belegt wird, daB das Recht an die Stelle der Moralitat getre-
ten ist, d.h. daB das Recht den grofhen Teil der urspninglich
»rnoralischen« Fragen regelt, Dieser Prozefs, in dem immerneue »ethische Dilernmata« zum Fortgang des Rechts bei-
tragen, ist bei weitern niche abgeschlossen und kann unend-
lich weitergehen. Die ganze Frage liegt aber darin, ob man
das Ethisehe in dieser Rechrsausubung und -anwendung an-
siedeln soIl.
Es gibt eine andere Konzeption der Ethik, die ganz im Ge-
genteil dafurhalt, daB die Ethik von keinem schon besrimrn-
ten Begriff des Guten ausgehen kann, daf das Gute nur Re-
sultat des Ethischen sein kann (und nicht notwendigerweiseunter der Form seiner ernpirischen Konsequenzen) und daB
sich die Ethik irn Weseo vorn Recht untcrscheidet, daB sie
eine »Erzeugung« des Guten und nicht seine »Anwendung«
ist, Damit ist die »praktische« Anstrengung Kants und seine
Konzeption der Ethik zusammengefa!k Diese Konzeption
ist ihrerseits nicht frei von Schwierigkeiten und Sackgassen,
aber hier handelt es sich urn Schwierigkeiren, die zum N ach-
denken zwingen, und um Sackgassen, die uns vor ein gewis-
ses Reales fiihren, das weiterzuverfolgen ist. Die KantischeKonzeption der Ethik ist sicherlich »moderner«, kraftvoller,
neuartiger und reizvoller als das, was uns heute als Ethik an-
geboten wird (oft unter Bezug auf Kant, ein wahrhaftes Ver-
brechen gegen das Denkcn). Wenn sich das voriiegende
Buch, inhohem MaBe eine Arbeit »uber« Kant, als »Riick-
kehr zu Kant« versteht, dann nur in der Konstellation einer
»Riickkehr zur Zukunft«. Der Kant, der uns interessiert, ist
nicht »unser Zeitgenosse«, und seine urnstiirzendsten Ge-
danken entsprechen inkeinem Punkt unserer »Akrualitat«
(auch keiner »vergangenen« Aktualitat). Ihre Inaktualitat ist
es eben, die uns dazu treibt, ihnen zu folgen, und es ist die
[ 8
Zukunft einer Illusion, die uns interessiert, d. h. ihr Reales.
Der inaktuellste »Kantische Mornent« ist wahrscheinlich
folgender: Es gibt keine Illusion, deren Verwirkhchung noch
gefahrlicher ware als der Verzichr auf das Reale einer Illu-
sion.
Das Reale also, dieses Reale, das man so schwer auBerhalb
der »Realitat« und der Grenzen ausfindig machen kann, diesie uns auferlegt. Manch einer glaubt, die Ruckkehr zu tradi-
tionellen Werten konnte hier etwas ausrichten. Legen wir
aufs neue einige harte Verbote fest, und bald werden wir uns
ein klein wenig des Realen versichern konnen, Denn man
weiB ja ganz genau, daB es keine starkere Stutze des Realen
als eben das Gesetz gibt. Aus dies em Grund paRt das post-
moderne »ohne Reales« so gut zu allen moglichen reak-
tionaren Forderungen. Es gibt aber auch eine postmoderne
Ethik, deren »heroische« Maxime folgende isr: man rnuf da-hin kommen, das »ohne Reales« zu ertragen, die Tatsache zu
bejahen, daB keine der zahllosen Moglichkeiten oder Optic-
nen realer (oder -moralisch« besser) als die andere ist; man
muB sie alle tolerieren und offen bleiben fur die, die erst
noch kommen, Dieser neue »Egalirarisrnus« ist jedoch Op-
fer seiner eigenen Voraussetzung: er kann nicht behaupten,
daa sein Kampf »realer« (»mehr gerechtfertigt« oder »not-
wendiger«) ist als irgendein anderer Kampf (z. B. der der Re-
aktionare). Er kann nur in der Passivitat verharren: sob aid er
aktiv, militant wird, muB er Unrerscheidungen treffen und
sich dem Vorwurf aussetzen, seine eigenen Prinzipien verra-
ten zu haben und der Illusion eines Realen erlegen zu sein.
Die Feststel1ung ist unumganglich, daB es keine andere
Ethik als die Erhik des Realen gibt. Das helat aber nicht, daR
es kein anderes Reales gibt als dasjenige, das sich auf das
Verbotsgesetz stiitzt, das das Reale (das Unmogliche) be-
nennt, Die »Ruckkehr zu Kanr«, di e wir vorschlagen, is t
eine Riickkehr, die uns den Blick auf ein anderes Reales off -nen kann. Aber weshalb Kant, der doch von nichts anderern
als vorn Gesetz spricht? Das moralische Gesetz, der karego-
19
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rische Imperativ, man kennt ja dieses Lied. Aber sehen wir
zu, »Handle so, daB die Maxime deines Willens jederzeit zu-
gleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten
konne.«! Welches Reale nennt dieses Gesetz, welches (uber-
schreitende) Begehren kann es erwecken, welches (verbo-
tene) Ohjekt binder es an das Begehren? Gar keines. Hier
liegt das ganze Problem und das ganze Interesse der Kanti-schen Ethik: Geht man von einem Gesctz aus, das gerade
kein Gesetz it,welches das Reale des Guten oder des Bosen
nennt, und auch keines, das unmitrelbar unser »Begeh-
rungsvermogen« akrivieren konnte - wie soll man dann
zum Realen der Freiheit gelangen oder es verorten, wie
kana man es erkennen?
Das ist die Frage.
1.Die »Mehr-Form«
DeI' Begriff des Pathologischen bildet, wie man weill, einen
der begrifflichen Knotenpunkte der praktischen Philo-
sophie Kants. Man weiB auch, daB Kant mit Hilfe dieses
Begriffs bezeichnet, was nichr der Ordnung des Ethischen
angehort, Und schlieiilich weill man auch, daB das Patholo-
gische im Kantischen Sinn nicht erwa das Gegenteil des
»Norrnalen« ist, Das heillt, unser alltagliches, »normales«
Verhalten ist mehr oder rninder immer pathologisch. Mit ei-
ncr pathologischen Handlung hat man es zu tun, wenn die-
se lediglich Mittel zur Erreichung eines anderen Zweckes ist,
d. h. wenn ihr Gegenstand (der Zweck oder die Triebfeder)
etwas anderes als sie selbst ist. Pathologisch handeln wir,
wenn es etwas gibt, das uns zu unseren Handlungen drangt,
das uris mit sich zieht oder uns vor sich her stalk Dieses »Et-
was« nennt Kant eine Triebfeder. Diese Sache nun, die uns in
Bewegung bringt, Ialh sich in ein sehr umfangrciches Regi-
I Kritik der p rd k ti sc hen Venr un fr (im folgenden KpVl. Frankfurt/Main
'991, Bd. VII. AS4.
20
ster einschreiben, und dieses Register ist kein anderes als das
der Normalitat, Es kann sich urn die elementarste materielle
N orwendigkeit handeln, urn die hochste Idee oder urn ir-
gend etwas dazwischen, Die Alternative zum Parhologi-
schen ist also nicht erwa das Normale, sondern diese Alter-
native konzentriert sich vielmehr urn Begriffe wie Freiheit,
Autonomie und Form. Daher kennt die Ethik selbst eine ArtTriebfeder, die Kant in folgenden makabren Satzen aus der
Kritik der praktischen Vemunft einfuhrt, wenn er von »einer
Achtung fur erwas ganz anderes als das Leben« spricht:
,.( . .. ) wornit in Vergleichung und Entgegensetzung das Leben
vielrnehr, mit aller seiner Annehmlichkeir, gar keinen Wen hat.
Er [der Mensch, von dem hier die Rede ist] Icbt nur noch aus
Pflicht, niche weil er am Leben den rnindesten Geschmack findet.
So ist die echte Triebfeder der reinen praktischen Vernunft be-
schaffen ... .. (KpV A(58).
Das ist also die »Atrnosphare«, das »Klirna« in der Sphare
der Ethik, Aber betont werden mug auch, daf Kants Ethik
nicht einfach eine Ethik der Askese ist, des prinzipiengelei-
teten Verzichts auf das Angenehme. Aus den zitierten Satzen
laBt sich keineswegs schlieiien, da.Bdas Subjekt fu r sich sel-
ber keinerlei -Annehmlichkeir«, kein Gut fordern darf.
Ganz im Gegenteil ist es zu jeder Forderung berechtigr, Das
Paradox liegt anderswo, narnlich in der »verfehlten Begeg-
nung« des Gli.icks (Lustprinzip) und der erhischen Dimensi-
on. Man hat das Recht, alles zu Iordern, abet dieses »alles«
hat fur das ethische Subjekt keinen wirklichen Wert mehr, es
ist nichr mehr »wtinschenswert«. In dieser - dem Anschein
nach doch ziernlich deprimierenden - Sicht lii.Btsich auch
cine Art Ermutigung finden: Hab keine Angst, alle die Freu-
den aufgeben zu miissen, die dir so teuer sind, wenn du in die
ethische phare eintrittst; du wirst das gar nicht als Verlust
oder Opfer erfahren, denn du wirst nicht mehr die gleiche
Person wie zuvor sein, du wirst niches zu bereuen haben,
Jene versaurnte Begegnung ahnelt stark derjenigen, die wit
.11
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so kraftvoll in Prousts Un amour de Swann beschrieben fin-
den. Der Held liebt Odette hoffnungslos, Odette, die ihn
nicht mehr liebt, Er Ieidet schrecklich und denkt doch, daB
er aufhoren will, sie zu lieben, um diesem Leiden, diesern Pa-
thos zu entgehen. In seinem Denken jedoch wird ihm klar,
daB es eigentlich nicht das isr, was er will. Er will, daB sein
Leid ein Ende hat, nicht aber seine Liebe; er will, daB seinLeid ender, wahrend er immer noch liebt, denn dieser Zu-
stand ist es, an dem er Lust empfindet. Er weiB, daB sein Leid
zu Ende ware, wiirde er aufhoren, Odette zu lieben, ware er
von dieser Liebe »geheilt- - und eben das will er nicht, denn
»aus dem Grunde seines krankhaften Zustandes heraus
fiirchtete er wie den Tod eine solche Heilung, die inder Tat
das Ende von atlem bedeutet hatte, was er im Augenblick
war«.' Er ware also nicht mehr dieselbe Person, er fande kei-
ne Lust rnehr in der Liebe zu Odette und auch kcinenSchmerz mehr in seiner Gleichgiiltigkeit. Das ist keine
schlechte Definition der Beziehung zwischen dem Kanti-
schen Begriff des »Pathologischen« und dem Begriff des
Ethischen. Die Art und Weise, auf welche das Subjekt an sei-
ne Pathologic »gebunden«, ihr »unrerworfen- ist, ist niche
frei von Zweideutigkeit: das Subjekt furchtet am meisten
nicht den Verlust dieser oder jener bestimmten Lust, son-
dern den Verlust des Rahmens selbst, innerhalb dessen cs
iiberhaupt Lust (oder Schmerz) empfinden kann. Das Sub-jekt fiirchtet den Verlust der Pathologie, des Pathos selbst,
das den Kern seines jetzigen Seins ausmacht, so elend dieses
aucb sein mage; es fiirchtet, sich in einer vollig unbekannten
Zone wiederzufinden, in einer Region ohne Markierungen
und Zeichen.
Zu Kants Zeit, aber auch schon [riiher, war die Unter-
scheidung von unterern und oberem Begehrungsverrnogen
ublich, Kant wendet sich m it Nachdruck gegen dieses di-
1Marcel Prousr, Auf der Sucbe nach der uerlorenen Zeit, Frankfur t/Main
1953, Bd.l, S. 44zf.
22
stinguo. Man kann sich nur wundern, sagt er; daB ansonsten
scharfsinnige Leute zwischen unterern und oberem Begeh-
rungsvermogen unterscheiden zu konnen glauben, je nach-
dem, ob die mit dem Gefiihl der Lust verbundenen Vorstel-
lungen den Sinnen oder dem Verstand entstammen. Sucht
man nach den Bestimmungsgriinden des Begehrens und
schreibt man sie einer von einer Sache erwarteten Annehm-lichkeit zu, dann liegt wenig an der Herkunft der Vorstel-
lung dieses Lust verschaffenden Gegenstandes. Die Vorstel-
lungen der Gegenstande konnen so verschiedenartig sein,
wie man will, sie konnen im Gegensatz zu Vorstellungen der
Sinne Vorstellungen des Verstandes oder selbst del' Vernunft
sein - das Gehihl der Lust hingegen, kraft dessen sie einzig
Bestimmungsgrund des Willens sein konnen (der Reiz, das
erwartete Vergruigen, die das Handeln zur Hervorbringung
des Gegenstandes anregen) gehort immer dem gleichenRaum an, namlich dem Empirischen und damit dem Patho-
logischen. Die Lust kann sehr wohl eine »intellektuelle«
sein, abel' damit ist sie nicht weniger Lust. A fortiori muf]
eine Lust nicht unmittelbar sein, sie kann sehr woW zu ge-
wissen Anstrengungen und Opfern fiihren. Es geschieht
zum Beispiel, sagt Kant, daB man Vergmigen in bloiler
Kraftanwendung, im Bewuiltsein seiner Seelenstarke bei
Uberwindung von Hindernissen, die sich unseren Vorsatzen
in den Weg stellen, in der Kultur der Geistestalente usw. fin-det. Diese Dinge werden mit gutem Recht als feinere Freu-
den bezeichnet, abel' nicht etwa, urn aus ihnen einen anderen
Bestimrnungsgrund des Willens als die schlichte Sinnlichkeit
zu machen. Und dann folgt cin Satz, der belegt, daB Kant
durchaus tiber Sinn fu r Humor verfugte, Denn tut man
ebendies, ist es »gerade so, als wenn Unwissende, die gerne
in der Metaphysik pfuschern mochten, sich die Materie so
fein, so iiberfein, daB sie selbst daruber schwindlig werden
mochten, denken, und dann glauben, auf diese Art sich ein
geistiges unci doch ausgedebntes Wesen erdacht zu haben«.
(KpV A44)
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Anders gesagt, gelangt man zum Ethischen nicht durch
eine scufenweise Erhebung in der Verfolgung von irnmer raf-
finierteren, feineren und edleren Zwecken und durch die
Ausschaltung seiner Bediirfnisse und »niederen tierischen
Instinkre«. Zwischen dem Pathologischen und dem Ethi-
schen gibt es einen Bruch, einen »Paradigmenwechsek Wir
durfen uns hier nicht zu rasch durch das verbreitete Bild vonder Kantischen Ethik verfiihren lassen, dem zufolge es sich
urn eine Ethik handelt, die eine stetige »Reinigung« (von al-
lem Pathologischen) und die unendliche Annaherung an das
Ideal verlangt. Auch wenn dieses Bild nicht ganz der Grund-
lage in Kants Texten entbehrt, ist es jedenf~lls ~uBers~ pro-
blematisch. Erstens vereinfacht es iibermaBlg die Logik der
Kantischen Ethik, und zweitens verschleiert es eine andere,
wichtige Argumentationslinie bei Kant: Der Aktus der Frei-
heit oder die wahre sittliche Tat stellt immer einen Umsturz
dar und ist niernals bloB Resultat einer Verbesserung oder
»Reform-:
,,(...j das kann nicht durch allmahliche Reform, so lange die
Grundlage der Maxirnen unlauter bleibt, sondern muB durch
eine Resolution in der Gesinnung im Menschen ... bewirkt wer-
den: und er kann ein neuer Mensch, nur durch cine Art von Wic-
dergeburt, gleich als durch cine neue Schopfung .. , und Ande-
rung des Herzens werden ...>
Diese Passage ist von grofier Wichtigkeit fur das Verstandnis
der Logik von Kants Ethik. Man weill, daB Kant eine klare
Grenze zieht zwischen seiner Ethik und der Art, in der sich die
moralischen Fragen in der Religion stellen. Dennoch siedelt er
die Veranderung der Gesinnung in einer streng kreationisri-
schen Perspektive an. Das Gewicht dieser Geste entgeht uns
vollig wenn wir darin eine Art Riickzug ins Irrationale er-
blicken, eine Chirnare des Kantischen Idealismus. Ganz im
Gegenteil ist diese Geste viel materialistischer als die Perspek-
rive der unendlichen Annaherung an das ethische Ideal.
J D ie R eli gio n in ne rh alb d er G re nz en d er b lo fle n V er nu nf r (irn folgenden
»Religicn«), FrankfunIMain 1991, Bd. VIII. B14, Ap.
Behalt man also den Ausdruck »oberes Begehrungsver-
mogen« bei, so schlieflr Kant, dann kann er nur einen einzi-
gen Sinn haben, namlich, daB die reine Vernunft an sich
selbst praktisch sein, d.h. daB sie den Willen durch die reine
Form der praktischen Geserzgebung bestimmen kann. An
dieser Stelle stoflen wir dann auf das beruhmte und oft pro-
blernatisierte Begriffspaar, das definiert wird als Form/In-halt, Form/Materie oder auch Form/Gegenstand. Es ist be-
kannt, daB diese Unterscheidung oft kritisiert wurde und der
Kantischen Ethik das Etikett des »Formalismus« eingetra-
gen hat. Spricht man jedoch vor allem in Hinblick auf die
Formulierung des kategorischen Imperativs (der von allern
Gehalt der Pflicht abstrahiert) von Formalismus, darf man
nicht vergessen, daB diese Formulierung auf einem anderen,
noch grundlegenderen Unterschied basiert, demjenigen
narnlich zwischen »pflichtmallig« und »aus Pflicht , d. h.zwischen dem rechtlichen und dem sittlichen Aspekt einer
Handlung.
-Man nennr die blofie Ubereinstimrnung oder Nichtiiberein-
stimmung einer Handlung mit dem Geserze, ohne Rucksicht auF
die Triebfeder derselben, die Lega/itat (GesetzmaBigkeit); dieje-
nige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zu-
glcich die Triebfeder der Handlung ist, die Morahtiit (Sittlich-
keit) derselben.s'
Man konnte mit Alain Badiou sagen, die ethische Dimensi-
on ist in bezug auf das Paar gesetzmaBig- gesetzwidrig oder
legal- illegal uberzahlig. Fur Kant ist das Gesetzwidrige nur
eine Kategorie des Legalen, weil beide ir n selben Register der
»Pflichtmaliigkeit- erscheinen, Eine ethische oder sinliche
Handlung dagegen ist nicht in dieses Register eingeschlos-
sen. Sie entspricht der Pflicht, aber das rnacht sie noch nicht
zu einer sittlichen Handlung. Die Sittlichkeit ist nicht in dem
Rahmen angesiedelt, den das Gesetz (im herkornmlichen
4 D ie M e ta ph ys ik d er S iu en (im folgenden ~Metaphysik«), Frankfurt/Main
1991,Bd. VIII,ABJ5'
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Wortsinn) mit semen Verstoiien und Ubertretungen ab-
steckt: in bezug auf das Legale, das Gesetzmaliige, nirnrnt
das Ethische eine Position des Exzessiven ein. Die Sirdich-
keit enthalt irnmer etwas Malsloses.Was ist nun die Natur dieses Exzesses oder Ubermallcs?
Kant verbindet sie mit dem Begriff der Form. Nach Kant,
heiBt es, soll unser Wille durch die »reine Form« der Pilichtbestimmt sein und nicht durch deren »Inhalt«. Die Kanti-
sche »Form« ist nun aber nicht "Form der Materie«: Kant
ordnet das GesetzmaBige und das Sittliche zwei verschiede-
nen Registern zu, die er nicht als zwei Aspekte ein und der-
selben Sache betrachtet. Dennoch versuchcn gewisse Inter-
preten, das Kantische Problem der Form zu los en, indem sie
sagen: Jede Form hat ihren Inhalt, man hat es immer sowohl
mit der Form wie mit dem Inhalt zu tun. Das Wissen darum,
wo sich nun der Bestimmungsgrund unseres Wtllens findet,entscheidet dariiber, ob eine Handlung sittlich ist oder
nicht: wird der Wille vom Inhale bestirnmt (d.h, von der
Materie des Begehrungsvermogens), dann hat man es mit
dem Pathologischen zu tun; wird er durch die Form be-
stirnmt, stogt man auf die ethische Dimension. Diesen Fall
nun kann man mit Recht als Formalismus bezeichnen. Aber
darauf zielt Kant gar nicht aboFestzustellen ist, daB das Eti-
kett des Formalismus viel besser auf das paBt, was Kant Le-
galitat oder GesetzmaBigkeit nennt: hier zahlt einzig dieUbereinstimrnung von Handlung und Pflicht, .:",ahr~nd der
»Inhalt«, oder genauer die Gri.inde dieser Uhereinstim-
mung, auBer Betracht bleiben und keine Bedeutung haben,
so daE man von ihnen abstrahieren kann. Die Sirtlichkeit
hingegen stellt durchaus einen gewissen Anspruch an den
»Inhalt« dar. Sie verlangt, daB die Handlung nicht nur der
Pflicht entspricht, sondern auch, daB diese Entsprechung
ihr einziger »Inhalt« oder ihr einziges »Motiv« ist. Kants
Betonung der Form ist in der Tat ein Versuch, die einzig
mogliche Triebfeder einer sittlichen Handlung .zu besti~-
men. Was Kant sagt, ist folgendes: In der Ethik muB die
26
Form die Stelle der »Materie« einnehmen, wenn sie als Trieb
wirksam sein soil; die Form selbst muf das letzte Residuum
der »Materie« sein, Kant zielt nicht einfach darauf ab, jede
Spur der Materie aus dem Bestimmungsgrund unseres WrJ-
lens zu tilgen, sondern vielmehr darau£, daB die Form selbst
»rnateriell- ist, daB sie als »Matene«, als Triebfeder unseres
Handelns fungiert.Tatsachlich gibt esin Zusammenhang mit der Moglichkeit
einer »reinen« sittlichen Handlung zwei Probleme oder
»Ratsel«. Das erste wird gewohnlich mit der Kantischen
Ethik assoziiert: Wie kann man alle pathologischen Beweg-
griinde aus unseren Handlungen ausschlie£en? Wie 5011 das
Subjekt alle seine Interessen, sein Wohlergehen und das
Wohlergehen seiner Nachsten auEer acht lassen konnen?
Wekhe Art unmenschliches und monstroses Subjekt setzt
also die Kantische Ethik voraus? Diese Argumentationslinieist verkniipft mit dem Problem der »unendlichen Reini-
gung« des mensch lichen Willens und mit der Logik der
beriihmten Sadeschen Formulierung: »nocb eine Anstren-
gung ... f( Aber es gibt da noch eine andere Frage, unserer
Ansicht nach be i weitern die wichtigere, denn wenn man die-
se zweite Frage beantwortet, hat man auch eine Anrwort auf
die erste, Diese rage betrifft, was wir die »ethische Trans-
substantiation« nennen konnten, narnlich die Verwandlung
von Form in Trieb (Triebfeder). Wie kann etwas, das nicht
pathologisch, d. h. nicht an die Vorstellung von Lust oder
Schmerz als eigentlicher Modus jeder subjektiven Kausalitat
gebunden ist, dennoch Ursache oder Triebfeder der Hand-
lung des Subjekts werden? Diese Frage betrifft nicht mehr
die »Reinigung« der Motive und Beweggriinde, sie ist viel
radikaler: wie kann sich die »reine Form« in Materie ver-
wandeln, wie kann aus einer Sache, die in der Welt des Sub-
jekts gar keine Ursache darstellt, mit einemmal eine Ursache
werden? Hier staBt man auf das wahre »Wunder« der Ethik
oder der Sirtlichkeit. Das grundlegende Problem der Kanti-
schen Ethik lautet sornit nicht: »Wie sind aile pathologischen
27
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Elemente auszuschalten, so daR nichts al s die reine Form
ubrigbleibt?«, sondern vielmehr: » Wic kann man aus der rei-
nen Form selbst ein >pathologisches Element- machen, d.h.
ein Element, das als Triebfeder, als Antriebskraft unseres
Handelns fungieren kann?« Wenn dies geschieht, wenn die
reine Form der Pflicht tatsachlich hir das Subjekt als Trieb zu
fungieren beginnt, dann muss en wir uns urn die »Rein igung«und die Tilgung pathologischcr Motive gar niche mehr sor-
gen.Aber kehren wir zunachst zur Frage nach der Natur jenes
Exzesses zuruck, den Kant in der Ethik erkennt und mit der
Form in Verbindung bringt. Wir sehen recht deudich, was
Kant mit der »reinen Form« im Auge hat, wenn wir neben-
einander-, oder besser noch untereinanderstellen, was Sitt-
l ichkeit und PflichtmaRigkeit jeweils mit sich bringen:
"pflichtma~ig«
»pflichtma~ig und aus Pflicht«.
Das Sittliche ist im Grunde ein Supplement, ein Oberschuft ·
Beginnen wir auf der ersten Ebene. Der Inhalt (»die Mate-
rie«) ebenso wie die Form des Inhales erschopfen sich in der
,.PflichtmaRigkeit«: ich habe meine Pflicht erfiillt, dem ist
nichts hinzuzuhigen. Harte ich meine Pflicht einzig und al-
lein aus P j li ch t erhillt, wiirde das auf dieser Ebene gar nichtsandern. Selbst wenn ich das, was ich getan habe, einzig aus
Pflicht getan habe, bleibt davon keinc Spur, die Wirkungen
meiner Handlung sind genau dieselben, was bedeutet: hand-
le ich nicht nur pflichtgemsli, sondern auch einzig aus
Pflicht, so kann ich mich dafilr keiner groBeren Achtung (die
damit »der Inhalt« dieser Form ware) erfreuen. Die Frage
des Hande1ns (ausschlieBlich) aus Pflicht stellt sich iiber-
haupt erst auf der zweiten Ebene, die wir ohne Einschran-
kung als Ebene der Form bezeichnen k6nnten.
Diese Frage stellt sich nur im Ausgang von der Wendung
» ... und aus Pflicht-. Hier stoBt man auf eine Form, die mit
einmal nicht mehr die Form von erwas, die Form eines In-
haltes isr. Und sie ist auch nicht einfach e in e l ee re Form, eine
Form oh ne I nh alt, sondern vielmehr eine Form auEerhalb
des Inhalts iiber den I nh a le h in a us , eine Form, die nur sich
seIber Form gibt. Geht man da von a us, daB jede Form Form
von etwas ist, so konnen wir hier von einem Aufler-Form
[hers-forme] sprechen, von einer Form, die selbst aullerhalb
der Form Iiegt. Anders ausgedruckt, haben wir es mit einem
Uberschuli, mit etwas Uberzahligem zu tun, das zu gar
nichrs dient, mit einem Surplus, der zugleich der reine Ver-
lust ist, Die Lacansche Psychoanalyse kennt einen Begriff,
der sehr gut ausdruckt, worum es in der Kantischen reinen
Form geht: das Mehr-Genief ien [plus-de-jouir].
Man kann aus alldem schlielien, daR die in der Kantischen
Konzeption der Ethik implizierteinhaltliche Triebfeder gar
kcine Ahnlichkeit mit anderen pathologischen Objekten be-
sitzt, das heiflc jedoch nicht, daB sie ohne jede Triebfeder ist.
Entschcidend ist, daB diese Abwesenheit selber die Funkti-
on der Triebfeder ubernehmen, d. h.eine gewisse Materia-
litat gewinnen kann, ohne die sie n iem al s e in en wirksamen
Einfluf auf das Handeln von Menschen ausiiben konnte.
An dieser Stelle Wh sich noch eine andere Parallele zie-
hen. Der Kantische Begriff der reinen Form (soweit er fU r
das steht, was sich in einer Handlung nicht auf das Gesetz-
maBige reduzieren laRt) kommt dem sehr nahe, was Alain
Badiou die singul ii re Mul t ip l iz i ti it [rnultiplicite singuliere]
nermt , und was er folgendermaBen definiert: Es handelt sich
um eine Multiplizitat, die prasenriert, aber niche reprasen-
tiert wird. Badiou verdeutlicht diese Konzeption anhand ei-
ner Familie, von der ein Angehoriger nicht beim Standesamt
gemeldet wurde. Ein Mitglied der prasentierten Vielzahl
bleibt also i n d er S it ua ti on von der Prasentation ausgenom-
men," Soweit wit sehen, is! das genau, was Kant im Auge hat:
eine sittliche Handlung ist »singular« in dem Sinn, daR es ein
j Alain Badiou, L'ttye et / 'evenement, Paris 1988, S. '94·
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Element gibt, das zur Situation geh6rt, ohne jedoch in ihr re-
prasentiert zu werden. Wenn aile Elemente einer Handlung
reprasentiert werden, hat man es mit einer Situation zu tun,
die (lediglich) legal ist. .Die Trennung angesichts alles Pathologischen erzeugt el-
nen Rest. Dieser Rest ist zugleieh das, was Kant die wahre
Triebfeder des sittlichen Subjekts nennt. Hier genau liegt dasParadox: die Trennung von allem, was der Ordnung des Pa-
thologischen angehort, bringt etwas hervor, durch das hin-
durch sieh eben diese Trennung von allern Pathologischen
vollendet. Man kann sich fragen, wie das moglich sein 5 0 1 1 ,
wie etwaSTriebfeder der Sittlichkeit sol1 sein konnen, wenn
es doch einzig deren Ergebnis ist, Wie hat man sich dieses
tatsachliche zeitliche »zwischen« der ethisehen Dimension
zu denken?
Wir werden sehen, daB die Antwort auf diese rage decSchlussel zur Kritik der praktischen Vemunft ist. In der Tat
geht die Leknire der Kritik mit einer ganzen Reihe ahnlicher
Fragen einher, und das gleiche gilt fur die Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten: Wie kann die Freiheit Bedingung der
Freiheit sein? Wie kann die Autonornie die Autonornie vor-
aussetzen] Kant zufolge rnuf sich die Regel selbst voraus-
setzen, wenn es eine (praktische) Gesetzgebung geben soil.
Diese Struktur laBt sich nicht vollstandig klaren, wenn man
nicht die Stellung des Subjekts dec praktischen Vernunft mit
in Betracht zieht.
30
2. Die Konstruktion der Freiheit
Ohne die Logik von Kants Text tiber Gebiihr zu strapazie-
ren, konnten wir sagen, das Subjekt der praktischen Ver-
nunft ist anfanglich gespalten, gespalten zwischen dem Pa-
thologischen und dem Sittlichen. Das wichtigste in Hinblick
auf die »praktische« Spaltung des Subjekts ist aber folgenderPunkt, den bereits J.-A. Miller hervorgehoben hat und von
dem wir hier ausgehen wollen: »Das Subjekt ist durch die
Verpflichtung gespalten, zwischen dem Pathologischen und
seiner Spaltung zu wahlen.e" Das hei£h, das Subjekt ist nicht
erwa geteilt in Pathologisches und Reines. Die Alternative
zurn Pathologischen ist nicht einfach das Reine, Unbefleck-
teo Die Alternative des Pathologischen ist die Freiheit, die
Autonomic. Und die Freiheit des ubjekts ist nicht und kann
auch nicht die schlichte Unabhangigkeit in bezug auf die
Kausalitat der Natur, die Kausalkette, die Neigungen sein-
mit einem Wort, sie ist niche Unabhangigkeit in bezug auf all
das, was das Subjekt ans Pathologische seiner Existenz als
Existenz eines sinnlichen Seins bindet. Das ware vielmehr
die Freiheit Gottes. Die Freiheit, die einzige Freiheit des
Subjekts ist die, gespalten zu sein und seine eigene Spaltung
zu wahlen. Die fragliche Spaltung verlauft zwischen der
Form des Gesetzes und seiner Kraft als Triebfeder. Wenn 50-
mit die Alternative zurn Pathologischen inder Freiheit liegt,
gelangt man zu folgendem SchluB: die Spaltung des Subjekts
der praktischen Vernunft ist die Spaltung zwischen dem pa-
thologischen und dem gespaltenen Subjekt , Wir werden spa-
ter noch auf diesen Punkt zuruckkomrnen ..Bleiben wir im
Moment bei der Frage, wie sich diese Spaltung in Kants Text
artikuliert,
Man kann die Antinomie als modus vivendi des philoso-
phischen Begriffs der Freiheit bezeichnen. Das gilt beinahe
fur die gesamte Geschichte der Philosophic. Fur Kant sind
6 J.·A. MiUer, 1, s, 3, 4 (unverofferulichte Vorlesung), Vorlesung Yom 12.
Dezernber 1984.
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wir _ menschlichen Wesen - Teil der Narur (in dem Sinne, als Gegenpol zur amoralischen Welt zu suehen. Es geht nicht
daB wir den Gesetzen der Kausalitat unterworfen sind). Und erwa urn einen Aufruf, »nach unseren tiefsten Uberzeugun-
unsere Freiheit wird nicht nur »von auBen« begrenzt, 50n- gen« zu handeln, eine Haltung, der heute eine Ideologie ent-
dern auch »von innen«: »In sieh selbst« ist der Mensch nieht sprieht, die uns ermahnt, unseren »authentischen Neigun-
freier als "in der Welt«. So gesehen handelt es sich, zumin- gen« und unserem »wahren Selbst« Gehor zu schenken. Die
dest fur Kant. nicht urn ein dem AuReren entgegengesetztes Kritik dagegen setzt ganz anders an, narnlich bei der Ein-Inneres. sicht, daB gerade in unseren Neigungen und tiefsten Dber-
Logiseh Hi£t sich jede Handlung des Subjekts durehaus zeugungen das Pathologische und die Heteronomie zu Hau-
»erklaren«, d.h. es lassen sieh fu r jede Handlung Ursachen se sind. Das Kennzeichen einer freien Handlung liegt darin,
und Motive finden, ihr »Mechanismus« l iBt sich offenlegen daB sie den Neigungen des Subjekts ganz fremd ist. Natur-
und damit auch darstellen. elbst wenn man die Mogliehkeit lieh hei£h Freiheit nieht, zu tun, was man will; in unseren all-
bezweifelt, alle im Spiel befindlichen "Faktoren« beriiek- tagliehcn moralischen Erwagungen sagen wir ja, daB solches
sichtigen zu konnen, und den Menschen fur zu komplex Verhalten anderen zum chaden gereiehen kann, aber fur
dazu halt, gelangt man auf diesem Weg doch nicht zu einer Kant liegt das Problem gar nicht auf dieser Ebene. Wenn wir,
Grundlegung der Freiheit. Denn diese »humaniscischc« Po- so Kant, nicht tun konnen und nicht tun soUen, was w ir wol-
sition impliziert eine im Grunde rheologische Annahme: fur len, dann w eil es leeinerlei B elege da[u r gibt, daft w ir in u n-
einen ganz bestimmten Blick, der alles erfassen konnte, sind s er em Wo lle n [ re i s in d, weil es keinerlei empirisehe Vorstel-
die mensehlichen Wesen nur aufgezogene Uhrwerke, die lung gibt, die unser Wollen affiziert,
sich einbilden, aus eigencr Entseheidung zu ticken und nach Man konnte sagen, das »Ich« der praktisehen Vernunft sei
ihrem eigenen Rhythmus zu schlagen. Die "psychologische nicht bei sich, und das Fundament der Freiheit des Subjekts
Freiheit« ist, wie Kant sieh ausdriickt, nieht die Losung des kann nur ein "fremder Kerper- sein, oder anders: das Sub-
Problems der Magliehkeit der Freiheit. sondern ganz im jekt gelangt in dem MaBe zur Freiheit, indem es einen Frem-
Gegenteil ein Synonym fur Determinismus. Versucht man, den in seinem eigenen Haus entdeckt. Dieser Aspekt der Ar-
die Freiheit in der Tatsache zu grunden, da~ die Ursachen in gumentarion Kants hat gewisse Interpreten regelrecht 'lor
diesem Fall innere sind da£ die Vorstellungen, Wunsche, den Kopf gestolien und ein Unbehagen ausgelost, das etwa in
Strebungen und Neigungen den Platz von Ursachen einneh- folgender Kritik zurn Ausdruek kommc/ die Kantische Mo-
men, so gelangt man nicht zur Freiheit, sondern zu einer ral ist im Kern entfremdend, weil sie uns die Verwerfung
psychologisehen Kausalitat, namlich zur notw endigen V er- dessen auferlegt, was »most truly ours« ist, und weil sie uns
k ettu ng d er E rsc he in un ge n in d er Z eit. einem abstrakten Prinzip unrerwerfen will, das weder Liebe
Man weiB, daBeine der grundlegenden Thesen der zwei- noch Sympathie beriicksichtigt. Das Handeln einzig ates
ten Kritik auf dem praktisehen Vermogen der reinen Ver- Pflicht wird sogar als abstoiiend (repugnant) bezeiehnet
nunft ruht, Indessen stellen die Aussage, daE die reine Ver- und, noch einmal, als vollige Entfremdung des Subjekts be-
nunit an sich selbst prakcisch sein kann, und die Tatsache, trachtet, Man sieht an diesen beunruhigten Einwanden sehr
daB Kant Freiheit und moralisches Gesetz in der reinen Ver-
nunft grundet, durchaus keinen »Ruekzug naeh innen« dar.
Es geht nicht etwa darum, die Reinheit inden Tiefen der Seele
32
7 Was Ton und Argumentation dieser Kritik angeht, beziehen wir un aufdie Darscellung von Henry E. Allison: Kant's Theory of Freedom, ew
Haven. London 199I,S. )96- [98.
33
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gut, daB Kant den Nerv der ethischen Problematik ge:roffen schen Erscheinung und Noumenon sowie der Versuch, mit-
hat: er hat die Frage des GenieBens (im Lacanschen Sinn des tels dieser Unterscheidung (das Subjekt ist als Erscheinung
Wortes) und seiner »Domestizierung« in der Nachstenliebc der Kausalitat unterworfen, als Noumenon jedoch frei) "die
beriihrt. Das Unhaltbarste an diesem Kantischen Gestus Freiheit zu retten«, fuhrt nicht weit, Selbst wenn Kant diese
liegt fur gewisse Kritiker genau darin, daB Kant diesen Li:isung vorschlagt, muB er sie doch im Rahmen einer weit
»fremden Korper« fur unser »wahrhaft eigenstes- (most komplexeren Theorie entwickeln, auf die wir sparer noch
truly ours) nimmt und auf ihn Autonomic und Freiheit des eingehen werden. An dieser Stelle konnen wir aber schonSubjekts grundet. . .' . eine Antwort auf das Dilemma geben, auf die Frage, wie die-
Oft wird gesagt, die Kantische Konzeption der Freiheit sc heiden heterogenen Strange der Kantischen Argurnentati-
fiihre zu einern »absurden« Ergebnis: wenn einzig die auto- on zusammen zu denken sind. Zunachst einmal mu.Bmanse-
nomen Handlungen frei sind, dann bin ich fur meine unmo- hen, daB sie auf zwei verschiedenen Ebenen angesiedelt sind.
ralischen Handlungen weder schuldig noch verantwordich. Man muB auf den jeweiligen Ort und Kontext der beiden
Nichts liegt der Kantischen Position Ferner, was ihre Theo- Argumenrarionslinien achten, Unter Anlehnung an Preuds
rie der Freiheit sowohl wie des Subjekts angeht. Die Parade- heriihmte Formulierung konnte man den Kantischen An-
xie in die uns Kanrs Uberlegungen fuhren, ist genau die um- satz folgendermaBen zusammenfassen: Der Mensch is t nicht
gekehrte: schhillendlich bin ich auch schuldig, we~n die nur uiel un/reter, als er glaubt, sondem auch viet /reier, als erDinge nicht in rneiner Macht lagen, und selbst, wenn ich gar weijl. Anders gesagt beharrt Kant da, wo das Subjekt sich
niche anders handeln konnte und »durch den Strom der Na- frei glaubt (auf der Ehene der »psychologischen Freiheit«),
turnotwendigkeit forrgerissen« wurde. An diesem Punkt auf der Irreduzierbarkeit des Pathologischen, d. h. auf der
mug die Erorrerung sogar noch einen Schritt vorangetrieben Moglichkeit, daB sich fur jeden unserer »spontanen« Akte
werden und zwei gleichzeitige und gegensatzliche Foigerun- Ursachen und Motive finden lassen, die ihn an das Gesetz
gen in Betracht ziehen, In der Tat geht Kants Ansatz und der Kausalnotwendigkeit binden. Wir bezeichnen diesen
Argumentation in zwei Richtungen, die miteinander ganz Strang der Argumentation als »Postulat der Depsychologi-
unvereinbar scheinen, Auf der einen Seite sucht Kant uns sierung« oder als »Postulat des Determinisrnus«. Wenn nun
unermudlich zu uberzeugen, daB keine unserer Handlungen dem Subjekt schon alle Psychologic »amputiert- ist und es
frei ist, daB wir niemals mit Gewillheit das Nichtbestehen sich als ein bestimrnter Typus von Kausalitat oder »Mecha-
pathologischer lnteressen einer besrimmten Handlung fest- nisrnus« erweist, wenn das Subjekt nichts anderes rnehr als
stellen konnen und dag die sogenannten »inneren« und ein automaton ist, clann sagt Kant ihm: gerade hier bist du
»psychologischen« Motive nichts anderes als Masken ~er Ireier, als du weiflt, Man kann das auch in Lacanschen Be-
Kausalitat sind. Andererseits betont er ebenso unermiidhch griffen ausdrucken: da, wo das Subjekt sich autonom glaubt,
und mit gleichern Nachdruck, daB wir fiir aile unsere Hand- bcharrt Kant auf der Irreduzierbarkeit des Anderen. Und
lungen verantwortlich sind (selbst fur die, bei denen uns der eben da wird sich das Subjekt auch seiner Abhangigkeit ge-
»Strorn der Naturnotwendigkeit fortgerissen« hat), da.Bes geniiber dem Anderen gewahr (diesen oder jenen Gesetzen,
keinerlei Entschuldigung gibt, da.Bman sich auf keine »Not- Neigungen, verborgenen Motiven, die sich Dieumgehen las-
wendigkeit« berufen kann, kurz, daf wir jederzeit als freie sen) und erkennt sie an, und wo das Subjekt schon zum Ver-
Tater handeln. Die Beschworung des Unterschiedes zwi- zicht bereit ist und sich sagt, »es lohnt die Miihe nicht«, ver-
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und sagen kann: »Diese Handlung warfrei, undgenau in die-
scm Moment habe ich frei gehandelt.« Ganz im Gegenteil, je
mehr es den Moment der Freiheit zu bestimmen sucht, desto
mehr entzieht er sich und iiberlaRt semen Platz der (kausa-
len) Determination, dem Parhologischen, das auf den ersten
Blick vielleicht gar nicht zu sehen war.
VOT dieser ersten Annaherung an die Ausarbeitung des
Kantischen Freiheitsbegriffs sind wir von folgender These
ausgegangen: Die Spaltung des Subjekts der praktischen
Vcr~unft isr die Spalrung zwischen dem parhologischen
Subjekt und dem gespaltenen Subjekt. Wir konnen das, was
wir bisher zu entwickeln versucht haben, nun Iolgender-
maBen zusarnmenfassen:
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weist Kant auf einen klaffenden Abgrund in diesem Ande-
ren, auf einen Abgrund, »in- dem er Autonomie und Frei-
heit des Subjekts ansiedelt, In der Tat findet dieser Kantische
Ansatz em Echo bei Lacan, der sage Es gibt kein Anderes
des Anderen; der Andere ist selber inkonsistent, gebarrt
[barre], von einem Mangel gezeichnet. Es gibt keine U rsache
der Ursache, konnte man sagen, und eben hier schreiben sichdas Subjekt und seine Autonomie ein, Deshalb ist das Sub-
jekt schuldig (d. h. frei), auch wenn seine Handlungen durch
das Gesetz der Kausalitat determiniert sind. Man sollte die
Tragweite und den subversiven Charakter dieser Geste nicht
verkennen, m it der Kant die Freiheit begriindet. Die Freiheit
(des Subjekts) sucht er nicht jenseits der Kausaldetermina-
tion, sondern ganz im Gegenteil finder er sie, indem er bis
zum letzten auf der kausalen Determination beharrt, in wel-
cher er den Punkt ansiedelt, in dern gleichsam die Verkniip-
fung von Ursache und Wirkung hapert, Nur hier gelangt
man zum Subjekt im strikten Sinn des Wortes: das Subjekt ist
sicher die Wirkung der kausalen Determination, aber nicht
direkt; es ist diese Wirkung in dem MaB, in dem es zugleich
die Anrwort der Freiheit ist,Das Auftauchen des Subjckts der praktischen Vernunlt Links hat man »die Tatsache des Subjekts«, das Faktum, daB
fallt zusammen mit dem, was man »erzwungene Wahl« nen- das Subjekt gleichsam per definitionem frei ist, daf es sich
nen konnte. Und auf dieser Ebene - das mag paradox er- gar nichr anders denn als frei betrachten kann. Rechts stellr
scheinen _ ist die erzwungene Wahl nichts anderes als die sich die.Wahl, bei derdas ethische oder sittliche Subjekt zwi-
Wahl der Freiheit, als die Freiheit, die dem Subjekt in der schen sich selbst als pathologischem Subjekt (S) und sich
Form der psychologischen Freiheit erscheint. Irn Wesen der selbsr als gespaltenem Subjekt ($) wahlt, Sehen wir nun zu,
Verfassung des Subjekts erscheint, daf das Subjekt sich gar was in diesen beiden Akten der Wahl impliziert ist, Sich als
nicht anders als frei, als autonom glauben kann. Und an die- pathologisches Subjckt wahlen, ist nur im Rahmen einer
ses Subjekt wendet sich Kant mit der Geste, die wir formu- Halrung moglich, die sich so zusammenfassen laBt: »Lassen
liert haben: »Der Mensch ist viel unfreier, als er glaubt.« An· ,;ir uns f~llen. ES.lohnt die Muhe nicht, Es wird mir nie ge-
ders gesagt ist die fundamentale Erfahrung, die das Subjeki bngen. Niernand 1Stvollkomrnen ... " Das bedeutet, sich auf
der Freiheit rnacht, die grundlegende Erfahrung des Sub- das Gemeinwohl einlassen, sich fur das Lustprinzip oder
jekts, das sich als freies Subjekt ansieht, der Mangel an Frei- auch das Realitatsprinzip entscheiden, was ja nicht heillt, ein
heir, Das Subjekt ist frei, aber es kann die e Freiheit nicht solc~es. Subjekt sei keiner edlen Handlung mehr fiihig; aber-verrnessen«, es karin nicht mit dem Finger darauf deuten zu sittlichem Handeln ist es nichr mehr in der Lage.
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Die zweite dem Subjekt oHene Wahl, die Wahl der Frei-
heit, impliziert gewiB nicht, daB das Subjekt sich hier als
voUkommenes Wesen wahlen konnte, als engelgleich, aber
es wahlt sich schlicht a ls Sub jek t, als »die reine Form« des
Subjekts, die eben die Spaltung isr, die Abtrennung des Pa-
thos. Man kann sich das noch anders verdeutlichen: das Sub-
jekt wahlt sich als Subjekt, als Gegensatz zum (psychologi-schen) »Ich«, das mit all seiner Ticfe und Authentizitat doch
nichts anderes als der Ort des Pathologischen ist.
An dieser Stelle nun lii~t sich auf die Frage antworten, die
wir im ersten Kapitel offengelassen haben: Wie kann die
Triebfeder der Sittlichkeit zugleich deren Resultat sein, wie
kann die Bedingung de r Freiheit die Freiheit und die Bedin-
gung der Autonomic die Autonornie sein? Dieser Zirkel ist
irn Kern mit dem Status des Subjekts verknupft. Es gibt kei-
ne Freiheit ohne Subjekt, und doch is t rue Tatsache selbst derErscheinung und des Hervortretens des Subjekts bereits da s
Ergebni s der Freihe it . Es ist eben die Kategorie des Subjekts,
die die Logik des Zirkels in die Begriffe der praktischen Ver-
nunft einfuhrt.Daher bildet das oben vorgeschlagene Dreierschema noch
nicht das beste Beispiel fur eine ausgearbeitete Darlegung
des Subjekts der praktischen Vernunft. Wir werden das
Schema also vervollstiindigen, denn man darf niche verges-
sen, da!) es sich vorallem urn einen Weg des Subjekts handelt,
einen Weg, den es durchlauft, Da Kant der psychologischen
Freiheit keinerlei Wert beirnilit, folgt, daB das Subjekt sich
nicht als gespaltenes wahlen kann, ohne sich der Priifung
oder auch der Erfahrung der radikaJen Pathologic zu unter-
ziehen. Es kann sich nicht als (freies) Subjekt wahlen, ohne
den vom Postulat des Determinismus oder der
»Depsychologisierung« rnarkierten Weg zu durchlaufen,
der die Existenz einer koharenten und gesehlossenen Ver-
kettung von Ursachen, Motiven und Bedeutungen der
Handluogen impliziert. Es kann sich nicht als Subjekt
wahlen, ohne zunachst an jenen Punkt zu gelangen, der, der
urspriinglichen Alternative nach, nicht die erzwungene,
soodern die a us ge se hlo ss en e Wa hl ist, Das heiB!: an den
Punkr der Nicht-Freiheit, der Abhangigkeit gegenuber dem
Anderen, der absoluten Determination durch Motive, Inter-
essen und andere »Ursachen«; den Punkt, von dem es aus
niemals Aussagen bilden konnte wie » ic b b an dle «; » ic b d en -
ke« ... Anders gesagt muf das Subjekt, urn sich als Subjekt
wahlen zu ki:innen, schon diesen unmi:iglichen Punkt seines
Nicht-Seins passieren, an dem es nicht sagen kann: »Ich bi n
nicbt.« Zieht man die letzte Konsequenz aus dem Postulat
des Deterrninismus, kann einzig an diesem Punkt jenes Ele-
ment, jener Rest entstehen, von dem her man sich als erhi-
sches Subjekt konstituieren kann.
Urn diesen Punk t der Umkehrung in der Philosophie
Kants zu »markieren«, konnen wir von einer Kritik der
Kantischen Anwendung der Unterscheidung Erschei-
nung/N oumenon auf rue Freiheit ausgehen. Kant betont be-
kanntlich wiederholt, daB das Subjekt als Erscheinung nie-
mals frei ist, daB ihm Freiheit einzig unter dem Aspekt des
N oumenalen zu kornrnt. D iese Position, so die Kritiker,
fuhrt in ein auswegloses Dilemma: enrweder wird die Frei-
heit im Noumenalen angesiedelt und damit zu einern ganz
nutzlosen Begriff, wo es darum geht, einen handelnden
Menschen zu verstehen, oder die Freiheitkann in dieser Welt
etwas verandern, in welchem Fall man auf die Idee verzich-
ten muB, sie sei auBerzeitlich und noumenal. Anders gesagt:
wie Ja{~tsich demselben Handelnden zur selben Zeit ein em-
pinscher und ein intelligibler Charakter zuschreiben? Wie
lii(h sich derselbe Akt zugleich als norwendig und frei den-
ken? Kant antwortet in der R elig io n in ne rh alb d er Grenzen
de r b lo fl en Ve rn un ft auf diese Fragen:
-[D'[ie Freiheit der Willkiir ist von der ganl. eigentiimlicben Be-
scbaffenheit, daB sic durch keine Triebfeder zu einer HandJung
bestirnrnt werden kann, als nU7 sofern der Mensch s ie in seine
Maxime aulgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel ge-
macht hat, nach der cr sich vcrhalten will); so allein kann eine
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Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneitat
der Willkur (der Freiheit) zusarnrnen besrehen.« (Religion, BIr,Ale)
t:m zur dem Subjekt eigenen Freiheit zu gelangen, darf man
nicht etwa yon der Willkur oder vorn Zufall, vom Aleatori-
schen als Gegensatz zum Gesetz ausgehen. Die Freiheit des
Subjckts lailt sieh nicht auf der Tatsaehe griinden, daB seine
Handlungen sich der Vorhersage enrziehen. Diese Art der
Begrundung der Freiheit zeigt nur, dail man auf dem durch
das »P~stulat ~er Depsychologisierung« gewiesenen Weg
noch nicht welt genug gegangen ist, Vielleicht war es gar
niche die ihm zuvor zugeschriebene Triebfeder, die das Sub-
jekt zum Handeln bewegt hat, sondern ein ganz anderes »pa-
thologisches Interesse«, das die Rolle der Ursache gespielt
hat. Die Freiheit des Subjekts kann nicht in der WiUkiir
gri.inden, sondern im Gegenteil nur im Gesetz der Norwen-
digkeit selber: es gilt, den Punkt zu erkennen, an dem das
Su bje kt se lbst se ine (aktive ) R olle im G ese tz u nd in der K au -
sal no twendi gke it s pi el s, den Punkt, an dern es selbst schon
zuvor in dem eingeschrieben ist, was als vom Subjekt unab-
hangige Gesetze der Kausalitat erscheint. Genau das hat
Kant in der zitierten Passage irn Blick. Von dem Augenblick
an, da man es mit dem Subjekt zu tun hat, gilt fur jede Bezie-
hung von Ursache und WlIkung, daB sie einen Akt (eine
Entscheidung, auch wenn diese nicht »bewufst« ist) voraus-
setzt und einschliefsr, durch welche eine Triebfeder als (zu-reichende) Ursache etabliert, d.h. in die Maxime aufgenom-
men wird,"
B Diesen Punkr der Interpretation verteidigt All ison, der in diesern ZU$.rn-
mcnhang von der Inkorporeuonsthese spricht , Die Triebfedern konnen
von sich aus nichts »rnotivieren«, sie konnen nichts direkr hervorbringen
-.dieses Vermogen besitzen sie erst, wenn sie in die Maxime aufgenommen
Slll~, und nur. unter dieser Vo~aus et~ung werden sie iiberhaupt ?;U
»Tnebfedern .•lI11:strengenWonsLnn: -Einfach ausgedriickt: wenn elb t-
erhalrung, Eigeninteresse oder Gluck Prinzip rneines Handelns ist und
mir ~eine ~aximen dikriert, dann bin ieh es (und niche die Narur in mir) ,der ihnen ~Le,e Macht verleiht, ( . .. ) [Dja bedeutet nicht, daB grundle-
gende Maximen so zu berrachren sind, als seien sie entweder auf ratsel-
Nun sagt Kant uns: es mag wohl sein, daB du aus dieser
oder jener Ursache vom Strom der Naturnotwendigkeit
fortgerissen wurdest, aber schlufsendlich wars! du es selbst,
der au dieser Ursache uberhaupt eine Ursache gemacht hat.
Es gibt keine Ursache der Ursache, die Ursache der Ursache
kann nur das Subjekt sein; das Andere des Anderen, das ist
das Subjekt. Die transzendentale Grundlage des WJlens und
die Konzeption des Willens als frei irnplizieren, daBder Wil-
le allen Objekten des Willens vorhergeht. DeI' Wille kann
sich auf ein bestimmres Objekt richten, wahrend dieses Ob-
jekt zugleich nicht eine Ursache ist,
Von der Legitimitat dieser Argumentation kann man sich
durch einen Blick auf die ganz alltagliche Erfahrung iiber-
zeugen, vor allem aber, indern wir die Erfahrung bedenken,
die uns die Psychoanalyse iiberrnittelt hat. Das eklatanteste
Beispiel ist der Fetischismus: ein bestimrntes Objekt etwa
kann eine Person A vollig kaltlassen, wahrend es eine Person
B (ohne daB sie etwas dagegen tun kann) zu einer ganzen
Kerre von Handlungen, Verhaltensweisen und Ritualen
treibt. Und das nicht etwa, weil die Person A, empirisch be-
rrachtet, moralischer ware, sondern weil das fragliche Ob-
jekt in der libidinalen bkonornie beider Personen niche die
gleiche Rolle spielt, In Kants Begrif£en konnte man sagen,
daB dieses Objekt bei der Person B bereits in deren Maxime
aufgenommen ist, was aus dem Objekt eine Triebfeder im
strengen Wortsinne rnacht, Kant geht es darum, daB das Sub-jekt bei dieser Entscheidung (tiber die Aufnahme einer
Triebfeder in die Maxirne) sehr wohl seine Rolle spielt, auch
wenn diese Entscheidung weder erfahrbar noeh zeitlich ver-
failt sein kann. So kann auch der Fetischist - wenn man den
Vergleich weiterspinnen will- nicht sagen: »An diesem oder
h"fle vor- oder auBerzeidiche Art oder minds cines selbstbewuliten Er-
wagungsprozesses angenommen worden. Durch Refle~oo sehen wir
vielmehr, daB wir die ganze Zeit schon einer solchen M3Xlme verpllichtet
waren, begri ffen al grundlegende Orientierung des Wil lens in Richtung
moralischer Enordernisse •• H. . Allison: Kant' s Theory of Freedom,
a .a.O., S. 208.
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jenem Tag habe ich beschlossen, daB Frauenschuhe das
hochste Objekt und die Triebfeder meines Begehrens bil-
den.« Vielmehr wird er sagen: »ich kann nichrs dagegen
run«, »es ist nicht mein Fehler«, »ich kann einfach nicht wi-
derstehen«. Es handelt sich urn eine auf der Ebene des Un-
bewuBten oder, in Kants Begriffen, auf der Ebene der Gesin-
nung angesiedelte Entscheidung, die Kant zufolge den letz-
tell Grund fur die Annahme von Maximen bildet. Und seine
allerwichtigste These lautet: Die Gesinnung, die Orientie-
rung des Subjekts, mufi selber [rei gewahlt worden sein, (Re-
ligion, B14,A I2) Hier bietet sich ein Ankniipfungspunkr fiir
den psychoanalytischen Begriff der Neurosenuiahl. Das
Subjekt ist zugleich Subjekt (d.h, Unterworfenes) seines ei-
genen Unbewuilten und derjenige, der in letzter Instanz die-
ses UnbewuBte »gewahlt« hat. Die Aussage, wonach das
Subjekt in gewisser Weise sein UnbewuBtes wahlt - man
konnte hier von einern »psychoanalytischen Freiheitspostu-
Iat« sprechen -, is! nicht weniger als die Moglichkeitsbedin-
gung der Analyse uberhaupr. Die M6gIichkeit eines Endes
der Analyse eroffnet sich erst auf der GrundIage dieses Po-
stulats: die Wahl kann wiederholt werden, und die Analyse
ist beendet, wenn sie das Subjekt auf den Boden dieser (zwei-
ten) Wahl gefuhrt hat, d.h, wenn das Subjekt aufs neue die
Moglichkeit der Wahl hat. So lath sich Lacans These in der
Ethik der Psychoanalyse verstehen, wenn er sagt, die Analy-
se gebe dem Handeln seinen Sinn zuruck, indern sie uns»doch lecztlich an seiner Tiire stehen laBt«.9 In diese Per-
spekrive gehort auch die »kreationistische« These Kants, auf
die wir schon verwiesen haben: »[Djas kann nicht durch all-
mahliche Reform, so lange die Grundlage der Maximen un-
lauter bleibt, sondern muB durch eine Revolution in der Ge-
sinnung im Menschen ... bewirkt werden; und er kann ein
neuer Mensch, nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich
als durch eine neue Schopfung ... und Anderung des Her-
zens werden.« (Religion, BS4, Aso)9 Laean, Die Ethik der Psychoanalyse, W ein heim , B erlin 1996, S , 3 0,
42
Wie 5011 man sich in dieser Dreierstruktur des Subjekts
orientieren? Wie schon in seiner theoretischen Philosoph ie,
fiihrt Kant nun auch auf dem Terrain der praktischen in be-
zug auf das Subjekt ein drirtes Element in die Unterschei-
dung zwischen Erscheinung und Noumenon ein, ein Ele-
ment, das weder Erscheinung noch Noumenon ist. In der
Kritik der reinen Vern/mft weist das Subjekt drei Instanzen
auf (I , das erscheinende, vorgestellte »Ich«, das Ich des Be-
wulirseins; 2, das »Ding, welches denkt«, wie Kant sagt, das
dem Noumenalen zugehort; 3. das transzendentale Ich der
reinen Apperzeption), und mit einer analogen Verfassung
des Subjekts haben wir es auch auf dem Gebiet der prakti-
schen Philosophic zu tun. Zunachst gibt es die Ebene
menschlichen Handelns, die notwendig ins Register der Er-
scheinungen gehort, d.h, in die Kette von Ursachen und
Wirkungen, und auf dieser Ebene ist das »psychologische
Ich« angesiedelt, das Ich des Bewufstseins, das sich Iiir frei
halt. Dann gibt es die Orientierung des Subjekts, die Gesin-
nung, die noumenal ist (d. h. sie ist dem Subjekt nicht direkt
zuganglich, aber das Subjckt kann sie aufgrund seines Han-
delns erkennen). Und schlieBlich gibt es die Wahl dieser Ge-
sinnung, den Akt der Spontaneitat des Subjekts, der weder
phanornenal noch nournenal ist.
Allison schlieiit unseres Erachtens zu schnell, daB die Ge-
sinnung der zweiten Kritik der »transzendentalen Einheit
der Apperzeption« oder dem »Aktus der Spontaneitat des
Subjekrs- der ersten Kritik entspricht. Damit verwischr er
die Differenz, zwischen der Gesinnung und dem (transzen-
dentalen) Akt der Wahl der Gesinnung. Wenn Kant in der er-
sten Kritik hier und da die Unterscheidung zwischen dern
reinen Ich der Apperzeption und dem »(nournenalen) Ding,
das denkt«, auch nicht klar durchhalt, so ist diese Unter-
scheidung auf dem Gebiet der praktischen Philosophic ganz
entscheidend. Kant beharrt auf der Tatsache, daB die Gesin-
nung ihrerseits gewahlt ist, und halt damit klar die Unter-scheidung aufrecht zwischen dem, was man als »Ding-an-
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sich-in-rnir« bezeichnen konnte (die Gesirmung, eine be-
stimmte Orientierung des Subjekts), und dem transzenden-
talen Ich, das nichts anderes ist als der leere Platz, von dem
her das Subjekt seine Gesinnung wahlt. Dieser Ort ist nicht
noumenal, sondern verkorpert den blinden Fleck, aufgrund
dessen das (handelnde) Subjekt sich selbst nicht durchsich-
tig ist und aufgrund dessen es, wie Kant betonr, keinen di-
rekten Zugang zum »Ding-an-sich-in-ihm«, d.h. zu seiner
Gesinnung hat. Ausgehend von dieser grundlegenden Un-
terscheidung rriffr Kant eine weitere Unterscheidung, narn-
lich die zwischen transzendentaler und praktischer Freiheit.
Die praktische Freiheit ist an das gebunden, was Kant Ge-
sinnung nennt: hier handelt es sich urn das Vermogen des
Subjekts zur Aufnahme einer bestirnmten Triebfeder in die
Maxime, die sein Handeln bestirnmt. Der transzendentalen
Freiheit wiederum kommt die Funktion zu, einen Freiraum,
einen leeren Platz abzustecken und zu wahren: hinter diesel'
gru ndlegenden Wahl gibe es gar nichts mehr, keinerlei
»Mera-Fundament«; »es gibt keine Ursache der Ursache«,
Auf dem Feld der transzendentalen Freiheit konnen wir
nun aus anderer Perspektive noeh einmal einen Einwand in
Erwagung ziehen, der oft gegen Kant erhoben wurde: was
der Ordnung des Pathologisehen angehort, liillt sich unmog-
lich vollstandig ausschalten, es bleibt immer ein Rest. Im
Lichte des bis hierher Enrwickelten las en sich die Grenzen
dieses Einwandes zeigen. Verdacht schopfen sollten wir indiesem Punkt schon deshalb, weil Kant selbst dieser Fest-
stellung in bezug auf die Irredukribilitat des Pathologischen
ohne jedes Zogern zugescimmt harte. Eben davon ausgehend
stellt sich ja geradc die Frage der Moglichkeit der Freiheit in
ihrer ganzen Dringlichkeit, und diese Frage wird nicht etwa
umgangen, sondern hier findet sie eine Anrwort, Wir diirfen
uns nicht von Kants Aussagen iiber die unendliche Annahe-
rung ans Ideal (der Heiligkeit des Wdlcns) blenden lassen,
oder genauer: wir durfen jene Aussagen nicht als Antwortauf diese Frage bcgreifen. Die unendliche Annaherung ans
44
Ideal entspricht einem ganz anderen Problem, namlich de,?
der »volligem) Angemessenheit des Willens zum m?ral~-
chen Gesetz«, das den Subjekten als Bewohnern der sinnli-
chen Welt nicht zuganglich ist. Wir werden uns sparer noeh
genauer mit den Paradoxien ~er J:ieiligkeit ~es Willens b:-
sehaftigen, aber im Augenbhck 1St antscheidend, ~a£ d~e
Freiheit keine Heiligkeit des Willens voraussetzt. Die Frei-
heit ist - im Gegensatz zur Heiligkeit - etwas, das den Sub-
jekten de. »Sinnenwelt- wesentlich ist, insofe~n sie zugleich
vernunftige Wesen sind. Wie ist Freiheit angesichts der l.rr~-
duktibilitat des Pathologischen rnoglich? Antwonen WI! 10
Frageform: konnte man niche in der Geste, mit,der Kant.?ie
transzendentale Freiheit einfuhrt, etwas von einer Begrun-
dung der Freiheit eben in der Unmog1ich~eit der vol~g~n,
erschopfenden Ausschalrung des Parhologischen, d.h. In je-
ncm unumganglichen pathologischen Rest erblicken? In
Kants Dberlegungen lafh sich ein Ansatz ausmachen, der das
Argument gerade im umgekehrten Sinn ve:wendet: ,es
stimrnt, das Pathologische laBt sich nicht vollig au~scW~e-
Ben und es ist wahr, man wei~ nie, wann das Subjekt im
Schatten des Anderen handelt (das Andere verstanden als die
Gesamtheir der - »externen« sowohl wie »internen« - he-
teronomen Elemente einer Handlung). Aber wahr ist auch,
daB wir nicht wissen, ob irn Anderen alles Pathologische
»aufgenommen« isr. Ander gesagt: niches beweist uns, da~
das Andere als Orr cler Heteronomie nicht selber ein ihm
»heterono rnes« Element "en rhalt «, d. h. ein Element, das ge-
rade kein Element der Heteronomie is! und das das Andere
daran hindert, sich in sieh selbst abzuschlieBen. In del' Be-
zichung zwischen dem Subjekt und dem Anderen gibt es..et-
was, das weder dem Subjekt noch dem Anderen zugehort.
Wir sagten oben, daB das Subjekt das Andere des Anderen
ist. Jetzt konnen wir diese Formel korrigieren und ~age~,da.B
das Andere des Anderen jene »Objekt-Ursache- 1St, die die
Beziehung zwischen Subjekt und Anderern in dem MaBe de-
terrniniert in dem sie beiden entgeht.
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Berucksichtigen wir die Kantische Unterscheidung zwi-
schen psychologischem Ich, Gesinnung als verkniipft mit
der praktischen Freiheit (Aufnahme von Triebfedern in die
Maxime) und transzendentaler Freiheit, dann sehen wir daE
die »Lektion« der praktischen Philosophie Kams sich nicht
e in fach in einer Lehre von der noumenalen Freiheit und der
phanomenalen Notwendigkeit erschopft, sondern vielrnehrimplizierr, daB die (praktische) Freiheit ganz ebenso wie die
Notwendigkeit (die Nicht-Freiheit) einzig auf der Grundla-
ge der transzendentalen Freiheit rnoglich ist. Daher die
Wichtigkeit der Frage des Bosen inKants praktischer Philo-
sophie. Das Bose, das radikale Bose, figuriert als Paradox der
»freien Wahl der Nichr-Freiheit«. Anders gesagt gibt es auf
dieser Ebene keine Negation, keine Negation der Freiheit.
Das S ub je kr is t frei, ob es will oder niche, in der Freiheit und
in der Nicht-Freiheit, es ist frei im Guten und irn Bosen, es
is t frei selbst da, wo es bloB der natur l ichen N otwendigkeit
folgt.
Hier stoBt man also auf das zweite Moment der Kanti-
schen Geste: Der Mensch ist nicht nur viel dererrninierter; als
er glaubt, er ist auch uiel [reier; als er wei fl. Wo man in der
Determinierung seines Handelns bis zum Au.Gersten gegan-
gen ist, stoEr man auf einen gewissen Uberschuf an (subjek-
river) Freiheit oder, anders ausgedriickt, man stoBt auf den
Mangel imAnderen, auf den Mangel, der sich in der Tatsache
manifestierr, daf die Gesinnung selber gcwahlt ist: gewahlt
von cinem leeren Platz aus. Und nur von diesem Punkt aus
wird die Konstitution des Subjekts als sittlichen Subjekts,
basierend auf clem Zusammenfallen zweier Mangel, mog-
lich: des Mangels des Subjekts (Mangel der Freiheit, entstan-
den aus der »erzwungenen Wahl", deren Ergebnis die »psy-
chologische Freiheit« ist) und des Mangels im Anderen, den
man in der ausgeschlossenen Wahl findet, die die Aus-
loschung des Subjekts impliziert, Das Subjekt der Freiheit
ist sehr wohl Wirkung des Anderen, ohne aber Wirkung ei-
ner im Anderen existierenden Ursache zu sein: es ist Wir-
kung der Tatsache, daB sich diese Ursache dort nicht. findet,
Wirkung des Mangels dieser Ursache, des Mangels im An-
deren.
3 .Die Frage der
Pflicht
a) D ie Luge
Zur Verdeutlichung der Wirkung des moralischen Gesetzes
auf uns fiihrt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft das
beri.ihmte, von Lacan in der Ethik der Psychoanalyse korn-
mcntierte Beispiel an, das wir als -Apolog vom Galgen«
kennen:
»Setzet, daB jernand von seiner wollustigen Neigung vorgibt, sie
sci, wenn ihrn der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu
vorkamen, fur ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen
vor clem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtct ware,
urn ihn sogleich nach genosseoer Wollust daran zu knupfen, er
alsdenn nicht seine Ncigung bezwingen wilrde. Man darf niche
lange raten, was er antworten wiirde. Fragt ihn aber, ob, wenn
sein Furst ibm, unter Androhung derselben unverzogerten To-
desstrafe, zumutete, ein [alsches Zeugnis wider einen ehrlieheo
Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwanden verderbenrnochte, abzulegen, ob er da , so groB aueh seine Liebe zum Le-
ben sein mag, sie woh l zu iiberwinden fu r moglich halte, Ob er
es tun wiirde, oder nicht, w i rder viellcieht sich nicht getrauen zu
versichern; daR es ibm aber moglich sei, muR er ohne Bedenken
einraumen. Er urteilct also, daR er etwas kann, darurn, well er
ich bewuflt ist, daB er es soli, und erkermt in sich die Freiheit, die
ihm sonst ohne das moraJische Gesetz unbekannt geblieben
ware.« (KpV, AS4)
Lassen wir fur den Moment Lacans Auslegung oder viel-mehr Kritik des ersten Teils der Lehcfabel beiseite, die uns
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zu welt von unserer Problematik abfiihren wtirde. 1m Au-
genblick interessiert uns sein Kommentar zum zweiten Teil,
wo das Subjekt sich vor der Wahl finder: ein falsches Zeugnis
gegen jernanden abzulegen, dec dadurch sein Leben verlore,
oder das nicht zu tun und selber hingerichtet zu werden.
Kant sagt nun, in diesern Fall sei vorstellbar; dafi das Subjekt
sich eher fiir die zweite Moglichkeit entscheidet, d.h. seinen
Tod akzeptiert. Laean rugt hinzu: »In der Tat brachte, sieh an
den Gtitern, am Leben, an der Ehre eines anderen zu ver-
greifen, wurde es zur allgemein angewandten Regel, das
~.anze Universum des Menschen in Unordnung und ins
Ubel.e'? Man darf die unterschwellige Ironie dieser »Pest-
srellung« nicht iiberhoren: Lacan wirft Kant vor, eine voll-
kommen pathologisehe Triebfeder einzufiihren und dies
hinter dem Anschein einer rein rnoralischen Pflichr zu ver-
bergen. Anders gesagt beschuldigt Laean Kant der Mogelei
(»Kant, der gute Kant in all seiner Unschuld, seiner unschul-
digen Verschlagenheit ... «). Kant tauscht seine Leser durch
die Versehleierung des wahren Einsatzes und der wahren
Tragweite der (sittlichen) Wahl. In allen seinen Beispielen
siedelt er den kategorischen Imperativ oder die Pflicht auf
der gleichen Seite wie das Wohl des Nachsten an: ohne Ian-
ges Zogern wird der Leser Kant folgen, wenn er einraurnt,
dafi die Idee der Entscheidung fur den Tod in einem solchen
Fall wenigstens moglich sei. Das Problem liegt darin, daB der
Leser Kant nicht folgr, weil er von der Unerbirtlichkeit der
Pflieht als solcher iiberzeugt ist, sondern vielrnehr aufgrund
der Vorstellung vorn Bosen, das dem Nachsten geschiehr,
eine Vorstellung, die hier die Rolle des Gegengewichtes
spielt, Der Leser wi.rd Kant also gleiehsam »aus Grunden des
Nicht-Prinzips« zustimmen, weiI er sich von einer bestirnrn-
ten Vorstellung des Guten leiten laBt , in der er seine Pflicht
begnindet (was natiirlich Heteronomie bedeutet), Genau
hier; sagt Lacan, liegt die Verblendung durch die Beispiele
10 A. 3.0., S. 219.
(Kants) in bezug auf die Theorie, die sie zu verdeutlichen su-
chen. Die entscheidende Neuerung der Kantischen Ethik be-
steht darin, daB die Hierarchie zwischen dem Begriff des
Guten und dem moralisehen Gesetz umgekehn und ersterer
ausgehend von letzterem definiert wird. Es gibt kein a,:~eres
moralisches Gut als dasjenige, das definiert ist als: inUber-
einstimrnung mit der Pflicht und aus Pflicht vollbrachte
Handlung. In diesem Rahmen hat kcinerlei anderes »Gut«
Platz, nichts von dem, was wir in der Alltagssprache das
»Gute« und das -Bose- nennen. Wenn meine Handlung mit
dec Pflicht ubereinstimrnt und zugleich aus Pflicht erfolgt,
isr diese Handlung "gut«. Wenn wir diesen grundlegenden
Zug der Kantischen Ethik im Auge behalten, dann konnen
wir in bezug auf das fragliche Beispiel zumindest sagen, daB
es diesen entscheidendcn Punkt verschleiert.
Aus diesem Grund bringt Lacan folgende Herausforde-
rung vor: Wenn ich in einer Lage bin, in dec sieh meine
Pflicht und das Wohl des anderen widersprechen, so daB ich
meine Pflicht nur zum Schaden des anderen erfiillen kann-
mache ich dann Halt vor dern Bosen, das ich verursachen
konnte, oder beharre ich auf rneiner Pflicht, koste es, was es
wolle? NachLacan erlaubt uns dieseFiguration zu sehen, ob
es sieh urn einen Ansehlag auf die Rechte des anderen han-
delt, insoweit er mir unter den Gegebenheiten der universel-
len Regel gleicht, oder aber an sich urn falsches Ze~gn~s. La-
can schlagt eine leichte Abanderung von Kants Beispiel vor
und regt an, daB wir uns den Fall eines wahrheitsgemailen
Zeugnisses denken, einen Gewissens£all, der entsteht, wenn
ich aufgefordert bin, meinen Nachsten, meinen Bruder we-
gen Handlungen zu verraten, die einen Lande~v~nat dar-
stellen, Hier Lacans Kommentar zu dem, was bel dieser Ent-
scheidung auf dem Spiel steht:
,.Soll ich rneiner Pflicht ZUT Wahrheit nachkommen, insofern sie
den authentischen Platz. meines GenieBens wahrt, selbst wenn
die er leer bleibt? Oder soli ich mich in diese Luge rugen, die, in-
dem sic mich mit aller Macht das Gute als Prinzip memes Ge-
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nieflens ein etzen macht, mir befiehlt , das eine Mal ins Heille, das
andere Mal ins Kalte zu blasen? ..11
In der Tat wird in dieser Alternative der entscheidende Ein-
satz der Kantischen Ethik in denkbar klarer Weise formu-
liert. Wenn das moralische Gesetz alJe dem Guten voraufge-
henden Erwagungen ausschliefst, dann ist die Position der
Kantischen Ethik in bezug auf diese Alternative klar,
Wo das Gute auf dem Spiel steht, stellr sich die Frage:
Wessen Gut? Hier liegt die Sackgasse einer jeden auf dem
Begriff des Guten griindenden Ethik, sei sie nun »individua-
listisch« oder »kommunitaristisch«, Lacans Beispiel ist na-
turlich absichtlich mehrdeutig. Es kann den Leser durchaus
betreten machen: »Vielen Dank auch fur eine Ethik des Ver-
rats an unseren Nachsten!« Aber was wurde derselbe Leser
sagen, wenn er fur das Wohl, das ich meinem Bruder erwie-
sen habe (indem ich ihn nicht denunziert habe), mit seinem
eigenen Wohl zahlen mu~te? Wenn die Landessicherheit die
Sicherheit der Burger einschlieflr, dann kann es sehr gut sein,
da:f1ich, indem ich meinen Bruder nicht verrate, meine ande-
ren Nachsten urn so rnehr verrate. Das hat Lacan im Auge,
wenn ervom Befehl spricht, »das eine Mal ins HeiBe, das an-
dere Mal ins Kalre zu blasen«, Die Kantische Ethik zielt ge-
nau auf die Vermeidung die er Sackgasse, und aus diesern
Grund isr diese Ethik auch keine blolie Spielart der »tradi-
tionellen Ethik«, sondern vielmehr ein unurnkehrbarer
Schritt auf etwas ganz anderes hin. Lacan indes wirft Kantdie Verdunkelung dieses Punktes vor und richter die Fragc
an ihn: Soil ieh meiner Pflicht zur Wahrheit nachkomrnen,
insofern sie den authentischen Platz meines GenieBens
wahrt selbst wenn dieser leer bleibt? Oder soll ieh mich in
diese Luge fligen, die, indern sic mich mit aller Macht das
Gute als Prinzip meines Genieliens einsetzen macht, mir be-
Iiehlt, das eine Mal ins Heifje, das andere Mal ins Kalte zu
blasen?
Das Frappierendste an dieser zeitiibergreifenden DebatteIl A.a.O., S. 2}0.
12
Benjamin Constant, »Des reac tions politiques-, Kapitel 8 ("De pr inc~-pes-), In: Francois Boituzat: Un droit de mentiri Constant ou Kant, Pans
199}, S. 106-107, ziticrt b ei K an t, W e rk c B d. V III , S . 6}7'
liegt darin, daB Kant sehr wohl auf diese Frage.~ingegangen
ist, und zwar in dem beruhmten kleinen Text Uber ein uer-
meintlicbes Recht, aus Menscbenliebe zu liigen (J797), eine
Erwiderung an Benjamin Constant. Zu Beginn dieses Textes
zitiert Kant Constant, der in seinen Reactions politiques
(1797) geschrieben harte:
»Der sittliche Grundsarz: cs sei cine Pflichr, die Wahrheit zu sa-gen, wiirde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nahme.jede
Gesellschaft zur Unmoglichkeit machen. Den Beweis davon ha-
benwir in den sehr unmitrelbarcn Folgerungen, die ein deutscher
Philosoph aus diesem Grundsatze gezogen hat, der so weir geht
zu behaupten: daB die Luge gegen einen Morder, der uns fragte,
ob unser von ihm verfolgrer Freund sich nicht inunser Haus ge-
fluchtet, ein Verbrechen sein wiirde.«12
Constants Text wurde irn Erscheinungsjahr von dem inPa-
ris ansassigen Professor F. Cramer ins Deutsche iibersetzt.
Der Stelle, wo Constant einen »deutschen Philosophen« er-
wahnt, ist in der deutschen Ubersetzung eine Anmerkung
beigegeben, in del' de! Uberserzer mitteilt, Constant habe
ihrn anvertraut, da~ er sieh hier auf Kant beziehe, Es ist je-
doch I.D. Michaelis gewesen, der fu r diese Position in bezug
auf die Luge bekannt war. In Kants Schriften hingegen finder
sich nirgendwo das yon Constant angefiihrte Beispiel. Kant
zogerte dennoeh nicht, zu antworten. Nachdem er Constant
(mit der angefuhrten Passage) zitiert hat, fugt Kant eine An-
merkung ein, in der er sagt, daB er sich nicht erinnern konne,
an welcher Stelle er die fragliche These vertreten habe, daB
sie sich aber moglicherweise tatsachlich in seinen Schriften
finde. Die ganze Sache ist ein wenig kornisch: Kant erkennt
sich in der Tat ohne Zogern in etwas wieder, was er nie ge-
schrieben hat - jedenfalls nicht in diesen Worten. Wie dem
auch sei, von dem Moment an, da er diese Position als seine
eigene annirnrnt und sich daranmacht, sie zu verteidigen,
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spielt es keine Rolle mehr, ob sich die fragliche Position
wirklich so in seinen Schriften findet. In seiner Erwiderung
bekraftigt Kant, daB man selbst in diesem besonderen und
schwierigen Fall die Wamheir sagen muB.
Weshalb beharrt Kant auf diesem Punkt, d.h. auf dem un-
bedingten Charakter der Pfticht?
Das Pathologische des Subjekts - seine Interessen, seineNeigungen und sein Wohl - hindert es, in streng sittlicher
Weise zu handeln, Die letzte Grenze seiner Pathologic,
wenn man so sagen kann, findee sich aber nicht in ihm selb t,
sondern im Anderen. Nachdem das Subjekt seine Interessen
und sein Wahl eingeklammert hac und sie nicht laager
beriicksichtigt, wo es urn die Pflicht geht, kann es auf ein
wei teres Hindernis fur seine Pflicht stollen: das Wohl des
Nachsten, des anderen. Wenn ich rnich in einer Lage befin-
de, in der rneine Pflicht auf der einen und das Wohl des an-
deren auf der anderen Seite stehr, dann kann das Wohl des
anderen ein Hindernis fur die ErfUllung meiner Pflicht bil-
den. In dem Fall, in dem ich meine Pflicht nichr ohne Scha-
den fiir den anderen erhillen kann kann ich mir etwa sagen:
ich habe keine andere Wahl, als »von meiner Pflicht abzulas-
sen« und damit meinen Nachsten zu schonen. Und dieses
»ich habe keine Wahl«, ansonsten naturlich genau das Ge-
genteil der Freiheit und der Ethik, erscheint hier moraliscb
gerechtfenigt. Hierin besteht nach Kant die grundlegende
und urspriingliche Luge: das proton pseudos, namlich sich
einzureden, es gebe »unsehuldige« Liigen, »unschuldige
Ausnahmen« vom moralischen Gesetz. Die Grundliige liegt
darin, sich einzureden, man habe keine Wahl gehabr, die
Macht der Verhalmisse sei derart gewesen, daBman niche an-
ders habe handeln konncn. Genau durch diese Geste ver-
wirft man nach Kant die Freiheit und die Moglichkeit der
Ethik als solcher. Wenn es sieh wirklich urn eine Luge han-
delt, das beiBe, wenn man tatsachlich »von seiner Pflicht ab-
laBt«, dann bleibt das niem.als folgenlos; der Fehltrirt, dieSchuld ist da, auch wenn das Motiv fur da »Ablassen« und
die gemachte Ausnahme gut sind. An dieser Stelle begegnen
sich die Kantische Erhik und die »Ethik des Begehrens«.1J
Einer der Griinde fur die Irreduktibilitat des Pathologi-
schen liegt also im Faktum, daB der letzte Punkt der Patho-
logie des Subjekts sich im Anderen »finder« und daB folglich
eine »gelungene« Tat niemals ohne Folgen fur den Anderen
bleibt. Oberdies ist zu bctonen, daB dieses Problem sich in
jeder Ethik srellt, nicht nur in derjenigen Kants. Die enr-
scheidende rage ist folgende: Sind wir uns dieses »extimen«
und letztlich leeren Punktes unseres eins bewulit, oder ver-
bergen wir ihn unter dem Deckmantel eines graBeren Wohls
als des Wohls desjenigen, fiir den unser Handeln Folgen hat?
Die Ethik, die Pflicht und Wohl des Nachsren in eins setzt,
kommt urn dieses Problem niche herum; das Problem ver-
doppelt sich sogar. (1. Hal t auch der andere fur sein Wohl,
was wir dahir halten, oder notigen wir ihm vielrnehr unsere
Idee des Guten auf? 2.Urn wessen Wohl geht es, da man jarnehr als nur einen Nachsten haben kann?)
Im besonderen Fall, den Constant Kant zuschreibt, konn-
re man sich fragen, ob man in der Tat - und nach den Prinzi-
pien der Kantischen Ethik - genatigt ist, die Wahrheit dem
(potentiellen) Morder zu sagen. Das Beispiel ist jedenfalls
sehr »kunstlich«: Die Unmoglichkeit, dem Verfolger schlicht
I ) Erinnern wir In diesem Zusammenhang noch einrnal an eine Passage aus
Lacans Ethik der Psychoanalyse: »Lerzrlich be steh t das , w essen sich dasSubjekt wirk l ich schuldig fuhlt, wean es Schuld auf sich ladt , mag es dem
Beichtvarer gefollen oder nicht, im Grunde darin, dal l esvon seinem Be-
gehren abgelas eo hat. Gehen w it weirer, Es hat von einem Begehten aus
gutem Grund abgelassen, oder gar aus dern besten. Das kann un nichr
weirer erstaunen. Sci! die Schuld existiert, also lange schon, hat man be-
rnerk t, daB die F rage des guten Beweggrundes, der guten Absicht - sie
machte j a g a1 l7 C Bereiche der historisehcn Erfahrung aus ... - die Leute
nicht urn einen Schrirt weitergebracht hal. Die Frage steht imrner wieder
als dieselbc am Horizonr. Und genau aus diesern Grund kehrt bei den
Christen der gewobniichsten Observanz nie wirk l ich Ruhe ein. Wenn
namlich di e Dinge urn des Guten willen zu tun sind, muf:lman sich in der
Praxis w oh l irn mc r fragen, 1 . 1 1 " 1 " 1 wessen Gut es dabe] gehr , Von da aus be-
rrachtet verstehcn sich die Dinge nicht VOl] elbst.« Ethlk der Psychoana-
lyse, a.a.Oi, S.381.
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und einfach zu antworten: »Das sage ich dir nichtl «, liegt gar
niche auf der Hand. Ein anderes Beispiel verdeutlicht noch
besser, was hier ethisch auf dem Spiel steht: das Beispiel An-
tigones, auf das Lacan inseinem Seminar uber die Ethik ein-
geht. Antigone geht bi s zum AuBersten, um ihren Bruder Po-
lyneikes zu begraben. In diesem Beharren laBt sie sich durch
kein Gut leiten, weder durch das ihre (das einzige, das ihr in
diesel' Angelegenheit widerfahrt, ist, daB sie lebendig ins
Grab gesperrt wird), noch das Gut von Polyneikes (der be-
reits tot ist), noch das der durch Kreon verkorperten Ge-
meinschaft (Antigones Tat fuhrt zum Niedergang der Ge-
meinschaft, zum Fall des Konigshauses). Antigone geht aus
von und beharrt auf einern unbedingten »man mufi«: man
mug ihn beerdigen.
Antigone harte sich zu gegebencr Zeit angesichts der zu
erwartenden Folgen auch hagen konnen, ob ihr Beharren
das Leid wert ist. In diesem Fall besi;iBenwir ke ine Antigone.Sicher, irgend jemand wird immer folgenden Standpunkt
vertrcten: Antigone hatte noch sittlicher gehandelt, harte sic
auf ihr Anliegen verzichtet und darnit das Konigreich geret-
tet. Diese Art von Ethik kommt inder durch Kant eroffne-
ten ethischen Perspektive nicht inFrage, und auch nicht fur
Lacan. Beide bekraftigen die Sittlichkeit der Tat aus einer
Perspektive, die nicht nur unbequem, sondern geradezu
traumatisch ist, Sie siedeln den ethischen Akt in einer Di-
mension an, die weder die des Gesetzes (im juristischenSinn) ist noch die einer einfachen Ubertretung des Gesetzes
(Antigone ist keine Verfechterin der von der Tyrannei des
Staates unterdruckten »Menschenrechte«"), sondern die des
Realen,
14 -Heute, da Antigone systernat isch -domesriziert- wird, da man aus ihr die
patherische Hiiterin der Gemeinschaft gegeniiber der ryrannischen Staats-
rnachr macht, i t urn so eindr inglicher auf dem Skandalosen ihres . e inl.
an Kreon zu beharren. Diejenigen, die ich weigem, zur -Terroristin.
Gudrun Stellung zu beziehen.solhen bes er aueh zu Antigone schweigen.
Denn es 1St Anugones Geste, die die yrnparhisanren der Rote Arrnee
b) Das Subjekt im Allgemeinen
Akzeptieren wir die Position Kants in dieser Frage, bleibt
noch eine andere Falle zu vermeiden. Wenn das Kantische
Subjekt dern in der unbedingten Pflicht irnplizierten Realen
nicht entgehen kann, indem es sich hinter dem Bild seines
achsten (d. h. von seinesgleichen) versteckt, dann kann es
sich eucb nicht hinter seiner Pflicht oerstecken und diese zur
Entschuldigungfur sein Handeln nehmen. Das sittliche Sub-
jekt kann nicht sagen: »Tut mir unendlich leid, ich weiB, daB
du durch mein Tun gelitten hast, aber ich konnte nicht
anders, das moralische Gesetz hat mir diese Handlung als
unbedingte Pflicht auferlegt.« Ganz im Gegenteil ist das
Subjekt fur das, was es als seine Pflicht anfiihrt, selbst ver-
anrwortlich.P Entscheidend ist: Selbsr was das moralische
Gesetz betrifft, kann das Subjekt niche sagen: »ich konnte
nicht anders handeln.« Der Typus von Diskurs, bei dem manseine Pflicht (oder sein Begehren) als Entschuldigung fur sei-
ne Handlungen anfuhrt, ist im eigentlichen Sinne pervers. In
diesem Diskurs schreibt das Subjekt dem Anderen (der
Pflicht oder dem Gesetz) das Mehr-GenieBen zu, das es in
seinem eigenen Tun finder: Tut mir leid, wenn rnein Tun euch
nicht gefiillt, aber der Andere will es so und findet darin sei-
ne Befriedigung, also klan das mit Ihrn. In diesem Fall ver-
steckt sich das Subjekt hinter dem Gesetz."
Betrachten wir zur Verdeutlichung ein anderes Beispiel,
Frakt ion wiederholr haben, als sie an Gudruns Beerdigung tei lnahmen,
maskiert , wei l sic wul)ten, dafl die Polizei sic Iilmre. Und wirklich ver-
storend an diesen -Terroristen- waren nicht ihre Bomben, sondern ihre
Verweigerung der erzwungenen Wahl, des grundlegenden gesellschaftli-
chen Bundnisses, die ihre Position beinhaltete.« Slavoj Zizek. L'Intraiia-
ble, Anthropos I9V, S.66.I) Vgl. hierzu Slavoj Zizek, The Indunsible Remainder, London, New York
1~96, S. t70'16 Ubrigens vermeidet Kant mit seiner Konzeptualisierung dessen, was wir
hier als -Mebr-Form« bezeichnet haben, diesen perversen Gesrus, indem
er dieses Mehr-Geniellen mit der Freiheit des Subjekts , dem Mangel im
A ndercn verbindet.
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das H. E. Allison ins Spiel bringt." Nehrnen wir an, ich hege
eine heftige Abneigung gegen jemanden. Ich erfahre erwas
iiber ihn und weiB, daB es fur ihn auBerordentlich schmerz-
lich ware, erfuhre er ebenfalls davon. Weil ich ihrn Bases
will, beschliefse ich, ibm die Sache mitzuteilen, und ich
rechtfertige dieses Verhalten durch Berufung auf sein »Recht
zu wissen«. Dann stelle ich rnir diesen Akt - der an sich ein
Akt reiner Bosheit ist - als lobliches Aussprechen der Wahr-heit vor. 1ch kann sagar mit der Zeit felsenfest davon tiber-
zeugt sein, es sei meine heilige Pflicht, dern armen Kerl zu
sagen, was ich weiB. Allison illustriert damit die »Selbsnau-
schung« ("self-deception«), wie er sagt. Hier liegtfiir ihn der
Hauptgrund fur die Verzerrungen, denen der kategorische
Imperativ ausgesetzt sein kann. Eine beruhrnt gewordene
Verzerrung liegt in der Behauptung des kriminellen Nazis
Eichmann vor, der sich nach dem Krieg damit verteidigr, mit
der Obernahme yon Veranrwortlichkeit fur die »Endlo-sung« sei er dem kategorischen Imperativ gefolgt. Allison
zufolge is t eine solche Verzerrung nur moglich, wenn wir
uns tiber die »hervorstechenden moralischen Zuge« (moral-
ly salient features) einer gegebenen Situation selbst tauschen.
Es ist aber leicht zu zeigen, daB Allisons Argument zu kurz
greift: die Moglichkeit solcher Verzcrrungen laBt sich aus
dern Feld der Ethik niche durch den Vorschlag ausschlieflen,
in der Befolgung des kategorischen Imperativs sollten wir
zugleich die »hervorstechenden moralischen Ztige« der Si-tuation mit berucksichtigen. Was ist denn eigentlich ein
»hervorstechender«, ein "ganz evidenter« Zug? Seit Althus-
ser weiB man, daB nichts weniger evident ist als die Evidenz.
(Man konnte sich durchaus vorstellen, daB es ftir Eichmann
»evident- war, daB die juden keine Mcnschen waren.) Will
man also das ethische Feld von dieser perversen Logik ab-
grenzen, gentigt es nicht, gegen Selbstrauschungen vorzuge-
hen - man muB sich gegen das wenden, was diese Selbsttau-
17 Henry E. Allison, Idealism and Freedom, Cambridge 1996 , S. 18T.
schungen erst ermoglicht. 1m von Allison vorgeschlagenen
Beispiel tausche ich mich selbst tiber meine wirkliche Ab-
sicht, den anderen zu verletzen. Aber diese Selbsttauschung
ist nur auf der Grundlage einer anderen, noch tiefer reichen-
den Verfehlung moglich, Sie ist nur moglich, wenn wir (den
»Inhalr«) unsere(r) Pflicht gleichsam fur »vorgefertigt«, d.h.
fur bereits vor unserem Engagement in der Situation existie-
rend halten. Wir konnen den Scheinheiligen nicht endarven,indem wit ihm sagen: »Wit wissen genau, daB deine wirkli-
che Absicht war, diese andere Person zu verlerzen«. Er kann
auf seiner Heuchelei beharren und vorgeben, er habe all sei-
ne Kraft zusammennehmen rnussen, um dem anderen die
Wahrheit zu sagen er habe selber sehr darunter gelitten, den
anderen zu verletzen aber er babe das nicht vermeiden kon-
nen, weil es seine Pflicht gewesen sei ... Die einzige Mag-
lichkeit, einen solchen Heuchler zu entlarven, besteht darin,
ihn zu fragen: »Na gut, aber wo steht geschrieben, es sci lhrePflicht, dem anderen zu sagen, was ie wissen? Warum glau-
ben Sic, das sei Ihre Pflicht? Sind Sie bereit, Ihrer Pflicht zu
entsprechen?«
N ach den grundlegenden Prinzipien der Kantischen
Ethik ist die Pflichr nichts anderes als das, was das Subjekt
ich als seine Pflicht setzt, ein »AuBen« wie die zehn Gebo- .
te gibt es da nicht. In diesem Zusammenhang rnuf man sich
unbedingt k1armachen, daf der kategorische Irnperativ kei-
ne »Probe« ist, mit deren Hilfe wir eine Liste sirrlicherHandlungen und Pflichten anlegen konnten, eine Art »Ka-
techisrnus der reinen Vemunft«, hinter dem wir das Mehr-
GenieBen verstecken konnen, das wir in unserern Tun fin-
den.
Kehren wir zu unserer Erorterung der Luge und zu dem
Beispiel von jemandern zuriick, der nicht lugen will, wenn
der Marder ihn Iragt, wo sein Freund ist, Probleme rnacht an
Kants Position unserer Ansicht nach nicht die Tatsache, daB
meine Pflicht nicht notwendig mit dem Wohl meines Nach-seen vereinbar ist (das miissen wir als Moglichkeit zugeste-
57
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hen), sondern vielmehr die Tatsache, d~ di e Pflicht (die
Wahrheit zu sagen) hier als Entschuldigung fur diese Hand-
lung zu fungieren scheint, Fur Kant ist die Pflicht, die Wahr-
heir zu sagen, eine Pflicht »uberhaupt«, die ein fur allemal
die Priifung des kategorischen Irnperativs bestanden hat und
damit in die Liste der Gebote aufgenommen werden kann.
Er geht sogar so weit zu behaupten, derjenige, der dem Mar-
der die Wahrheit sage, sei niche fur den Tod seines Freundes
veranrwortlich, wahrend derjenige, der liigt, fur alles die
Verantwortung tragt, was sich aus dieser Luge ergibt.
Das fuhrt uns nun ins Herz der entscheidenden ethischen
Frage, namlich der Frage nach dem Verhaltnis zwischen dem
Subjekt und dem Gesetz, zwischen dem Subjekt und dem
UniverseJlen oder Allgemeinen. Weshalb ist es unzulassig,
die ratselhafte Formulierung des kategorischen Imperativs
ein fur allemal mit einem Satz (»Sag die Wahrheit!«) abzu-
schlieflen, der das Gesetz auf eine Liste bereits bestehenderGebote reduziert? Nicht, wie man annehmen konnte, weil
man damit all die besonderen Urnstande vernachlassigt, die
in einer konkreten Situation eine Rolle spielen konnen;
nicht, weil ein Fall niernals dem anderen gleicht, so dai1man
in einer gegebenen Situation jederzeit uber ein unerwartetes
Element stolpern kann, das noch zu berucksichtigen ist. Der
Grund ist ein viel radikalerer, er ist kein ernpirischer, son-
dern ein strukrureller: selbst wenn sich - etwa mit Hilfe eines
Supercomputers - samtliche rnoglichen Situationen sirnulie-ren liei1en, konnte man immer noch keine Liste der jeder
Situation entsprechenden ethischen Handlungen erstellen,
Das entscheidende Problem des rnoralischen Gesetzes ist
nicht die Variabilitat der Situationen, auf die es »angewen-
det« wird, sondern Ort und Rolle des Subjekts in deren Ver-
f as sung s el bs t und folglich in der Verfassung des Aligemei-
nen. Der Grund, aus dem sich das Subjekt aus der Struktur
der Sirtlichkeit nicht ausschalten laJ3t(indem man eine Liste
der Pflichten aufstellt), ist nicht ein besonderer, spezifischer,sondern das Allgemeine. Was sich nicht eliminieren laBt,
58
ohne das Ethische als solches uberhaupt abzuschaffen, das
ist nicht die Wahrheit und Variabilitat jeder Situation, 50n-
dern der Gesrus, durch den das Subjektdas Allgemeine setzt,
eine Operation der Verallgemeinerung vollbringt. In der
Erhik ist das Subjekt niche Agent des Aligemeinen (oder des
Gesetzes), es ist nicht derjenige, der im Namen des AlIge-
meinen oder durch seine Errnachtigung handelt - ware das
del' Fall, dann ware das Subjekt in der Tat »reduzibel«, man
kame ohne es aus, Das Subjekt ist kein Agent, sondern viel-
mehr »Trager« des Allgemeinen. Prazisieren wir das. Das
soil nicht einfach heifsen, daE alles Allgemeine »vermittelt«,
ubjektiv bestimmt und daf das Gesetz letzten Endes irnmer
-subjektiv- ist, Hier geht es nicht urn eine Definition des
Allgemeinen, sondern vielmehr urn eine Definition des Sub-
jekts. Das Subjekr, das, was hier »Subjekt« genannt wird, ist
nichts anderes als das Moment der Uniuersalisierung, der
Verfassung des Gesetzes und der Bestirnmung des Allgemei-nen. Das Subjekt in der Ethik is t kein Subjekt, das in einer
gegebenen Situation sein subjektives »Gepack« mitbringt
und damit die Situation beeinflufst , Das Subjekt ist im Ge-
gemeil erwas, das aus dieser Situation (oder der Handlung)
hervorgeht und nicht schon vorher existiert. Das (sittliche)
ubjekt ist der Punkt, an dem das Allgemeine zu sieh kommt
und seine Bestimmung erreicht."
4. Buchstabe und Geist
Im ersten Kapitel haben wir wiederholt die Tatsache unter-
strichen, dai1ein sittlicher Akt nicht nur dem Gesetz als Tra-
ger der Form des Allgerneinen entspricht, sondern dariiber
hinaus diese Form als einzige Triebfeder haben muf]. Lega-
litat nennt Kant, was die erste Bedingung erfullt, Moralitat,
18 Wir nahem uns hier Ausfuhrungen von Alain Badiou in seiner Vorlesung
mit dem Titel -Theor ie axiornatique du sujer e , Vgl. auch seine Arbeir:
Sainz Paul. La[ondstion de l'unwersalisme, Paris 1997·
59
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was beide erful l t , Nun wohnt diese Spaltung zwischen Lega-
litat und Moralitat aber der Sittlichkeit selbst inne, und
ebenso dem aus ihr hervorgehenden Begriff des Allgemei-
nen. Nachdem Kant im ersten Hauptstiick die Grundsatze
del' reinen praktischen Vernunft eingefuhrt hat, erortert er
diese Spaltung in den beiden anderen Kapiteln der Analytik,
von denen eines den Objekten vom Guten und Bosen und
der Urteilskraft in bezug auf diese Objekte gewidmet ist unddas andere sich der Frage nach den Triebfedern der sittlichen
Handlungen zuwendet. Dies ist Kants Theorie vom »Ty-
pus« (des moralischen Gesetzes) und die Theorie der Ach-
tung als Gefiihl apriori. Diese beiden Kapirel zusammen bil-
den nun die wahre Revolution der Kanrischen Ethik und
schaffen Raum fur einen Begriff des Allgemeinen, dessen
subversives Potential und dessen subversive Tragweite aller-
erst noch zu ermessen und zu wiirdigen sind.
a) Der Typus
Das Gute und das Bose als Objekte der praktischen Ver-
nunft werden in Begriffen einer »rnoglichen Wirkung durch
Freiheit» definiert, (KpY,AIOO) Genau in demMaBejedoch,
in dem das moralisch Gute der Freiheit unterliegt, ist es et-
was Ubersinnliches, d.h. in keiner (sinnlichen) Anschauung
zu Findendes. Anders gesagt ist das moralisch Gute ein Ob-
jekt, das man in keiner empirischen Handlung ausmachenkann, was ein groges Problem fur die praktischen Urteile
darstellt, Wie soil man beurteilen, ob eine Handlung (unsere
eigene oder auch die Handlung eines anderen) moralisch gut
oder bose ist wenn das Objekt, auf das sich dieses U rteil be-
zieht, uris gar niche zuganglich ist? Kant lost dieses Problem,
indem er die Frage des praktischen Urteils ganz auf die Seite
der Legalitat (d.h, der Ubereinstimmung mit dern morali-
schen Gesetz) begrenzt und die Frage der Bestimmung un-
seres Willens, der eben »unsichtbar« bleibt, beiseite laBt.Aber selbst wenn man sich derart auf die Dimension der Le-
6 0
galitar beschrankt, wird man doch rasch bemerken, daG man
gar nicht mehr weiB, welches die e Form oder diesel' »Bucb-
stabe des Gesetzes« ist, dem unser empirisches Handeln ent-
sprechen 5011. Welches ist der Buchstabe des moral.ischen
Gesetzes? Urn zurnindest dem Anspruch der Ubereinstim-
mung zu geniigen, mug man also das moralische GesetzJor-
mulieren, was an sich angesichts des noumenalen Charakters
des Gesetzes schon ein unmogliches Untedangen ist. Kanttut hier erwas ganz Einzigartiges: state das Gesetz der Frei-
heit zu Jormulieren, Jormalisiert er dessen »Double«, das
Gesetz der Natur, Das genau macht die Kantische Theorie
der ,.Typik (der Urteilskraft)« aus: der Typus des Sittenge-
setzes it »ein Narurgesetz, aber nur seiner Form nach«,
(KpV, AI22.) Und hier beginnt nun eine ganz einzigartige
Entwicklung, namlich die einer Konstruktion (des Geserzes)
der Freiheit. Kant verzichtet auf eine Deduktion der Frei-
heit, die, wie er sagt, »vergcblich gesucht« wi.rd, und Iugthinzu, dag das moralische Gesetz »keiner rechtfertigenden
Grunde bedarf«, (KpY, A81) In den beiden Ietzten Kapiteln
der Analytik bedient er sich also vielmchr einer Konstruk-
tion der Freiheit. Der erste Schritt dieser Konstruktion be-
steht in der Formalisierung des Gegenteils der Freiheit
(Theorie des Typus), und der zweite in der Verdoppelung
der orm, die sich aus dieser Formalisierung ergibt, in der
Triebfeder (Theorie der Achtung).
In seiner Theorie der Typik geht Kant von einer Logik clerAnalogie und davon aus, daB sich das Naturgesetz als Typus
eines Gesetzes der Freiheit begreifen hillt, und er setzt hin-zu, daG »die Natur der Sinnenwelt- als Typus einer »intelli-
giblen Natur« betrachtet werden kann. (KpV, AIl4) Diese
Analogie beruht auf einern bestimmten Begriff der Natur,
narnlich der unmittelbaren Ubereinstimrnung der Taten und
des Verhaltens eines Wesens mit dem Gesetz. In der Natur is t
alles, was geschieht, das Gesetz. Der menschliche Wllie ist
nicht eins mit dem Gesetz der Freiheit (das ware vielmchrdas Privileg eines heiligen Willens), aber er isr auch nicht eins
61
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mit dem Gesetz der Natur: er liegt quer zu beiden. Diese
Feststellung mag banal scheinen, und das Bild vorn Men-
sehen als zusammengesetztem Weseo, bestehend aus Sinnli-
chern und Geistigem, ist so alt wie die Geschichte. Fur Kant
jedoch hat diese Vorstellung ganz besondere Nachklange
und Konsequenzen. Im strengen Sinn ist der Mensch nichr
aus einer sinnlichen und einer intelligiblen Narur zusarn-
mengesetzt: wenn Natter (sei sie nun »sinnl ich- oder »iiber-
sinnlich«) definiert wird als unmittelbare Dbereinstimmung
des Tuns und Verhaltens eines Wesens mit dem Gesetz, dann
muB man sagen, da~ der Mensch keineswegs ein naturliches
Wesen ist und d.ill er selbst da, wo sein Verhalten diesern
oder jenem Gesetz entspricht, immer zugleieh in einer x-
zentrizitat existiert, die allererst erlaubt, von Ubereinstim-
mung (und nicht Zusammenfall) zu sprechen. Diese Ver-
schiebung ist nicht an sich schon Zeiehen dafur, daB der
Mensch freier is t als das Tier oder der Baum. Sie verweistvielmehr darauf, daB die Kausalitat in der mensch lichen
Sphare eine vorstellende ist," d. h. keine unmittelbare. Die-
ser Typus von Kausalitat rei£h den Menschen sowohl aus der
physischen wie aus der moralisehen Natur (d. h. aus der Mo-
ral als Natur) heraus, DaB er aus der Natur herausgerissen
isr, bedeutet aber nicht, d~ er von der Sinnlichkeit ausge-
nommen ist, denn diese ist von der Vorstellung nicht zu tren-
nen: die Kausalitat aus Vorstellung bedeutet, das Subjekt
entscheidet sich aufgrund der Lust oder Unlust fur eineHandlung, die ibm die Vorstellung eines Objekts verschafft.
Ist ihm beispielsweise die Vorstellung der Ehre angenehm,
dann opfert er gewisse andere Liiste, es setzt sich vielleicht
groBen Gefahren aus und erduldet groBen Sehmerz. Das
wiederum bedeutet nicht, daB das Subjekt der sinnlichen Be-
stimmung seines Willens entgeht. Der Begriff der Natur und
t9 »Leben is! das Vermogen cines Wesens , nach Geserzen des Begehrung •
vermogens zu handeln. Das Begehrungsverrnogen isr das Vermogcn des-
selben, durch seine Vorsrel lungen Ursache von der WirkEchkeir der Ge·gensrande dieser Vorsrellungen zu sein.« (KpV, A16, Anm.)
der Begriff des Sinn lichen fallen nicht in eins. Die fragliche
Nicht-Koinzidenz ist keineswegs eine Garantie oder ein Be-
weis der menschlichen Freiheit.
Es ist also die Auffassung der Natur als unmittelbares Zu-
sammenfallen von Taten und Verhalten mit dem Gesetz
(d. h. die Auffassung, der zufolge Taren und Verhalten das
Gesetz sind), die Kant zu dem Vorschlag veranlajit, ein Na-
turgesetz (nur auf seine Form hin betrachret) als Typus einesGesetzes der Freiheit zu nehmen. Die heiden Naturen (die
sinnliche und die iibersinnliche) sind gleichermaBen aus dem
eigentlich menschlichen Universum ausgesehlossen, ob-
gleich der Mensch iiber die Vorstellung des Sinnlichen, die
die zentrale Rolle in der Kausalitat aus Vorstellung oder auch
der »psyehologischen Kausalitat« spielt, an die Sinnlichkeit
gebunden bleibr, Der Mensch ist auf verstellte Weise Teil der
sinnlichen Narur, Und obgleieh diese Nicht-Koinzidenz an
sich keine Garanrie der Freiheit ist, ist sie doch eine Mog-lichkeitsbedingung der Freiheit. Sie ermoglicht es zu begrei-
fen, daBeine andere als pathologische Triebfeder zur Ursa-
che unserer Handlungen wird. Aber lassen wir diese Frage
der Triebfedern im Augenblick beiseite, denn fiir die Theo-
rie des» Typus« ist sie ohne Belang.
Welche -Snitze« bietet nun der Typus des Sittengesetzes
unserem praktischen U rteilsverrnogen? Wir sollen uns nach
Kant folgende Frage stellen: wenn wir eine beabsichtigte
Handlung so begreifen, daB sie nach einem Gesetz derjeni-gen Natur zu vollbringen ist, der wir selber zugehoren, kon-
nen wir sie dann noch als durch unseren Willen moglich an-
sehen? (KpV, AI2 I f.) In unserem alltaglichen Leben wissen
wir, wenn wir uns einen Betrug erlauben, ganz genau, daB
deshalb noeh nicht alle Welt das gleiche tut. Die Forrnulie-
rung des Typus ladt uns nun aber zur Vorstellung einer Welt
ein, in der unser gesarntes Verhalten unmittelbar Gesetzes-
kraft erlangen wurde, einer Welt mithin, in der jeder "Be-
trug«, den ich mir erlaube, sofort zum allgemeinen Gesetzmenschlichen Verhaltens werden muii. Nehmen wir an, die
auch des karegorischen I rn pe ra ri vs ) a ls Probe auf die Sitt-
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Nachbarn. Ic h stelle rnir also die Szene vor, in der ich rneinen
Nachbarn beleidige und in der ich mir zugleich dariiber im
klaren bin, daBim selben Moment aile dabei sind, ihre Nach-
barn zu beleidigen und von Ihnen beleidigt zu werden. Ich
frage mich, ob ich eine solche Welt wollen kann, zu der ich
selbst gehoren wurde, eine Welt, in der jeder jeden belcidigt.
»Nein«, erwidere ich und beschlieiie, meinen Nachbarnnicht zu belcidigen.
In Hinblick auf die Theone des Typus sollte uns dieses
wichtige Detail nicht entgehen: Kants kategorischer Irnpera-
tiu ist nichts anderes als der in der Form des Irnperativs arti-
kulierte Typus, was schon aus der Nahe der beiden Formu-
lierungen hinreichend deutlich wird." Das bedeuter, der
gaoz einzigartige Ansatz in der Formulierung des Typus
(man »gelangt« zum Sittengesetz nur durch die Formalisie-
rung seines Doubles oder seines Gegenteils, des Naturgeset-zes) liegt nicht nur der -reinen praktischen Urteilskraft« zu-
grunde, sondern der Ethik uberhaupt, obgleich diese
Grundlage keine zureichende Bedingung ist (zur Sirtlichkeit
ist auch eine subjekcive Bedingung erforderlich, auf die wir
noch eingehen werden). Man darf also nicht vergessen, da£
man es inder Sittlichkeit, so verschieden sie auch von der Le-
galitat sein mag, rue mit einern anderen Gesetz als eben die-
sem, vom »Typus« implizierten zu tun hat.
An dieser Stelle ist ein wichtiger Fallstrick zu umgehen,der darin liege, die Kantische Formulierung des Typus (oder
20Der T~pus: -Frage dich selbsr, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie
nach emern 0setze der Natur, von der du selbst e in Teil warest, gesche-
hen sol lte, 51edu wahl, als durch deinen Wil len moglich, ansehen konn-
test.« (KpV, A Ilz) Kant hal verschiedene Formulierungen des kategori-
schen Imperat ivs vorgeschlagen, unter Ihnen folgende aus der Grundle-
gu~g Zur Metaphysik der Sitten (BAsz): -handle so, als ob die Maxime
deiner Handlung durch deinen Willen zum allgerneinen Naturgesetze
werden sollre.« Die »kanonische- Fassung in der Kntik der praktlSl:hen
Vemrmft bewahrr dieselbe Strukrur des. Typus-, die nUT au f die Form des
Gesetzes zielt : -Handle so, daB die Maxime deines Wil lens jederzeit zu-gleich als Prinzip einer aJlgemeinen Ceserzgebung gel ten konne .• (AH)
li cb ke i: u ns er er Hand lu ngen zu nehrnen oder zu begreifen.
Auch wenn Kant selbst h ie r u nd da zu dieser Auffassung zu
ermuntern scheint, ist sie doch absolut durch das ausge-
schlossen, was er im Abschnitt uber die Typik explizit sagt,
daf narnlich der Vergleich der Maxime unserer Handlungen
mit einern allgemeinen Naturgesetz nicht der Bestimmungs-
grund unseres Willens sein kann. (Kp V,Au 3 f.) Anders ge-sagt kann ich mich f u r eine Handlung nichr entscheiden, in-
dem ich mir durch Anstellung die es Vergleichs eine solche
Welt als etwas mir Mififallendes zu BewuBtsein bringe , Die
Ubereinstimrnung unsercr Handlungen mit der Form des
Allgemeinen ist eine Bcdingung sine qua non der Ethik,
ohne doch selbst schon eine ethische Dimension zu bilden.
Versteht man den Typus als Prufung, dann ist man auch ver-
sucht, hier die Frage derTriebfedern oder »Motive« ins Spiel
zu bringen, d.h. die Frage nach rneinem Enrscheidungskri-teriurn, wenn ich beispielsweise zu dem Schluf komme, da f
ich keine Welt wollen kann, in der jeder jeden beleidigt, Be-
wegte man sich aber tatsachlich im Rahmen der Theorie des
Typus (in der die sinnliche Natur als Typus der intelligiblen
betrachtet wird), dann konnte dieses Kriteriurn kein anderes
als das unseres unmiuelbaren Interesses sein, was sirrlichen
Triebfedern absolut zuwider lauf t , Anders ausgedruckt:
wenn die sinnliche Narur dec Typus eioes Gesetzes der Frei-
heit sein kann, kann sic auf keine Weise der Typus sittlicherTriebfedem sein, »weil die Willensbestimmung ... durchs
Gesetz allein, ohne einen anderen Bestimmungsgrund, den
Begriff dec Kausalitar an ganz andere Bedingungen binder,
als diejcnige sind, welche die Naturverkmipfung ausma-
chen«, (KpV, AUI) Das heiGt, da£ die Typik uns den Typus
des Sittengeserzes an die Hand gibt und nicht den Typus der
sittlichen Handlung. Es ware also vollig falsch, die Kantische
Theorie des Typus als Sittlichkeitspriifung unserer Hand-
lungen. zu begreifen. Den Typus einer sittlichen Handlunggibt es nicht. Was es auf dieser Ebene gibt, sind die FaJIe.
65
Kant behandelt das, was diese »Falle« implizieren, im Ietzren einzige Triebfeder dieser Unterwerfung sein. Anders gesagt:
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Kapirel der Analytik: »Von den Triebfedern der reinen prak-
tischen Vernunft.«
b)Der Affekt
Zu Beginn dieses Kapitels fahrt Kant »groGe Geschutze-
auf, um den Unterschied zwischen dem Legalen und demMoralischen zu unterstreichen: damit ein Akt als sittlich gel-
ten kann, geniigt es niche, dag er der Form des Gesetzes ent-
spricht, sondern das rnoralische Geserz muG seine einzige
Triebfeder sein. Eine moralische Handlung, schreibt Kant,
erfiillt nicht bloG den Bucbstaben, sondern enthalt auch den
Geist des Gesetzes. (KpV, AI27) Der Geist des Gesetzes ist
aber nichts anderes als die Kraft des Buchstabens als sol-
chem, uns zum Handeln zu bewegen. Wir sind schon auf ei-
nige Aspekte dieser Forderung Kants eingegangen; sehenwir nun zu welche Implikationen sie fur den Begriff des All-
gemeinen enrhalt,
Die Unterscheidung zwischen Moralitat und Legalitat be-
deuter nicht, daGman sich im Sirtlichen die Legalitat, d. h. die
Form des Gesetzes einfach sparen kann, die eben genau die
Allgemeinheit vorschreibt. Anders gesagt kann man nicht
einfach am» Typus« vorbeigehen. Wenn das Legale (der Ty-
pus) die Form (der Allgemeinheit) vorschreibt, dann gelangt
man zur Sittlichkeit dank einer Verdoppclung der Form, dieganz allein das wahre Allgemeine ausmacht, Was heillt das?
Wir haben die Ubereinstirnmung mit dem Gesetz, mit einer
Form, und uberdies die Forderung, daB diese selbe Form die
einzige Triebfeder unseres Handelns sein soil. Eben diese
Verdoppelung der Form in »Forrn« und »Triebfeder« bildet
den Kern der sitrlichen Handlung. Hier ist auch das groBe
Kantische Thema der Ausschalrung der »pathologischen«,
d. h. aller der Handlung selbst auGerlichen Motive angesie-
delr, Man muG sich der Form des Geserzes unterwerfen, aberdaruber hinaus muB diese Form das einzige Motiv oder die
66
durch das Subjekt soll die Form ihre eigene Ursache werden.
Wir haben also die Form als das, mit dem man ubereinstim-
men mull, und wir haben diese selbe Form verdoppelt al
das, was uns erlaubr, aus dem rein legalen Rahmen der Ober-
einstimmung herauszurreten. Die Form als Legalitat ver-
doppelt sich in eine singulare Triebfeder, die sich jedoch ge-
rade in ihrer Singularitat selbst auf das Allgemeine offnet.Fassen wir das noch genauer. Welcher Unterschied be-
steht zwischen den besonderen Motiven oder Triebfedern
(die Kant als »pathologische Triebfedern« bezeichnet) und
der durch die Verdoppelung der Form eingeftihrten sin-
gt~laren Triebfeder? Die besonderen Motive beziehen sich
auf das, was das Subjekt zum Handeln antreibt, und liegen
darnir auBerhalb der Handlung selbst. Ich vollbringe bei-
spielsweise eine "gute Tat« (die sich definieren Ja(h als eine
Handlung, die dem Gesetz gemaB ist), wei Iich gem als »gu-ter« Mensch gelten will. Ein anderer vollbringt die gleiche
Tat, weil er groRe Freude daran hat, anderen behilflich zu
sein. Ein weiterer, weil er an Gott glaubt. In diesen drei fal-
len ist strenggenommen die Legalitat (die Pflichtrnaiiigkeit)
der Vektor des Allgemeinen. Die juristischen Gesetze oder
die »allgernein anerkannten« moralischen Werte geben einen
Rahmen vor, dem sich verschiedene Subjekte aus verschie-
denen Grunden unterwerfen, Diese Griinde sind keinesfalls
verallgemeinerbar, sondern vielmehr eine Funktion oderWirkung des Besonderen. Das allgemein Legale, das der Le-
galitat eigene Allgemeine, geht irnrner mit dem Besonderen
zusammen. Es ist gegeniiber den Besonderen indifferent, es
»duldet« sie und stellt sie in den Dienst seines eigenen Funk-
tionierens.
Fur Kant nun hat das Besondere in der sittlichen Sphare
gar nichts verloren, es ist ihrwesentlich fremd. Die durch ei-
nen subjektiven Nirtzen motivierten Handlungen sind niche
sirtlich, auch wenn sic ganz und gar legal sein konnen. Man
trifft hier auf den Nerv der Kantischen Ethik, und zwar an
einern auBerst schwierigen Punkt, Tatsachlich kann man (oder falsch) wiirden. Das konnen sic gar niche. und in ihrem
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Kant vorhalten, nicht geschen zu haben, daB eine interesse-
geleitete (also »pathologisch motivierte«) Handlung den-
noch ein »allgerneines« Gut hervorbringen kann, d. h. daB es
letzten Endes doch die Wirkungen einer Handlung sind, die
wirklich zahlen, und nicht ihre Ursachen, die nie so ganz of-
fensichtlich sind. Kant schreibt, die Wirkungen einer Hand-
lung konnten keinerlei Licht auf die Frage werfen, ob cineHandlung sittlich ist oder nicht, Daher wird Kant her-
kornmlicherweise der unpraktikable (beinahe konnte man
sagen »nicht-praktische«) Charakter seiner Ethik vorgehal-
ten. In Wahrheit liegt hier ein groBes MiBverstandnis vor:
Kant geht es nicht einfach darum, den sirtlichen Aspekt ei-
ner Handlung eher an ihren Ursachen als in ihren Folgcn
festzumachen, sondern vielmehr darum, die Ethik auf die
Frage zu konzentrieren, wie cine Handlung (und nichr ein
Gesetz) wahre Folgen und allgemeinen Wert haben kann.Diese so -typisch- Kantische Frage hat nichts mit dem Ver-
such zu tun, »schwimmen lernen zu wollen, ohne ins Wasser
zu springen«, Sie betrifft eine echre Revolution im Begriff
des Allgemeinen und eben so im Begriff des Guten. Denn in
dieser Frage geht es genau darum, wo das Allgemeine anzu-
siedeln ist, auf der Ebene von Legalitat oder Gesetz oder aber
auf der Ebene des Subjekts. Siedclt man das Allgemeine beirn
Legalen an, dann hat man es irnmer mit einern (schon) ex:i-
stierenden Gut zu tun, das man auf die Welt anwendet. Fur
Kant jedoch ist dieses »Gut« gar kein Gut im strengen Wort-
sinn, Auch wenn es eine »gute Sache« ist, allgemein wiin-
schenswert, ist cs nicht wahrhaft das (sittlich) Gute. Man
konnte sagen, dieses "GUt« gehore in den Bereich der Mei-
nung, nicht der Wahrheit. Wir mochten uns hier auf das be-
ziehen, was Alain Badiou zum Verrnogen der Wahrheiten
schreibt:
,. ( ....) cine Wahrheit - das heilh ihr Effekr der Wiederkehr -
transforrniert die Codes der Kornrnunikation, verandert das Re-gime der Meinungen. Nicht daB die Meinungcn nun -wahr«
68
vielfaltigen ewigen Sein bleibt eine Wahrheit von Meinungen un-
beruhrt, Aber die Meinungen werden andere. Das soli heiBen,
sonst fu r die Meinung evidenre Urteile lassen sich nicht langer
halren, andere werden gebraucht, die An und Weise der Korn-
munikarion andert sich erc.,,21
Das Gut der Legalitat, das Gute als Wirkl.lng einer Handlung
ist nicht zu vermengen mit dem Vermogen der Handlung,die Wirkung der Einfiihrung dieses »Gutes« zu haben. Das
sitrlich Gute ist nichts anderes als dieses Vermogen, das »Ge-
rneingut« zu erschaffen oder zu verandern, Darin bundelt
sich der ganze Einsatz Kants beim Versuch, die Hierarchie
zwischen dem Guten und dem Gesetz umzukehren. Wenn
das Gesetz keine bestimmten Handlungen in Hinbli.ck auf
ein bereits bestehendes Gut vorschreibt, in dessen Dienst es
uberhaupt nur angerufen wird, dann kann das Gcsetz nichts
anderes sein als das Vermogen selbst der Hervorbringungdes Guten, Das einzig wahre sitrliche Gut konnte definiert
werden als Name fUr dieses Verrnogen.
Damit srehen wir an einem herausragenden, aber merk-
wiirdigerweise in der Kantischen Ethik iibergangenen
Punkt, der die Frage der Allgemeinheir betrifft.
Wenn Kant so sehr auf derTatsache beharrt, daB durch ein
Interesse, durch das Motiv eines subjektiven Gewinns gelei-
tete Handlungen auch dann nicht sittlich sind, wenn sie
durchaus vollig legal sein konnen, so tut er das, weil er dasAllgemeine nicht auf der Seite der Legalitiit ansiedelt, son-
dem auf der Seite des »subjektiven Getuinns«, Der subjekti-
ve Gewinn ist es, in dem sich das Allgemeine entfalten muB.Soweit dieser subjektive Gewin nden Charakter einer Beson-
derheit hat, kann er roe und nimmer Ort dieser Entfaltung
sein, sondern bleibt die subjektive Erganzung der legalen
Aligemeinheit. Ist dec subjektive Gewinn hingegen kein Be-
sonderes, sondern findet er sich durch die Verdoppelung der
Form singularisiert, dann bildet er eben diesen Ort. In der
11 Alain Badiou, L'ithlque. Essai sur la conscience du Mal, Paris, '993, S. 71.
Teilung der Form in Allgemeines (als Legalitat, d.h. als del' selbst. Dieser UberschuB bleibt der Form als Legalitat nicht
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Form des Gesetzes gemiill) und Singulares (subjektives Mo-
ment: die Form als Triebfeder del' Handlung), siedelt Kant
das wahre sittliche Allgemeine auf der Seite des Singularen
an. Man istvon del' ganzen Kantischen Rhetorik des katego-
rischen Irnperativs als reiner Form des Gesetzes, d.h. als
Vektor des Allgemeinen, so geblendet, d~ einem dieses
ganz entscheidende »Detail« leicht entgehr. Hatte Kant dasAllgemeine ganz einfach dem Gesetz zugeschlagen, weshalb
hatte er dann derart auf der subjektiven Bedingung des AlI-
gemeinen beharrt? Warum geniigt die Ubereinstimrnung mit
dem Gesetz nicht zur sittlichen Allgemeinheit? Weshalb die
Forderung, die reine Form des Gesetzes solle direkt den Be-
stimmungsgrund des Willens des Subjekts bilden, d.h. di e
Triebfeder seines Handelns? Weil es eben diese Triebfeder
oder dieser Bestimmungsgrund des Willens ist, der allge-
mein (oder veraligemeinerbar) sein mua.Wenn nun die Form die (alleinige) Triebfeder unseres
Handelns sein 5 0 1 1 , heiBt das niche, es kommt nur darauf an,
daB alles »auf den Formen« beruht? Wir haben schon gese-
hen, daf die Antwort auf diese Frage absolut negativ ausfallt.
Die Form ist keine Zweckursache, die gleichsam als »Mo-
dellvorlage- unseres Handelns dient; sie kann einzig die
Triebfeder dieses Handelns, seine immanente Kraft sein. Als
eine solche Kraft ist die Form im strengen Sinn formlo .
Wenn die Form als Legalitat (d. h. als Angemessenheit an dasGesetz) Form im klassischen Sinn des Begriffs ist (das, was
begrenzt oder entgrenzt), so ist die Form als Triebfeder dar-
in formlos, daf sie unbegrenzt ist. In gewisser Weise ist sie
ein »Uberschuii«, indem sie das Legale deformiert, urn den
Zugang zu einer anderen Allgemeioheit als der des Legalen
oder des Juridischen zu eroffnen: »das Juridische deformie-
ren« bedeutet irn prazisen inne, es durch Entzug seiner
Grenze zu transformieren. Die Form als Triebfeder ist keine
leere Form, wie man so oft in der Kantliteratur zu horen be-
kommt sie isr der Exzeii, der Uberschuf der Form uber sich
70
auBerlich, er kontarniniert sie von innen.
Ankniipfend an eine Formulierung Jean-Claude Milners
konnte man sagen, die ethische Form sei das, was nein zur
Ausnahme von der legal en Form sagt. Das irnpliziert, daB
der Begriff der Oberschreitung der Sirtlichkeit ganz fremd
ist, wohingegen er sich im Herzen der Legalitat findet. Man
kar in das Sirtliche nichtiiberschreiten, sehr wohl aber dieLegalitat. Die Sittlichkeit hat statt oder nicht, sie existiert
nicht vor dem ProzeB ihrer eigenen Entfaltung. Sie ist eine
singulare Legalitat, die mit der Forrnlosigkeit ihrer eigenen
Entstehung zusarnmenfallt. Ebenso ware das einzige im
strikten Sinne sinliche Urteil letzten Endes: »Das hat start-
gefunden« oder auch »nicht scattgefunden«, und nicht: »Das
ist gut« oder »Das ist bose«.
Wir kommen darnit wieder auf die Frage der »Transsub-
stantiation« der Form in Materie zuruck, von der im erstenKapitel schon die Rede war. Wenn man in der Ethik aile
»Materie« (aile besonderen Interessen, die als Ursachen un-
seres Handelns dienen konnten) beiseite zu lassen hat, dann
muB diese Materie als K raft der Form ioiederkehren, selbst
Triebfeder unseres Handelns zu sein. Kant besteht darauf,
daB die einfache Form des Gesetzes in der Sittlichkeit un-
mittelbar unseren Willen bestimmen mull. »Unmittelbar«,
das heiBt ohne jedes Eingreifen einer sinnlichen Vorstellung.
Dieser unmittelbare Charakter del' Bestimmung entsprichtjedoch streng der Verdoppelung der Form, die eine singula-
re, d.h. unmittelbar allgemeine Materie hervorbringt. In der
Tat konnte man hier von einer »alIgemeinen Singularitat«
sprechen, d.ieErgebnis der Konzeprion nicht eines allgemei-
nen (oder gemeinen) Guten, sondern einer Produktion des
Allgemeinen ist, In dies em Zusammenhang ist der »subjek-
rive Gewinn- (die Triebfedcr) nicht einfach del' Nutzen, den
ein Subjekt aus seinem Tun ziehen kann, man muB vielmehr
sagen, d~ das sittliche Subjekt uberhaupt erst aus diesem
»Gewinn« hervorgehr. Die personlichen Liiste und Interes-
7I
sen offnen sich gar niche auf das Allgemeine hin, wohinge- nur im Durchgang durch das Subjekt sein, das al1ein ihm die
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gen diese durch e in e Ruc k fa lr u ng [repli] der Form auf sich
selbst eingefuhrte singulare »Lust«, die man als »unperson-
l ichee Lust oder als »unpersonlichen« Gewinn bezeichnen
kann, Raum schafft fur eine ganz neue Subjektivierung, die
das Vermogen des Universellen besitzt. Das bedeutet, d~ je-
der sich in bezug auf diesen singularen Gewinn »subjekti-
vieren« kann.Die Tatsache der Wiederkehr der Materie als Kraft der
Form, Triebfeder unseres Handelns zu sein, wird belegt
durch jenes singulare Gefiihl, das KantAchtung nennt, Kant
unterstreicht von vornherein, daB die Achturzg nicht impli-
ziert, daBman das Gesetz beachtet oder Achtungfur das Ge-
setz hat. Es handeh sich hier vi elm ehr urn die Aufmerksam-
keit des Subjekts angesichts einer Ursache, die in ihrn wirkt
und die ibm nicht vertraut ist. Das Gefuhl der Achtung ist,
wie Kant sagt, »ein sonderbare(s) Gefiihl, welches mit kei-nern pathologischen in Vergleichung gezogen werden kann
... Es ist so eigennirnlicher Art, da£ es lediglich der Ver-
nunft, und zwar der praktischen reinen Vernunft, zu Gebo-
te zu stehen scheint.« (KpV, AI3S) Es handelt sich urn ein
Gefuhl, das nicht pathologisch, sondern praktisch ist, das
keinen ernpirischen Ursprung hat, sondern apriori bekannt
ist. Es ist die einzige Triebfeder der itrlichkeit, (KpV, AI3 3-
138) Die Achtung ist wie ein »Affektbetrag-, der auf seiten
des Subjekts entsteht, wenn die Form des Gesetzes sich inder Triebfeder verdoppelt und selbst als Triebfeder oder Ur-
sache zu wirken beginnt: sie ist nichts anderes als dieses letz-
te Stuck des Pathologischen, das eben nicht mehr im stren-
gen Sinn des Begriffs »pathologisch« ist, Es handelt sich urn
einen Affekt, der die Bestirnmung unseres Willens durch das
moralische Gesetz begleitet und zugleich selbst Ursache die-
ser Bestimmung ist. Wir finden hier die paradoxe Struktur
einer »unterbrochenen Zirkularitat« wieder, die im Mittel-
punkt der Kancischen Konzeption der Freiheit steht, Die
Form des Gesetzes ist Ursache ihrer selbst, aber das kann sie
Kraft der Ursache geben kann,
In Kants Theorie begegnen sich das moralische Gesetz
und das (sittliche) Subjekt somit auf zwei verschiedenen
Ebenen. Die erste Ebene ist die des Buchstabens, d.h. die
Ebene des kategorischen Imperativs, der »Porrnulierung«
des rnoralischen Gesetzes. Die andere Ebene, auf der Subjekt
und moralisches Gesetz aufeinandertreffen, ist von gaol. an-derer Natur: es ist die Ebene des Affekts oder auch des Gei-
stes, der nichts anderes als das Reale des Buchstabens ist, sein
Vermogen, uns »anzutreiben«, Man konnte sagen, daB wir
durch das Gefiihl der Achtung zu sinlichen Subjekten er-
weckt werden; tatsachlich handelt es sich urn eine Subjekti-
vierung uber den Affekt, uber ein singulares Gefiihl, dem ge-
genuber man nicht gleichgiiltig bleiben kann. Das bedeutet,
das sittliche Subjekt existiert nicht schon vor Entstehung
dieses Gefuhls, d. h. nicht vor der Begegnung mit dem mora-lischen Gesetz, und das ist auch der Grund, weshalb der Be-
griff des »moralischen Gewissens« inder K r itik d er p ra kti-
schen Vernunft absolut keine Rolle spielt, Kant betont ganz
im Gegenteil: »Hier geht kein Gefiihl irn Subjekt oorber, das
auf Moralitat gestimmt ware.« (KpV, AIH)
Kant wiederholt unermiidlich, daB der Wille in der Sitt-
lichkeit unmittelbar durch das moralische Gesetz bestimmt
sein mu!!. Man dad jedoch nicht die Konstruktion verges-
sen, die er braucht, urn zu dieser Unrnittelbarkeit zu gelan-gen. »Unmittelbar« soil vor allem heiBen, daB man nicht
vom moralischen Gesetz aIs solchem ausgeht, sondern von
del' Forrnalisierung seines Doubles oder seiner Kehrseite,
des Naturgesetzes »einzig auf die Form bin betraehtet«. Wir
haben bereits gesehen, daB der kategorische Imperativ niches
anderes als der Imperativ dieses formalisierten »Doubles«
ist, »Unmittelbar« impliziert scdann, daB dieses Double
selbst sich noch einmal in Form und Triebfeder verdoppelt,
oder auch, daB die Form dieses Doubles sich als Triebfeder
verdoppelt, Erst diese doppelre Verdoppelung erlaubt uns,
73
von einem Fall zu sprechen, in dem der Wille des Subjekrs lung des Begehrens aufrecht, transformiert aber zugleich das
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unmittelbar vorn moralischen Gesetz bestimmt worden ist.
Das ist von grolier Bedeutung fur unsere These, nach der die
Freiheit nur eine Sache der »Konstruktion« sein kann.
NatUrlich soli das n icl rt heiBen, die Freiheit sei eine »Chima-
re- oder eine »Illusion«, sondern: daf ihr einziges un be-
streitbar Reales von dieser Konstruktion oder »Montage«
der beiden Doubles abhangr, Anders gesagt ist diese Kon-struktion das Reale der Freiheit.
Man kann sich Kanrs Beharren auf der unrnittelbaren Be-
stimrnung unseres Willens auch verstandlich machen, indem
man sagt, die Form des Gesetzes (und nicht ein noumenales
Gesetz) muf unmittelbar bestimmend fur unseren Willen
sein. Das bedeutet, die Frage der unmittelbaren Bestimmung
stellt sich erst nach der ersten Verdoppelung, dort, wo man
es bereits mit dem »Typus« oder auch dem kategorischen
Imperativ als reiner Form des Gesetzes zu tun hat. Genaudiese Auffassung vertritt Kant faktisch. Aber auch in dies em
Fall ist das Unmittelbare nur »beinahe unmittelbar«, denn
die Verdoppelung der Form in der Triebfeder fiihrt in den
unmittelbaren Charakter dieser Bestimmung eine rninimale
Verschiebung ein. Der einzige Wille, der unmittelbar durch
das (moralische) Gesetz bestimmt ware, ware der gotrliche
Wille, weil man ihm »gar keine Triebfedern«, ja nicht einrnal
Achtung »beilegen konne«. Der gotdiche Wille, wenn er exi-
stiert, fallr vollstandig zusammen oder »ist eins« mit demGesetz. Fur em gottliches Wesen ist das Gesetz seine Natur.
Das heiBr auch, daB das gottliche Weseo kein Begehren
kennt, wahrend das »Begehrungsvermogen« als grundlegen-
de Struktur der Subjekrivitat in allem Handeln des Subjektes
wj~ksam bleibt. Die Sittlichkeit, so »rein« sie auch sein mag,
bleibt an das Begehrungsverrnogen gebunden, d. h. an die
Frage der Triebfeder, die die Kraft ihrer Entfalrung ist. Die
moralische Triebfeder, wie singular auch immer, bleibt den-
noch Triebfeder. Die doppelte Forderung »pflichtgernaf
und aus Pflicht« erhalt die wesentliche Spaltung oder Tei-
7 4
Begehren in seiner »N atur«, Fassen wir das noch genauer.
Das unbedingte Gesetz existiert nur in dieser minimal en
Verschiebung durch die Verdoppelung der Form in Form
und Triebfeder. Es ist weder der Buchstabe des Gesetzes
noch sein Geist (d. h. der Buchstabe als Triebfeder), sondern
das, was die »rninirnale Differenz« zwischen beiden bildet.
Genau hier liegt die ganze Macht der Kantischen Ethik. DasSubjekt hat keinen direkten Zugang zum Unbedingten. Die-
ser Zugang bleibt immer »verrnittelt« durch die Struktur des
Begehrens. Aber dieses verandert selber seine »Narur«, weil
es zu einem solcben Zugang wird. In seiner »gewohnlichen«
Funktion, so Wh sich sagen, kann das Begehrungsvermogen
keinesfalls einen Zugang zum Unbedingten bieten. ImGe-
genteil versperrt es diesen Zugang, weil es auf der Verschie-
bung zwischen den Handlungen und ihren Triebfedem be-
ruht, wahrend der Zugang zum Unbedingten einer Hand-lung eben davon abhangt, daB die Triebfeder der Handlung
selbst innewohnt. Das bedeutet jedoch nicht, daa diese Ver-
schiebung in der Sittlichkeit einfach ausgeloscht ist, sondern,
daB sic nun ins Innere del' Handlung oder auch ins Innere
der Pflicht ubergeht (der Pflicht gemaB und aus Pflicht), Das
Begehrungsverrnogen wird nicht ausgeloscht oder umgan-
gen, wo es sich urn eine sittliche Tat handel t: das moralische
Gesetz wirkt auf unser Begehrungsverrnogen, es operiert
durch die Kausalitat, die das Begehren impliziert, jedoch in-dem es ihm eine singulare Ursache bietet. Die Sittlichkeit
loscht das Begehren nicht aus, sondern artikuliert es anders,
und aus dieser Artikulation geht das Gefuhl der Acbtung
hervor.
Die Acbtung bezeichnet die Tatsache, daB sich die subjek-
tive Kausalkraft mit der Form (des Gesetzes) verknupft,
Wenn das geschieht, so hat diese Form wirklich die Kraft,
das Subjekt zu aktivieren und »anzutreiben«, Dieser Antrieb
verlauft durch die minimale Distanz, die die Zasur des Ge-
setzes (in Form und Triebfeder) impliziert, und ist moglich
durch die Tatsache, daB das moralische Gesetz einzig in der des Allgemeinen), die uns an den Grundgestus des Maso-
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Weise dieser Zasur existiert: sein Reale ist genau das, was
sich aus dieser »Montage« und aus diesen beiden Dingenlost.
c) Das Ding
Man muB indes feststellen, daB Kant oft versucht ist, auf dieLinie des Einen einzuschwenken, was zu einer Verdingli-
chung des Gesetzes und zur Antriebslosigkeit des Subjekts
fuhn, das dann versteinert vor diesem Ding steht. So findet
sich ausgerechnet in dem K ap it el, d as den Triebfedern der
reinen praktischen Vernunft gewidrner ist, folgende Passage,
Inder das Subjekt vollig bewegungslos, versteinert er-scheint:
»Es liegt so erwas Besonderes in der grenzenlosen Hochschar-
zung des reinen, von allem Vorteil embloBten. moralischen Ge-serzes, so wie espraktische Vernunft uns zur Befolgungvorstellt,
deren Stimme auch den kiihnsten Frevler zittern macht, und ihn
notigt, sich vor seincrn Anblicke zu verbergen: daB man sich
niehr wundern darf, diesen EinfluB einer bloB intellekruellen
Idee aufs Gefuhl fiir spekulative Vernunft unergriindlich zu fin-
den ... " (KpV, AI4! f.)
Hier zeichnet Kant das Bild eines von »grenzenlcser Hoch-
schatzung« fu r das moralische Gesetz iiberwaltigten Sub-
jekts, zitternd vor dessen Stirnme und die Augen nieder-
schlagend vor seinem Blick, das Bild eines eingeschiichterren
Subjekts, in dem man hum mehr das sittliche Subjekr wie-
derzuerkennen vermag. Wir sind hier weit enrfernt von der
Achrung als Gefiihl a pr ior i und Handlungsvermogen. Hier
haben wir es m it einern Gesetz zu tun, das schaut und spricbt.
Die Tatsache, dafi Kant in dieser Passage den Blick und die
Stimrne einfuhrt (diese beiden so ausgesprochen Lacanschen
Objekte), ist nicht ohne Bedeutung. Man konnte hier in der
Tat von einer Restitution des absolut Anderen sprechen
(d. h. eines Gesetzes, das vie! mehr ist als blof die reine Form
7 6
chismus gemahnt: den Anderen durch Stimme und Blick zu
erganzen (was einen Anderen ergibt, der uns demurigt, uns
beobachtet und uns Befehle erteilt).
Ganz im Gegensatz zu dern, was man als Kants Absicht
annehmen kann, macht er hier aus dem Gefiihl der »Ach-
tung« ein a s th e ti sc h es Ge fuh l. Das Gefi ih l der Achtung wird
nunmehr durch die Tatsache hervorgerufen, daB das Subjektdurch eine ganz bestirnmte Vorstellung seiner Beziehung
zum moralischen Gesetz geblendet wird: es siebt sich dem
Gesetz unterworfen, es sieht sich g ede miitig t u nd v era ng -
stigt, Kant fumt eine Zuschauerdimension em, eine Dimen-
sion, die sich au! den gleichen Rahmen beziehr, der auch fU r
das Gefiihl des Erhabenen gilt. In bezug auf dieses letztere
gibt Kant eine Bedingung sine qua non an: als Zuschauer
z.B. eines erschreckenden Naturschauspiels miissen W L r unsin Sicherheit, d. h. auBerhalb jeder unmittelbaren Gefahr be-linden. Der Anblick eines Orkans ist erhaben. Wenn der Or-
kan jedoch mein Haus bedroht, bernerkt Kant, dann hat das
Gefiihl des Erhabenen schnell ein Ende, und ich empfinde
nur noch Angst und Schrecken:
»Kiihne iiberhangende gleiehsam drohende Felsen, am Himmel
sich auftiirmende Donnerwolken, mit Blitzen und Kraehen ein-
herziehend, Vulkane in ihrer gaozen zerstorenden Gewalt, Or-
kane mit ihrer zuruckgelassenen Verwustung, der grenzenlose
Ozean, in Emporung gesetzt , ein hoher Wasserfall eines machti-
gen Flusses u. d. gl. machen unser Verrnogen zu widerstchen, in
Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit ,
Aber ihr Anblick wird rlur urn desto anziebender; je [iachtbarer
er ist, wenn wir uns nur inSicherheit befinden ....«22
Zur Entstehung des Gefuhls des Erhabenen muss en wir un-
sere Ohnmacht, unsere Bedeutungslosigkeit (als sinnliche
Wesen), unsere Sterblichkeit in aller Ruhe betrachten kon-
nen. Es ist also, als ob wir uns seiber wie durch ein Fenster
H Kr i ti k der Ur te i ls k ra f r (im folgenden KU), Werke Bd. X. B 10+. AI02 f.
7 7
betrachteten, durch das wir uns auf eine »unbedeutende
Kleinigkeit« reduziert sehen, auf einen Spielball von Kraf-
jektiviert. Nunmehr ist es machtig, ja allmachtig, es beob-
achtet und spricht, kurz, es ahnelt stark dem 'Ober-Ich
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ten, die unermeBlich starker sind a1swir, Die zweite Bewe-
gung des Erhabenen, in welcher wir uns daruber klarwer-
den, dag in uns selbst eine »noch groH.ere Kraft« als die Zer-
storungskraft der Natur existiert, bleibt an diesen gleichen
Fensterrahmen gebunden, der das Subjekt als sinnliches von
dieser Kraft scheidet, die zwar in ihm waltet, es aber auf diegleiche Weise »erschreckt- und »angstigt«,
Tatsachlich neigt Kant dazu, die Beziehung zwischen dem
Subjekt (als sinnlichem Wesen) und dem moralischen Gesetz
durch eine Art Hypostase des Gesetzes darzustellen und da-
bei zu vergessen, dafi das (moralische) Gesetz seinen eigenen
Bekraftigungen nach nur inder Verschiebung zwischen der
Form des Gesetzes und dieser Form als Triebfeder existiert,
Anders gesagt hypostasiert Kant das Gesetz, indem er es
durch eben das erganzt, was die subjektiven Triebfedern derMoral ausmacht, So wird das Gesetz zu einer das Subjekt
angstigenden Macht, start jenes Etwas zu sein, das die Macht
des Subjekts selber erweckt. Hier laBt sich eine Art »funda-
mentales Phantasrna« der reinen praktischen Vernunft er-
kennen, die Kehrseite des autonomen und aktiven Subjekts:
das ganz und gar passive Subjekt als reglose Materie, den
Launen des Gesetzes ausgeliefert. Auf keinen Fall darf man
vergessen, daB die Macht oder Kraft in der ittlichkeit immer
auf seiten des Subjekts liegt. Der Geist des Gesetzes, den wir
als Macht seines Buchstabens definiert haben, ist genau das,
was das Subjekt aus diesem Buchstaben rnacht, Die Rede von
einer Macht oder Kraft des moralischen Gesetzes bedeutet,
da13die prekare Zusammensetzung von »der Pflicht gemaB«
(legales Moment) und »aus Pflicht« (subjektives Moment)
sich aufgelost hat, daB man es nicht mehr mit der Zweiheit
zu tun hat, daB die beiden kiinftig Eines sind. Die Ver-
schmelzung dieser beiden Momente, die irnpliziert, daB das
Gesetz die Triebfedern (d.h. das subjektive Moment) absor-
biert, hat zur logischen Folge, daf das Gesetz selbst sich sub-
78
Freuds. Dieses Uber-Ich muB aber sehr wohl vom rnorali-
schen Gesetz unterschieden werden, das kein »inneres« Feld
der »auBeren« Autoritat 1St. LieBe sich die Sitrlichkeit
tatsachlich auf die Logik des Uber-Ich reduzieren, dann
ware sie weiter nichts als ein ausgezeichnetes Mittel fiir jede
Ideologie, die ihre eigenen Befehle als authentische, sponta-ne und »ehrbare« Neigungen des Subjekts auszugeben
sucht, Man muB also betonen, daB das Dber- Ich eine patho-
logische Formation (im Kantischen Sinn des Begriffs) ist,
worauf auch Lacan hingewiesen hat: "Was es [das Dber-Ich]
fordert, hat nichts zu tun mit dern, woraus wir mit Recht die
allgemeine Regel unseres Handeln machen konnten, das ist
das Einmaleins der analytischen Wahrheit.«23
In clef Tat laGt sich in Kants Schriften - insbesondere in
denen nach der Kritile der prektischen Vernunft - eine Ten-denz erkennen, aus dem rnoralischen Gesetz eine Art
-Uber-Ich« zu machen. Diese Tendenz wird begleitet vom
Auftauchen eines Begriffs, der was an sich schon berner-
kenswert ist, in der Kritik prakdsch iiberhaupt keine Rolle
spielt und gar nicht zu dercn Wortschatz gehort: das Gewis-
sen. In der Metaphysik der Sitten (Tugendlehre) hingegen
finden wir diesen Begriff, von sehr beredren Metaphern
begleitet: -jeder Mensch hat Gewissen«, sage Kant hier,
»und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, be-
droht ... « (Metaphysik, A99) Erneut stoBen wir hier auf den
Blick und die Stimrne, die in dieser »Beobachrung« und
»Bedrohung« gegenwiirtig sind. Kant fahrt fort: »Er kann
sich zwar durch Liiste und Zerstreuungen betauben, oder in
Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich
selbst zu kommen, oder zu erwachen, wo er alsbald die
[urchtbare Stimme [Hervorhebung A. Z.] desselben ver-
nimrnt.« Das Gewissen, heiBt es dann, »hat nun das Beson-
dere in sieh, dafi, ob zwar dieses sein Geschafte ein Geschaf-
23 Eth,k der Psychoanalyse, a .a .O v , S - 3 6 9 .
79
te des Menschen mit sich selbst ist, dieser sich doch durch Zu Beginn der Dialektik unterstreicht Kant, dafi sich das
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seine Vernunft genotigt sieht [Hervorhebung A. Z.], es als
auf das Geheifi einer anderen Person zu treiben«, (Metaphy-
sik, Aroo) Einmal mehr begegnen wir der Hypostase des
moralischen Gesetzes und ebenso dem Szenario des Phan-
tasmas der Passivitat, wo man sich den Befehlen des Ande-
ren preisgegeben und unterworfcn sieht,
Gegen diese fur die prekare Konstruktion der Freiheitvernichtende Konzeption ist darauf zu beharren, d a R die
Doppe1ung von »dern Gesetz gemaB« und »einzig aus Ge-
setz« fur die Ethik absolut unverzichtbar ist. Diese Deppe-
lung verhindert einerseits die Vermengung von moralischem
Gesetz und Dber-Ich, und andererseits stehr sie einer Auf-
fassung des Allgemeinen als formalem Rahmen entgegen, in
den das Subjekt sich einzupassen sucht. Wie wir gezeigt ha-
ben, ist das wahre Allgemeine nicht einfach auf der Ebene
des Legalen angesiedelt, sondern auf der Ebene des Sin-gularen, das durch die doppelte Artikulation der Form ins
Spiel kommt. Das Subjekt ist kein Agent des Gesetzes, es isr
nichts anderes als die Macht des Allgemeinen.
5. Das vollendete Gute
Die Dialektik (der reinen praktischen Vernunft), das zweite
Buch derKritik,
eroffnet noch eine andere Perspektive auf
die Ethik, In der Dialektik fiihrt Kant mehrere Begriffe ein,
die auf eine ganz andere Spaltung als die aus der Analytik
(zwischen »pflichtgemafl« und »aus Pflicht«) hindeuten,
Der Hauptgrund fur diese Veranderung liegt darin, dafi die
DiaJekcik sich unter dem Zeichen des Einen und seines Ge-
genstUcks, des »Ganzen« entfaltet, Der Unterschied zwi-
schen beiden Perspektiven verdient eine genauere Untersu-
chung nicht nur, weil die genaue Lektiire Kants das verlangt,
sondern vor allern, weil sie uns auf zwei sehr unterschiedli-
che erhische Konzeptionen aufmerksam machen kann.
80
hochste Gut auf zwei verschiedene Arten begreifen laBt. Es
kann das »oberste Gut« sein und damit »diejenige Bedin-
gung, die selbst unbedingt, d. i. keiner and em unte~geo~dn~t
ist«, Das is! der Begriff des Guten aus der Analytik, die die
doppelte Artikulation -pflichtgemaf und aus Pflicht« impli-
ziert. Der andere Begriff des hochsten Gures isrder des »voll-
endeten Guten« und darnit »dasjenige ganze, das kein Teileines noch groBeren Ganzen von derselben Art ist«. Es ist
dieser in der Dialekcik entwiekelte Begriff des Guten, der Be-
griff, der, wie Kant sagt, auf der volligen Angemessenheit des
Willens zum moralischen Gesetz beruht, der an die Stelle des
-pflichtgemaf und aus Pflicht« tritt. Wir konnen uns diesen
Unterschied graphisch folgendermaBen verdeutlichen:
Hochstes Gut- - . . ._ _ _ _ _ _
Dialektiknalytik
IOberstes Gut
I
Vollendetes Gut
eine Bedingung, die selbst
niche bedingtist
das Ganze, das nicht Teil
eines noeh
grO{~erenGanzen ist
Ivollige Angemessenheitder Pflicht gemaB unci
aus Pflicht«
Der Begriff der volligen Angemessenheit des Willens zum
moralischen Gesetz, d.h, der Begriff des heiligen Willens,
den die Dialektik postuliert, setzt als Horizont der Sittlich-
81
keit die Tilgung des Unterschiedes zwischen der Angemes-
senheit und den Triebtedern (weshalb die Frage der Triebfe-
mehr unter dem Blickwinkel des Bestimmungsgrundes des
Willens begriffen, sondern unter dem der »Totalitat der Be-
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dern fur einen heiligen Willen vollig bedeutungslos ist) und
fiihrt einen Unterschied oder eine Spaltung ganz anderer
Ordnung ein. Vollig zu Recht ist bernerkt worden, dag »der
Begriff eines unerreichbar bleibenden heiligen Willens einen
Graben zwischen dem Gesetz als solchem und dem katego-
rischen Imperaciv aufreifit«.14 In der Tat verschiebt sich nundie konstitutive Diskrepanz der Freiheit genau auf diese
Ebene, d.h. sie vollzieht sich in dem Abstand, der unsere
Handlungen vom Reich des Noumenalen trennt; und irn Be-
griff der Unerreichbarkeit JaBt sich am besten die Logik der
Dialektik und die spezifische, durch sie eingefuhrte Spaltung
zusammenfassen.
Das Hauptproblem der Analytik bestand darin, wie die
Freiheit, also die Aufnahme eines unbedingten Momentes in
eine Reihe von Bedingungen zu denken sei. Das Unbeding-te wurde eingehihrt als Besti mmungsgrund des Wi Ilens, d. h.
als Ursache, als singulare Ursache, die dennoch nicht eigent-
lich der Ordnung der Ausnahme angehi:irt. In der Analytik
ist das Unbedingte keine Ausnahme vorn Bedingten, 80n-
dern es fallt mit der Uberfuhrung von etwas nicht der Ord-
nung der Ursache Zugehorigem (die »reine Forrn« des Ge-
setzes) in Ursache zusammen, Eine unbedingte Handlung
ist eine Handlung, deren einzige Triebfeder die Form der
Allgemeinheit ist. Anders gesagt ist das Unbedingte nichteinfach ohne Triebfeder oder Ursache, sondern es ist Wir-
kung einer Ursache, die sich aus seiner eigenen Verdoppe-
lung in Form und Triebfeder ergibt, Es ist nicht aus der
Logik der Kausalitat ausgenommen, sondern tragt etwas in
diese hinein, was ihre Linearitat durchbricht, sie spaltet und
sie in eine Doppelbewegung verwickelt,
Die Dialekrik bringt eine ganz andere Perspektive mit
sieh. Das Unbedingte ist nicht mehr Ursache, es wird nicht
2 4 Jacob Rogozinski, Le don de la loi. Kant et l'enigme de l'ithjque, Paris,Col lege international de la phi losophie, PUP 1999, S. rz B .
dingungen«. (KpV, AI93) Das Unbedingte wird nunrnehrals
das Ganze der Bedingungen definiert. Alle Bedingungen
sind seiber bedingt, unbedingt ist nur die »absolute Tota-
litat« der Bedingungen. Die aus dieser Perspektive sich her-
leitenden Begriffe der Unsterblichkeit und der Unendlich-
keit in der Kantischen Theorie der Postulate (Posrulat derUnsterblichkeit der Seele und Postulat des Daseins Gottes)
werden der gleichen Logik unterworfen; Unsterblichkeit ist
das Ganze der Sterblichkeit, und Unendlichkeit ist das
Ganze der Endlichkeit,
In bezug auf die regulativen ldeen, die »theoretische«
Entsprechung der Postulate, gibt es ebenfalls eine gewisse
Veranderung. Was die regulativen Ideen angeht, bemerken
wir eine bestimrnte Hierarchic in dern Sinne, daB jede neue
Idee »rnehr umfagt«. So enthalten die psychologischenIdeen die »absolure Einheit des denkenden Subjekts«, die
kosmologischen Ideen die »absolute Einheit der Reihe der
Bedingungen der Erscheinungxund die transzendentale
Idee die -absolure Einheit der Bedingung aller Gegenstande
des Denkens irberhaupt«." Diese Hierarchic oder Gradab-
stufung irnpliziert jedoch keine Wechselwirkung dieser
Ideen und auch keinen irgendwie »umfassenden Begriff«,
der diesen Ideen eine notwendige Verkrnipfung miteinander
geben k6nnte ..Bei den Postulaten sieht die Sache anders aus, Der erste
wichtige Unterschied betrifft die aufierordentliche Stellung
des Freiheitspostulats. Irn Unterschied zu den beiden ande-
ren Postulaten, die Kant in der Dialektik clef reinen prakti-
schen Vernunft enrwickelt, ist die Freiheit Bedingung und
integraler Teil der Entwicklungen in der Analytik. Uberdies
ist die Freiheit im Gegensatz zu den beiden anderen Postu-
laten, die, wie Kant zu Beginn der Dialektik betont, nicht in
2 5 Knlik der reinen Vemunft (im folgenden KrV), Werke III-IV, B391,AJj4·
den Bestimmungsgrund des Willens eingehen, als solche un-
losbar mit dem moralischen Gesetz verknupft, ja sie ist die-
mit die Notwendigkeit ins Spiel, das Gottes- und das Un-
sterblichkeitspostulat erneut miteinander zu verkniipfen.
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ser Bestimmungsgrund selbst. So hat die Freiheit in der Kri-
tik der praktiscben Vemunft nicht nur die Funktion des Po-
stulats und somit einer notwendigen, aber nicht beweisbaren
Annahme, sondern sie ist als Bedingung jeder Sittlichkeit
auch ein Faktum, das Faktum der Vernunft. WiT haben gese-
hen, daB dieses »Faktum« sein Reales in einer gewissen»erhischen Konstruktion« finder, In gewisser Weise gibt. es
somit keine anderen wirklichen Postulate als das Posrulat
der Unsterblichkeit der Seele und das Postulat Gotres.
Der zweire wichrige Unterscbied zwischen den transzen-
dentalen Ideen und den Postulaten liegt darin, daB die Po-
stulate (genauer die beiden letztgenannten Postulate) einen
»ubergecrdneten« Begriff haben, namlich denjenigen des
hochsten Gutes. Das hochste Gut ist »der ganze Gegenstand
einer rein en praktischen Vernunft«, wie Kant sagt. Sowohldie Unsterblichkeit der Seele wie Gott werden postuliert,
damit die Verwirklichung des hochsten Gutes moglich sei.
Man muf sich in Hinblick darauf nicht nur klarmachen,
daB sich das hochste Gut »iiber« Gott und der Unsrerbl ich-
keit finder, sondern auch, daB man notwendig beide zusam-
men postulieren muB, daB beide (in Anbetracht des hoch-
sten Gutes) OMe einander gar niches ind, da f sie nur zu-
sammen ganz und gar die Rolle pielen konnen, die ihnen
zugedacht ist.
Schematisch gesprochen betrifft das Postulat der Uo-
sterblichkeit die Moglichkeit des unendlichen Fortschritts,
der Annaherung am Ideal der Heiligkeit des Willens, d.h.
ans Ideal der volLkommenen Angemessenheit des Willens an
das rnoralische Gesetz. Das Leben ist gewissermaBen zu
kurz, urn diese Vollkommenheit zu erreichen, und deshalb
setzen wir die M6glichkeit einer schluBendlichen Verbesse-
rung voraus, eines -Lebens nach dem Leben«, das weiteren
rnoralischen Fortschritt erlauben wurde. Hier und jerzr
komrnr eine Divergenz der beiden Gesichtspunkte und da-
8 4
Die Existenzdauer der Subjekte ermoglicht, selbst wenn sie
mit dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele als unendlich
gesetzt wird, von sich aus noch nicht das hochste GU[ und
den Zugang zu ihm. Einen solchen Zugang bietet erst und
einzig die Perspektive des gortlichen Standpunktes, denn
nur von diesem Blickpunkt her erscheint die (unendliche)Dauer als Einheit, als Totalitat,
Diese Vorstellung vom doppelten Gesichtspunkt ist be-
reits in der Kantischen Theorie der regulativen Ideen am
Werk, die den ieweiligen Blickpunkt von Verstand und Ver-
nunft artikulierr, Der Verstand ist mit der Erschaffung von
Begriffen und Reihen von Begriffen beschaftigt, und deshalb
bekommt er; wie Kant bemerkt, niemals deren Totalitdt in
den Blick. (KrV, B67I, A643) Diese Totalitat wird erst aus
der Perspektive der Vernunfr sichtbar. Darnit der Verstanddie Richtlinien der Vernunft beriicksichtigen kann, muB er
so »arbeiten«, daJ3.er sich an dern Punkr »idenrifiziert«, von
dern aus er durch die Vernunft gesehen wird. Mit den Postu-
Laten »erfullt« oder verwirklicht sich gleichsam diese Kon-
stellation, Das Subjekt verkorpert nun die Perspektive des
Verstandes, Es ist direkt in den (unendlichen) Verbesse-
rungsprozef eingebunden und ist damit beschaftigt, eine
Art »rnoralische Reihe« seiner Existenz hervorzubringen,
deren Totalitat es aus eben diesem Grund auch nicht sehen
kann. Gott verkorpert in diesem Kontext den Blickpunkt
der Vernunft, die in diescr Reihe eine Totalitat sieht:
»Der Unendlicbe, dem die Zeitbedingung niches ist , sieht, in die-
ser fur uns endlosen Reihe, das Ganze der Angemessenheit mit
dem rnoralischen Gesetze ... Was dem Geschopfe allein in Anse-
hung der Hoffnung diescs Anteils zukommen karin, ware das
Bewufltscin seiner erpriiften Gesinnung, urn aus seinem bisheri-
gen Fortschrirte vom Schlechteren zum Moralischbesseren und
dem dadurch ihm bekanm gewordenen unwandelbaren Vorsat-ze eine fernere ununrerbrochene Fortsetzung desselben, wie weit
85
seine Existenz auch immer reichen mag, selbst tiber dieses Leben
hinaus, zu hoffen, und so, zwar niemals mer, oder in irgend ei-
liche, von niederen, zu den hoheren Stufen der moralischen
Vollkommenheit, rnoglich.« CKpV , Au I) Wir beharren auf
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nern absehlichen kiinftigen Zeitpunkre seines Daseins, sondern
nur in der (Gott ailein ubersehbaren) Unendlichkeit seiner Fort-
dauer, dem Willen desselben ... vollig adaquat zu sein.« (KpV
A212 f.)
Interessant zu beobachten ist in den zitierten Satzen, wie
Kant eine Unterscheidung zwischen dern »Unendlichen-und der unencllichen Existenz eines Wesens trifft. Er betont,
dag dem Unendlichen "die Zeitbedingung nichts ist«, und
irnpliziert damit offensichtlich zugleich, dag die Zeitbedin-
gung fur die unsterbliche Seele jederzeit gilt. Aus einer sol-
chen Perspektive stellr sich das Unsrerblichkeitsposrular als
recht ungewohnliches Postulat dar: die Unsterbliehkeit der
Seele postuliert gar nichts Ubersinnliches, sondern vielmehr
die unendliche Fortdauer des Sinnlichen, also dessen, was
der »Zeitbedingung« unterworfen ist. Sehen wir noch ge-nauer zu, was das Unsterblichkeitsposrulat irnpliziert.
Die Kantische »Deduktion« clieses Postulats ist kurz und
verdient, aushihrlich zitiert zu werden:
"Die vollige Angemessenheit des Wtllens aber zum moralischen
Gesetze ist Heiligkeit, eine Vol lkommcnhei r , deren kein ver-
ruinftiges Wesen der Sinncnwclt, in keinern Zeitpunkte seines
Daseins, f ah ig i st . Da si e indessen gleichwohl a l s p r ak ri s ch not-
wendig gefordert wird, so kann sie nur in einem ins Unendliche
gehenden Progressus zu jener volligenAngemessenheit angerrof-
fen werden ... Dieser unendliche Progressus is t aber nur unter
Voraussetzung einer ins Unendliche fortdau ernden Existenz und
Personlichkeit desselben vernunftigen Wesens (welche man die
Unsterblichkeit der Seele nennt) moglich, Also ist das hochste
Gut, prakrisch, nur unrer der Voraussetzung der Unsterblichkcit
der Seele moglich, michin die e, als unzertrennlich mit dern rno-
ralischen Gcsetz verbunden, ein Postulat der reinen praktischen
Vernunft ...« (KpV,Aaao)
Kurz danach betont Kant noch einmal: »Einem vernunfti-
gen, aber endlichen Wesen ist nur der Progressus ins Unend-
86
diesem Punk t von Kants Text, w eil er u ns deutlich di e Para-
doxie erkennen Bilk ein endliches Wesen hat nu» die Mdg-
lichkeit eines Progresses ins Unendliche. Genau das folgt aus
der grundlegenden Logik der Dialektik: Das Unendliche
Coder Unsterbliche) ist eine Funktion des Endlichen Coder
Sterblichen).Das Paradox des Pcstulats der Unsterbiichkeit der Seele"
ist also folgendes: Wenn die Seele unsterbl ich ist, so ist sie
nach dem Tod des Korpers nicht langer »Bewohner« der
durch Raum und Zeit bestimmten Welt. Und wenn die See-
Ie nicht mehr in der Logik der Zeit gefangen ist, dann weill
man nicht mehr recht, wozu der »Progressus ins Unendli-
che« dienen sol1, "von niederen zu den hoheren Stufen der
moralischen Vollkommenheir«. Was die aus ihren korperli-
chen Bindungen (d.h. von der Sinnlichkeit) geloste Seele be-trifft, so ist kein rechter Grund mehr hir die Notwendigkeit
eines solchen Fortschreitens einzusehen, denn nun. konnte
die »Heiligkeit des Willens« augenblicklich verwirkl icht
werden. Ware dem nicht so, wiirde die Unsterblichkeitsan-
nahme weiter unaufhorlichen Wandel (zum Besseren) imp li-
zieren, dann harten wir es gar nicht mit Unendlichkeit zu
tun, sondern schlicht und einfach mit Zeitlichkeit. Der Be-
griff der Veranderung hat i.iberhaupt nur unter dem Blick-
punkt der Zeit Sinn. Was sollen wir also von diesem parade-
xen Status der Unsterblichkeit der Seele halten?
Klar ist, daB Kant eigentlich keine unsrerbliche Seele im
Sinn eines Unendlichen zu postulieren braucht, sondern
vielrnehr die unendliche Fortdauer eines endlichen Dings ..
Anders gesagt: das Posrulat, das Kant benotigt, urn die Mog-
lichkeit des hochsten Gutes sicherzustellen, ist nicht das Po-
stulat der Unsterblichkeit der Seele, sondern vielmehr das
2 6 Schon Lewis White Beck hat auf dieses Paradox hingewiesen; vgl. sein
Commentary 011 Kant's Critique of Practical Reason, London und Chi-
cago 198.\. S. ]70-171.
dec Unsterblicbkeit des Kbrpers. Die Vorausserzung des
»Progressus ins Unendliche, von niederen, zu den hoheren
stulat der Existenz eines unbedingten Ganzen betrachtliche
Folgen fur die subjektive Konfiguration hat, die diese Ethik
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Stufen der moralischen Vollkornmenheit« kann nicht die un-
sterbliche Seele sein, sondcrn kann nur ein unsterblicher, un-
zerstorbarer, kurz: ein erhabener Korper sein. Der in der
Zeit existierende Korper, der sich in der Zeit wandelt und
sich seinem Ziel, clem Punk t seines Todes, in einer asympto-
tischen Bewegung ins Unendliche nahert."Diese unendliche Bewegung indes muG sclber ein Ganzes
ausmachen, wofiir das Postulat der Existenz Gottes sorgt,
der »i n dieser fur uns endlosen Reibe das Ganze der Ange-
messenheit m it dem moralischen Gesetze« sieht.
Nun Wh sich die durch die Dialektik eingefiihrte Per-
spektive auf die Ethik schon genauer formulieren. Der Un-
terschied zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten,
wie ibn die Dialektik setzt, ist, wie wir gesehen haben, der
Unterschied zwischen den besonderen Elernenten und ihrerTotalitat oder ihrem Ganzen. Dieses Ganze ist den mensch-
lichen Subjekten absolut unzuganglich, muG aber zugleich
praktisch postuliert werden. Man muB sagen, daB das Po-
17 Inreressant in bezug auf das Unsterblichkeitspostulat ist auch seine merk-
wiirdige abe zurn Sadeschen Phantasma. In der Darstellung von J.-A.
Miller liegt das grundlegende Problem der Sadeschcn Peiniger in der Tat-
sache, daB sie ihre Opfer nUTbis zu deren Tod foltern konnen. Das ein-
zige, was die Inszenierungen der Sadeschen Szenen - die als Fortschrin zu
irnmer »vollkommeneren« und raffinierteren Foltern ins Unendliche wei-
eergehen konnten - beeintrachtigt, isr der in bezug auf das : iullerste Lei-den, da s man den Opfern zufi igen konnre, Zit [ruhe Tod. In Hinblick auf
da Noch einmall, das Bestimmung und Imperat iv des Geniellens ist , wird
das Ende zu schnell erreich t. Das Problem liegt, kurz gesagt, dar in, dall
der Korper nicht nach dem Mall des Geniel!cns gemacht ist, ! : : . S gibt kein
anderes Genid!en als das des Korpers, abcr wenn der Kerper dem Ge-
nieBen angemessen sein soll, mullte er die Grenzen des Korpers uber-
schreiten,
Sades Losung in Hinblick auf die Unmoglichkeit der Uberwindung die-
set Hii rde ist das Phantasm a des unendlichen Leidens, das aus dem Tod et-
was im trengen Sinn Bedeutungsloses machr : man Iolrer t die Opfer ins
Unendliche und iiber die Grenzen jeder Vorsrellung hinaus, und doch le-
ben die Opfer weiter und werden sogar immer schoner •• heiliger«, kurz:
erbaben.
8 8
impliziert, Das Ganze (oder Unbedingte) wird auf seiten des
Subjckts zur Summc der dem Ganzen (noch) fehlenden Ele-
mente. Das Unbedingte als Ganzes dec Bedingungen ist dem
Subjekt nicht unzugangiich, wei I es in einern Jenseits des
Subjekts angesiedelt ware, sondern weil das Subjekt selber in
ib m im pliz ie rt, » ein ge ta uc ht« is t (d. h. weil d as S u bje k t mitseinen Handlungen die Elernente des Ganzen konstiruiert,
urn das es gehr) . Nun findet sich dieses Ganze seinerseits
iiber die Funktion des Mangels, d.h. dessen, was zum
Ganzen noch fehl t und was seiber Objekt wird, Mangel!
Leere als Objekt, in der Sphare des Subjekts verkorpert. Aus
diesern Grund ist die durch die Perspekrive der Dialektik
eingefiihrte Diskrepanz die Diskrepanz (oder Leere), in der
die Be timmung des Endlichen, des Sinnlichen, ins Unendli-
che forrgeht.Es ist vollig richtig, d.ill der Kantische Begriff der Un-
sterblichkeir der Scele nichts mit dem Unsterblichkeitsbe-
griff der Tradition und nichts mit irgendeinem Paradieses-
versprechen zu tun hat. Vielleicht hat er nicht einmal etwas
mit dem zu tun, was Lacan in diesem Kantischen Posrulat er-
kennt, narnlich »dag es irgendwo Platz fur die Verbuchung
geben muB«.28Genauer ist die fragliche Verbuchung keine,
die Vergelrung impliziert, sondern diejenige, die alles als eins
bucht, Darnit das hochste Gut verwirklicht werden kann,
muss en aile Handlungen und Bewegungen des (menschli-
chen) Lebens als Eins gebucht werden. Der Platz der Ver-
wirklichung dieser »als Eins-Buchung« isr der Platz Ganes.
Nun kann gar nichts als Eins gebucht werden, wenn nicht
cine Leere mirgezahlt wird. Anders gesagt werden im (irn-
mer vorstellenden) Zahlen fu r Eins die Teile und das Leere
gczahlt ohne das es keine Vorstellung vom Ganzen gabe.
Das fragliche Leere wird mit dem Unsterblichkeitsposrulat
eingefiihrt, Gott registriert aile Taren einer menschlichen
2 8 Die Ethik der Psychoanalyse, a.a.O., S. 378.
Existenz plus das Leere, d.h, die »Virtualitat« dessen, was
(wegen des Zwischenfalls des Todes) nicht stattgefunden
sen Befriedigung oder die Verwirklichung dessen gemeint
ist, was das Begehren will. Man weiB, daf das »begehrte Ob-
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hat, jedoch logisch rnoglich ware.
In bezug auf das durch die Postulate der Unsterblichkeit
und der Existenz Gottes eingefiihrte ethische Dispositiv ist
nun sehr interessant zu bemerken, daB es sich zwei ge-
gensatzlichen Perspektiven zu offnen scheint: der Perspekti-
ve der unendlichen Annaherung an den Grenzbegriff desheiJigen Willens (d. h. der vollkommenen Angemessenheit
des Willens an das moralische Gcsctz) und der Perspektive
der Verwirklichung und Vollendung, auf der Kant ebenso
beharrt, auch wenn er sich weigert, sie in diesern Leben an-
zusiedeln. Tatsachlich sind wir, sobald es ein als Eins-Bu-
chen gibt, norwendigerwei e chon in dessen Verwirkli-
chung begriffen, einer anderen Verwirklichung zwar als der
in der Analytik irnplizierten, aber nichtsdestoweniger inei-
ner Verwirklichung. Auch wenn sich Kant nun weigert, die-se Verwirklichung in unserem phanornenalen Leben anzu-
siedeln, und betont, dies sci ganz unmoglich, ist doch das
Dispositiv, das er als Moglichkeitsbedingung einer solchen
Verwirklichung einfiihrt, unserer sittlichen Erfahrung ganz
und gar niche fremd. Es ist im Gegenteil das Dispositiv selbst
dessen, was man als »klassische Ethik« bezeichnen konnte,
Besonders bernerkenswert wird das, wenn man vor dem
Hintergrund der Kantischen Theone der Postulate den La-
canschen Kommentar zu Antigone (wieder) liest. Das Dis-
positiv Antigones ist genau dieses »dialektische« Dispositiv
In bezug auf den Lacanschen Antigone-Kommentarwird zu
sehr das »nicht ablassen von seinem Begehren« betont, Aber
Lacan pragt noch einen anderen, rnerkwiirdigeren, beunru-
higenderen Ausdruck, der unsere Aufmerksamkeit verdient:
d ie R ea li sie ru ng d es B egeb rens . In der Tat konnre man sagen,
das Wesentliche an Antigones Position liegt genau darin, daB
sie ihr Begehren realisiert. Was bedeutet nun diese »Realisie-
rung des Begehrens«?
Klar ist, daB mit der Realisierung des Begehrens nicht des-
jekt« in der Lacanschen Theorie niche existiert. Was existiert,
ist das verlangte Objekt, das Objekt des Anspruchs; und es
existiert auch die Objekt- Ursache des Begehrens, die kei-
nerlei positiven Inhalr hat und sich auf das bezieht, was man
erhalt, wenn man die im gegebenen Objekt gefundene Be-
friedigung vom Anspruch auf dieses Objekt abzieht. DasBcgehren im Kern verknupft mit dieser Logik der Subtrak-
tion, die eine (potentiell) unendliche Metonymie nach sich
zieht, ist gar nichts anderes als das, was im Universum des
Subjekts das Inkornmensurable, d.h. ein u ne nd lic be s Ma fl
einfuhrt und artikuliert. Das Begehren ist nichts anderes als
dieses »unendliche MaB«_ In dieser Perspektive bedeutet
»sein Begehren realisieren«: das Unendliche, das unendliche
MaB realisieren, »errnessen«, Aus dieser Sicht bemerkt La-
can: »Und deshalb wird die Frage der Realisierung des Be-gehrens norwendig in der Perspektive des Jiingsten Gerichts
formuliert. Versuchen Sie sich zu fragen, was das heiBcn
kann: sein Begebren realisiert zu haben - wenn nicht, es,
wenn man so sagen karin, am Ende realisiert zu haben.e"
Halten wir inne und kehren wir zuriick zu Kant. Kant
setzt als norwendiges Objekt des Willens »die Bewirkung
des hochsten Guts«, die, wie wir gesehen haben, eben die
Realisierung cines unendlichen MaBes (d.h, der »Grenze«
zwischen Gesetz und katcgorischem Imperativ) impliziert
und sich in der Tat in Parallele zu Lacans -Realisierung des
Begehrens« setzen laBt. Wie fiir Lacan, handelt es sich auch
fu r Kant nicht urn die Realisierung eines besonderen Gutes,
das hier das hochste Gut ware. Es handelt sich nicht urn die
Realisierung eines Objekts im gewBhnlichen Sinn des Be-
griffs: das hochste Gut ist definiert als die vollkommene An-
gemessenheit des Willens zurn moralischen Gesetz und
nicht als dieses oder jenes Objekt. Somit handelt es sich urn
die Realisierung eines ganz und gar singularen Objekts, in
29 A _a _ O _ , S _ 3P-
dem sich das Leere verkorpert, das aile gegebenen Objekte
vom »vollendeten« Ding scheidet. Realisierung des hoch-
wird. Sie klagt uber all das, was sie durch ihren vorzeitigen
Tod verliert, Bei genauerem Zuhoren merkt man sehr gut,
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sten Gutes bedeutet Realisierung dieses Mangels, dessen,
was (noch) mangelt, Darnit die Realisicrung des hochsten
Cutes rnoglich sei, muf Kant das Postular der Unsterblich-
k e ir d er Seele einhihren, mit dem sich das Feld e ines Jenseits
des Todes Offner, das dem Subjekr cincn Bezug zu einem an-
deren Ende als dem durch den Zufall des Todes eingefuhrrenermoglicht (das Problem mit dern Tod liegedarin, daB er sich
nicht als Ende irn Sinne der Vollendung des sittlichen Pro-
zesses begreifen laBt, sondern vielmehr nur als dessert Un-
terbrechung). Nur aus der Perspektive dieses (anderen) En-
des laBt sich die Frage der Realisierung des hochsten Gutes
stellen. Dieser Blickpunkt - der einzige, von dem her unser
Dasein als Totalitar erscheint, in einer Art Urteil oder des
».~lsEin~-Buc~ens« - wird durch das zweite Postulat einge-
fuhrt: ~Ie .Exlstenz Gottes. Dieser Rahmen ahnelt ganzrnerkwurdig dem, woven Lacan in der E th ik d er P sy ch oa na -
lyse in bezug auf Antigone spricht: einerseits ein Sein zwi-
schen zwei Toden als »Purgatorium des Begehrens« und an-
dererseits di e Perspekrive des Jiingsten Gerichts.
Von einem bestimmten Moment des Stiicks an findet sich
Antigone "zwi~che? zwei Toden«, sic ist »lebendig begra-
ben«,und das 1St em qualendes Bild jener Unsterblichkeit
des Korpers, die wir als das Reale des Kantischen Unsterb-
lichkeitsposrulats ausgemacht haben. Ihr Korper ist dazuverdammt, fur cine gewisse Zeit im Grab wciterzuexistieren
~der zu leben. Was den anderen Punkt angeht, die Perspek-
trve des »[ungsten Gerichts« oder auch des »als Eins-Bu-
~hens«,.so bildet er das Herz der strittigen Klage Antigones,
in der sie unter anderem davon spricht, kein Brautbett, kei-
nen Ort des Hymens, keine Kinder gehabt zu haben ... Was
spielt sich in dieser Klage ab?
In ihr legt Antigone die Distanz zuriick, die den Moment
ihres Sprechens (und ihres bevorstehenden Todes) Yom
Ende trennr, von jenem Moment. in dem alles vollbrachr sein
93
daB es in dieser Klage nicht um den Verlusr dessen geht, was
sic hat (oder hatte). ie beklagt den Verlust dessen, was sie
nicht hat und was sie (vielleicht) haben konnte, wiirde sie
weiterleben. Sie macht sich daran, den virtuellen Rest ihres
Lebcns v or sic h ablaufen zu lassen, und dieser Rest is t u nd
vollendet sich nur in dieser Opfergeste; sie erschafft ihn, in-dern sic ihn opfert. Sie realisiert diesen virtuellen Restiiber
seinen Verlust, d. h. indem sie ihn als verloren nimmt. Die
Srrukrur des Verlustes dessen, was man gar nicht hat, ent-
spricht nun genau dern, was wir oben als ..Realisierung des
Mangels- bezeichner haben, Diese Geste macht der Met-
onymie des Begehrens ein Ende, indem sie auf einen Schlag
das unendliche Potential dieser Metonymie realisiert.
Antigones Klage ist fur den Text absolut unverzichtbar;
sie zeigt nicht, daB die Heldin plotzlich »weich« und-mensch l ich« geworden is t (eine Lekt i i re , die zu einigen
Zweifeln an der Aurhentizitat dieser Passagen gefuhrt hat).
sondern sie zeigt vielmehr, wie Lacan unterstreicht: »fur An-
tigone ist das Leben erreichbar, kann das Leben gelebt und
reflektierr werden allein von dieser Grenze her, an der sie das
Leben bereits verloren hat, an der sie bereits jenseits ist -
doch von da her k ann sie es se be n [Hervorhebung A. Z.], es
Lebenin Form eines Verlorenen.v" Man wird das Kantische
Dispositiv in dieser Feststellung bemerken: es geht urn dieEinnahrne eines Blickpunktes, von dem her sich das
»Ganze« des Lebens wie von auBen sehen liifh, von dem aus
dieses Leben also ein Ganzes bildet. Erst nach ihrer Tat fin-
det Antigone eine subjektive Position, von der aus sie
zuriickblicken und sagen kann: »Das war es, das war mein
Begehren« oder auch: »Das ist es, das bin ich.«
Das Unendliche, das in dieser Figur des Begehrens am
Werk isr, ist das der »negativen Gr6Be«. Das Unendliche ist
es, was sich im Verlauf eines Strebens einstellt, das niemals
}O A.a.O., S. 3)6.
endet (das ewige »das ist es nicht«). Nachdem wir schon ein
gutes Snick unseres Weges zunickgelegt haben, bleibt der
ter Handlungen begnugt. »Realisierung des Phantasrnas«
bedeutet ganz offensichtlich nicht »Realisierung dessen,
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vor uns liegende Weg noch immer unendlich, er hat kein
(notwendiges oder »strukrurelles«) Ende. Aus diesem
Grund bringt der Gedanke der »Realisierung des Begeh-
rens« (d. h. der Realisierung des Unendliehen) als Antwort
eine gewisse Hast in s Spiel, eine Ubereilung, die diesem
»schlechten Unendlichen« ein Ende macht, Es handelt sichurn eine Tat, die, wenn sie gluckt, das Unendliche (des Be-
gehrens) sichtbar macht ..An einer besrimmten Stelle seines
Kommentars sagt Lacan in der Tat, Antigone sei »das sicht-
bare Begehren«, Der Fall Antigone zeigt sehr gut, da~ das in
den beiden Kantischen Postulaten implizierte Dispositiv
nicht notwendig bedeuter, daB man sich irn Unendliehen
dem Ideal der Heiligkeit des Willens annahert, wahrend man
auf das »[ungste Gericht« wartet. Antigone erwartet nicht
das jungste Gericht, sie erwartet nicht, daB der Andere sich
tiber sein oder ihr Begehren ausspricht: sie tut es seJbst. Da-
mit diese Realisierung des Begehrens (die man tatsachlich als
autonorn bezeichnen kann) moglich sei, muG man auch eine
zeirliche und raumliche Dimension in den Tod einfuhren=-
eine zeicliche Sequenz, in deren Verlauf der Tod gelebtwird,
d.h. wiihrend welcher das Leben (des Begehrens) gemessen
werden kann. Es braucht eine Zeit fur die letzte Klage, und
es braucht einen Raum, von dem aus sie ausgesprochen wer-
den kann. Anders gesagt braucht es das Dispositiv, das die
beiden Kantischen Postulate implizieren, oder, in Lacan-
sehen Begriffen, das Dispositiv des Phantasmas. Nun mag es
paradox scheinen, die Figur Antigones an die »Logik des
Phantasrnas« zu binden, denn ist sie nicht vielmehr im Ge-
genteil die ethische Figur par excellence? Das ist sic, aber
nur, weil man zugeben muG, daE es eine gewisse »Ethik des
Phantasrnas« gibt. Die Ethik des Begehrens is t die Ethik des
Phantasrnas, und zwar genau insoweit sie die »Realisierung
des Phantasmas« oder auch die »Realisierung des Begeh-
rens« voraussetzt und sich nicht mit der Metonymie verfehl-
94
woriiber man phantasiert« oder auch »Handeln start Phan-
rasieren«, Die Realisierung des Phantasmas bezieht sich auf
das Phantasma als grundlegende Struktur des menschliehen
Bezugs zum Begehren (der seinem Wesen nach Bezug des
ichtgelingens und des Nichtvollendens ist) und nicht auf
dieses oder jenes besondere Phantasma. Sie impliziert dieAbschaHung dieser Struktur selbst, cine Abschaffung, die
mit der Erhillung zusarnmenfallt und jenseits der es nichts
mehr gibt und wo man nur noeh, von diesem »nichts mehr«
ausgehend, ex nihilo neu beginnen kann. Die Bedeutung die-
ses letzten Begriffs inder Ethik der Psychoanalyse ist niche
zufiillig, denn das ex nihilo 1St der Ethik des Begehrens we-
sentlich, und die Ethik, die Lacan in dies em Seminar entfal-
tet, ist die Ethik des Begehrens. In anderen Seminaren ent-
wickelt Lacan eine ganz andere Perspektive auf die Ethik als
die des »reinen Begehrens-, aber im Augenblick interessiert
uns nur diese Ethik des Begehrens.
Der Begriff derTat im Seminar tiber die Ethik der Psycho-
analyse ist der Begriff eines letzten Aktes, eines abschlielien-
den Aktes ohne jedes »danach«, einer Handlung, die etwas
beendet: Erinnern wir uns noch einmal an deo schon zitier-
ten Satz: »Versuchen ie sich zu fragen, was das heiflen kann:
sein Begebren realisiert zu haben -wenn nicht, es, wenn man
so sagen kann, am Ende reali iert zu baben.« Die Realisie-
rung kommt einer Vollendung in jedem Wortsinn gleich.
Das bringt das Subjekt urn, danach gibt es nichts mehr, das
ist das Ende; und die Moglichkeit eines Neubeginns. Anders
gesagt ist der Begriff des Aktes hier nicht der eines inaugura-
len Aktes, sondern ganz im Gegenteil der einer schwer zu er-
reichenden Unterbrechung oder eines schwer zu erreichen-
den Abschlusses, der eine neue Eroffnung ermoglicht, ohne
jedoch mit ihr zusammenzufallen. Dasselbe konnte man
tiber den Begriff der (sittlichen) Handlung inder Dialekrik
der reinen praktischen Vernunft sagen. Ihr Dispositiv ist
95
nicht einfach das einer unendlichen Annaherung ans Ideal
der vollkommenen Angemessenheit des Willens zum mora-e nur im Modus cines (anderen) Verlustes realisieren kann.
Aus diesem Grund sagt Lacan in seinem Text »Subversion
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lischen Gesetz (»eine Vollkommenheit, deren kein vemiinf-
tiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkre seines
Daseins, fahig ist«). Es ist genau diesc Unmoglichkeit der
Vollkommenheit oder Vollendung, die die Einfiihrung der
beiden Postulate erforderlich macht, So paradox es scheinen
mag, die Postulate der Unsterblichkeit der Seele und der Exi-stenz Cortes sollen gerade die Moglichkeit eines Endes si-
cberstellen (und eines »Ganzen«, eines als Eins-Buchens).
Geht man von de r absoluten Kluft aus , die das Begehren von
seiner Ursache trennt - und genau das tut Kant in der Dia-
lektik -, dann muB man sagen, daB es ohne Gort Coder ir-
gendein jungsres Gericht) und ohne Unsrerblichkeit niemals
ein Ende gabe, Man harte es mit einer endlosen Fortsetzung
zu tun, die zwar sicherlich vom Tod unterbrochen werden
kann, aber das ware dann die Unterbrechung eines unvoll-
endeten Prozesses und nicht die Vollendung dieses Prozes-
ses , Auch in Antigone wird das deutlich in der Oberfiihrung
des Todes als etwas, das uns zustoflt, in einen Ort: Antigone
wird verurreilt, lebendig ins Grab gesperrt zu werden, aus
dern so ein Raum ode! ein Schauplatz fur die Erfiillung wird.
Wichtig ist nicht, daB der Tod statthat, sondern daB er Start,
Ort ist, der Ort, an dem sich Leben und Handeln des Sub-
jekts krisral l is ieren, Die Ethik des Begehrens impliziert den
lmperativ der Fortsetzung oder des Prozesses ohne Ende
(»das ist es (noch) nicht«), aber sie impliziert auch einen letz-
ten Akr; der das Unendliche des Bcgehrens sichtbar macht,dem er sich verdankt.
Das Epizentrum dieses Dramas des Begehrens (denn es
handelt sich wahrhaftig um ein Drama) ist das Ding - das
Ding, um das das Seminar tiber Die Ethik der Psychoanalyse
heist und in dem Lacan den On des Geniefiens ausmacht.
Die Ethik des Begehrens implizien, daB kein Genielien oder
keine Befriedigung auf der Hohe jenes GenieBens ist, das
dem Subjekt nur imModus des Verlustes bekannt ist und das
96
des Subjekts u n d D i al ek ti k des Begehrens i rn Unbewufs te n« ,
der »Weg der griechischen Tragodie« fiihre »bis in den hoch-
sten Narzi.Bmus der verlorenen Sache« hinein." Genau die-
se Erfahrung des Unbefriedigenden der Befriedigung betont
auch Kant in folgender, merkwiirdig »psychoanalyrischer«
Passage clef Dialektik:-Die asthetische [Zufricdcnheit] (die uneigentlich so genannt
wird), welche auf der Befriedigung der Neigungen, so fein sic
auch immer ausgeklugelt werden mogen, beruht, kann niernals
dern, was man sich dariiber denkt, adaquat sein. Denn die Nei-
gungen wechseln, wachs en mi t der Beglinstigung, die man ihnen
widerfahren l a B £ , und lassen immer noeh ein groBeres Leeres
ubrig, als man auszufiil len gedacht hat.« (KpV, A1U)
Der abschlieliende Charakter der Handlung (oder auch der
Sittlichkeit) und der Nicht-Bezug zwischen dem Begehrende r Befriedigung und der Befriedigung selbst haben zwe i
wichtige Folgen, die sich sowohl bei Lacan wie bei Kant fin-
den.
Die erste betriHt das enge Band zwischen der Ethik des
Begehrens (die, wie wir gesehen haben, die Realisierung die-
ses letzteren irnpliziert) und dem Erhabenen. Lacan spricht
immerzu von der »erhabenen Schonheir« Antigones und
vom Glanz ihrer Gestalt. Uberraschen kann uns das kaum,
wenn wir die Kantische Theorie des Gefiihls des Erhabenenvor Augen haben, das entsteht, wenn man mit der Forderung
der Totalitat konfrontiert wird: »Nun aber hort das Gemi.it
auf die Stimme der Vernunft, welche zu allen gegebencn
Groaen ... Totalitat fordert, mithin Zusarnmenfassung in
eine Anschauung und fur aile jene Glieder einer fortschrei-
tend-wachsenden Zahlreihe Darstellung verlangt, und selbst
das Unendliche (Raum und verflossene Zeit) von dieser For-
31 Jacques Lacan, =Subversion des Subjekts und Dialekrik des Begehrens im
Unbewuilren-, in: SchTi{ten 11,Olren, Freiburg I975. S. 204 [Ubersetzunggeandert, A.d.D.].
97
derung nicht ausnirnmt, vielmehr es unverrneidlich macht,
sich dasselbe ,., als ganz (seiner Totalitat nach) gegeben zu
seligkeit, Wohlgefallen, Genuf und Selbstzufriedenheit, und
die Frage, der die Dialektik nachgeht, gilt der notwendigen
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habenen hat zum Ausgangspunkt genau dasselbe Problem,
auf das man in der rnoglichen Realisierung des hochsten
Gutes stoBt: die Totalitat einer unendlichen Reihe zu den-
ken, Und in beiden Fallen vollzieht sich die Realisierungper
negetiutcm. 1mFall des Erhabenen fal l t die Einbildungskraftvor dieser Aufgabe in sich zusammen, und dieser Zusam-
menbruch selbst ist es, der das Gefuhl des Erhabenen er-
zeugt, Im Fall Antigones (nimmt man sie als Fall der Ethik
des Begehrens und seiner Realisierung, sowohl im Kanti-
schen wie im Lacanschen Sinn des Begriffs) war zu sehen,
daB das Ganze der unendlichen Reihe durch den Vedust des-
sen real is iert wird, was zum Ganzen noch fehl t .
Die zweite Folge der Konzeption des Aktes als abschlie-
Bend betrifft eine spezifische Artikulation des Bezuges zwi-
schen dem (reinen) Begehren und dem GenieBen, narnlich
ihre Antinomie, die zu folgendem fuhrt: wenn das Begehren
schlujlendlich den GenuB realisiert (wenn auch nur per ne-
gativum, d.h, in der Herstellung eines Ganzen, das fehlt),
dann realisiert es den Genuf zum Schaden seiner eigenen
Struktur, Erinnern wir uns doch daran, daB dieser »Scha-
den« nicht am Horizont der Analytik liegt, wo das »Begeh-
rungsvermogen« als das Vermogen fungiert, durch das die
Form des Gesetzes hindurchgeht, um Triebfeder zu werden,
was, mit einer Lacanschen Wendung, irnpliziert, daR das Ge-
nieflen sich zum Begehren herablaiit.
Die Rede von einer Antinomie von Begehren und Ge-
nieflen in bezug auf die Kantische Ethik mag paradox er-
scheinen. Man kann den Eindruck gewinnen, da~ es sich hier
urn eine ziemlich grobe Anwendung Lacanscher Begriffe auf
Kants Philosophic handelt. Aber man braucht nur die Dia-
lektik der reinen praktischen Vernunft aufzuschlagen, um
sich vom Gegenteil zu uberzeugen, Fur den zentralen Be-
griff der Dialektik verwendet Kant vier Ausdrucke: Gluck-
98
Wohlgefallen). Die Tugend ist ein Gut (das oberste Gut),
aber sie ist noch nicht »das ganze und vollendete Gut«, Denn
urn dieses Gut zu sein, »wird auch Gluckseligkeit dazu er-
Iordert«. Das ganze Problem der Dialektik besteht darin, ein
Scharnier zwischen Tugend (d.h, sittlichem -Verhal ten«)und Gliickseligkeit (oder »Selbstzufriedenheit«) zu f inden .
Die Antinornie der praktischen Vernunft ist sehr wohl eine
Antinomie zwischen Begehren und GenieBen: das hochste
Gut fordert, Sittlichkeir und Gliickseligkeit als notwendig
verbunden zu denken, und eben dies ist unmoglich und
rnacht die Antinomie der reinen praktischen Vernunft aus.
Darnit Tugend und Gluckseligkeit notwendig verbunden
s ei en , » rn u f also entweder die Begierde nach Ghickse l igke i t
die Bewegursache zu Maximen der Tugend« sein, oder »die
Maxime der Tugend muB die wirkende Ursache der Gluck-
seligkeit sein«. (KpV, A204) Die erste Moglichkeit ist abso-
lut ausgeschlossen, weil sie eine »pathologische« Konfigura-
rion mit sich bringt, in der die Suche nach Wohlgefallen oder
Befriedigung zur einzigen Triebfeder unseres Handelns ge-
worden ist. Die zweite Moglichkeit impliziert, daR unsere
moralischen Handlungen direkt und jederzeit (d. h. notwen-
dig) »wirkende Ursache- cines Wohlgefallens sind. Auch das
ist unrnoglich, denn man finder in der Welt keinerlei not-
wendige Verbindung zwischen beiden, Zu diesern SchluB
kommt der Abschnitt »Die Antinomie der praktischen Ver-
nunft«, Diese Antinornie hat jedoch eine Losung: wenn die
crste der angefuhrten Moglichkeiten »schlechterdings un-
moglich« ist, so 1Stes die zweite nur »bedingter Weise«, d. h.
sie wird unter einer besrimmien Bedingung rnoglich, wenn
man narnlich Wohlgefallen oder Gliickseligkeit als »Ziel al-
ler rnoralischen Wiinsche« in der »intelligiblen Welt« (d. h. in
der Welt der Dinge an sich) und nicht in diesem Leben sucht.
(KpV,A207) Wenn man also, noch einrnal, absoluc zwischen
99
dem Bcgehren und seiner Ursache trennt. Das Dispo itiv,
das Kant mit dieser Losung einfiihrt, ist nicht das der Religi-
on. Der Unterschied liegt auf der Ebene der Zeitlichkeit.
fiirs moralische Gesetz ein Gefiihl, welches durch einen in-
rellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefiihl ist das
einzige, welches WiT vollig a priori erkennen ... « (KpV,
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Kane will also keineswegs sagen, d<illman die Befriedigung
nach dem T ode in einem andercn Leben nach diesem hier er-
lange. Die beiden fraglichen Welten sind streng parallel, d.h.,
man kann annehmen, d<illdie Gliickseligkeit alle unsere rno-
ralischen Handlungen begleitet unduns doch zugleich un-zuganglich ist. Das ist GenieBen, aber, wie Kant selbst sagt,
»in solcher Weite«_l2Das ist ein GenuB in groBer Ferne zum
ubjekt, ein Genielien im Ding (an sich) ,
Und dennoeh haben wir in unsercr Erorterung der Acb-
tung gesehen, daB dieser GenuB doch nicht notwendig so
fern ist, daB diese Entfernung durchaus minimal, das Gc-
nieilen »beinahe unmittelbar« sein kann. Hier laB sich der
ganze Abstand ermessen, der die Perspektive der Analytik
von der der Dialektik trennt, Die Frage des Wohlgefallens
oder der Befriedigung fehlr in der Analytik keineswegs, aber
sie wird hier als Frage der (wenn auch ganz und gar sin-
gularen) Triebfeder abgehandelt und nicht in Begriffen eines
Zustands des Subjekrs." Man konnte sagen, die Analyeik
schlagt bereits eine Losung fu r die Anrinomie der prakti-
sehen Vernunft vor. Die Acbtung impliziert eben genau, d<ill
»die Maxime der Tugend die wirkende Ursache der Gluck-
seligkeit sein [mufs]« d.h. eines singularen subjektiven Ge-
winns der zugleieh die Triebfcder des Subjekts in seinem
Handeln isr, Kant sagt das ganz direkt: »Also ist Achtung
31..Wenn wir uns genot igt sehen, die Moglichkcie des hochsten Guts, dieses
durch die Vernunft allen vernunfrigen Wesen ausgesteckten Ziel aller ih
rer rnoralischen Wiiruche, in solcher Wcite, namlich in der Verknupfung
mit einer incelligibelen Welt , zu suchen, so mull es befremden, dail glel~h-
wohl die Philosophen, alter sowohl, als neuer Zeiren, die Gli icksel igkeit
mit dec Tugend in ganz gezierncnder Proportion schon in diesem Leben
(in dec Sinnenwelr) haben finden. oder s ich ihrer bewuf!t zu sein haben
uberredcn konnen.« (KpV 244)
33 Kant sagt von diesem Wohlgefallcn, es sci ein Genuf], dec -wenigstens sci-
nem Ursprunge nach, der Selbsrgenugsamkeit analogisch ist, die man nur
dem hoch .tea Wesen beile en kann •. (KpV, Al14)
100
AT30) Die Aehtung als »rnoralisches«, »uicht pathologi-
sches« und »apriorisches« Gefiihl ist bereits eine Antwort
auf das Problem der Verbindung zwischen Tugend und
Glliekseligkeit, und sie ist auch bereits ein spezifiseher Be-
griff fi.ir das vollendete Gute. Zudem ist das eine Antworr,die nieht in der Verschiebung der Gluckseligkeit oder des
Wohlgcfallens in eine parallele Welt besreht, zu der das sinn-
liehe Subjekt kcinen Zugang bat. Hier handelt es sieh ganz
im Gegenteil urn ecwa , was das Subjekt empfindet. Eine an-
dere wichtige lmplikation dieses Dispositivs liegt darin, daB
die (siuliche) Tat in einem und demselben Gestus einen ab-
schlicBenden und einen eroffnenden Zug erhalt. Geschuldet
ist dies der zirkularen Srruktur, in der dasjenige, was die Tu-
gend zu seinerwirkenden Ursache hat, seinerseit.s zu: Trie~-
feder der Tugend wird. Wir halten also dafiir, die Dialektik
niche einfach als Foige der Analytik zu betrachten, sondern
hier zwei verschiedene Ausgangspunkte zu erkennen, die zu
zwei unterschiedliehen »Ethiken« fuhren , Versuchen wir
zunachst, diese Untersehiede genauer herauszuarbeiten.
6. Zweiedej Ethik
Wir haben gesehen, daf1das Dispositiv der Dialektik Raum
fiir zwei Lekniren bietet und Raum fur zwei ethische Konfi-
gurationen (die unendliche Annaherung und die Realisie-
rung) hieten kann. Auch wenn diese beiden Konfiguracio-
nen sehr verschieden scheinen mogen, besitzen sie doeh eine
gemcinsame Grundlage: ihr Ausgangspunkt ist das absolut
von Befriedigung/GluckseligkeitlGenuB geschiedene Be-
gehren. Das S ub je kt d es B eg eb re ns isr dauerhaft gegeni.iber
scinem GenuB versehoben. Das stellt auch Lacan fest, und
101
das ist der Angelpunkt seiner beruhmren Schrift »Subversi-
on des Subjekts und Dialektik des Bcgehrens irn Unbewufj-
ten«, Die fragliche Versehiebung hangt mit der Funktion des
Die erste betrifft dcnjenigen, der seine Leidensehaft fur die
Dame nur urn den Preis seiner anschlieBenden Hinriehrung
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Gesetzes zusarnmen, ohne da~ dieses Gesetz ihre Ursache
ware. Hier liegt die ganze Durchsehlagskraft des Lacan-
schen Arguments: das Gesetz griindet auf dem Verbot des
Genieliens, aber nicht es selbst verbietet das Cenielien oder
barriert [barre] dem Subjekt den Zugang zum GenuK Diefragliche Barriere isr eine ernpirische oder, wie Lacan sag!,
»eine beinahe naturliche Barriere«, narnlich die Lust oder
auch das Geserz der Lust, das das Geniefsen barriert." Man
erkennt hier Kants Grundthese wieder: Das Hindernis, das,
was den Zugang zur Ghickseligkeit oder zur moralischen
Befriedigung versperrt, ist cine andere An von Befriedi-
gung, narnlich die Lust (d. h. die »Pathologie« des Subjekts).
Das Gesetz ist gleichsam das, was diese Schranke denatura-
lisien. Dadurch kann es ZUT Sriitze des Geniefiens oder auchzu dem werden, was dem Subjekt erlaubt, eine Uberschrei-
tung des Lustprinzips ins Auge zu fassen. Man konnte sagen,
die erste Funktion des Gesetzes besreht eben darin, symbo-
lisch ein J enseits des Lustprinzips abzugrenzen, das damit
zu einem »Etwas« wird. Nicht selten hort man, die Logik des
Gesetzes und der Uberschreitung gingen zusammcn, und
einzig das Gesetz errnogliche uberhaupt die Uberschrei-
tung. Man sollte jedoeh genauer sagen, daG, was das Gesetz
zu iiberschreiten errnoglicht, im Kern nichts anderes als das
Lustprinzip ist: das Gesecz errnoglicht, daB etwas, was nicht
der Ordnung der Lust angehort, zum Objekt unseres Be -
gehrens wird. Daher ist die Kantische negative Lust, d. h. die
Lust, die man in eben dem Augenblick empfinden karin, in
dem man sich dem Lustprinzip widersetzt, im Wesen eine
Funktion des Gesetzes.
An dieser Stelle sollte man sieh Kants kleinen Apolog vom
Galgen noeh einrnal in Erinnerung rufen, und aueh Lacans
Kornmentar dazu. Kant ladt uns zu zwei Betrachtungen ein,
34 Lacon, »Subversion des Subjekts-, a.a.O., S. 198.
[02
befriedigen kann. »Man darf niche lange raten, was er ant-
worten wurde« bekraftigt Kant. Diese Geschichte dient als
Einleitung zu einer anderen: man verlangt von jemandem,
falseh gegen einen anderen auszusagen, der dadureh sein Le-
ben verlieren wird, oder aber bei Weigerung seiner eigenen
Hinrichtung gewiB zu sein. In diesem zweiten Fall ist, soKant, zumindest denkbar, da£ die fragliehe Person ihren ei-
genen Tod als Mogliehkeit in Erwagung zieht. Laeans Ein-
wand gegen dieses Kantisehe Argument kornmt ganz und
gar nicht von »auBen«, d.h. es ist kein Einwand, den die Psy-
choanalyse gegen eine bestimrnte Philosophie erhebe~ kann,
sondern dieser Einwand riehtet sich ganz im Gegenteil dage-
gen, daB Kant in seiner Argumentation nie~t auf der Ho~e
der Konsequenzen seiner eigenen Konzeption des rnorali-
schen Gesetzes bleibt. Laean bemerkc:»Die ergreifende Bedeutung des ersten Beispiels besteht darin,
d a6 uns die mit derDame verbrachre Nacht parad oxerweise vor-
gesrel l t wird al s cine mit de r zu crleidenden Strafe ausbalancier-
te Lust, in einem Gegensatz, der beides als homogen setzt. (...)
Aber beachten Sie, es geni.igt, daR WiT mit Hilfe einer begriffl i-
chen Anstrengung die Nacbt mir der Dame von der Rubrik der
Lust in die Rubrik des Geniefscns wechseln lassen, wobei das
GenieGen ... eben die Annahme des Todes irnpliziert, und das
Be i sp ie l I a ll t in sich zusammen.x"
Es geniigt, falm Laean fort, da£ das Geniefsen ein Ubel (im
Sinne von »Schmerz«) ist, damit sieh der Sinn des Moralge-
setzes an dieser Stelle vollig verwandelc »In der Tat wird je-
der sehen, da~ das Moralgesetz, wenn es hier irgendeine Rol-
lespielt, eben genau zur Stiitzung dieses Geni~£ens dient~.36
Anders gesagt ist ohne wei teres denkbar, daB jernand es sich
zur Ehre gereiehen laBt, die Nacht mit seine~ Dame au~h u.n-
ter der Bedingung zu verbringen, da£ man ihm sagt, in dle-
31 Lucan, Die Ethik der Psychoanalyse, a.2.0., S. 229·36 A.a.D., S. 2 29 .
103
Gesetz mehr, sondern vielmehr das moralische Gesetz
selbst, Auf dieser Ebene gibt es keine rnogliche Opposition.
Es ist gar nicht moglich sieh dem moralischen Gesetz auf
Lust zum Einsatz einer anderen Ursache wird, namlich der
Freiheit des Subjekts. Das hat Lacan im Blick, wenn er sagt,
die Rolle des moralischen Gesetzes sei die einer Srutze des
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der Ebene des (moralischen) Gesetzes zu widersetzen.
Niehts kann sich aus Prinzip, d.h. aus nicht-pathologischen
Grunden, gegen das rnoralische Gesetz stellen, ohne damir
seIber zum moralischen Gesetz zu werden. Handeln, ohm
pathologischen Motiven einen Einfluf auf unser Tun ein-zuraumen.ust »gut«. In bezug auf diese Definition des Gu-
ten ware das (teuflisch) Bose so zu definieren: Das Bose tritt
in Erseheinung, wenn man sich - ohne EinfluB pathologi-
scher Motive auf unser Tun - jenen Handlungen widersetzt,
die pathologischen Motiven keinen EinfluB auf unser Han-
deln einraumen, Was absurd ist. Irn Kontext der Kantisehen
Ethik hat die Rede von einer Opposition gegen das morali-
sche Gesetz also iiberhaupt keinen Sinn. Man kann von der
Schwache oder Unreinheit des menschlichen Willens spre-
chen (was impliziert, daB es uns nicht gelungen ist, das rno-
ralische Gesetz zur alleinigen Triebfeder unseres Handelns
zu machen), aber man kann nicht von einer Opposition ge-
gen das moralische Gesetz sprechen, Die Opposition gegen
das moralische Gesetz ware seIber moralisches Gesetz. Zu-
stimmen kann man Kant in Hinblick auf die Tatsaehe, daB
das teuflisch Bose unmoglich isr, aber nicht aus den Grun-
den, die er anfuhrt. Es ist niche »empirisch« unrnoglich (wie
Kant meint), es ist begrifflich redundant, denn was dieser Be-
griff impliziert, finder sich bereits in der Konzeption des silt-
lich Guten, beispielsweise im Fall von jemandem, der sich
eher vorstellen konnte zu sterben, als falsch gegen einen an-
deren auszusagen, der aufgrund dieser Falschaussage ster-
ben mii.ihe. Wenn dieser Fall nicht teuflisch ist, dann ist es
der andere (der Fall der Liebesnacht mit der begehrten
Dame) ebensowenig.
Kehren wir darnit zu Laeans Argument zuruck, Die Ken-
stellation, die mit dern Verbot der Lust unter Androhung der
Todesstrafe eingefiihrt wird, fuhrt dazu, daf diese verbotene
T o 6
GenieBens. Die Wahl des Todes erschafft per negatiuum das
GenieBen als erwas: der Tod ist nicht die logische oder not-
wendige Folge des Genieliens, aueh keine »Strafe- fur den
Exzef des GenieBens, sondern das Mittel, dern Genieflen ein
Reales zu verschaffen, d. h. es von all dem zu unterscheiden,was sich in der Sphare des Lustprinzips enrfalret. Deshalb ist
die Ethik des Begehrens letzten Endes eine Ethik des Ge-
nieBens, was man bereits dem schon zitierten Satz Lacans
uber die Luge entnehmen kann: »Soll ich meiner Pflicht zur
Wahrheit nachkommen, insofern sie den authentischen
Platz meines GenieBens wahrt, selbst wenn dieser leer
bleibr? Oder soll ieh mieh in diese Luge fugen, die, indern sie
rnich mit aller Macht das Gute als Prinzip meines Geniellens
einsetzen rnacht, mir befiehlt, das eine Mal ins HeiBe, das an-
dere Mal ins Kalte zu blasenr-s" Was das Subjekt in dieser
Ethik absolut verweigert, ist die Falschaussage gegen den
Platz seines GenieBens. Die Frage nach Wahr und Falsch ist
hier eine Frage des Realen und des Scheins, und das ganze
Problem besteht darin, wie man das Reale des Rea.len be-
zeugt." Daher die Doppelbewegung sowohl auf der Ebene
der Logik des Begehrens wie in der Kantischen Konzeption
des Ethischen: einerseits die unendliche Bewegung (oder
vielrnehr die Bewegung ohne notwendiges Ende) der »Rei-
nigung«, die Bewegung, in der man von Schein zu Schein
gehr, indem man sich jedesmal klarrnacht, »das ist es nicht«,
und andererseits die Bewegung des Innehaltens, die Per-
spektive einer absehlieBenden Tat, in der das Subjekt claw
gelangt, das Reale seiner subjektiven Wahrheit zu beweisen,
indem es seine ganze Existenz aufs Spiel setzt. In diesem
,7 A.a.O.,S. 230.,8 Dieses Problem wird von Alain Badiou vorangetrieben, dem wir fur un-
sere eigene Untersuchung zurn Realen viel verdanken (vgl. seine Vorle-
sung tiber Dar [ahrbundert, Col lege international de laphilosophic 1998-
(999).
107
letzten Fall spielt der Tod die Rolle des »Kristallisations-
punktes« des Realen. Diese beiden Bewegungen des Begeh-
rens bringen zwei Modi der Zeitlichkeit mit sich, die auch
Zunachst muB betont werden, daBdas Begehren ungeach-
tet der zentralen Rolle, die der unmittelbar drohende Tod in
dieser Ethik spielt, hier kein »Todeswunsch- ist, sondern das
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zwei klinischen Figuren des Begehrens entsprechen,
1) Die Suspendierung des Realen (der Befriedigung), die
die Logik der unendlichen Annaherung an dieses unerreich-
bare Ding vorschreibt, das auch so (d.h. unerreichbar oder
unzuganglich) bleiben mutt Der ethische Einsatz bestehthier darin, das Ding in seiner Unzuganglichkeit zu halten,
wei! diese Unzuganglichkeit dem Realen des Dings gleicht
und ihm einen Bewcis liefert. Hier laBt sieh, wenn man so
sagen darf, die »obsessionelle Ethik« wiedererkenncn: die
einzige Art, dem Realcn seines Begehrens treu zu bleiben,
besteht darin, niemals an dieses Reale zu riihren. Man befin-
det sich wahrhaftig auf der Kehrseite seiner Realisierung und
Erhillung, denn das Reale halt sich eben genau in der Nicht-
Erfi.illung. Man befindet sich in der Logik der Treue, also des
Glaubens, was sich ganz deutlich an diesem typischen Zug
des Zwangscharakters zeigt: er muB -Burge des Anderen
sein«." Man hat es mit einer Erhik der Arbeit zu tun, der mi-
nutiosen Arbeit, die man weiter und weiter verrichten muB.
Das ist keine Ethik des Vollenden einer Tat, sondern die
Ethik, in der die ganze Existenz des Subjckts eine Tat ist,
man konnte sagen: ein »Glaubensakt«.
2 ) Die Bewegung cler Hast oder auch der Realisierung, die
sich der »Unglaubigkeit- verdankt, dem Kern der hysteri-
schen Figur des Begehrens und der Ethik. Die Tat, die in die-ser Ethik so wichtig ist, impliziert eben dies: »das kannl da1(so) nicbt weitergehen«, und: man mufl »all dern« em Ende
mechen. Fur dieses Subjekt kann das Reale der Befriedigung
nur die Nichrbefriedigung sein, und wenn es zum Handeln
schreitet, dann immer in einem Gesrus, der diese Negati-
vitat, d. h. einen Verlust verkorpert, Diese Geste realisiert
das Unendliche des GenieBens in einern Nichts, Daher die
Bedeutung der Figur des Todes.
39 Vgl, Lacan, -Subversion des Subjekts •• a.a.O.
108
Begehren, das sich des Todes bemachtigt, urn ihn z ur n K ata -
Iysator des Realen zu machen. Wir sagten oben, das Gesetz
habe die Wirkung der Denaturalisierung der ..fast nanirli-
chen- Schranke des Lustprinzips. Man konnte aueh sagen,
da s Gesetz denaturalisiert den Tod oder auch, es verdoppe ltden biologischcn Tod durch einen anderen Tod, der d am ic z u
einern Faustpfand im nicht-nanirlichen (oder auch symboli-
schen) Universum des Subjekts wird. Der »akzeptierte Tod«
oder auch der ,.gewahlte Tod« wird sornit zum existentiellen
Aquivalent dessen, was Laean andernorts den »phallischen
Signifikanten« nennt, den »Signifikanten ohne Signifikat«,
der die Macht hat, das (potenriell) unendliche Gleiten der
Signifikantenkette zum Still tand zu bringen. Daraus erge-
ben sich zwei Konsequenzen: die erste betrifft die Tatsache,
daB der Suizid (den Lacan selbst als "die einzige gegliickte
Tat« bezeichnet) als Figur par excellence der ethischen
Handlung erscheint. Die zweite Konsequenz kormte man
als »Phal l is ierung« des Subjekts der Tat bezeichnen, die sich
im ..erhabenen Glanz- dieses Subjekts rnanifestiert, inseiner
"Worde« und in der Forderung, es nicht aus der Nahe, son-
dern aus betrachtlicher Entfernung zu betrachten, Man fin-
det diese beiden Konsequenzen beispielsweise in der Eutha-
nasicdebatte vereinigt: in der Perspektive eines irreversiblen
Verfalls des Korpers und des Geisres muB dem Subjekt er-
laubt werden, den Moment seines Todes zu w ahlen, d.h.,
dem bi.ologischen Tod zuvorzukommen und damit seine
subjek[ive Wiirde zu wahren. Die Wurde entspricht ganz ge·
nau diesern bejahten, gewahlten, gewollten Verlust, Anders
gesagt ist die Achtung, die wir fu r eine solche Person hegen
(die »eher das Nichts, als ... e wahlt), die »Achrung der
Kastration«, wie die Psychoanalyse sagt, d. h. die Achtung
eines Mangels der beginnt, als das kostbarste Haben des
Subjekts zu fungieren. Deutlich wird das auch an unserer
109
Achtung fur Personen, die einen schmerzlichen Verlust er-
litten haben. Dieser Verlust oder dieses »Weniger« verleiht
ihrer Subjektivitat eine ganz besondere Kraft und einen ganz
Aber kehren wir zu dem Band zuruck, das Gesetz, Reales
und Genielsen verbindet. Wenn das Gesetz zur Snitze des
GenieBens wird dann soli das nicht heillen, es sei das, was
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besonderen Glanz. Der Verlust kann der starkste Stiitz-
punkt fiir eine letzte Bejahung des Subjekts werden.
In dieser Konfiguration, konnte man sagen, ist das Begeh-
ren die Art, in der sich das Geniellen ins Universum des Sub-
jekts einschreibt, Das Ganze des Genusses (oder der Gluck-seligkeit) nimmt Form an in einem Ohjekt des Nichts, das
seine Starke aus der Funktion des Verlustes bezieht. Aus die-
sem Grund hat das Opfer den Wert des Aktes, der das Ganze
des Genielsens im Nichts seines Verlustes realisiert. Und aus
diesern Grund wird das ichts auch zum kostbarsten Ob-
jekt im Universum des Subjekts, seine »absolute Bedin-
gung«, die einzige Sache, von der das ubjekt nicht ablassen
will. "Lieber den Tod als den Verlust dieses Nichts«, das ist
die grundlegende Maxime dieser Ethik, Das Subjekt ist be-
reit, alles zu opfern, nur nicht dieses Opfer selbst, Mit Lacan
gesagt halt das Subjekt an seiner Kastration als seinern Kost-
barsten fest, das es unter keinen Urnstanden opfern will. Da-
her spricht Lacan hier vom »hochsten NarziBmus der verlo-
renen Sache«."
Es handelt sich tatsachlich urn eine Ethik der ernphati-
schen Bejahung des Subjekts, die sehr wohl mit dessen Aus-
loschung zusammenfallen kann, denn die Affirmation
bezieht sich bier nicht auf ein »lch«, sondern auf eine sub-
jektive Wahrheit: urn das Reale dieser Wahrheit hervortreten
zu lassen, enrschlieii t sich das Subjekt , ihm seinen Platz zu
uberlassen, Das ist eine Ethik, die Heiden hervorbringt;
»Subjekte voller Glanz«, Subjekte, die sich selbst durch ei-
nen Verlust in einem »Haben« realisieren. Am Horizont
zeichnet sich hier die Selbstzufriedenheit ab, von der Kant
spricht, jenes »negative Wohlgefallen ... in welchem man
nichts zu bedurfen sich bewuflt ist«. (KpV; A21z) Man be-
darf nichts, well man das Nichts hat.
40 A.a.O., S. ~04.
flO
uns zu geniellen erlaubr. Es stiitzt und erhalt den GenuB als
unrnoglichen (in Kantischen Begriffen konnte man sagen,
das Gesetz stutze den Genufl als »negative Gro~e«), aber es
ist auch der Ort, an dem sich der Imperativ des Genieiiens
ausspricht, d.h. der Irnperativ einer anderen Befriedigung(als derjenigen, die sich aus dem Lustprinzip ergibt und die
nur der Schein einer wirklichen Befriedigung ist), Kant
beharrt darauf, daf es ungeachtet der empirischen Unmog-
lichkeit des hochsten Gutes (d. h. des Gutes, in dem sich die
moralische Befriedigung oder das moralische Wohlgefallen
realisiert findet) »(moralisch) notwendig [isr], das hochste
Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen ... «. (KpV,
A203) Die (moralische) Gluckseligkeit ist unmoglich, aber
sie gehort zugleich der Ordnung des Imperativs an. Genau
darnit wird der Parallelismus eingefiihrr, in dem Subjekt und
GenuB niemals auf der gleichen Seite stehen. Oder, wie La-
can sagt: »Wi.irde narnlich das Gesetz befehlen: J ouis, ge-niege, so konnte das Subjekt nicht anders antworten als in ei-
nem: j'ouis, ich hore, wobei der Gedanke an Genuf nur
noch der Hintergedanke ware.«'"
Sowohl in der Lacanschen Dialektik des Begehrens wie
in der Kanrischen Dialektik der praktischen Vemunft finder
man eine Verbindung des Realen und des GenieBens, letz-
teres definiert als andere Befriedigung denn diejenige, die
uns durch das Lustprinzip offensteht. Diese Verbindung ist
nicht »nanirlich«, sic ist, wie Lacan so gu t sagt, ein Effekt
des Gesetzes: Wirkung eines Gesetzes, das iiber das Gesetz
der Lust geht und dafiir sorgt, daB die wahre Lust, die Lust
als Reales, fortan jenseits des Lustprinzips angesiedelt ist.
Dieses jenseits ist durch Schmerz gezeichnet, durch Leid,
aber man muB - wie Kant - sehen, daB diese Konnotation
nur aus dem Blickwinkel des Diesseits existiert, Anders ge-
{I A.a.O., S. 198.
III
kung eines Antriebs zur Tatigkeit tut, als ein Gefuhl der
Annehmlichkeit, die aus der begehrten Handlung erwartet
wird, wiirde getan haben, so sehen wir das, was wir selbsr
J enseits des Lustprinzips, oder ist es eine Wi,.kung des Rea-
len auf die Sinnlichkeit? Ist das Reale da, wo »es genieRt,<?
Ware, anders gesagt, der GenuB am Ende nicht einfach eine
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tun, leichtlich fur etwas an, was wir bloG Ieidentlich fuhlen,
und nehmen die moralische Triebfeder fiir sinnlichen An-
trieb, wie das allernal in der sogenannten Tauschung der Sin-
ne (hier des innern) zu geschehen pflcgt.« (KpV, A2 IO ) Die
Bedeutung dieser Stelle laBt sich kaum uberschatzen.Versucht man zunachst, den Unterschied zwischen
Schmerz und Aehtung zu prazisieren, so konnre man sagen,
der Schmerz erweist sich als Erfahmng des Realen, als sein
Gelebtes, woraus sich die Versuchung erklart, ihn zum Indiz
der Eigentlichkeir zu machen. Die Achtung hingegen ist
nieht das Gelebte des Realen, sondern fungiert vielmehr als
dessen »Ortung« oder »Detektor«. Die Achtung ist wie ein
Radarschirrn des Realen, auf dem das Reale niemals unrnit-
telbar prasent ist, sondern immer nur fast unrnirtelbar, DasGefiihl der Achrung sagt: »Achtung, Achtung! Das Reale
von links!« Wahrend der Schmerz als »Bad im Realen« gilt
und deshalb iiberhaupt kein Reales festsrellen kann. Ist und
bleibt der Schmerz eine subjektive Erfahrung oder ein sub-
jektives Gefiihl, so ergibt sich aus der Verb indung von Rea-
lem und Schmerz die Subjektivierung des Realen selbst.
Daraus folgt, daB das, was man in dieser Wette iiber den
Schmerz verliert, genau das Reale ist: das Reale als Unmdg-
liches, als Haltepunkt, als Zusammenprall. Mit dem
Schrnerz ist man in der Befriedigung, irn »negativen Wohl-
gefallen«, aber immer noch im Wohlgefallen. Welches Un-
gliick und welcher Schmerz dem Subjekt auch imrner wider-
fahrt, auf einer ganz bestimrnten Ebene ist es jederzeit gliick-
lich, zufrieden. Seine Befriedigung verschafft es sich selbst
durch das Leid. Genau hier liegt das ganze Problem des psy-
choanalytischen Begriffs des GenieBens, em Problem, das
eng verbunden ist mit dem Problem der Stellung des
Schmerzes in der Kantischen Ethik. Das GenieBen als »ne-
gative Lust« betrachtet - isr es selber ein reales Element des
Lust? Eine negative Lust, gewiG, aber dennoch eine Lust.
Noch anders gefragt: Ist das GenieBen ein nicht-pathologi-
sches Gefi.ihl (imKantischen Sinn des Begriffs)? Unstrittig
gibt es eine Verbindung oder einen Bezug zwischen Ge-
nieBen und Realem. Impliziert diese Verbindung aber, daBsich das Genieflen ganz einfach mit dem Realen identifizie-
ren laGt? Uns scheint diese in der psychoanalytischen Lite-
ratur so massiv prasente Gleichserzung sehr problematisch,
und man hat sie wohl viel zu schnell fiir selbsrverstandlich
angenommen. Mit dem Genielien ist man im Realen: aber in
wessen Realem? Ware das nicht jenes subjektive Reale der
Eigentlichkeit, das mit dem Kantischen Begriff de Realen
als Skandierung des Unmoglichen nicht eben viel zu tun hat?
Aus diesem Grund wohl bemuht sich Lacan inEncore urneine Abgrenzung von GenieBen und Realem. Er fuhrt das
GenieBen, wie man es kennr (d.h. das Genielsen, das tiber die
Markierung der Kastration verlaufr), wieder auf das Lust-
prinzip zuruck, also auf etwas, »was sich befriedigt am Bla-
bla«." Die Sprache definiert er als »Apparat des Genieiiens-;
nirnrnt man das zusam.men mit seiner These, wonach -das
Unbewuilte strukturiert ist wie eine Sprache«, dann ergibt
sich em ziemlich eigenartiges Portrat des Subjekts des Unbe-
wu£hen: ein »gliickliches« und »idiotisches« Subjekt, das
sich im Wohlgefallen bader, »Wo es spricht, genieBt es und
weiB gar nichts.s" Man konnte sagen, das einzige groBe Un-
gliick des Subjekts besteht darin, da£ ihrn die Mittel fehlen,
urn zu wissen, in welchem MaB es gliicklich ist, Was eine ge-
wisse analytische Begeisterung hervorrufen konnte: und
wenn die Analyse genau dieses Mittel ware? Das heiBt, am
Ende der Analyse harte man dann an ihrem Blabla befriedig-
42 Jacque Lacon, Das Seminar Buch XX, Encore, Weinheim, Berlin 1991,
S.62.
43 A.a.O., S. 1[4 (Ubersetzung modifiziert),
115
sagt ist die Gleiehung »das Reale der Lust >der Schmerz-eine GJeichung des Subjekts der Lust, die fiir das vollkorn-
men ins Jenseits iibergegangene Subjekt keine Giiltigkeit
zum Schrnerz ein "positives Gehihl« ist, das sich nicht auf
Schmerz oder Leid beschrankt.
Welches Problem genau liegt nun der Substantialisierung
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mehr besitzt. Der Sehmerz ist die Art, auf die sich das Jen-
seits ins Diesseits einschreibt. Aus diesem Grund ist das
Band »Schrnerz - GenuB« oder auch »Schmerz - reale
Lust« gleichsam ein nicht-ursprungliches oder nicht-un-
mittelbares Band. VergiBt mao das, so riskiert man, der Lo-gik der »Vereigenrlichung durch Schmerz« zu verfallen, die
ein wichtiger Bestandteil der sich auf das Gesetz griinden-
den, d. h. der judisch-christlichen Kultur isr: Schmerz und
Leid gelten hier als autbentischer denn die Lust und als Be-
weis eines gewissen Realen, Was zu einem »Willen zum
Schrnerz« ftihren kann, in dem sich weniger ein »rnasochi-
stisches« Begehren ausdriickt als vielmehr eine Leiden-
schaft der Eigentlichkeit oder auch die Eigentlichkeit als
Passion. Nietzsche erinnert daran, wenn er vom »asketi-
schen Ideal- spricht, in dem er genau das Ideal eines Ge-
nieBens sowie dessen Imperativ e rkenn t , Eine wichtige
Wirkung des Gesetzes liegt tatsachlich darin, daB es das
Reale in Schrnerz/Genuf »substantialisiert «, Es ist wie eine
optische Tauschung, die eine Verbinclung herstellt zwi-
schen dem Unmoglichen als solchem und dem, was sich in
der Sinnenwelr am rneisten einer Erfahrung des jenseits
naherr, d.h. der Schmerz, Schon Kant hat darauf hingewie-
sen: soweit das moralische Gesetz unseren Neigungen Ab-
bruch tut, erzeugt es ein Gefuhi, »welches Schmerz genannt
werden kann«, und hier, fahrt er fort, »haben wir nun den
ersten, vielleicht auch einzigen Fall, da wir aus Begriffen a
priori das Verhaltnis eines Erkenntnisses (hier ist es einer
reinen praktischen Vernunft) zum Gefiihl der Lust oder
Unlust bestirrunen konnten«. (KpV; AI29) Dennoch ist der
Schmerz deshalb noch kein Element des Jenseits des Lust-
prinzips (er ist das negative Element des Lustprinzips) und
auch kein »nicht-pathologisches« GefiihJ. Diese »Ehre« ge-
buhrt allein dem Gefiihl der Achtung, das im Gegensatz
112
des Realen in chrnerz/Genielien zugrunde? Die Unfahig-
keit, Sittlichkeit in der Perspektive der Analytik (der reinen
praktischen Vernunft) zu denken, d. h. die Unfahigkeit, sich
vorzustellen, daB eine gemaB der Pflicht und einzig aus
Pflicht vollbrachte Handlung von einer subjektiven Befrie-digung, von einem Lustgewinn begleitet sein kann, So wird
die Lust zur Hauptquelle der Schuld und zur unzweideuti-
gen Probe auf das Fehlen der sittlichen Dimension. Dies je-
doch isr der Effekt einer »optischen Tauschung«, von der
Kant in einer ganz auBerordendichen Passage der Dialektik
spricht, in der er gerade auf das Gefuhl der Aehtung zuruck-
kornmt. Das Aulierordentliche dieser Au~erung liegt darin,
daB Kant bier nicht, wie sonsr, alles daransetzt zu verhin-
dern, daB ein »Schein« (eine pathologisch bestimmte Hand-
lung) fur das Reale (den sittlichen Akt) genommen wird,
sondern uns genau vor dem Gegenteil warnt: daB uns nam-
lich cine Lusrerfahrung die Einsicht in den sinlichen Cha-
rakter einer HandJung versperrt. Die Bestimmung unseres
Willens durch das moralische Gesetz, schreibt Kant, erzeugt
das Gefuhl der Aehtung, das »ein Analogon des Gefuhls der
Lust« ist. (KpV, A2Il) Die einzige Art, auf die das rnorali-
sche Gesetz unser Handeln bestimmen kann, verlauft durch
unser Begehrungsverrnogen, "Nun ist das Bewufltsein einer
Bestimmung des Begehrungsvermogens imrner der Grund
eines Wohlgefallens an der Handlung, die dadurch hervor-
gebracht wird«, (KpV, A210 f.) Aber, fahrt Kant fort, diese
Lust oder dieses Wohlgefallen ist nicht der Bestimrnungs-
grund der Handlung, »sondern die Bestimmung des Willens
unmirtelbar, bloB durcb die Vernunft, ist der Grund des Ge-
fi.ihls der Lust«. Dieser Satz, wenn man ihn wirklich ernst
nimrnt, macht das gesamte Projekt der Dialektik i.iberfliissig.
Kant sagt weiter:
-Da diese Bestimrnung nun innerlich gerade dieselbe Wir-
II]
te Subjekte, die, wean man so sagen kann, zufrieden waren,
eben das zu sein, Subjektive Monaden, »wo, sozusagen, alles
gelingt«." Nun ist klar, da£ diese Perspektive sich nur unter
der uberstiirzten Realisierung miinden in jene Selbstzufrie-
denbeit, von der Kant in der Dialektik spricht und die eine
radikale Trennung vom Anderen impliziert (auch wenn die
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einer Bedingung offnet, narnlich durch den Verzicht auf den
Begriff des Realen und seiner zentralen Rolle in de r Analy-
se. Wo alles »eingetaucht« ist, kann man sich keines Realen
als Unrnoglichem vergewissern. Woraus sich eine andere
Perspektive - eine »ethischere« - auf die analytische Deu-
tung ergibt: "Die analytisehe Deutung fiihrt Unrnogliches
ein«, sie unterstreieht »das MiBlingen irn Gelingen der >ap-
parole-e." Deutlich ist, wie sich hier die Perspektive auf das
Genielien verschiebt: wenn man im GenieBen ist, und das ist
man scbon durch die Tatsache, daft man spricht dann muG
sich dieses Geniellen gegen ein gewisses Reales sperren, La-
can lost das Reale vom GerueGcn und binder es in Encore an
einen anderen AngeJpunkt, den des Nicht-Bezuges. Er
schlagt einen Begriff des Realcn vor, der sich nicht mehr auf
Gesetz stiitzt, sondern mit der Sehwierigkeit des Verhaltnis-
ses zusammenhangt, Das hat sehr wichtige Folgen fUr die
Frage der Ethik und impliziert beispielsweise, daB es, damit
es eio Reales gebe, eine »Zweiheit« geben mug, die konsi-
stent nur in dies em Nicht- Verhaltnis sein kann. Weiter folgt
daraus, daB der einzig gelungene Akt derjenige ist, der das
MiElingen nichr zurn Scheitern bringt. Was soll das heiBen?
Kommt man auf die beiden Figuren des Begehrens zuriick,
von denen wir oben gesprochen haben, dann ist leicht zu se-
hen, daB in diesen heiden Fallen alles gelingt: der Zwangs-
charakter findet seine Befriedigung darin, daf die Gesamt-
surnrne seiner Lust dem gottlichen Gerue£en gleicht, und
der Hysterische finder seine Befriedigung in der Nicht-Be-
friedigung, in jenem Nichts, das fur ihn den Wert des gottli-
chen GenieBens hat. Sowohl der Glaubensakt wie der Akt
44 A. 3.0., S. 62.
H Jacques-Alain Miller, .Le monologe de l'apparole«, La Cause [reudienne
r. 4, 1996, S_ 17-r8 [A.d.D.: Die eupriigung »apparole- bedeutet inerwa cine Rede (parole) ins Blaue hinein, eine Rede, die nur urn sich elber
kreist].
11 6
Funktion des Anderen am Horizonr erhalten bleiben muG).
Anders gesagt mifllingt so das Mi!Uingen: die Unrnoglich-
keit, den Anderen zu erreichen, wird ersetzt durch ein »ich
brauehe ihn eigendich gar nichr«, wodurch das immanente
Nicht- Verhaltnis zusammenbricht und zu einern rein auBe-
ren Nicht-Verhaltnis wird ..Das Subjekt realisiert das Un-
mogliche, das sich eben damit seinerseits derealisiert, Das
Reale ist hier nicht der Motor der Ethik, sondern ihr Hin-
dernis, ihr Schlullpunkt, was recht gut am abschlieBenden
Charakter der Tat zu sehen ist, die aus dieser Ethik folgt. Der
Akt hingegen, der das MiBlingen nicht zum Scheitern bringt,
schreibt sieh in eine Ethik ein, die das Reale des Nicht- Ver-
haltnisses zu ihrem Motor hat. Hier hat die Tat keinen ab-
schlieBenden Charakter, sie nahert sich vielmehr einer Skan-
dierung, die einen Doppelweg erOffnet.
Die Perspektive der volligen Angemessenheit impliziert,
daE es ein unerrcichbares Ideal gibt, von dem man jedochnicht ablaflt. Empirisch, das weill man, wird man dies en un-
moglichen Punkt niemals erreichen, aber man rut, a ls o b man
ibn eines Tages erreichen wird, Das fiihrt zu zwei Haltun-
gen, von denen wir schon gesprochen haben: die der miihsa-
men und fortgesetzten Anstrengung ohne Ende und die des
,.Ubergang zur Tat«, die das Unmogliche per negativum
realisiert. Das groBe Verdienst dieser Ethik in ibren beiden
-Versionen« Iiegt darin, daB sie verhindert, daE die mensch-
liche Praxis das Realitatsprinzip als ihre letzte Grenze ak-
zeptiert, Sie schafft Raum fur das Unrnogliche, und allein die
Tatsache, daB sie diesen Platz als etwas [quelque chose]
freihalt, erzeugt einen Raum der Freiheit und eines anderen
Moglichen als desjenigen des Realitatsprinzips, Nun weist
diese Ethik aber auch zwei Schwachen auf. Die erste, ver-
bunden mit der Iorrgesetzten Bemi.ihung im Dienste des
Dings, betrifft die Gefahr der Verstarkung des bestehenden
117
Zustandes. Der Zustand selbst, den man mit dern Ideal im
Blick verandern will, wird zum Ort der unendlichen Be-
stimmung dieses Ideals und erfahrt daher eine Art »Auf-
Nicht-Bezug zur einzigen Artikulation eines Bezuges wird.
Das soil nicht heiBen, diese Ethik verzichte auf das Ideal
oder auf das Unmogliche, sondern das heiBt irn Gegenteil,
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I I
blahung«. Ein Beispiel: Die kommunistische Idee eines Staa-
res, der ganz und gar seinem Ideal entsprache und der damit
authoren wiirde, als Staat zu existieren. Die Wirklichkeit
dieser Perspektive der schluBendlichen Abschaffung des
Staates hestand in der unglaublichen Verstarkung des Staats-
apparates, in dem Phanomen, das als »Burokratisierung« be-
zeichnet wird. Es ist ganz deutlich, wo das Problem liegt,
denn es ist ganz genau Kants Problem: die Perspektive einer
solchen Realisierung des hochsten Cutes fordert, daf alle
Elemente einer gegebenen Menge (auf unmittelbare Weise)
mit dieser Menge kongruieren. Anders gesagt setzt die Ab-
schaffung des Staates [Etat] voraus, daB alle Burger zu
Staatsfunktionaren, zu seinen »Gliedern« werden. Die ande-
re Gefahr dieser »Ethik des Unrnoglichen«, die im Dbergang
zur Tat liegt, besteht darin, das Nichts jedem Zustand [etat]
vorzuziehen. Auch diese Haltung irnpliziert oder zielt auf
eine Abschaffung des Zustandes, Diesmal muf sich jedoch
der ganze Zustand in einem oder uber ein Subjekt rea1isie-
ren, und er rnuf sich als uer lorener realisieren. Ocr einzige
vollig unserem Willen/Begemen angcmessene Zustand
[etat] ist dann ein verlorener,
Wir sehen also, die Perspektive der vollkommenen Ange-
messenheit bringt mit sich, da£ der Zustand, oder auch, wie
Kant sagr, das Legale (»gemaE dern Gesetz«) sich auflost, sei
es durch die oollstdndige Kongruenz mit seinen subjektiven
Bedingungen, sei es durch Zusamrnenfall mit diesen in ei-
nem auBerordendichen Punkt (dem »Srepp-Punkt«), der
selber das Ganze dieser Kongruenz darstellt.
Es gibt aber noch eine andere Ethik, die als Ideal nicht die
Abschaffung der doppelten Quelle (das Legale und das ub-
jektive) setzt, die das Reale (das Unmogliche) im Nicht-Be-
zug selbst zwischen diesen beiden QueUen ansiedelt und die
Bedingungen zu konstruieren sucht, unter denen dieser
118
daB sie es tiber die Spaltung eines Doppelschrirts [double
pas] in die (ernpirische) Wirklichkeit einschreibt, Anders ge-
sagt geht diese Ethik nicht »Schritt fur Schritt« vor (unend-
liche Annaherung an das realisierte Ganze), und auch nicht
in der Erfiillung des Ganzen »in einern Schrirt«, sondern in
einem "Pas de deux«,
Wir haben schon darauf hingewiesen, daB das aus dieser
Konzeption sich ergebende ethische Allgemeine keineswegs
irnpliziert, daB man ohne das Legale, d. h. ohne die Form des
Gesetzes auskommen konnte. Es folgt lediglich, da£ diese
Form nicht notsoendig mit dem Bescnderen gekoppelt ist,
Anders gesagt kann das Gesetz Ursache seiner selbst sein,
aber dazu muB es eben durch das »Subjekt- hindurchgehen,
d.h. durch ein subjektives Moment, denn nur dieses subjek-
tive Moment kann Ursache und Kraft des Allgemeinen sein.
Genau darin besteht der Doppelschritt: derjenige des Geset-
zes (eines Gesetzes jedoch allein nach seiner Form) und der-
jenige der U rsache. Bleibt uns noch zu bestimmen, wie sich
dieser Doppelschritt artikuliert, Es gibt drei mogliche Arti-
kulationen. Die erste ist eigentlich gar keine, sie setzt, daB
das Gesetz unmittelbar seine eigene Ursache ist. Das be-
zeichnet Kant als moralischen Mystizismus oder als Schtudr-
merei. Diese Artikulation ist kein "Pas de deux- im eigentli-
chen Sinn, weil sie eine Verschmelzung der Ursache mit dem
Gesetz impliziert. Es handelt sich also nicht urn eine Artiku-
lation der beiden, sondern urn deren Fusion. Die zweite und
dritte Artikulation haben einen gemeinsamen Ausgangs-
punkt, Geserzt wird, daB die Form des Gesetzes und das
Moment der Wirksamkeit als Ursache (oder des subjektiven
Wohlgefallens) aus zwei verschiedenen Quellen stammen
und absolut heterogen sind. Das Verhaltnis zwischen beiden
ist unmoglich. Von da ab trennen sich jedoch zwei verschie-
dene Artikulationswege dieses Unmoglichen, Der Weg der
II9
Dialektik besteht darin, das Unrnogliche (des Verhaltnisses)
an das Notwendige koppelt, Kant beharrt, wie gesehen, dar-
auf, daG es trotz der empirischen Unmoglichkeit des hoch-sten Gutes (d. h. des Cures, in dem sich das mora lis ch e Wohl-
Identifikation de Realen mit dem Unmoglichen nicht, daB
das Reale ein Ding ist, dessen Kommen unrnoglich ist, das
also niernals stanfinden oder »geschehen« kann. 1m Gegen-
teil impliziert der Lacansche Begriff des Realen genau dies:
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gefallen realisiert finder) »(rnoralisch) notwendig [ist], das
hochste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen«,
(KpV, A203) Das Band zwischen Tugend und Gli.ickseligkeit
oder (moralischern) Wohlgefallen isrunmoglich, gehort aber
doch zur Ordnung des Imperativs, (Halten wir fest, da~ die-
ser Imperativ nicht derselbe wie der ist, den Kant als katego-
rischen bezeichnet.) Diese Kopplung des Unmoglichen mit
dem Notwendigen liegt der in der Dialektik tonangebenden
Artikularion zugrunde, die man in Anlehnung an Lacan wie
folgt ausdriicken kann: da Verhaltnis (zwischen der Form
des Gesetzes und d er s u bje k ti ve n Ursache) aufhort nicht,
s ic b n ic bt z u s cb re ib en . WeiJ das Subjekt sittlich handelt (was
durch die Dialektik nicht ausgeschlossen wird), liegt darin
auch, daa es sich dabei jederzeit Gewalt antut, indem es
nichts als Schmerz erfahrt, Das Subjckt kann niche sittlich
handeln, wenn es dabei nicht seine Sinnlichkeit unterdruckt,
Die Analytik hingegen impliziert, daG die Verdoppelung
der Form in Form und Triebfeder zur Verkni.ipfung von Ge-
setz und Wohlgefallen in ihrem Nicht- Verhaltnis selb t
fi.ihrt. Es gibt keine Beziehung zwischen der Form des Ge-
setzes und dem Wohlgefallen; da aber diese Form nun als
Handlungsanreiz fungiert, entsteht daraus Wohlgefallen.
Anders gesagt koppelt die Analytik das Unmogliche (des
Verhaltnisses) mit dem Kontingenten. So kann es dazu ke rn -
men, daB das Verhaltnis aufhort, sich nicht zu scbreiben. Die-
se Formulierung, wiederum Lacan entnornmen, ist augerS!
genau: es gibt etwas am Bezug, das sich einschreibt, aber auf
absolut kontingente Art. Es gibt keinerlei Funktion, die die
Moglichkeit dieses Bezuges garantieren konnte, aber es gibt
auch keinerlei Notwendigkeit in diesem Unmoglichen.
Anders ausgedriickt - und hier riihrt man an einen ent-
scheidenden Punkt der Lacanschen Theorie - bedeutet die
I20
daB das Unmogliche eintritt. Das ist es, was am Realen so
traumatisch, so versrorend, so erschi.ittemd sein kann. Das
Reale geschieht ganz genau als Unmogliches, Es ist nichts,
das eintritt, wenn wir das wollen, wenn wir es erwarten,
wenn wir es herbeizuholen versuchen oder wenn wir fi.irsei-
nen Eintritt »bercit« sind. Immer geschieht es irn ungiinstig-
sten Moment und am ungi.instigsten Ort, und niemals ent-
spricht es irgendeinem Entwurf oder dem, was wir erwarten.
Das Reale als Unrnogliches bedeutet, daG es dafur nie den
rechten Augenblick oder den rechten Ort gibt, und nicht,
daE es unmoglich statthaben kann.
7. Einige unzeitgemalie Betrachtungen
Es gibt ein Kantisches Thema, das seit geraumer Zeit auf der
Tagesordnung steht, namlich das »radikale Bose«, Obgleich
der Begriff tatsachlich von Kant herkommt, hat doch das,
was darnit bezeichnet wird, in der Regel mit Kants Begriff
nichts zu run. Man hort zum Beispiel, das »radikale Bose-
beweise, daf es im Menschen eine angeborene Bosheit gibt,
einen dunklen und verwerflichen Grund, gegen den man die
Krafte des Guten aufbieten muB. Oder man fiihn Ausch-
witz und den Gulag als Paradefall fi.ir das radikal Bose an
und spricht in diesem Zusammenhang oft vom Unerklarli-
chen, Unaussprechlichen, Undarsrellbaren und Undenkba-
reno Oder man erkennt das radikale Bose auch im »islarni-
schen Schleier«.
Dieser ganze »Mystizisrnus des radikalen Bosen« hat
nicht das geringste mit dem zu tun, was Kant unter diesem
Begriff entwickelt. Eines der Hauptmerkrnale des -radika-
len Bosen« liegt genau darin, daG es iiberhaupt nichts Un-
II I
vorstellbares, Unerklarliches oder Undenkbares an sich hat.
Es ist ganz irn Gegenteil einer vollstandigen kausalen Er-
klarung zugiinglich. Wenn es in der ethischen Sphare ein
»Ratsel« gibt, dann auf der eite des Guren, denn die es ent-
in der Erfahrung gegebenen Freiheit, und au~er man stellt es
sieh als im Menschen von Geburt an gegeben vor, o hn e d .a fl
diese Geburt seine Ursache ist. Somit ist der »Hang« zum
Bosen nicht nur das [ormale Prinzip jeder nicht-siulicben
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halt ein Element, das sich der Kausalerklarung entzieht, d. h.
ein unbedingtes Moment.
chlagen wir aber in Kants Text nach, der einige Uberra-
schungen fur uns bereithalt, Da~ die Welt irn argen liege, be-
ginnt Kant das erste Stuck seiner Religion innerhalb de r
Grenzen der blossen Vernun/t (1793), is r eine Klage, die so alt
ist wie die Geschiehte, so air wie die alteste Dichtkunsr, so alt
wie die alteste Religion. Diese beiden letzteren gehen abcr
dennoch davon aus daB am Anfang der Welt das Gute stand
(das Goldene Zeitalrer, das Leben im Paradies oder das ge-
rneinsame Dasein mit himrnlischen Wesen). Aber dieses
Gluck, fahrt Kant fort, lassen sie alsbald wie einen Traum
verschwinden, und den Verfall ins Bose -zurn Argern mit
akzeleriertem Faile eilen: so daB wir jetzt (dieses jetzt aber
ist so alt, als die Geschichte) in der letzten Zeit leben, der
jungste Tag und der Welt Untergang vor der Tiir ist«. (Reli-
gion, 667) ZweiJahrhunderte nach der Niederschrift dieser
Zeilen hat sich an jencrn »Jetzt« noch immer nichts geandert.
Es ist immer noch »jetzt«, da das Bose seinen Gipfel erreicht,
und es ist immer noeh »jetzt«, da man das Ende der Welt
(oder der Geschichte) ins Auge faBt. Nun, es gibt aueh ande-
re (Philosophen »von Seneca bi s zu Rousseau«), die glaubcn,
die Welt schreite unaufhaltsam in entgegengesetzter Rich-tung voran, nichr zum Bosen, sondern zum Guten. Beiden
Perspektiven ist, so Kant, cines gemein: sie setzen voraus,
daB es im Mensehen einen natiiriichen Hang zurn Bosen
oder zum Guten gebe, eine Anlage oder einen »Keirn- zum
T) ~sen oder Guten. Kants erste These lautet: Wenn es (im
"Q o) e in e so lc he Anlage gibr, dann is t an ihr nichts
",fan kann also vern Bosen nicht sagen, es sei
~r im logischen Sinnc, in dem Sinne, in
.1agegesetzt wird, vor allern Gebrauch der
. ; .sc
I1.0
Handlung, er ist zugleich selbst eine Harzdlung. Anders ent-
behrt das Bose (wie aueh das Gute) als Grund der schlechten
Maxirnen selbst jeden Fundarnentes. Der subjektive Grund
des Gebrauehs der Freiheit ist »selbst ein Actus der Frei-
heit«. (Religion, 667) Dieser Akt begleitet jeden empirisehen
Akt als dessen subjektive Bedingung. Wir haben das schon
im ersten Kapitel dieser Arbeit unterstrichen: »die Freiheit
der WiIlkur ist von der ganz eigennimlichen Beschaffenhcit,
da ~ sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt
werden kann, als nur so/ern der Mensch sie in seine Maxime
au/genommen hat.« (Religion, 670) Die Gesinnung, das
Prinzip der Aufnahme dieser oder Jener Maximen, ist selbst
gewahlt. Wir haben aueh gezeigt, daB diese doppelte Artiku-
lation des Aktes exakt die Kantische Version des »es gibt
kein Anderes des Anderen« ist.
Was genau ist nun aber das radikale Bose? Kant beginnt
mit der Feststellung dreier verschiedener »Stufen« des Bo-
sen:
Erstens die Gebrechlichkeit (oder Schwache) des mensch-
lichen Herzcns, aufgrund welcher ich trotz meines Willens
zurn Gutcn »pathologischen Triebfedern« erliege. Der Wille
is t gut, aber es mangelt an seiner Realisierung oder Vollbrin-
gung.Zweitens die Unlauterkeit des menschlichen Willens.
Hier liege da Problem nicht mehr in der Diskrepanz zwi-
schen dem Willen und seiner Vo.llbringung. Das Objekt un-
seres Willens ist das Gute, und die Macbt zu seiner Vollbrin-
gung geht uns nichr abo Wit vollbringen jedoch das Gute
nicht, weil da s Gesetz es befiehlt, sondern aus anderen, »pa-
thologisehen« lnteressen (weil W IT uns Z.B. eine »Beforde-
rung« unserer sozialen Stellung davon erwarten etc.).
Die Biisartigkei; oder das »radikale Bose- als dritter Mo-
dus des Bosen hat eine andere Struktur, Die Grundlage der
Bosartigkeit ist der Akt, mit dem man aus Triebfedern der
Eigenliebe (und subjektiver Neigungen) die Bedingung fu rdie Befolgung des moralischen Gesetzes rnacht, Daher ihr
eine freie Wahl der Nicht-Freiheit, die Wahl, durch welche
wir auf die Moglichkeit verzichten, daR ein anderes Motiv
als unsere eigenen Interessen zur Triebfeder unseres Han-
delns wird.
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»verkehrter« oder perverser Charakter:
»Sie kann auch die Yerkehrtbeit (pcrvcrsitas) des mensch lichen
Herzens heiBcn, weil sie die sitrliche Ordnung in An chung der
Triebfedern einer freien WilIkiir urnkehrt, und, ob zwar damitnoch irnrner gesetzlich gure (legale) Handlungen bestehen kon-
nen, so wird doch die Denkungsan dadurch in ihrer Wurzel (was
die moralische Gesinnung betrifft) verderbt, und der Mensch
darum als bose bezeichnet.« (Religion, B23, Azo f.)
Das heiBt, mit dem radikalen Bosen wird die »Hierarchie-
von Gesetz und Neigungen (oder pathologischen Trieb-
federn) umgekehrt, so claBdas Gesetz sich den Neigungen
untergeorclnet finder, obgleich da s Gesetz doch die oberste
Bedingung der Befriedigung der Neigungen zu sein harte.(Religion, B34, A3I) Die Befriedigung unserer besonderen
oder eigennimlichen Irrteressen fungiert als Kriterium und
Bedingung unserer Ubereinstirnmung mit dem Gesetz. Es
wird niche unbedingt gegen das Gesetz verstoBen (»noch
immer [konnen] gesetzlich gute (legale) Handlungen beste-
hen«), aber das Gesetz wird anderen Triebfedern unterge-
ordnet. Die Maxime der Handlung steht negativ und nicht
direkt im Gegensatz zurn Gesetz. Sic kann mit dcm Gesetz
ubereinstirnmen, aber wenn dieser Fall vorliegt, dann immeraus anderen Grunden als solchen, die einzig vorn Gesetz
herstamrnen. Das »radikale Bose« ist in der Tat nichts ande-
res als das, w as d ie M oglich ke it der heid en e rsten Arten de s
B i isen erkla rt und sie mit der Freiheit des sittlichen Subjekts
vereinbar rnach t , denn die Umkehr der Rangordnung zwi-
schen Gesetz und Neigungen oder Interessen ist selber eine
Handlung. Das radikale Bose bezieht sich nicht auf cine em-
pirische Handlung, sondern auf die Wurzel alles pathologi-
schen, d.h. nicht-sittlichen Verhaltens, Das radikale Bose ist
Der Unterschied zwischen einem »guten« und einem »bo-
sen« Menschen ist fur Kant also keineswegs der Untersehied
zwischen einem Menschen, der das Gesetz befolgt, und ei-
nem solchen, der es uberschreitet (was ohnehin nicht viel
Sinn hat, wenn es sich um e in moralisches Gesetz handelt).
Kant spricht vom Unterschied zwischen dem moralisch gu-
ten und dern moralisch bosen Menschen und fuhrt aus:
"Man kann von dem ersteren sagen: er befolge das Geserz
dem Buchstaben nach (d.i. was die Handlung angeht, die das
Gesetz gebieret); vom zweiten aber: er beobachte es dern
Geiste nach (der Geist des moralischen Gesetzes besteht
darin, da£ dieses allein zurTriebfeder hinreichend sei).« (Re-
ligion, B24, A1 .1 ) Kant siedelt also den Uncerschied zwi-
schen dem rnoralisch Guren und Bosen im Unterschied zwi-schen der Sitrlichkeitund dem Legalen an und halt dafur, daG
rnoralisch bose gleichsa.m der »rein legale« Mensch ist, d.h.
jemand, fur den sich die Moralitat auf die Frage der Gesetz-
maBigkeit beschrankt. Kant bemerkt auch, daB das Wort
»Bo artigkeit«, im strengen Sinn genom.men, den moralisch
bosen Menschen nicht angemessen bezeichnet, denn es han-
ddt sich nicht d ar ur n, » da s Bose a ls Bas es zur Triebfeder in
seine Maxime aufzunehmen«, (Religion, B36, Aj a) Ein radi-
kal boser Mensch ist sornit weder jemand, dessen einzigesMotiv darin be teht, Boses zu tun, noch jemand, der das Ge-
setz verhohnt, sondern vielmehr derjenige, der sich Ireiwil-
lig ans Gesetz halt, solange er daraus irgendeinen Nutzen
ziehen kann. Das Reich des radikalen Bosen findet sich fi.ir
Kant in folgendem Satz ausgedruckt: »Ein jeder Mensch hat
seinen Preis, fur den er sich weggibt.« (Religion, B38, A36)
Darnit wird klar, wie absolut deplaziert alle jene Bilder
sind, die man mit Kants Begriff des »radikalen Bosen« ver-
binder (»Fanatismus«, »Massaker«, »Volkermord«, »Terro-
125
rismus«), Kants Portrat des »radikal bosen« Menschen ist
das Bild eines Menschen, des en Hauptbeschaftigung Meh-
rung und Schutz seiner eigenen Interessen ist, das Bild von
jemandem, der seine Interessen und sein eigenes Wohl nie-
Das radikale Bose irnpliziert sornit, dag man keinen Raurn
fur ein unbedingtes Element in unserem Handeln zugesteht,
daB man allcs fur vollstandig nach den Gesetzen der mensch-
lichen Natter erklarbar halt, die, wie alle Welt weiB, schwach
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mals fur irgendeine Idee oder ein Prinzip aufs Spiel setzt, der
die Gesetze imrner da befolgt, wo sie sein Wohl niche beein-
trachtigen, der sich der Gesetze bedient (Angemessenhcit
ans Gesetz), urn seine Interessen zu fordem, der auf aIle »un-
moglichen Bestrebungen« verzichtet; mit einem Wort zeich-net Kant das Portrar des idealen Burgers der kapitalistischen
Lander welrweit im Zeitalter des »Endes der Ideologien«,
Ein konformer, aber keineswegs uniformer Mensch, wofur
schon die unerschopfliche Vielfalt der Besonderheiten sorgt,
die sich mit dem Gesetz verbindet. Ein Mensch, der bloB in
Ruhe leben will. Ein »erfahrener« Mensch ohne IIlusionen,
der sich aus freien Stiicken fur die Nicht-Freiheir (die Be-
stimmung durch seine »pathologischen« Motive) entschie-
den hat wei! er »weill«, dag es keine mogliche Alternativegibt oder dag jede Alternative sicb einer »Ideologie« ver-
dankr , Ein Mensch, der seine Grenzen und die Grenzcn der
menschlichen Gesetzgebung kennt und sich folgendcs sagt:
Man kann zeigen, dag hinter jedem Geserz, so neutral und
allgemein es auch scheinen mag, immer ein besonderes In-
teresse steckr. Oder anders: Das gilt fur alle, aber einige fah-
ren dabei eben besser. Daher die fur unausweichlich ausge-
gebene Folgerung: Wenn immer ein Interesse dahintersreckt,
dann soll es wenigstens das meine sein. Und besser noch,man soli gar nichts verbergen, es ist iiberhaupt nichts
Schimpfliches dabei, seine Interessen zu wahren, so ist es
eben, das ist nur menschlich. Oder (urn dieWorte des Vi-
cornte Valmont aufzunehmen, jenes Heiden, der noch ans
Bose glaubte, das einem Prinzip und nicht del' Resignation
entstammt, und del' dieses Bose, das sich so bescheiden gibt,
ironisch nachahrnt): »Das ist der Lauf der Welt, das ist doch
n ic ht m e in e S ch uld .« Dieser Satz driickr am besten aus, wor-
urn es in Kants radikalem Bosen geht.u6
und begrenzt ist. Nicht selten wird von Kants (»nicht-meta-
physischem«) Humanismus gesprochen, wahrend Kant un-
terscheidet zwischen der Anlage zur Tierheit, zur Mensch-
heit und zur Personlichkeit und ausdriicklich sagt, dafi die
Anlage zur Menschheit nichts anderes als die zurn rationalenGesetz erhobenc Anlage zur Tierheit ist (Selbsterhaltung,
Fortpflanzung und Gemeinschaftsbildung). (Religion, BIS-
18, AI3-J7) Die Anlage zur Menschheit, obgleich sie in der
praktischen Vernunft wurzelt, ist »nur andern Triebfedern
dienstbar«, (Religion, B19, AI?) Man finder also in Kants
Text durchaus cine Gleichsetzung der Anlage zur Mensch-
heit mit der Anlage zum radikalen Bosen (d.h. zur Unter-
ordnung des Gesetzes unter andere Motive), aberdiese Iden-
tifikacion beruft sich keineswegs auf einen dunklen Grunddes Menschen, del' »unerklarlicherweise« das Bose wil l oder
sich von »dunklen Trieben« fortreiBen hillt, von wer weifwelcher »urspriinglichen« Leidenschaft und Blurgier, 50n-
dern diese Gleichsetzung verweist ganz im Gegenteil auf den
rationalen und berechnenden Menschen, der gar kein -kal-
ter« oder »unsensibler« Mensch ist, abel' einer, der »Eifer-
sucht und Nebenbuhlerei« kennt und auch geneigt ist, »sich
in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen«. (Religi-
on, B17, AI5) Was Kant aus ethischer Sicht vom Menschenerwartet, ist, daB er seine »Anlage zur Menschheit« iiber-
winder und sich nicht durch ernpirische Erwagungen be-
schranken lagt, die ihn dazu bringen, das »Realitatsprinzip«
zurn allgemeinen Gesetz der (menschlichen) Natur zu erhe-
ben. Ein wahres Verbrechen gegen das Denken ist es, wenn
man nun Kant zum geistigen Vater jener modernen »Predi-
ger« macht, fur die das Ideal des Menschen (oder der ideale
Mensch) sich im pathetisch schmerzlichen Bewufl tsein sei-
ner Grenzen und im Verzicht auf das Unrnogliche rcalisiert.
Ganz und gar syrnptomatisch ist, daB diese »modernen
Prediger« so gem Kants Kampf gegen den (metaphysischen)
Dogrnatismus ins Feld fiihren und dabei zugleich die ande-
re, noch wichtigere Front der Kantischen Philosophie »ver-
sondern die Ethik als treibende und allgemeine Kraft auf den
verschiedenen menschlichen Handlungsebenen.
Dieser Empirismus, in dem sich alles auf die -Realitat- re-
duziert, die selber wieder als das letzte Reale betrachret wird
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gessen", die Front namlich gegen den Empirismus. Das
beriihmte »radikale Bose« beingt Kant in der Tat bereits in
der Kritik der praktischen Vernunft auf den Begriff, und
zwar als »Empirisrn (in der Moral)«, Zwei Gefahren ist das
Siuliche ausgesetzt, dem Mystizismus und dem Empiris-mus, wobei der Mystizismus »ins Uberschwengliche hin-
ausschweift« und noch nicht absolut unvereinbar mit der
Reinheit des moralischen Gesetzes ist, wohingegen der Em-
plnsmus:
»(. .. ) die Sittlichkeit in Gesinnungen ... mit der Wurzel ausrot-
tet, und ihr ganz erwas anderes, namlich ein empiriscbes Interes-
se, womit die Neigungen uberhaupt unter sich Verkehr treiben,
stan der Pflichr unterscbiebt, uberdern auch, eben darum, mit al-len Neigungen, die (sie mogen einen Zuschnirt bckommen, wel-
chen sie wollen), wenn sie zur Wiirde eines obersten praktischen
Prinzips erhobcn werden, die Menschheit degradieren, und da
sie gleichwohl der innesart allcr so giins(ig sind, aus der Ursa-
che weit gefiihrlicher ist, als alle Schiearmerei ".« (KpV, Au6)
(Hervorhebungen A. Z.)
Der Ernpir is rnus in der Moral (und nicht etwa die »Schwar-
merei«) entspricht genau dern , was Kant in der Religions-
schrift das radikale Bose nennt. Der Empirismus bedeutetkeine Abwesenheit des Gesetzes, sondern das Fehlen seines
unbedingten Charakters, der Raum schafft fur die Kraft des
Allgemeinen im Subjekt, Der Empirismus, konnte man sa-
gen, reduziert die menschliche Praxis cinzig auf die Frage der
Legalitat. Und was den » Verkehr« angeht, von dem Kant
sprichr, so ist zu sagen, daB wir heute auf allen Ebenen von
ihm umflutet sind. In der Tat kann man feststellen daB der
»Empirismus in der Moral« heure in der sogenanmcn west-
lichen Welt triumphiert. Er vergiftet nicht die Ethik an sieh,
128
(so kann man zum Beispiel nicht gegen die »okonomische
Realirat« und ihre Gesetze angehen), liegt auch einero weite-
ren, immer haufiger zu beobachtendern Phanomen zugrun-
de: der Ohnmacht der Sprache, ihrer Unfahigkeit, noch ir-
gendeine »rnaterielle Wirkung«zu erzielen, Einerseits hatman den Eindruck, daB u n en dl ic h v ie le Mo g li ch k ei te n of-
fenstehen (da Unendliche des Ernpirischen, zahllose Kom-
binationen des Besonderen) und daB sornit »alles moglich
ist«, aber andererseits macht man die Erfahrung, daB diese
Situation erstickend ist, und man hat den Eindruck, nichts
ist eigentlich rnehr moglich, und gleich, was man tut, es an-
den nichts. Das Unendliche der Moglichkeiten ist bloB die
Unendlichkeit der Variationen ein und derselben Moglich-
keit , Erwas anders ausgedruckt, ist die Unendlichkeit derMoglichkeiren das Korrelativ des Fehlens jeglicher (ande-
rcn)vwirklichen Moglichkeir. Zum Beispiel- darauf hat 51a-
voj Ziiek in einem Gesprach hingewiesen - ist die Wahrheit
des politischen Dis kurses, der gerade so in Mode ist und sich
als -drirter Weg« geriert, nur die Wahrbeit, daft es keinen
zsueuen Weg gibt. Das heiBt, der beruhrnte »dritte Weg« ist
niches als die Affirmation der Unumganglichkeir und Un-
uberschreitbarkeit des »ersten Weges« (d. h. der reinen und
sirnplen Logik des Kapitals).Man ist also auf dern besten Weg zum »monologue de
l'apparole«." Was ist das Ideal dieses Monologs? DaB aile
46 -Dieser Monolog, nimmt man ihn als freie Assoziation - man kann ihn
auch als e ine gewisse Ubung der -apparole- nehmen, in der man alles sa-
gen kann - . zeigt, so Lacans These, erwa in Encore, daB das Sagen. ganz
gleich, was man sagl, immer zum Lustprmzip" fi.ihn. D. h., wo es spricht,
geniellc es. Da it der Kommentar dazu. Insbesondere, wei! man die Ver-
bore einklammert, die Hemmungen, die Vorurteilc etc., und wenn das rea]sich wirkl ich auf dieses Niveau wender, dann gibr eseine Befriedigung der
Rede. Da5 heillt, elles flie/lt «nd schwimmt W3.'iheii!t.das, wenn nicht:
auf dieser Ebene gibt es kein Unmogliches. ( ) Unter diesen Umstanden
I29
Welt sich (aus)spricht, und zwar wornoglich unaufhorlich,
Anders gesagt ist das Ideal des Monologs, daB aile Welt am
»es spricht« teilhat. Es spricht (offentlich nanirlich), gam.
gleich, woriiber, Aber darum geht das Spiel. Nennen Sie ir-
8. Was tun?
Wir kommen damit auf unser Ausgangsproblem zuruck, das
wir als Problem des Realen oder vielmehr als Problem seiner
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gendeinen erbarrnlichen Gegenstand, und schon machen wir
eine Fernsehsendung daraus. Darauf reduziert sich am Ende
der Beweis des demokratischen, des offenen Geistes. Es gibt
keinen unwiirdigen Gegenstand (wenn er der Unterhaltung
dienen kann). Gerade von den erbarmlichsten Dingen mufgeredet werden! Dann brauchen sie nicht mehr sprachlos zu
bleiben! Darum die groBe Schioarmerei, die Quelle fur eine
wahre Epidemie der Gesprache und Debatten in den Medi-
en und anderswo. Man muf sich unterhalten, man muG sei-
ne Gedanken austauschen, man muE diskurieren ohne nde.
Wenn man den Eindruck erzeugen will, daB sich die Rede an
jemanden ricbtet, daB also de! Andere der Rede (jederzeit)
existiert und daf die Rede somit einen wirklichen Effekt ha-
ben kann - was kann man dazu besseres tun als zwei, drei,zehn Personen einander gegenuberzusetzen und sie das
Theater spielen zu lassen! Diese Art von Gesprachen oder
Debatten sind der hochste Ausdruck des »monologue de
l'apparole«, d.h. der Rede als Mittel der (unmittelbaren) Be-
friedigung ohne irgendwelche Folgen fur das Reale des so-
zialen Raumes.
kann man sich keines Realen als Unrnoglichen versichern, Auf dieser
Ebene gib t es nur die Realit:it im Griff der Apparate des Genieflens, die
phantasmarische Real itat also .« Ebda,
I}O
anscheinenden Abwesenheit definiert haben, Darunter ist
nicht zu verstehen, dag es uns an einem »soliden Realen«
fehle, das sich von den IIlusionen und vom Ansehein unter-
scheidet, denn daran mangelt es in Wahrheit ganz gewiB
nicht, Es ist richtig, daB wir umgeben sind von allen mogli-chen Virtualitaten, abel' wir sind auch umgeben von einem
okonornischen Realen, das uns sehr wahl das Gefuhl des
Unrnoglichen vermittelr. Nur gehort dieses Unmogliche
nicht derselben Ordnung an wie das, was wir als Kern der
Freiheit erkennen konnen,
Wie schon gesagt, ist es das Gesetz, das einem »beinahe
naturlichen« Unrnoglichen, einem »ernpirischen- Unmogli-
chen, das die Barriere des Gesetzes der Lust bildet, ein sym-
bolisches Verbot hinzufugt. Damit e rs chaf ft e s das Reale des[enseits (des Lustprinzips), mit dern das Subjekt somit in
einen gewissen Bezug trcten kann. In diesem Sinn ist das Ge-
setz ein Buchstabe [lettre] des Realen, es is t das, was das
Unmogliche »formalisicrt«, an das das Lustprinzip stoBt.
Genauer konnte man sagen, das Gesetz ist das, was aus dem
Unrnoglichen ein Reales rnacht, gescrueden vom naturlichen
oder -beinahe natiirlichen« und in bezug auf dieses verscho-
ben. Es sorgt dafiir, daf das Reale des Unmoglichen sich jeri-
seirs einer »nanirlichen« Unmoglichkeit ansiedelt, und dieseVerschiebung hat eine befreiende Wirkung, sie offnet einen
Freiraum, der kein anderer ist als der Raum der Ethik oder
wenigstens dessen, was man als »klassische Ethik« bezeich-
nen konnte,
Schon seit einiger Zeit wird die Unfahigkeit des Gesetzes
konstatiert, (weiter) als Stiitze eines solchen Realen zu fun-
giefen. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Manche geben
sich noeh der Hoffnung auf eine Restitution des Gesetzes
(alsAutoritatsgesetz) hin. Andere stellen fest, daB das Reale
I}l
selbst nie erwas anderes gewesen ist als eine Illusion des Ge-
setzes, daB die Zeit dieser Illusion abgelaufen sei und daB
man heute, Gou sei Dank, von deren »Vergangenheit« spre-
eben konne, Nun hat es seine Kehr eite, wenn man das Rea-
gesehen, daB dies schon Kants Frage war; sie lag seinem dop-
pelten philosophischen Kampf gegen Dogmatismus und
Empirismus zugrunde. Und sie hat in den folgenden zwei-
hundert Jahren das Denken (zumindest einiger) beschaftigt.
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le auf diese Weise zur Illu ion erklart (eine These, die ver-
schiedene Formulierungen besitzt: »alles ist Konvention,
Sprachspiel«, »keine Idee wiegt ein Menschenleben auf" ... ),
namlich eine merkwiirdige Al1gegenwart des Rcalen, die sich
der, wie man sagen konnte, Naturalisierung des Unrnogli-
chen verdankt. Der »Verlust des Realen« fallt so zusammen
mit seiner Wiederkehr in arm der unerbittlichen Diktarurdes Lustprinzips (oder auch des Realitatsprinzips). Das Rea-
le (als Unrnogliches) ist uberall: aber es isr nicht mehr das,
was einen Freiraum schaffen konnre fur die Kraft des »Han-
delns« oder des -Denkens«, sondern es erscheim im Gegen-
teil als erdriickendes Gewicht, das jedem »Tun- und jedem
Denken unverriickbare Grenzen setzt,
Die entscheidende Frage ist daher, ob sich ein nicht-nanir-lichcs Reales den ken laBt, das sich nicht aufs Gesetz stutzt,
im Sinne der Existenz cines Anderen des Gesetzes, das als
Garant des Realen des Realen fungieren kann, Denn gcnau
darum handelt es sich: wenn es keinen Garanten des Realen
des Realen gibt (d.h. dahir, daB das Reale »wahrhaftig real«
ist) muB man dann auf den Begriff des Realen selbst vcr-
zichten und es in die Hande jene absolut Andercn geben,
das sich als (»okonomische«) Natur prasentiert, damit diese
uns sage, was real (unmoglich) ist, was alles gegen »unsere-Interessen geht? Dieser Gestus ist letzten Endes nichts an-
deres als »die freie Wahl der Nicht-Freiheit<., d.h. das, was
Kant das »radikale Bose« nenm.
Die Frage ist hochaktuell, aber nicht neu: ob man zu
wahlen hat zwischen der Begri.indung des Realen (oder sa-
gen wir, der Freiheit, denn urn diese handelt es sich) in einem
Anderen der Autoritat (Gott, Vater, taat ... ) oder seiner
Verschmelzung mit den Gesetzen der Natur (in diesem Fall
der »menschlichen- oder der »okonornischen«). Wir haben
IF
Bei Lacan finder man sie wohl am deutlichsten wieder ge-
srellt: der Knoten des Realen, des Imaginaren und des Sym-
bolischen und seine verschiedenen Artikulationcn stellt in
gewisser Weise den roten Faden seiner Lehre dar.
Es gibt sic, die Konzeption eines nicht-naturlichen Rea-len, das sich nicht auf das Gesetz (das Verbot) sti.itzt. Es gibt
sie bei Kant im Begriff eines Gesetzes, das sich nur auf sich
selbst beruft, woraus sich sein Doppelcharakter ergibt. Fur
das Reale der Freiheit kann man weder sagen, es existiert,
noch, es existiert nicht, ondern, es kann geschehen, d.h. es
kann »auihoren, sich niche zu schreiben«. Es is t keine ande-
re Realitar, hinter diesem oder jenem Anschein verborgen
oder als unzuganglich existierend. Das Reale ist nichts, was
man »entdecken- konnte, Das Reale der Freiheit kann sich,wie wir gesehen haben, ergeben aus der prekaren Konstruk-
tion eines nur seiner Form nach genommenen Gesetzes und
des (subjektiven) Begehrungsvermogens, Was hei:Bt das?
Das heillr zunachst, daB das unmirtelbare Band zwischen
Gesetz und Begehren zerschnitten ist, Die »reine Form- des
Gesetzes impliziert, daf es im Gesetz nichts gibt, was das
Begehren erregen konnte. Erinnern wir noch einmal daran,
daB das Kantische Gesctz (der kategorische Irnperativ) sehr
verschieden ist von jcnem Gesetz, von dem bereits Paulusspricht, dem Geserz, das eins ist mit dem Begehren und das
Alain Badiou so zusammenfaBt:
"Die Grundthcse von Paulus lautet, daG das Gesetz, und es al-
l ein , d em B c gc hr en ausreichend Autonornie v e rl e ih r , d a rn i t das
Subjekt dieses Begehrens angesichts dieser Autonomic den Platz
des Todes einnehrnen kann. ( ... ) Die Sunde ist das Leben des Be-
gehrens als Autonomic, als Automatismus. Das Gesetz ist erfor-
dert, darnit das aurornatische Leben vorn Begehren befreit werde
... Denn einzig das Geserz binder das Objekt desBegchrensund
13 3
legt es in Ketten, ganz gleich, welches der .Wille, des Subjekts
ist.,,47
Wenn Paulus sagt: »Ich harte das Begehren nicht gekannt,
hatte das Gesetz nicht gesagt: Laf dich nicht gelustenl «, so
kann man das gleiehe nicht in bezug auf das Kanrische Ge-
Prazisieren wir zunachst diesen Unterschied zwischen
dem Kant ischen Moralgesetz und dem »traditionel len« Ge-
setz, das das (uberschreitende) Begehren hervorruft. In sei-
ncm Kornmentar zu Paulus zeigt Alain Badiou sehr gut, daR
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setz sagen. Das Kantische Gesetz ist keines, das ein Begeh-
ren hervorrufen konnte, indem es sein Reales auf der ande-
ren Seite des Gesetzes ansiedelt. Kants Formulierung des
moralischen Gesetzes ist viel le icht die erste Formulierungeines unbedingten Gesetzes, das dennoch keinerlei Objekt
ans Begehren bindet und kein Garant des Realen ist, Genau-
er bindet es kein anderes Objekt ans Begehren als sich selbst
(» . .. und einzig aus Gesetz«). Was die Struktur des Begeh-
rens grundlegend verandert: daB die Form des Gesetzes
Triebfeder des Subjekts werden soil, impliziert nicht, daR das
Subjekt diese Form begehrt , sondern da.£ es si e zur Bedin-
gung (oder auch zurn »Kriterium«) des Begehrenswerten
m ach t, d. h . daB es begehrt, wa s s ic h aus seiner» Verbindung«mit dem Gesetz ergibt, Aus diesem Grund ist auch der Be-
griff der Uberschreirung der Ethik ganz fremd. Man kann
darin scheitern, das moralische Gesetz zur Triebfeder seines
Handelns zu machen, aber man kann dieses Gesetz niche
wirklich iiberschreiten, wie man das beim »klassischen« Ge-
setz tun kann, Das Reale ist nicht mehr in einem J enseits an-
gesiedelt, das das Gesetz abgrenzt, aber es ist ebensowenig
cine schlichre Gegebenheit des Diesseits. Wenn das Gesetz,
statt ein [enseits abzugrenzen, sich in zwei Elemente desDiesseits verdoppelt (die Form des Allgemeinen und die
Triebfeder als wesentliches Element des Begehrungsverrno-
gens), so muB man betonen, daB das Reale in keinern dicser
beiden Elemente »einbegriffen« ist. Es istweder in der Form
noch in der Triebfeder (oder Ursache): es ist das, was statthat
in einer etwaigen (man konnte auch sagen »ereignishaften«)
Beziehung beider.
47 Alain Badiou, Saint Paul, a.a.O., S. 83.
die Figur des an die Konfiguration des Gesetzes gebundenen
Subjekts des Begehrens keineswegs die des gespaltenen Sub-
lekts ist: die Intervention des Gesetzes (und des Begehrens)
z ie ht e in e Exzentrierung des Subjekts nach sich, Das Subjekt
de s Begehrens (oder des Gesetzes) is t im eigentlichen Sinneke in ge spa lt e n es SubjekL (gereil r zwischen dem Weg des Gei-
stes und dern Weg des Fleisches), es ist »ganz« auf der Seite
desFleisches, wiihrend die Ursache seines Begehrens es tran-
szendiert oder sich (immer) anderswo findet. Das Gesetz
»erschafft« das (Epi- )Zentrum des Subjekts und siedelt es
zugleich auBerhalb seiner Reichweite an. Das »Zentrum«
des Subjekts stellt sich nun als das Unzugangliche dar, das
die unendliche Metonymic des Begehrens hervorruft und
aus diesem letzteren cine Funktion des Gesetzes macht,Wenn d.ieseFigur dcm Subjekt der (Kantischen) Dialektik
der praktischen Vernunft gut eruspricht, in der das wahre Le-
ben des Subjekts (sein »Zentrum«) sich in michel' Weite fin-
der, so irnpl iziert die Analytik eine ganz andere Figur des
Subjekts. Das Subjekt der Freiheit, wie es die Analytik
denkt, ist offensichdich kein »kon-zentriertes« Subjekt. Irn
Gegenteil muBte man sagen, daB dieses Subjekt doppelt ex-
zentriert ist, exzentriert in bezug auf den Geist (seine uber-
sinnliche Bestimmung) und in bezug auf das Fleisch (seinesinnliche Bestimmung). Es ist exzentriert in bezug auf den
Geist, weil es Zugang nur zum Buchstaben des Gesetzes hat,
abel' es ist auch exzentriert in bezug auf das »Fleisch-, weil
dieser Buchstabe selbst zu seinem »Geist« (oder seiner
Triebfeder) wird, Nur dieses Subjekt ist im strikten Sinne ge -
spalten. Das Subjekr ist nicht mehr die »sterbliche Hulle«, es
ist nieht mehr das Subjekt, das sein Leben au£er sich hat,
»anderswo lebt« und sich d.ieses Lebens nUF durch einen
letzten Akt der Vollendung der unendliehen Metonymie des
[3 5
Begehrens bemachtigen kann. Es ist nicht mehr das Subjekt
- »leere Hiille« eines Objekts, das ihm entgeht; es verliert
auch diese Hiille. Das Subjekt ist das, was konstituiert ist im
Nicht-Verhaltnis der beiden Wege (des Buchstabens des Ge-
gehrc, was er ist, d. h . in der reinen Form seines Seins und
nicht einfach fiir dieses oder jenes Anziehende, also um jenes
Objekts willen, dessen Hiille er ist und das das Sein des Sub-
jekts selbst ist. Und vergessen wit nicht, daB sich im Kanti-
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setzes und der Ursache oder des Geistes).
Wi! haben es hier also mit einem Begriff des Realen zu tun,
der wesentlich gekniipft ist an die Frage des Yerbslsnisses
und niche an die Intervention eines Gesetzes, Der gleiche
Begriff des Realen findet sich auch in Lacans Seminar Enco-
re . Das (Nichr-Werhaltnis, urn das es geht, ist offenbar das
sexuelle (Nicht-Iverhaltnis, Man weill aber, daa sein Kern
nicht einfach eine Unvereinbarkeit des »Frau- eins« und des
»Mann-Seins« ist. Lacan situiert ibn in der Unrnoglichkeit
des Verhaltnisses zwischen dem anderen als Objekt des Be-
gehrens und dem Anderen als gleichsam »reine Form- des
Seins. Und bier gibt es kein Yerbiiltnis, d.h, kcinerlei Funk-
tion oder Gesetz, das eine Beziehung zwischen beiden her-
stellen oder gewahrleisten konnte, Eine weirverbreitete Ab-hilfe besteht in der Vertauschung/Verschmelzung beider, d.
h. in der Reduktion des Anderen auf das Objekt a oder in der
Auffassung des Objekts a als Anderern. Diese Konfusion
kann zu einem (sexuellen) Verhaltnis fuhren, das das Subjekt
mit sich selber sogar tiber die Projektionsflache des anderen
unterhalt.
Will man die Natur der Schwierigkeit des Verhaltnisses
genau definieren, so muB man sagen, die Hauptfrage bcsteht
eigemlich nicht darin, ein Verhaltnis zwischen sich selbstund dem anderen, sondern zwischen zwei anderen herzu-
stellen, von denen der eine nur die Projektionsflache eines
»Teils« unseres eigenen Seins ist, das, »eingeschlossen« in
den anderen, als Ursache unseres Begehrens fungiert. Das
Subjekt ist (schon) iiber die Grundstruktur des Begehrens
im Anderen eingeschrieben, eingeschrieben mit einem Teil
seines Seins, und eben daraus ergibt sich die ganze Schwie-
rigkeit seines Verhalmisses zum Anderen. Denn es impli-
ziert, daB das Subjekt den Anderen urn des entwillen be-
T 3 6
schen ».... und einzig aus Gesetz- diesel be Implikation fin-
det: »den Anderen urn dessenrwillen begehren, was er ist«,
Anders gesagt - und damit begibt man sich noch weiter auf
Kantisches Terrain - setzt das Verhaltnis voraus, daB das
Subjekt, statt die Befriedigung seines Begehrens zur ober-
sten Bedingung seiner Dbereinstimmung mit dem zu rna-
chen, was man die Hiille des Anderen nennen kann, aus die-
ser »Hiille« selbst die oberste Bed.iogung (der Befriedigung)
seines Begehrens macht, Tritt das ein, dann kann man sagen,
die Verschiebung zwischen dem a und dem Anderen ist
nicht abgeschafft, und zugleich »hort« an dem Verhaltnis
beider etwas »auf, sich nicht zu schreiben«, Das jedoch ist,
wie man weill, niches, was auf Befehl geschieht, »Denn ein
Gebot, daB man erwas gerne tun 5011«, sagt Kant, »ist in sichwidersprechend ... « (KpV, AI49)
Damit scheinen wir direkt uber die Frage der Liebe ge-
stolpert zu sein. Die Liebe, rnacht sie nicht eben moglich,
den anderen urn dessentwillen zu begehren, was er ist?
Uberhaupt nicht; das ist ein gro6es ..humanistisches- oder
..humanisierendes« MiBverstandnis, das dazu fuhrt, aus der
Liebe ein universelles Heilmittel gegen alle Ubel zu machen,
ein Heilrnitrel, das man in der Folge als Imperativ verordnet
("Liebe deinen Nachsten wie dich selbst!«). Man mufi ganzirn Gegenteil sagen, daB die Liebe uberhaupt keine Antwort
auf das Problem des Nicht- Verhalrnisses ist, sondern viel-
mehr das, was sich durch seine zufallige und ortlicb be-
grcnzte Suspension eroffnet, d.h. was rnoglich wird, wo das
Verhaltnis -aufhort, sich nicht zu schreiben«, Die Liebe
kann keinesfalls irgendein Reales des Verhaltnisses sicher-
stellen, sie rnuf im Gegenteil seiber durch das Reale eines
Verhaltnisses gesichert werden, aber vor allern eroffnet sie
sich erst durch e m solches Reales. Die Liebe ist Wirkung ei-
[ 3 7
nes Realen, das -aufhort, sich nicht zu schreiben«, oder
auch, wie Lacan sagt, der hier ganz einverstanden ist mit
Kant, sie ist seinAffekt.4S Die Liebe im strengen Worrsinn (d.
h. die Liebe, die nicht einfach Ausdruck des Begehrens oder
Liebe zum anderen ist, sofern er uns gleicht) kommt in der
Sackgasse und die begrenzte Tragweite dieser Erhik, die auf
der Liebe zu grunden beansprucht:
»Mein goismus befriedigt sich sehr wahl an einem bestirnmten
Altruismus, an dern narnlich, der sich auf die Ebene des Niitzli-
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Tat dem sehr nahe, was Kant das Gefiihl der Achtung nennt,
Sie entsteht daraus, daB etwas, was alles, nUT nicht unseres-
gleichen ist (das Sein des Anderen ist niemals etwas, in dem
wir uns wiedererkennen konnten, es hat immer erwas Un-
menschliches), als letzte Bedingung unseres Begehrens zu
fungieren beginnt.
Nicht also, weil ich ihn liebe, wird das Sein des Anderen
Bedingung rneines Begehrens, ic h liebe ibn vielmehr, wei! er
zu einer solchen Bedingung geworden ist. Daher kann Lacan
sagen, was wie eine Ungeheuerlichkeit klinge, namlich daE
»die Liebe immer reziprok ist«: sie ist es, wei! sie in ihrem
Ursprung nichts anderes als die affekcive Entsprechung der
Herstellung eines Yerbdltnisses von zweien ist, so punkruelldieser auch sein mag.
Macht man dagegen aus der Liebe die Bedlngung des Ver-
haltrusses (oder auch der Tugend, die Kant definiert als Ver-
haltnis zwischen der Pflicht und dern »einzig aus Pflicht«),
dann offnet man nur die Tur zur Abschaffung der Frage des
Verhaltnisses selbst, Kant sagt das ganz deurlich: die Liebe
als Antwort (auf das konsrirutive Nicht-Verhaltnis der Sitt-
lichkeit) setzt bereits die Existenz des heiligen Willens vor-
aus (was bedeutet, dafi das Niche- Verhaltnis sich ganz ein-fach in ein - irnmer harmonisches - Verhaltnis verwandelt),
oder aber sie reduziert sich auf Arroganz und »eitele Philau-
tie« (KpV, ALB), d.h. darauf, dag wir den anderen nur als
unseresgleichen lieben,
Wenn Lacan in der Ethik der Psychoanalyse uber das Ge-
bot »Du sollst deinen Nachsten wie dich selber lieben ,< und
iiber Freuds diesbezugliches Zogern spricht, benennt er die
48 Lacan, Encore. a.a.O., S. 158.
»Ein erster Verdacht befallt uns, wenn wir daran denken, daB
die Apostel der Ethik und des -Rechts auf Differenz- VDr allen
etwas nacbhaltigeren DiJJerenzen schon zuruckschrecken,
Denn fur sie sind die afrikanischen Sitten barbarisch, die Isla-
rnisten abscheulich, die Chinesen totalitar und so fore. InWahr-
heir ist der beriihmte -andere- nur vorzeigba:r, wenn er ein guter
anderer iSI, und was heiGt das anderes als: wenn er der gleiche
ist w ie w ir ?« 50
chen stcllt, und das ist genau der Vorwand, mit dessert HiIfe ich
vermeide, an das Problem des Bosen heranzugehen, das ich be-
gehre, und das mein Nachster begehrt. ( ... ) [W]as ich will, das ist
das Wahl der anderen nach dem Bilddes rneinen. Ich wiirde noch
mehr sagen. Das kostet nicht arg viel, Was ich will, ist das Wohl
der anderen, vorausgesetzt, es bleibt im Bild des rneinen.e"
Man rnuf wohl sagen, das Paradox und das »Unbehagen«
am Gebot »Du sollst deinen Nachsten lieben wie dich
selbst« hat in unseren »laizistischen« Gesellschaften nichts
an Akrualitat verloren. Dieses Gebot hat seinen Weg in den
weltlichen Diskurs der Ethik (und der Politik) gefunden, wo
es sich unter dem Deckmantel der »kulturellen Differenzen«
und des m it ihm verbundenen Gebotes prasentiert: »Achtedie Differenz des anderen.« Sicher, dieses Gebot verlangt
von uns nicht mehr, den Nachsten/anderen zu lieben - wir
brauchen ihn blofi zu »tolerieren«. Aber im Grunde scheint
es sich urn genau das Gleiche zu handeln. Dieses neue Gebot
bring! die gleichen Probleme, das gleiche Unbehagen mit
sich. AJain Badiou weist darauf hin:
49 Lacan, Elhik der Psychoanalyse, a. a .0., S. 227.
5 0 Alain Badiou, L'Elhique, Paris [993. S. 24.
1)9
es, was Kant imBlick hat, wenn er sagt, daB man "die prak-
tischen Begriffe des Guten und Bosen« nicht »blof] in Er-
fahrungsfolgen« setzen darf (KpV, AI25), und das ist es,
was wir in der Einleitung das unzeitgenossischste Moment
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rung gefahrlicher ware als der Verzicht auf jedes Reale einer
Illusion.