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Wilhelm Deinert: Der Gesang der Konturen

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Wilhelm Deinert hat sich zeitlebens mit Sprache und deren Wirkung wie Formen beschäftigt. Sein Werk ist geprägt durch einen eigenwilligen, auch spielerischen Umgang mit Wort und Schrift. So wie er selbst – ein Querdenker, manchmal eigensinnig und unbequem –, so erscheint bisweilen auch sein Stil sperrig und oftmals nicht leicht zugänglich. Auch diese posthum veröffentlichte Essay-Sammlung ist von einer enormen sprachlichen Wucht. Auf hohem intellektuellem Niveau bewegen sich Deinerts Abhandlungen durch verschiedene Bereiche des künstlerischen und gesellschaftlichen Lebens. Sie spiegeln die Themen wider, die den Künstler das letzte halbe Jahrhundert beschäftigt haben: Formen der Literatur und Sprache, Bildende Kunst, Musik, aber auch Begebenheiten des alltäglichen Lebens. Betrachtet durch die Augen eines einzigartigen Dichters und analysiert mit seiner ganz eigenen Sprachgewalt.

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Bibliografie* zu Wilhelm Deinert

»Ritter und Kosmos im Parzival«. München (Beck) 1960

»Triadische Wechsel. Zyklus tonalis«. München (Saupe & Co.) 1963

»Gedrittschein in Oden«. München (Saupe & Co.) 1964

»Thema mundi«. München (Selbstverlag) 1968

»Der Tausendzüngler. Ein Wortkartenspiel«. Ebenhausen (Langewiesche-Brandt) 1970

»Missa Mundana. Epizyklische Gesänge«. München (Delp) 1972

»Bricklebril. Ein Lügenmärchenspiel (für Kinder)«. Wehrheim (Gruppenpädagogische Literatur) 1979

»Die Gnomenstaffel. Ein Steckspielkalender zum Sprücheverwandeln«. Wendungen (Fedke) 1979

»Mauerschau. Ein Durchgang«. München (Piper) 1982

»Über den First hinaus. Ein Anstieg«. Bühl-Moos (Elster) 1990

»An den betenden Ufern. Brief aus Benares«. München (ARW) 1994

»Was ist das – ein Sprachspiel? Neue dichterische Gattungen und Verwandlungs-formen«. In: Gerhard Hahn und Ernst Weber (Hg.): »Zwischen den Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte«. Regensburg (Pustet) 1994

»Das Silser Brunnenbuch. Ein Engadiner Glasperlenspiel und lyrischer Umgang« Chur (Desertina) 1998

»Sandelholz und Petersilie. Eine Umkehr«. Frankfurt/M. (Haag + Herchen) 2001

»Mit der Wünschelrute gelesen. Hermeneutische Aphorismen«. In: Claudia Christo-phersen, Ursula Hudson-Wiedemann und Brigitte Schillbach (Hg.): »Romantik und Exil«. Festschrift für Konrad Feilchenfeldt. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2004, S.309–317

»Der tastende Strahl. Antwortende Verse auf Bilder um Einlass«. Aachen (Shaker Media) 2008

»Das Buch vor Ort. Eine lyrisch-epische Aufrüstung«. Aachen (Shaker Media) 2010

»Nahe Dran. Im Herzpunkt der Radien«. Aachen (Shaker Media) 2011

* Die Bibliografie erfolgt auf der Grundlage des Eintrags im KLG, verfasst von Tobias Unterhuber.

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Wilhelm Deinert

Der Gesang der KonturenAufsätze zur Sprache der Formen in Literatur, Kunst, Musik und Leben

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Gertraud Bodendörfer

Mit einer Einführung von Bernhard Gajek

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Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter www.allitera.de

März 2013Allitera VerlagEin Verlag der Buch&media GmbH, München© 2013 Buch&media GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink, unter Verwendung einer Zeichnung eines unbekannten KünstlersPrinted in Germany · ISBN 978-3-86906-497-0

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Inhalt

Vorwort von Gertraud Bodendörfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Einführung von Bernhard Gajek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Prolog. Absurd oder nicht − das ist die Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

I. ZUR LITERATUR UND SPRACHE

Der Ritus der Sprache. Ein Blick vom Veda auf die deutsche Dichtung . . . . . . . . 21

Die zwei Stimmen der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

Ist das noch ein Vers? Tractatus metrico-poeticus Über den freien Vers und seine Abkömmlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

Das Stufengedicht − Eine neue poetische Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

Tetralogie für Stefan George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Mit der Wünschelrute gelesen. Schatzfunde entkrustet . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Der wandernde Lichtspalt auf Bücherrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Wolfram von Eschenbach − »welher stiure disiu maere gernt« . . . . . . . . . . . . . 111

»Hast du der Gaspara Stampa / denn genügend gedacht …« . . . . . . . . . . . . . . 116

Goethe am Pranger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Freispruch für den Befreier . Zu Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Der bessere Deutsche von Deutschen verjagt − Karl Wolfskehl . . . . . . . . . . . 121

»Da lag die kugel auch von murrastein« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

»Schreiben heißt, jedes Wort zum Blenden bringen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Das Medusenauge des Dichters − Paul Celan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Zupfleger am Dombau der Deutschen Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Das sprachliche Schützenfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Der Satzdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Wohllaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

Erleuchtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

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Warum In Versen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

»Vorsicht − nicht schwingen!« Zur rhythmischen Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . 138

Der unterschlagene Vers . Einer Schauspielerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Roman und / oder Versform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Regietheater . Nur ein Etikettenschwindel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Kleinschreibung – wann und wozu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

II. ZUR BILDENDEN KUNST

Urerfahrungen des Geformten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

I . Der Faustkeil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

II . Römische Pfeilspitze vom Döttenbichl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

III . Kykladenidole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

Griechischer Dreiklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

I . Ägina − Der Tempel und was da geschieht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

II . Delphi − oder das apollinische Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

III . Der Musenquell . Alkaios und Sappho auf der Vase . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Von der Mitteilsamkeit der ungegenständlichen Malerei Zu den »Kompositionen« von Otto Ritschl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Meisterschule im strengen Satz Hannes Schmuckers Weg vom Geranienstock zur Kunst der »Fuge« . . . . . . . . . . . 169

Das Keimbeet der Leinwand. Max Herrmanns Kommenlassen der Bilder . . . . . . 186

Lothar Fischer − Muttersohn der »Natura Naturans« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Antonia Cormeau − Quellnymphe am Ursprung der Gestalten . . . . . . . . . . . . . . 193

Alchemie der Linie. Einkreisung der Kunst Michael Haussmanns . . . . . . . . . . . . . 197

Die Sphären der Gowa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Stufenwege ins Imaginäre. Bei Mira von Wasielewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

III. ZUR MUSIK

Das wohltemperierte Universum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

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Messa Cantante Napoletana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Mayas tanzende Töchter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

Gedicht und Musik. Auf Partnersuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Wagner − minus − Meute − plus − Mond − minus − Motoren = Null (plus X) Zu einer Nibelungen-Groteske von Alexej Sagerer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

IV. GELEBTE FORMEN

An den betenden Ufern − Brief aus Benares . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

»Sisyphos zeigt seinen Stein vor« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Das beschworene Paradies. Die verkannten Schauessen des Barock . . . . . . . . . . 240

»Wär’ nicht das Auge sonnenhaft …« Zu Goethes 250 . Geburtstag . . . . . . . . . 257

Gottesdienst in Gedichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

»Wir Wilden sind doch bessre Menschen« – Heimrad Prem . . . . . . . . . . . . . . . . 267

V. BEDROHTE FORMEN

Die marmorne Passion. Venezianisches Mosaik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Osterbescherung am Lago Maggiore. Eine Phantasmagorie . . . . . . . . . . . . . . . 284

Wer wenn nicht ihr? Lagebericht zum »Goldenen Abitur« an die Absolventen von heute . . . . . . . . . . . 287

Willst du marktkonform sein … Rat für Poeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

»Und die Sonne verhüllte ihr Antlitz …« München, 11 . August 1999 . . . . . . . . . 299

VI. UNSORTIERTES

Der Koran in Bayern. Eine Erkundung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Nachträglicher Wunsch zu Uris Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

Der Politische Führerschein. An Rudolf Adam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

Griechische Ostern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314

Nach einer Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

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Der vergrößerte Friedhof von Ronco Sopra Ascona . Ein Beitrag zur modernen Architektur des Tessins oder Schandfleck? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316

Emanzipation. Ein Dramolett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

Postskriptum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

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Liebe Leserin, lieber Leser,

mit diesem Buch halten Sie ein Werk in Händen, das der Autor selbst nicht mehr abschließen konnte. Den nahenden Tod vor Augen arbeitete er fieberhaft an der Her-ausgabe der Essays, bis es nicht mehr ging. Und das ist für ihn bezeichnend gewesen. Wilhelm Deinert hat sein Leben radikal in den Dienst an der Sprache gestellt und dafür auf vieles verzichtet, was sonst einem Menschen wichtig ist: sicheres Einkom-men, großzügiges Wohnen, Familie. Für ihn war sehr früh klar – vielleicht kann man von einer Art Initiation sprechen –, welche Kraft zur Ordnung, welche Schönheit und welches Glück vom treffenden Wort ausgeht. Als Schüler in der eindrucksstärksten Zeit des Lebens stieß er in der nächsten Nachbarschaft seines dörflichen Elternhau-ses bei einem Bauern auf eine Gesamtausgabe der Werke Stefan Georges. Der wurde ihm – noch vor Eintritt in die Kritikfähigkeit – zunächst sein Leitstern. Er ist es nicht geblieben, aber er war das Fanal zu einer lebenslangen Auseinandersetzung mit und Arbeit an der Sprache. Dazu gehörte für ihn auch, die Welt um sich herum zu erkunden, sozusagen den Nährgrund der Sprache zu erwandern. Während der mehr als 50 Jahre seines Lebens in München erarbeitete er sich mit wissenschaftli-cher Gründlichkeit Bayerns geologische, archäologische, historische und künstleri-sche Dimensionen.

Es ist anzunehmen, dass Wilhelm Deinert noch Verbesserungen, Kürzungen, Straf-fungen, vielleicht sogar Weglassungen und Entschärfungen vorhatte. Die Aufsätze sind eine Ernte von Jahrzehnten und zeigen – vielleicht für manchen Leser fassbarer als seine Lyrik –, wie scharf der Autor unsere Wirklichkeit im Visier hatte und, wenn es ihm notwendig erschien, auch eingegriffen hat.

Seine Freunde und Freundinnen sowie die Herausgeberin sehen in dem Band ein Vermächtnis Wilhelm Deinerts. An dieser Stelle sei vor allen Dingen Gernot Eschrich und Siegrid Maurice gedankt, die mit ihrem persönlichen Engagement einen ent-scheidenden Beitrag dazu geleistet haben, dass dieser Band publiziert werden konn-te. Mit der posthumen Herausgabe wollen alle Beteiligten Wilhelm Deinert einen Freundschaftsdienst erweisen. Sie hoffen, Sie mögen sich bei der Lektüre wahrhaftig vergnügen.

Gräfelfing, im Februar 2013 Gertraud Bodendörfer

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Einführungvon Bernhard Gajek

Dieser Sammelband vereint über fünfzig »Aufsätze zur Sprache der Formen in Lite-ratur, Kunst, Musik und Leben«. Die Ankündigung nennt das, was den Autor ein halbes Jahrhundert hindurch beschäftigt, belastet, erfreut oder beglückt hat.

Wenn man Wilhelm Deinerts »Hausseite« – so seine Verdeutschung von »homepage« – aufruft, liest man: »Geboren 1933 in Oldenburg, Kindheit und Jugend am Jadebusen, Studium der klassischen Philologie, Germanistik und Kunstgeschichte in Münster, Freiburg und München, mit Promotion über Wolf-rams von Eschenbach ›Parzival‹. Daneben Tätigkeit als fliegender Händler, Werk-student, Helfer in Kinderlagern und Hauslehrer. Von 1958 bis 1963 Lehrbeauf-tragter für deutsche Sprache und Literatur an der Universität München. Lebt seitdem als freier Schriftsteller in München-Schwabing. Seine Arbeiten umfassen Lyrik, lyrisch-epische Großformen, Kurzprosa, Essays zur Literatur und Kunst der Moderne, zur Lage. Experimentelle Gattungen. – Einsätze als Rutengänger und Umweltschützer.«

Das ist die Lebensgeschichte in nuce. Das Präsens »lebt seitdem ... in Mün-chen« muss nun durch das Präteritum ersetzt werden: »Lebte in München bis zum 2. Mai 2012 … seinem Todestag«. Der Zusatz »… starb nach kurzer, schwerer Krank-heit« würde das Schicksal andeuten, gegen das die klinische Behandlung ohnmächtig war. Aber man muss auch hinzufügen: »Bis zuletzt arbeitete er an Aufsätzen, die in diesem Band nun vorliegen.«

Titel und Untertitel konnte er noch selbst bestimmen. Sie deuten an, dass es nicht nur um Fachwissen und Philologie geht, sondern um eine Wesensschau von Seiendem in einfach scheinenden Themenbereichen: »Literatur und Spra-che«, »Zur Bildenden Kunst, »Zur Musik«, »Gelebte« und »Bedrohte Formen«. Das klingt vertraut. Doch die Titel der Abhandlungen lassen aufhorchen, machen neugierig oder distanzieren den Leser durch eigenwillige Stichworte. Was heißt »Mit der Wünschelrute gelesen« – oder »Der wandernde Lichtspalt auf Bücher-rücken«? Und was ist ein »Zupfleger am Dombau der deutschen Sprache«? Die Antwort findet der Leser.

Die Aufsätze ergeben eine beeindruckende Ernte. Sie gehört zu einer Lebensleis-tung, die wesentlich dichterisch ist. Wer beides kennt – die Dichtungen und die an Fragen erarbeiteten Abhandlungen – sieht erstaunt, wie nahe sich beides kommt. Das eine sind die Sprachwerke, die in eigenwilliger Erfindung und einzigartiger Diktion unbetretene Felder unseres Bewusstseins und unserer Erfahrung abstecken und öff-nen; sie sind auf der »Hausseite« verzeichnet. Das andere lehnt sich an akademische

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Erörterungen an – wenn auch mit Themen, die außerhalb der universitären Studien-pläne liegen.

»Der Ritus der Sprache. Ein Blick vom Veda auf die deutsche Dichtung«: Der erste Aufsatz zeigt schon die Spannweite und den Willen, das zusammenzubringen, was weit auseinander liegt; die Voraussetzung ist die Kenntnis von Sprache und Kerntex-ten des alten Indien. Philologie wird zum Mittel, den Zusammenhang nachzuwei-sen: Johann Georg Hamann, Johann Wolfgang von Goethe und Hölderlin, zusammen mit der eigenwilligen Deutung durch Martin Heidegger, dazu Jean Paul tragen die Brücke in unsere Zeit. Die »Tetralogie für Stefan George« setzt die leidenschaftliche Aneignung einer großen Dichtung in überzeugende Kritik am Klischee und an der »diffamierenden Strategie« neuerer Darstellungen um. »Mit der Wünschelrute gele-sen« – so werden »Schatzfunde entkrustet«, von Vor-Urteilen befreit.

Dies ist die durchgehende Absicht und das unermüdliche, ebenso gelehrte wie temperamentvoll geübte Verfahren. Themen, Gegenstände und Personen werden grif-fig und fachkundig vorgestellt – mit erstaunlichen Ergebnissen. In Wolframs von Eschenbach »Parzival« wird das »Verhängnis« erklärt; der an den Pranger gestell-te Goethe wird vehement in Schutz genommen; die von Rilke gelobten Sonette der venezianischen Kurtisane Gaspara Stampa werden erläutert und Friedrich Nietz-sches »Wille zur Macht« wird gegen Fehldeutungen verteidigt. Karl Wolfskehl – der »Zeus von Schwabing« und »exul poeta« –, Stéphane Mallarmé, Paul Valéry und Stefan George sind Ahnherren der neueren Weltliteratur.

Ein geistvoller Spott trifft die mit dem Computer eingebürgerten Anglizismen. Statt »Internet, E-Mail, @ und Handy« schlägt Deinert »Findernetz, Flitzbrief, Affen-schwanz und Hantel« vor. Seine eigene »Hausseite« ist an die hundert Seiten lang und vorzüglich gemacht. Dass er einen Münchner Rapper-Wettbewerb gewann, galt ihm als Sieg anspruchsvollen Spontan-Reimens. Die großen Versdichtungen wie die »Mauerschau« (1982) verkauften sich freilich schwer; das hoch bezuschusste Buch wurde nach zwei Jahren verramscht. Gegen Orhan Pamuks Überschätzung des Romans als Gattung der Zukunft und gegen »das Kriterium der höchsten Aufla-genziffer« fordert Deinert für seine und alle Lyrik »den Schutz der vom Aussterben bedrohten Arten. Denn mit unserem archaischen, musisch-integralen Sprachverhal-ten … verkörpern [wir Lyriker] die evolutionsfähigste Stammlinie der Hominiden«; nur so werde die Verkümmerung der Kommunikation »zur pragmatischen Infor-matik« abgewehrt. Und daher ist die griechisch-klassische Dichtung unverzichtbar: Ägina und Delphi sind auch für uns Schulen des Sehens und Orte des Heils, Alkaios und Sappho sind u n s e r e priesterlichen Dichter.

Bilder waren ihm unverzichtbare Zeichen – »Modelle gesteigerter Verfassung unse-res Bewusstseins«. Otto Ritschl, Max Herrmann, Lothar Fischer, Antonia Cormeau, Michael Haussmann und Mira von Wasielewski hat er geliebt, verstanden und

Einführung

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Einführung

erschlossen. Das Verhältnis von Dichtung zu Musik gehörte dazu: Beide seien »auf Partnersuche«, die im psalmodierenden Vortrag von Gedichten zum Ziel komme. In den Kirchenliedern Paul Gerhardts oder des Knorr von Rosenroth drücke sich das Christentum rein aus.

Spiritualität jeder Art faszinierte ihn. Im »Brief aus Benares« gesteht der neu-gierige Europäer, dass er das Fremde als ihm überlegen empfand. Natur – auch als Bedrohung – sei anzunehmen, zu bejahen, so wie Sisyphos den Stein immer wie-der an sich genommen habe – als Teil seiner selbst. Solche Bilder aus Mythos und Geschichte kann Deinert zu großen Essays entwickeln. Er beschreibt die Zeit, den Raum, die Menschen und Sitten gelehrt, doch fesselnd und macht den »mythischen Zusammenhang« und die »weltliche Eucharistie« bewusst – so bei den »verkannten Schauessen des Barock«: Das »goldene Zeitalter« kann nicht nur betrachtet, sondern auch gelebt werden. Goethes 250. Geburtstag wird in diesem Zusammenhang gese-hen – als astrologisch vorgezeichneter »apollinischer Augenblick«. »Ritter und Kos-mos«, das Thema der »Parzival«-Dissertation von 1960, lenkt auch hier den Blick.

Wilhelm Deinert war einer, der es ernst meinte und dessen aufrüttelnde Rede an Abiturienten des Jahres 2002 deshalb besonderes Gewicht hat, weil er selbst konse-quent lebte, was er den jungen Leuten ans Herz legte – legen wollte: Dass ihn seine Konabiturienten von 1952 die Rede gar nicht halten ließen, zeigt wohl, wie genau er den Nerv der Zeit traf.

Wie nah er an der Zeit lebte und dachte, lehren auch die Versuche zur Kunst und zu den Künstlern Münchens. Das wilde Leben des Heimrad Prem aus der »Gruppe Spur« schmerzt in dieser Schilderung aus nächster Nähe; das Unbedingte wird als Eigenes empfunden. Und der »Vorschlag« seines »Deutsch-Islamischen Manifests« versteht die seit dem Mittelalter, von Wolfram bis Goethe wirksame Verbindung der Kulturen als Ermutigung für die Gegenwart. Um sie geht es auch jetzt, nach dem Tod des Autors.

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Prolog. Absurd oder nicht − das ist die Frage

Es geht um das Ganze − die alte Frage: Ist das Weltgeschehen samt unserem Leben ein irgendwie sinnvoller Zusammenhang oder ein Durcheinander von blinden Zu-fälligkeiten und Mechanismen? Anzeichen gibt es für beides: Demnach steht es im naheliegendsten Urteil schlecht um den Sinn. Denn der furchtbaren Beweiskraft der Katastrophen, die alles glücklich zustande Gekommene wieder zunichte machen, jeden guten Willen durchkreuzen und Wunderwerke von feinster Organisation in den untersten Schutt oder Urschlamm zurückbefördern, wäre nur ein sehr frommer Glaube an »das sanfte Gesetz« gewachsen − wenn es nicht die Lichtblicke gäbe, diese Momente der unbestreitbaren Übereinstimmung von Ich und Welt, die ein Gegen-über von irgendwie unseresgleichen, ein Entgegenkommen in vielerlei Gestalt er-fahren lassen, das sich zu dem Gespür einer uns verwandten Beseelung des Ganzen, wenn nicht gar einer Person verdichten kann, zu der wir geneigt sind, Du zu sagen.

Die Zeichen mehren sich, dass unser Eigenstes im Weltall angelegt ist: Meteo-riten von außerhalb unseres Sonnensystems sind aus den gleichen Stoffen wie wir. Bausteine des Lebens treiben im Raum, die auf erdverwandten Planeten zu ähnlichen Entwicklungen wie der unseren führen können. Nichts hindert uns somit, in unse-rer mühsam hervorgebrachten Humanitas, dem Aufblühn der Erde zu Domen und Symphonien, delphischen Spielen und Friedensfeiern die Bestimmung des ganzen kosmischen Geschehens zu sehen. Alles Ungeschlachte, das uns umgibt, würde als Rohstoff und Vorform verstehbar und aufgewertet. Das Ganze als kreisendes Ele-mentargeschehen stellt sich zum einen als unausgesetztes Hegen und Gedeihen dar, zum anderen als notwendige Zurücknahme in den Ausgangsstoff um der nächsten Gestaltungen willen.

Angesichts der beiden Aspekte ein und derselben Verwandlung scheiden sich unsere Geister, am auffälligsten die der Künstler und Poeten: »Der sieht das Feuer − der das Holz!« Er sieht auf das Unding, das leidensfähige Wesen hervorbringt, um sie zugrunde zu richten. Die Dämonenmasken der Menschheitsgeschichte, ihr Fletschen und Grinsen zusammengenommen, stehn für die Ungeheuerlichkeit, die hier ange-klagt wird. So gilt wohl die Hälfte der Weltkunst und -literatur der Leidensgeschichte der geschundenen Kreatur, weil das Leben nicht denkbar ist ohne verdrängt zu wer-den durch nichts als das Leben selber. Wonach allerdings die Anteile von Leidensweg und Flaniermeile oder Festzug im einzelnen Lebenslauf sich verteilen − ob hier Kon-sequenzen von wer weiß am Werk sind oder es doch eine Domäne des blinden Zufalls, des Absurden gibt − bleibt ein Rätsel.

So gilt eine Kunst, die nur in Wohlklängen und Rosafarben schwelgt, hinsicht-lich des Lebens als unwahr, Schönfärberei. Wie sie umgekehrt, wo sie in düsteren

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Farben wühlt, vom anderen Ende her unwahr wird. Der wahrheitsgemäßen liegt die ungeschmälerte Spanne zugrunde. Die Bordmusik unseres Raumschiffes namens »Titanic« dürfte also sehr wohl die Herrlichkeiten der Erde feiern, die wir umschwe-ben, wenn sie auch ihrer Nachtseite gerecht würde. Sie dürfte den Lichtgruß der Sterne erwidern, wenn sie die Augen nicht vor den ungeheuren Vorgängen verschlös-se, die unsere Fernrohre uns verraten. Es hieße, unsere Welt um die Abgründe des Weltraums zu vertiefen − will sagen: uns mit unserem sicheren Untergang in dem Ganzen zu versöhnen.

Als Rede von der Welt zu uns stellen Literatur und Kunst lauter Brückenschlä-ge zwischen ihr und uns her. Das Hervorgehn des Menschlichen aus ihr, sein sich Behaupten und wieder Versinken, um womöglich in seinem Erliegen desto unbe-dingter hervorzutreten, sind das Thema der Künste schlechthin. Im Nachvollzug der Werke findet die Reflexion des Ichs auf das Ganze statt. Damit ist die entscheidende Blickwendung geleistet, die uns befähigt, uns selber im Zusammenhang des Ganzen zu sehen, aber auch im Gegenüber zu ihm, wenn nicht im Gegensatz.

So erweist die griechische Tragödie im Untergang ihres Protagonisten die Ober-hand der Götter und stellt uns frei, in eben dem, das uns vernichtet, die Mächte anzuerkennen, die uns hervorbringen und erhalten. Und sie sind nicht das Unge-heuer mehr: Ein Lebensstrom, der in unserer Menschlichkeit eine äußerste Spitze getrieben hat, nimmt seinen weiteren Lauf durch sie hindurch. Aber nicht nur in der Auflösung ist dieses Einssein zu erfahren − so heißt es bei Goethe:

»Wer die Schönheit erblickt, ist mit sich und der Welt in Übereinstimmung.«

Das umschreibt mit der vertieften Seinserfahrung zugleich die höchstmögliche Be-wirkung der Kunst. Aber auch die anspruchsvollsten Anforderungen an sie, an ihre Gestaltung! Schönheit in der Kunst wäre mithin nicht das Hübsche, Nette, Gefällige, sondern das, was die Übereinstimmung des Aufnehmenden »mit sich und der Welt« vermittelt − das Wiedererkennen von etwas Erwünschtem, seiner selbst und der Welt in dem Geschauten.

Ob nun dieses Erwünschte in einem Kunstwerk − aber auch in der Wirklich-keit! − in voller Erscheinung, in Verhinderung oder in seinem Scheitern dargestellt wird, so oder so ist es doch vergegenwärtigt − ist in ihm das aus unserer Sicht höchst Erreichbare des Universums als seine innerste Tendenz erwiesen. Angesichts der für uns nicht mehr fassbaren Zahl von Galaxien − vollends möglicher Erden! − liegt es nahe, ein Kontinuum solcher über das Weltall verteilter Momente anzunehmen, das heißt: die von uns gedanklich postulierte Zeitlosigkeit unserer Werte als real bestehend anzusehen. Was hindert uns also, den erfüllten Augenblicken unserer gegenwärtig erfahrbaren Bestimmung den Rang einer anwesenden Ewigkeit zuzu-erkennen?

Nun ist es im Kunstwerk nicht damit getan, diese Humanitas zu meinen, sie ist

Prolog . Absurd oder nicht − das ist die Frage

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Prolog . Absurd oder nicht − das ist die Frage

in ihrer so vielfach antagonistischen Beschaffenheit und dem Spannungsfeld ihrer Lebenslagen durch seine Gestaltung zu realisieren. Denn es ist die Form − der Fein-bau des Ganzen − die dem Dargestellten seine Bewandtnis gibt, in deren Nachvollzug sich das »Unsrige« samt seinem Verhältnis zur umgebenden Welt erfahren, betätigen und austragen ließe. Es ist die stellvertretende Fühlungnahme mit ihr: Der Betrach-ter erfährt seine Konkordanz oder auch Dissonanz zu ihr, womöglich die ganze Span-ne seiner Daseinsgegebenheiten. So ist im Kunstwerk die Menschwerdung angelegt.

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I. ZUR LITERATUR UND SPRACHE

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Der Ritus der Sprache Ein Blick vom Veda auf die deutsche Dichtung

Das vedische Wort zwischen Logos und Zeichensystem

Auch nach dem vedischen Mythos war − vielmehr ist − »am Anfang das Wort«. Aber es ist nicht der übersinnliche Logos des Evangeliums, sondern vāk, die tönende Spra-che, die anrufende Stimme.1 Es war nicht anfangs »bei Gott« und hat die Welt nicht nur einmal besucht und sich ins Jenseits zurückgezogen, sondern es ist in der Welt, dauert und wirkt da fort:

Ich frage nach des Wortes höchstem Himmel: Dieser Brahmapriester ist des Wortes höchster Himmel. [Rig-Veda 1.164.34]

Im Gedächtnis des rezitierenden Priesters und in den Opfergebräuchen ist es zugegen; nicht wie der Logos in eine »Finsternis« gekommen, die ihn »nicht angenommen« hat, sondern als in seinem »Himmel«; nicht »Fleisch geworden« für eine Herabkunft, son-dern als Überlieferung gegenwärtig und wirksam. Die Welt ist nicht ein für alle Male durch dasselbe geworden, fortgesetzt ist es am Werk, um sie vollends hervorzubringen:

Von ihr (der vāk) strömen Meere aus,leben die vier Weltgegenden. Ihr entströmt das Unvergängliche, von dem alles lebt. [Rig-Veda 1.164.42]

Dieses Wort ist zuvörderst der Veda, vornehmlich die Hymnensammlung des Rig-Veda. Seine weltschaffende und -erhaltende Wirkung entfaltet er, wenn er im Ritus zur Sprache kommt. Es heißt in bezeichnender Gleichsetzung von Wirklichkeit und Bewusstsein, dass der Veda, die Hymne oder die Vāk, die Mächte des Seins »erweckt − beruft − stärkt − erhält«:

Auf der Silbe des Rig haben im höchsten Himmel alle Götter ihren Sitz. [Rig-Veda 1.164.39]

Der »höchste Himmel« ist also zugegen, wo der Priester den Veda vorträgt; so kann es noch in einer spät-vedischen Hymne heißen:

1 Verwandt mit lat. vox, die Stimme.

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I . Zur Literatur und Sprache

Ich (die vāk) erzeuge den Vater im Haupte dieses. [Rig-Veda 10.125.7]

Der Veda ist die Welt im Zustand des Wortes. Er und die Welt der Dinge sind zwei Erscheinungsweisen einer Wirklichkeit. Erst wenn er Stimme annimmt, ist die Welt ganz und beseelt, ist ihre Stofflichkeit als geistige Substanz, als Bewusstsein erfahr-bar. Immer anders wird ihm dieses Vermögen zuerkannt:

Das Wort singt die Welt und bewahrt sie. [Chândogya-Upanishad 3.12.1]

So wird der Sänger des Veda ganz leibhaft in der Gestalt eines Wagenlenkers vorge-stellt, der wie die Sonne am Werk ist:

Am Zügel der Rede (der vāk)führt er die Morgenröten herauf. [Rig-Veda 1.113.17]

So stellt der Veda im Unterschied zum metaphysischen Logos ein allgegenwärtiges Fluidum dar, das Träger von Kräften in einem auch physisch bewirkenden Sinne ist; von unserer Gebrauchssprache, die als ein funktionales Zeichensystem der Kommu-nikation dient, unterscheidet ihn, dass in ihm ein Vorkeim der Wirklichkeit angelegt ist. Das dualistische Auseinanderklaffen von Geist und Materie ist in ihm aufgeho-ben. Die Äußerungen eines aus heutiger Sicht primitiv sprachmagischen Aberglau-bens lassen sich sehr wohl als tieflotende Deutungsversuche der Übergangsbereiche von Wirklichkeit und Bewusstsein verstehen.

Die Vortragsweisen: Intonation und Rhythmus

Es versteht sich, dass bei der dargestellten Einschätzung der vedischen Hymnen ihre Vortragsweise von höchstem Belang ist. Sie stellt die machtvollste Erschei-nung von erklingender Sprache aus sich selber − ohne Beihilfe der Musik − in unsrem Gesichtskreis dar. Für unsere Ohren ist sie Gesang, mit voll ausgesunge-nen Vokalen und deutlichen Tonschritten. Man meint eine Vertonung oder − wie bei mittelhochdeutschen Liedern − eine melismatische »Weise« zu hören, der die Worte unterlegt werden. Aber auch Bezeichnungen wie Rezitativ oder Psalmodie sind unzutreffend: Nichts als die Worte selber erklingen, in einer uns unbekannten gesteigerten Lautung.

Alle Klanglichkeit wird von den lautlichen Elementen der Einzelwörter bestrit-ten: Die Silbenmessung der Längen und Kürzen liefert das Zeitmaß, der musikalische Wortakzent der vedischen Sprache die Melodie. Sie besteht aus drei Tönen: einem nach unten ausholenden Vorschlag, dem Hochton der hervorgehobenen Silbe und einem Nachklang, der vor der Rückkehr in die Tiefe oder Mittellage um einen Ton-

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Der Ritus der Sprache

schritt über den Hochton hinaufschlägt.2 Der Hochton eines Wortes kann auf die Wurzel, aber ebenso oft auf Vor- und Bildesilben, Längen wie Kürzen fallen.

Der vedische Vortrag besteht so aus einem Lautstrom von gleichbleibender klangli-cher Dichte. Jedes Wort wird mit allen Silben in ritueller Ausführlichkeit entfaltet und zu seiner Wirkung gebracht. Bei allem Spielraum für Tonlage, Intervalle, Tempo, Ver-hältnis von Kürzen und Längen zueinander ist es ein sehr gebundener − objektiver − Vortrag. Den Veda vortragen, heißt die Worte anstimmen, mit allen ihren lautlichen Bestandteilen aussingen. Diese Intonation − noch vor der Silbenzählung und Regelung zu Versmaßen − leistet die wesentliche Verwandlung zur gebundenen Rede; erst dieses Wortesingen kehrt die metrische Qualität und Messbarkeit der Silben hervor und macht aus der Sprache den Stoff, der sich alsdann zu den vedischen Versformen gestalten lässt.

Im D e u t s c h e n gibt es ein ganz andersartiges Eintreten in eine Vortragswei-se, die unseren Sprachstoff zur Verssprache macht. Es ist kein Intonieren; der Spre-cher versetzt sich in einen Taktschlag, der gewisse Silben durch den auf sie gelegten Nachdruck betont. Jede beliebige Wortfolge kann so in Verse verwandelt werden. Zum Beispiel das

Váter únser, dér du bíst im Hímmel.

Oder Kinderrufe:

Wér will mít mir scháu-kéln?

Sprechchöre von 1968:

Wir sínd eine kleí-né rádikále Mínderheit.

Hier schafft das bloße rhythmische Gliedern Verse, indem es gewisse Silben durch den verliehenen Nachdruck zu den Anfängen oder schweren Taktteilen gleich langer Takte macht. In ihre Zwischenspannen fügen die unbetonten Silben sich in wechseln-der Zahl ein, die keinen Einfluss auf die Dauer dieser Versstrecke hat.3 Die Versgestalt ist also nicht wie im Vedischen mit dem lautlichen Stoff der Einzelwörter gegeben, die nur nach bestimmten Versformen auszuwählen und anzuordnen sind. Woher kommt sie letzten Endes bei uns? Bei den Kindern etwa stellt sich mit ihrer Zählbe-wegung zu Abzählreimen das

2 Während in den germanischen Sprachen die Nebensilben im Tonschatten der Hauptsilben liegen und dort weitgehend verkümmerten, verleiht dieser Nachklang − der die Besonder-heit des vedischen Vortrags ist − ihnen ein unausgesetztes Eingehen auf sie, eine Ausführ-lichkeit, von der unten zu reden Iist. Den übrigen Hoch- und Tiefton besitzen auch andere frühe Sprachen, zum Beispiel das Altgriechische.

3 Wenn man im Vedischen Verse durch Taktstriche vor langen Silben gliedern würde, fände durch die wechselnde Zahl der kurzen ein fortgesetzter Wechsel der Taktarten statt, weil die ihre gleichbleibende Dauer behaupten.

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I . Zur Literatur und Sprache

Bibele Babele Gänseschnabele … oderÉne Katréne Katróch …

ein; bei den Müttern zum Schuckeln der Kleinen auf ihren Knieen das

Hoppe hoppe Reiter …;

bei den Sportlern zu ihrem Laufschritt das

Zíckezacke zíckezacke hoíhoihoí …;

bei feuchtfröhlichen Leuten zu ihrem Händeklatschen das

Hóch soll er lében …

Die Verwandlung der Gebrauchssprache in ein grundsätzlich anderes Sprechen, das gebundene Aufsagen, geschieht also dadurch, dass ich den Wortlaut meiner vorge-stellten oder leibhaften Gangart unterwerfe. In die haben die Wortkörper sich zu schicken − sie werden zum Träger meiner Emotionen. Andererseits passe ich meinen inneren Taktschlag − ob lebhaft oder erregt − aber auch dem Besagten an, sodass hier etwas ganz Eigenes aus dem Sprachstoff und dem Pulsschlag des Vortragenden entsteht.

Insofern es im Deutschen vornehmlich die sinntragenden Hauptsilben sind, die den Nachdruck erhalten, hebt die Versform den Sinn des Gesagten hervor, während sie im Vedischen die Lautgestalt steigert. Die Kehrseite ist, dass in unseren Versen auch Formwörter und Bildesilben an gewichtiger Versstelle ein sinnwidriges Gewicht bekommen können, bedeutungsvolle gegen ihre Gewichtigkeit als leichte Taktteile überhuscht werden. So in dem Goetheschen

Wie hieß die Fee – Lili? Fragt nicht nach ihr,Kennt ihr sie nicht, danket Gott dafür.

Wie immer man hier die Taktschnitte legt, kommen sinnträchtige Wörter um ihr Ge-wicht. Das Zitat zeigt aber auch, dass die Vortragsweise einen Spielraum lässt − dass recht verschiedene Taktschnitte und Hand in Hand mit diesen verschiedene Sinn-gewichte gesetzt werden können, um solche Verkehrtheiten zu vermeiden oder zu mildern.

Vedischer Sprechgesang und der Verstakt des Deutschen − mit ihm aller ger-manischen Sprachen − stellen zwei äußerste Möglichkeiten sprachlichen Vortrags dar, die jede ein Urelement verbalen Verlautens entfalten. Mit diesem hat jedes dem anderen eine unschätzbare Qualität voraus und ermangelt zugleich für die Ohren des anderen des entscheidenden Merkmals der Verssprache. Das Deutsche hat sich ein Urphänomen von unermesslicher Gültigkeit − eben den Rhythmus des Pulsschlags, Atems und Schreitens − zunutze gemacht und ist dank diesem zu mitreißenden Sprachwirkungen fähig. Hört man mit deutschen Versen im Ohr auf den vedischen

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Der Ritus der Sprache

Singvers, so geht ihm jegliche Gangart ab, mit der man Tritt fassen, in die man einschwingen könnte. Was der Unkundige aus dem Mund eines Brahmanen hört, ist eine willkürliche Zickzackfolge umspringender Tonhöhen und -längen, ein schau-kelnder Mückentanz von Silben.

Auf der anderen Seite − entsetzlich auszudenken, was ein vedageübter Inder bei deutschen Gedichten wahrnehmen dürfte: Statt des vokalischen Vollklangs und beweglichen Wechsels der Zeitmaße − was für ein tonloses und einförmiges Gestamp-fe! Metronomisches Hacken, Marschmusik, Stechschritt − er hält sich womöglich die Ohren zu − hört die Barbaren kommen!

Obgleich das Gefälle von der hoch differenzierten vedischen Verssprache zu unserer einfach taktierenden mit einem verheerenden Verfall der sehr formenrei-chen frühen Grammatik zu unserer verkümmerten und der ebenso verschrumpfen-den Lautung der neueren Sprachen einhergeht, ist unsere Verskunst wohl nicht als eine Verfallserscheinung der altertümlichen anzusehen. Es wird sie als die zeitlos volks- und lebensnahe von Anfang an neben der hochentwickelten gegeben haben; wie denn jeder afrikanische Kraal in Takten trommelt und ebenso zu ihnen stampft und schmettert. Die hochsprachliche Vortragsweise des Veda, aber auch seine Spra-che selber, dürfte in einer sehr abgehobenen Priesterkaste entstanden − will sagen: entwickelt worden sein. Denn von ihrer späteren klassischen Form war man sich bewusst, dass sie die »Hergerichtete«, die »Sanskrita« war. Sie überschwebte als eine unantastbare Ordnungswelt das Leben dieser Kultur, der das eigene Ausdrucksver-langen sich fraglos fügte. Vom vielfach umrätselten Geheimwissen der keltischen Druiden − und somit auch wohl von ihrer Standessprache − lassen sich vergleichbare Verhältnisse in unserer näheren Vorgeschichte erschließen.

Das Metrum: Norm und Freiheit

Die vedischen Metren sind Sonderfälle messend vorgetragener Silbenfolgen hinsicht-lich der Zahl und Anordnung ihrer Längen und Kürzen. Wirklich fest stand aber nur die Zahl der Silben; fast an jeder Stelle ließen sie eine Abweichung zu. Die Grundform wird nach den Bedürfnissen abgewandelt − umspielt. Aber dass es die Grundform gibt, unterscheidet sie von dem nur silbenzählenden Vers der romanischen Sprachen und verleiht jeder Zeile eine charakteristische, auf die Regelform bezogene Gestalt. So stellt diese Verskunst eine ganz eigene Erscheinung neben den Stabreimversen dar, bei denen es ein vergleichbares Verhältnis von Grundform und Freiheiten gibt. Insofern die abgezählten Silbenfolgen zu spontanen metrischen Gebilden ausgefüllt und die entstandenen Versfüße von der Tonbewegung des Wortakzents überlagert werden, stellt nahezu jede Verszeile einen Einzelfall dar.

Unserer wägenden Metrik entsprechend sind die d e u t s c h e n Versmaße Sonderformen taktierter Sprache, die sich durch Anzahl und Füllung der Takte

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I . Zur Literatur und Sprache

unterscheiden. Die Freiheiten der vedischen Versform haben ihre Entsprechung in mehreren frühen Erscheinungen unserer Literaturgeschichte. Vor allem der Vers des mittelhochdeutschen höfischen Epos kennt ein vergleichbares Mit- und Gegeneinan-der von Regel und Freiheit, insofern die alternierende Ausführung − also der vierma-lige Wechsel von unbetonter und betonter Silbe − die vorherrschende Grundform ist, von der jede der vielerlei möglichen Abweichungen ihre Eigenart empfängt.

Dank dem Vermögen unseres akzentuierenden Vortrags, Takte − also metrische Gebilde − sozusagen drauflos zu bilden, gibt es im Deutschen die Möglichkeit f r e i e r R h y t h m e n, die das Paradoxon von Versen ohne Versmaß darstellen.

Er liefert zunächst nur den Rohstoff der Verssprache, die Abfolge schwerer Takt-teile auf sinntragenden Silben und leichter aus den übrigen. Vollends entstehen sie durch die Einschnitte, die wechselnde Versstrecken herstellen. Die oben genannte Freiheit der Füllungen ist hier um die Beliebigkeit der Taktzahl erweitert. Von der sinngemäßen Anordnung der Hebungen und der begründeten Setzung der Vers-schnitte an Stellen, die eine Verzögerung des Ablaufs und sinnvolle Verstärkung durch den Neueinsatz rechtfertigen, hängen Berechtigung und Qualität freier Verse ab.

Leistungen der Versform

Es versteht sich, dass so verschiedene Vortragsweisen wie die vedische und die deut-sche den Worten eine ganz unterschiedliche Effizienz geben. Die Erstere entfaltet den Klangleib des einzelnen Wortes in ganzer Ausführlichkeit. Der Mund des Brahma-nen haucht es gewissermaßen in den Raum, sodass es über der jeweiligen kultischen Handlung schwebt wie die christliche Taube des Heiligen Geistes über der Pfingst-versammlung der Jünger und seinen Segen ausgießt. Indem der vedische Sprecher Messung und Tonbewegung von Silbe zu Silbe hervorkehrt, tritt er in den eigen-gesetzlichen Ablauf der Sprache ein und wird in eine Fühlung mit dem Sprachfluss versetzt, die ihn gleichsam wie einen Wollfaden weiterspinnt. So ist das vedische Verlauten zugleich eine Meditation der Wortbedeutungen, denn Silbenlängen und Wortton sind Bedeutungsträger. Hinsichtlich des Hörers findet eine Aufführung statt; da ihr Rhythmus ein unvorhersehbarer Ablauf ist − kein Taktfluss, den er in-nerlich mit- und weitertaktieren könnte −, bleibt er außerhalb des Geschehens in der Rolle des Erwartenden, der hinsichtlich des Wortverständnisses und des lautlichen Mitvollzugs hellwach gefordert ist, um sie zu leisten.

Im D e u t s c h e n ist der Rhythmus eine vorgegebene Bewegung, die auch unabhängig von der sprachlichen Füllung als inneres Taktieren ausgeführt werden könnte. In diese Gangart, die der Vortragende sich mehr oder weniger körperlich zu eigen macht, zieht er die Worte herein. Es ist − hinsichtlich des Zeitmaßes − das Prinzip der musikalischen Kontrafaktur, die den Text einer unabhängig vorhandenen

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Der Ritus der Sprache

und singbaren Melodie unterlegt. Seinem altindischen Rivalen − der im Übrigen nur stehend, nicht im Versmaß schreitend, vorstellbar ist − hat er den körperlichen Impuls voraus, den ihm der fortgesetzte Taktschlag gibt. Im nachdrücklichen Vortrag scheint der Wortlaut aus dem Pulsschlag des Sprechenden zu kommen, jedenfalls wie durch ihn hindurchgegangen. Man sieht und hört ihn sozusagen im Sattel, mit dem Hufschlag der Völkerwanderungen unter dem Zwerchfell und dem Stabreimvers als der eingelegten Lanze unter der Achsel − im Sturmangriff auf die Neuzeit. So reicht die Wirkungsspanne unserer Verskunst vom leisen Einwiegen und Erregen bis zu dieser ursprünglichen Dynamik, die zum gewaltsamen Einhämmern wie zur hinrei-ßenden Hymnik Hölderlins oder Stefan Georges fähig ist.

Auf den Hörer gesehen, ermöglicht der gleichbleibende Taktfall, auch ohne Ver-ständnis der Worte, immerhin ihrer Bewegung zu folgen, wie man Musik hört. Wie denn viele unserer jungen Leute mit dem Wumwumwum ihrer Songs aus dem Ohr-stopfen völlig zufrieden scheinen und sie geduldig abnicken.

Der umspielte Takt

Das Deutsche, mit der klanglichen Silbenfülle des Vedischen und der Melodik seines Worttons verglichen, stellt sich als schlechthin prosaische Sprache dar. Aber in seiner taktierenden Metrik ist ihm ein Element von unermesslichen Möglichkeiten erwach-sen, das die prosaische Rede in einen musikalischen Vorgang verwandelt. Diese We-sensverwandlung des Sprechens kann durch gewisse Mittel der lyrischen Gestaltung weitere musikalische Qualitäten gewinnen, die es der Klanglichkeit vedischer Verse annähern.

Wo im Dreiertakt des deutschen Hexameters eine einzelne Nebensilbe stellver-tretend für zwei Senkungen gesetzt wird, kommt sie zu einer zeitlichen, also auch klanglichen Entfaltung:

Ein s a m stand ich und sah in die af r i kanischen dürren Ebnen hinaus … [Hölderlin, Der Wanderer]

Hier ist durch die dehnende Ausfüllung leichter Taktteile etwas von der silbenmes-senden Sprechweise wiedergewonnen. Noch folgenreicher ist es, wenn die leichten Taktteile mit betonten Silben gefüllt werden:

U r áltes Wehn vom Meer,M e e r wínd bei Nácht … [Rilke, Lied vom Meer]

oder:

… mit einem tiefen Schwellens c h w é r müti g é r Musik … [Hugo von Hofmannsthal]

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I . Zur Literatur und Sprache

Mit dieser sogenannten »schwebenden Betonung« kehrt der Silbe für Silbe artiku-lierende − nicht mehr stampfende! − Lautstrom der messenden Metrik ein. Der ge-wöhnliche Zusammenfall von Hauptsilben und schweren Taktteilen wird aufgeho-ben: Gehobene Nebensilben und Hauptsilben in der Senkung sind nebeneinander möglich. Die Worte gewinnen eine neue, geradezu sperrige Körperlichkeit, die den metronomischen Silbenfall durchbricht und ein fortschreitendes Wägen wie in einer messenden Sprache erfordert, das auch die Nebensilben wägt.

Die hervorragendsten Beispiele finden sich in den Nachbildungen antiker Oden-maße vornehmlich Klopstocks und Hölderlins:

0 Anblick der Glánznácht, Sternheére,wie erhébt ihr! wie entzü’ckst dú, Ánschaúung [Klopstock, Der Tod]

Das entspricht nicht nur dem Körperhaften der vedischen Verse, auch die Bewirkung ist ihr verwandt: Die Aufmerksamkeit wird wie dort von Silbe zu Silbe angefordert, eine vergleichbare Silbenfühlung stellt sich ein.

Liest man die Oden ohne Kenntnis der Versschemata, so hat man die rhythmi-sche Gliederung und Gestaltung den Worten unmittelbar zu entnehmen, wie im Falle der f r e i e n R h y t h m e n. Hier stellt sich eine andere Gemeinsamkeit mit den Veda-Versen her, sie sind auf rhythmische Taktwechsel angelegt, die sie geradenwegs mit ihrem Wortlaut bestreiten:

Denn, wie wenn hoch von der herrlichgestimmten, der Orgel im heiligen Saal,reinquillend aus den unerschöpflichen Röhren,das Vorspiel, weckend, des Morgens beginntUnd weitumher, von Halle zu Halle,Der erfrischende nun, der melodische Strom rinnt … [Hölderlin, Am Quell der Donau]

Das ist eine freie, unvorhersagbare Folge entschiedener Versfiguren, wie sie zum For-menschatz der deutschen Metrik gehören. Hier hat man wie beim vedischen Vortrag die innewohnende Lautgestalt sich aus den Worten im Sprechen ergeben zu lassen. Der Sprecher muss zwar einen Taktschlag befolgen, was deutsche Verse erst herstellt, aber hinsichtlich der Taktfüllungen wie der Veda-Schüler in den eigengesetzlichen Gang der Sprache eintreten.

Kehrt man, auf solche Weise von den Worten geleitet und jedem das Seine gebend, zu den anfangs angeführten Beispielen für das Taktieren zurück, so heißt es durchaus nicht in metronomischer Gleichmäßigkeit: »Váter únser, dér du bíst im Hímmel«. Sehr fein wechselnde Gewichte sind hier zu setzen. Und die Lili-Verse ergeben statt gleichlanger Takte ein gar nicht aufzuzeichnendes Wechseln gestau-ter und beschleunigter Silben. Ein jeweils spontaner Ablauf, der aus dem Gewicht

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Der Ritus der Sprache

und der Ausdehnung der Sprachlaute hervorgeht, bewegt sich in einem spannungs-reichen Gegeneinander von Taktschlag und Füllung. Nicht das skandierte Versmaß stellt den verwirklichten Rhythmus dar, sondern die Wörter selber, die ihn nach ihrer Beschaffenheit ergeben. Unter ihm pulsiert der Taktschlag unhörbar mit und wird umspielt; es entsteht ein sehr bewegliches, feinfühliges Duettieren, wie der vedische Vers es durch sein Abwandeln der metrischen Grundformen, mehr noch durch sein kontrapunktisches Überlagern der Silbenmaße mit der Melodik des Worttons bietet.

Das starre Taktieren nimmt sich nach solchen Beobachtungen als ein recht grob-schlächtiges Einpauken aus. So würde den zitierten Kampfruf der Achtundsechziger

Wir sind eine kleine, radikale Minderheit!

ein prosaisches Sprechen zu einer vernünftig erteilten Auskunft machen − nur eben ohne seine herausfordernde Energie, seinen Sprengstoff. Aber hier sollte aufgeputscht werden! Wie das natürliche Schreiten zum Marschtritt gedrillt werden kann, so das rhythmische Sprechen zu einem Gehämmer, das immer dort zu hören ist, wo die Faust geballt wird und eine Parole möglichst im Sprechchor durchgesetzt werden soll. So stampft die Sprache in den Liederbüchern der DDR und so hat sie zwölf Jahre lang in Großdeutschland zum Stechschritt und Parademarsch das Volk mit ihren braunen Phrasen traktiert.4

Aufgrund solcher Wirkungen kann das starre Skandieren aber auch eingesetzt werden, um etwa den dummdreisten »Zauberlehrling« zu charakterisieren:

Hát der álte HéxenmeísterSích doch eínmal wégbegében …

Man vergleiche damit Suleikas Worte:

Ach, um deine feuchten SchwingenWest, wie sehr ich dich beneide …

Bei genauem Hinhören auf den Sinn und die Laute wechseln hier von Hebung zu Hebung Gewicht und Ausdehnung der Silben, ebenso die der Senkungen, und legen ein sehr schmiegsames Sprechen nahe.

Was hier dargelegt wurde, beschreibt Möglichkeiten der deutschen Verssprache und ihres Vortrags, durchaus keinen eingeführten Gebrauch, der in der Tat eine hohe

4 Nicola Kaminski, in: Ex Bello Ars oder der Ursprung der »Deutschen Poeterey« (Heidelberg 2004), bringt die Militärreform Moritz von Oraniens, die den Gleichschritt durchsetzte, zum einen mit der metrischen Reform von Opitz in Zusammenhang, die das Alternieren von Hebung und Senkung zur Regel erklärte, zum anderen mit Descartes’ gleichzeitigem Compendium musicae, das den Takt in der Musiktheorie zu einem autonomen Prinzip erhob.

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I . Zur Literatur und Sprache

Sprachkultur, ein Übereinkommen zwischen Autor, Sprecher und Hörern voraus-setzen würde. Was man zu hören bekommt, ist die um sich greifende prosaische Formlosigkeit.

Und die Welt fängt an zu klingen

Der mythische Anspruch des vedischen Wortes, die Welt durch seine sprachmagische Einwirkung zu »voll-schaffen«, lässt sich auch für uns in gewissem Sinne nachvoll-ziehen. Es hat sich zeigen lassen, dass die Mittel seiner Verskunst es zur gesteigerten Anrufung machen. Indem es also die angesprochenen heiligen Dinge in ihrer Heilig-keit − das heißt: in ihrer Segenswirkung − vergegenwärtigt, mithin erfahrbar macht, ist anzunehmen, dass sie im Vernehmen der Hymne für gläubige Menschen anwe-send, spürbar berufen waren und segensreich wirksam wurden.5 Diese eindringliche Weitergabe des Veda und seiner wohltätigen, so ruhegesammelten Kräfte ist Herz-stück und Kerngeschehen der indischen Kultur.

Ganz anders in unserer Verssprache lässt sich der rhythmische Vollzug des Spre-chens zunächst als ein leibhaft erfahrbares Be-Gehen des Gesagten bezeichnen, das unser Aufsagen zu einem Um-Gang mit ihm werden lässt. Der Sprechende wie der Aufnehmende treten in den Strom des Erscheinens oder Geschehens ein, das die Verse besagen. Sie bringen sich selber ein: Es findet ein Mitgehen, auf sich Beziehen statt − eine Reflexion, Resonanz. Gesteigert ist das noch in unserer Vokalmusik, etwa den Arien Bachscher Kantaten und Passionen, die den Wortlaut durch ihre Wieder-holungen vollends zu einer Meditation, wenn nicht gar zu einer pietistischen Erwe-ckungsübung, also einer Gotteserfahrung machen.

Wie das vedische Opfer sich als Gastmahl und Götterbewirtung versteht, so schlägt der lyrische Vorgang unserer Gedichte die Brücke vom Menschen zu dem Benannten ihm gegenüber und schließt ein Halbsein, das sich erst an seinen Gegen-ständen realisiert, zu einem Augenblick ihrer erfahrenen Einheit zusammen.

5 Es war vedisches Schulwissen, dass der Klangstrom des Sprechgesangs nicht nur bewusst-seinserweiternde Wirkungen auf den Geist des Sprechers und des Hörenden ausübt, son-dern auch als physische Vibration heilsam und steigernd auf den Körper einwirkt. Schon recht früh wurde das in verschiedenen esoterischen Praktiken − etwa zur Erweckung der »Schlangenkraft«, also erhöhter geistiger und körperlicher Fähigkeiten − eingesetzt. Die Sprachphilosophie dieser Zeit versteht das Wort als Träger, geradezu als Partikel des »brah-man«, des die Welt durchdringenden Bewusstseins. Als Funke desselben − sphota − zündet es ein Quantum Bewusstsein. Lauter Dinge, die so oder so abgewandelt auch bei uns wach-sendes Verständnis finden.

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Der Ritus der Sprache

Zum Ritual geschaffen

Es ist keine Frage: Gedichte wollen aufgesagt werden. Und jedes Aufsagen ist schon ein Ritual! Vollends wird eine Handlung, zu der Verse gesprochen werden, zum Ri-tual. Und so ging es in allen Bereichen der brahmanischen Kultur zu: Lebensformen und vedische Hymnen blühten aneinander auf. Vielleicht war es der herrlichste Au-genblick in der Geschichte menschlicher Sprachen. Bei uns zulande − wenn auch nur mithilfe der Musik und ihrer Vertonungen − ging es in Blütezeiten des religiösen Lebens durchaus vergleichbar zu. Auch der volkstümliche Alltag war von Sprüchen, Kinderreimen, Arbeits- und Gesellschaftsliedern wie brauchtümlichen Formeln er-füllt; auch dort kam geformte Sprache sinnträchtig und klangvoll zu Wort.

Ganz anders stand und steht es um das zweckfreie weltliche Gedicht in hoch-sprachlicher Kunstform. Es bedarf einer Gesellschaftskultur, die ihm bei Gesellig-keiten oder in irgendwie eingerichteten Zirkeln Gelegenheit zu Auftritten bietet. Das höfische Fest vom Mittelalter bis in die späte Feudalzeit bot sie, in vielfacher Gestalt bis zur inszenierten Aufführung und musikalischen Einkleidung. Im Bürgertum rivalisierten literarische Gesellschaften wie die Meistersingerschulen, Pegnitz-Schä-fer, der Göttinger Hainbund.

Unscheinbarer, bisweilen wohl auch intensiver noch, lebte und lebt das Gedicht im Umgang des einzelnen Zechers mit ihm. Diese Leidenschaft ist wohl als der tra-gende Unterstrom anzusehen, aus dem all die oberirdischen Erscheinungen hervor-gehen. Auch hier drängt die Lautgestalt, die nun einmal sein Klangleib ist, nach Verwirklichung. Also hält sie das rasche prosaische Lesen zum rhythmischen an, sei es nur innerlich gehört, mit murmelnd bewegten Lippen oder voll ausgesprochen. Und schon sind wir wieder beim Ritual, das sich oft genug zum mehr oder weniger heimlichen Kult auswächst.6 Der seinerseits hat das Zeug, unter Freunden oder in privaten Zirkeln zur geselligen Sache zu werden − wo denn vom Gänseblümchen bis zur mystischen Rose etwas von der vedischen Sprachfülle aufblühen kann.

6 Nicht unerwähnt soll hierzu das liebenswerte Büchlein von Robert Boehringer aus dem George-Kreis bleiben: Das Leben von Gedichten, 3. Auflage 1955, Hirt Verlag Kiel. Es sucht zunächst im Ton der Hingabe an eine große Sache die Achtung vor einem vollkommenen Gedicht zu vermitteln. Ausführlich ist dann von der nötigen Bemühung die Rede, zum Lesen und Vortragen sich immer neu in alle Feinheiten des Tons und der Bewegung der Verse einzuhören. Dann vom Abschreiben als einer Übung von unabsehbar formender Wir-kung auf den Schreibenden hinsichtlich des Sinnes für An-Ordnung, Maßverhältnisse und Beherrschung der Hand im Einhalten der Zeilen, ihrer Abstände und der Buchstabengröße. Das Auswendiglernen von Gedichten schließlich ist dargestellt als das ›Sine quo non‹ der Ausstattung zum vollen Menschsein. All das mit einer Fülle von Zeugnissen aus unserem ganzen Kulturkreis.